Sachverhalt und Anträge
I. Die am 14. Dezember 1979 eingereichte und am 20. August 1980 unter der Nummer 14 253 veröffentlichte europäische Patentanmeldung Nr. 79 105 188.1, die die Priorität einer Voranmeldung vom 31. Januar 1979 (US-7887) in Anspruch nimmt, wurde mit Entscheidung der Prüfungsabteilung des Europäischen Patentamts vom 20. Juli 1982 zurückgewiesen. Der Entscheidung lagen die Ansprüche 1 bis 9 zugrunde. Der Hauptanspruch lautete wie folgt:
1. Tablette, enthaltend Simethicon und ein Antacidum, wobei ein Volumenanteil das Simethicon und ein weiterer Volumenanteil das Antacidum enthält und beide Volumenanteile voneinander getrennt sind, sowie eine Trennschicht zwischen den beiden Volumenanteilen, damit das Simethicon im ersten Volumenanteil nicht mit dem Antacidum im zweiten Volumenanteil in Berührung kommt und die Migration der Bestandteile von einem Volumenanteil in den anderen verhindert wird; das Simethicon befindet sich dabei außerhalb der von den übrigen Bestandteilen der Tablette gebildeten Matrizen, so daß es seine Antischaumwirkung unabhängig von dem Zerfall dieser Matrizen entfalten kann."
II. a) Die Zurückweisung wurde damit begründet, daß der Gegenstand der Ansprüche keine erfinderische Tätigkeit aufweise. Der sich aus der Druckschrift FR-A-2 077 913 (1) ergebende naheliegende Stand der Technik lehre, daß eine gastrointestinale Zusammensetzung ein Siliconöl sowie eine Substanz enthalten könne, die im Magen-Darm-Trakt wirksam werde, wobei die beiden Wirkstoffe in je einem Volumenanteil enthalten und durch eine Trennschicht voneinander getrennt seien.
b) Der Gegenstand des streitigen Anspruchs 1 unterscheide sich von der in (1) offenbarten Zusammensetzung nur darin, daß ein besonderes Siliconöl, nämlich Simethicon, und als gastrointestinaler Wirkstoff ein Antacidum verwendet werde. Er unterscheide sich von der bekannten Zusammensetzung, die in dem Yen erteilten Patent US-A-3 501 571 (2) beschrieben sei, nur dadurch, daß er zwischen den Schichten, von denen eine das Simethicon und die andere das Antacidum enthalte, eine zusätzliche Trennschicht aufweise.
c) Das Problem der Migration von Siliconstoffen sei bekannt, und die Verwendung von Trennschichten zur Verhinderung einer Wechselwirkung zwischen miteinander unverträglichen Arzneimitteln sei im Stand der Technik allgemein üblich. Es gebe im Stand der Technik bereits einige andere Verfahren, um Simethicon und Antacida erfolgreich voneinander zu trennen, so daß die Verwendung einer Trennschicht zur Lösung einer bekannten Aufgabe keine überraschende Wirkung aufweise.
III. Der Beschwerdeführer legte gegen diese Entscheidung am 16. September 1982 unter Entrichtung der Gebühr Beschwerde ein und reichte die Begründung fristgerecht nach.
IV. Die Kammer erhob in einem Bescheid an den Beschwerdeführer Einwände gegen die Patentierbarkeit der eingereichten Ansprüche. Der Beschwerdeführer erwiderte rechtzeitig auf den Bescheid und legte anschließend einen geänderten Anspruchssatz vor. Diese Ansprüche wurden vor der mündlichen Verhandlung am 2. November 1983 erneut geändert. Mit Schreiben vom 28. Februar 1984 wurde die Beschreibung an die neuen Ansprüche angepaßt; der neue Hauptanspruch lautet nunmehr wie folgt:
"1. Tablette, enthaltend Simethicon und ein Antacidum, die sich aus einem Volumenanteil, der das Simethicon und einen festen Träger aus einem Simethicon absorbierenden Stoff enthält, und einem zweiten Volumenanteil zusammensetzt, der das Antacidum enthält, wobei der erste und der zweite Volumenanteil voneinander getrennt sind und das Simethicon sich außerhalb der von den übrigen Bestandteilen der Tablette gebildeten Matrizen befindet, so daß das Simethicon seine Antischaumwirkung unabhängig von dem Zerfall dieser Matrizen entfalten kann, dadurch gekennzeichnet, daß zwischen dem ersten und dem zweiten Volumenanteil eine Trennschicht liegt, die das Simethicon im ersten Volumenanteil von dem Antacidum im zweiten Volumenanteil fernhält und die Migration der Bestandteile von einem Volumenanteil in den anderen unterbindet."
V. In der Beschwerdebegründung, in der Erwiderung auf die Bescheide und in der mündlichen Verhandlung hat der Beschwerdeführer im wesentlichen folgendes vorgebracht:
a) Im Übereinkommen werde weder ausdrücklich noch stillschweigend verlangt, daß eine Erfindung eine überraschende Wirkung aufweisen müsse, um patentierbar zu sein. Nach den Prüfungsrichtlinien könne eine patentierbare Erfindung in der Formulierung der zu lösenden Aufgabe bestehen (C-IV, 9.4), wobei die Lösung naheliegend sei, sobald die Aufgabe oder die von der Aufgabe verlangte Wirkung klar genug dargelegt worden sei. Zwar werde Simethicon ohne weiteres freigesetzt, wenn es an einem Lactose-Füllstoff adsorbiert sei, die Freisetzung verzögere sich aber oder unterbleibe ganz, wenn der Stoff an die Antacidum-Komponente angrenze. Offenbar wandere das Simethicon entgegen allen Erwartungen aus dem adsorbierten Zustand in die feste Antacidumschicht und werde davon absorbiert. Wenn dieses bisher unbekannte Problem erst einmal erkannt worden sei, dann sei die beanspruchte Lösung an sich einfach.
b) Nachdem bekannt geworden sei, daß sich die Wirksamkeit von Simethicon erheblich reduziere, wenn es mit einem Antacidum eng vermischt werde, sei es pharmazeutisch gesehen folgerichtig gewesen, Simethicon in einen geeigneten Träger einzubetten, um seine Migration zu verhindern. Es habe sich also empfohlen, das Siliconöl einzuschließen, und zwar durch Absorption in einer Matrix aus geschmolzenem Sorbit oder in einer Mischung aus Glycerin und Stärkesirup (US-A-3 767 794 (McVean) und US-A-4 127 650 (Buehler)). Bei diesen Zusammensetzungen müsse die Matrix jedoch erst zerfallen, bevor das Siliconöl wirksam freigesetzt werden könne: sie ähnelten in dieser Hinsicht den ursprünglichen Tabletten, bei denen Simethicon von einem Antacidum absorbiert gewesen sei. Leider habe sich auch die andere Möglichkeit, bei der Simethicon einfach an Lactose, Sorbit oder einem ähnlichen Material nach Yen (d. h. US-3-501 571(2)) adsorbiert und das dabei entstehende Granulat zusammen mit Antacidum-Granulat zu Tabletten komprimiert werde, als unbefriedigend erwiesen.
c) Der Anmelder habe entdeckt, daß auch bei der Ein- oder Mehrschichttablette nach Yen unerwarteterweise eine erhebliche Reduktion der Simethicon-Aktivität festzustellen sei (vgl. Rider, J. A., Current Therapeutic Research, 1981,30/6, 1033-1038 und die entsprechende eidesstattliche Versicherung). Erst nach Erkennen der versteckten Unzulänglichkeit der Zusammensetzungen nach Yen habe der erfahrene Pharmazeut die Notwendigkeit einer Verbesserung erkennen und sich notgedrungen sonst technisch überflüssigen und unerwünschten Trennschichtsystemen zuwenden können.
d) In der Druckschrift FR-A-2 077 913 (1), die gastrointestinale Zusammensetzungen offenbare, bei denen das Siliconöl in einer Gelatine-Trennschicht eingeschlossen sei, die von anderen festen gastrointestinalen Wirkstoffen umgeben sei, habe diese Trennschicht die Aufgabe, die getrennte Freisetzung im Darm zu ermöglichen, während der die feste Schicht umgebende Außenmantel verhindern solle, daß das Mittel bereits im Magen freigesetzt werde. Die Lehre dieser Schrift sei unvereinbar mit dem Gedanken, die Silicon-Komponente in einem festen Träger zu absorbieren, da dadurch die die Flüssigkeit einschließende Trennschicht überflüssig würde.
VI. Nach der mündlichen Verhandlung forderte die Kammer den Beschwerdeführer auf, weitere Beweise und Erläuterungen vorzulegen. Diese wurden rechtzeitig eingereicht. Der Beschwerdeführer hat die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und die Erteilung des Patents auf der Grundlage der neuen Ansprüche beantragt.
Entscheidungsgründe
1. Die Beschwerde entspricht den Artikeln 106 bis 108 und Regel 64 EPÜ; sie ist somit zulässig.
2. Gegen die derzeitige Fassung der Ansprüche bestehen keine formalen Einwände, da sie von der ursprünglichen Offenbarung hinreichend gestützt sind.
3. Bei der beanspruchten Erfindung ging es darum, im Magen des Patienten neben einer Antacidum-Wirkung eine verbesserte Antiflatulenz-Wirkung zu erzielen. Es war bereits bekannt, daß Simethicon, ein Siliconöl, eine Antiflatulenz-Wirkung hat und auch zusammen mit den üblichen Antacidum-Wirkstoffen, z. B. Aluminium- oder Magnesiumhydroxid und Magnesiumcarbonat, verabreicht werden kann. Man erkannte jedoch sehr bald, daß bei engem Kontakt von Simethicon mit einer Antacidum-Komponente die Freisetzung des Simethicons verzögert oder in gewissem Umfang sogar verhindert wird, weil eine starke Absorption durch die Antacidum-Base erfolgt. Dies wurde durch die reduzierte Antischaumwirkung von Gemengetabletten in vitro nachgewiesen (Rezak, M., J. Pharm. Sci. 1966, 55, 538-539). Es wird angenommen, daß sich auch in vivo die Antiflatulenz-Wirkung im allgemeinen mit der Antischaumwirkung ändert.
4. Zwar hätte man das Problem ohne weiteres dadurch lösen können, daß die flüssige Simethicon-Komponente wie bei den bekannten gastrointestinalen Zusammensetzungen nach der Entgegenhaltung 1 durch eine Trennschicht von dem festen Antacidum getrennt wird; die Entwicklung im Stand der Technik ging jedoch dahin, solche Trennschichten zu vermeiden, da diese in der Herstellung aufwendig sind. Man zog es vor, Simethicon mit einer großen Menge eines Trägerstoffes zu kombinieren, der die Migration und die Absorption durch das Antacidum verhindern sollte. Nach Yen (2) wird Organopolysiloxanöl, d. h. die Simethicon-Komponente, an der Oberfläche von Lactose, Sorbit, Saccharose oder eines anderen geeigneten Trägers reversibel adsorbiert. Das Granulat dieses Stoffes wird unter Beimengung von Antacidum-Granulat tablettiert. Die Möglichkeit, diese Stoffe in einer Tablette in aneinander angrenzenden Schichten anzuordnen, wurde ebenfalls ausdrücklich erwähnt, wenn auch der Kompression der Granulatmischung der Vorzug gegeben wurde.
5. Gemäß dem Vorbringen des Beschwerdeführers haben Versuche mit handelsüblichen Erzeugnissen gezeigt, daß weder die Ein- noch die Mehrschichtversion der Zusammensetzung nach Yen nach normaler Lagerung noch befriedigend ist. Die Mehrschichttypen, die ebenfalls auf dem Markt erhältlich sind, zeigten nach längerer Lagerung eine erheblich verminderte Antischaumwirkung im Vergleich zu der mit einer Trennschicht versehenen Tablette, die Gegenstand der streitigen Erfindung ist (vgl. Rider, J. A., Current Therapeutic Research, 1981, 30/6, 1033-1038 und Riders eidesstattliche Versicherung). Die Modifikation führt zu einer auffallenden Wirkungsverbesserung, obwohl die Darreichung des an der mindestens 20- bis 40fachen Menge Lactose adsorbierten festen Simethicons zusammen mit Stärke und anderen Trägerstoffen hätte ausreichen müssen, um Migration und Wirkungsverlust zu verhindern. Da dies der Zweck des Yen-Patents war, bestand insbesondere bei der Mehrschichttablette, bei der die Berührungsfläche zwischen den beiden Materialien an sich sehr gering ist, kein Grund dafür, die Wirksamkeit der Trennung anzuzweifeln. Die in der streitigen Anmeldung beanspruchten modifizierten Tabletten sind daher neu und weisen dank der eingeschobenen Trennschicht eine verbesserte Wirkung auf.
6. Die Entdeckung einer bisher unerkannten Aufgabe kann unter bestimmten Umständen zu einem patentierbaren Gegenstand führen, auch wenn die beanspruchte Lösung rückwirkend betrachtet einfach und an sich naheliegend erscheint ("Aufgabenerfindungen"). So sind z. B. die sogenannten Analogieverfahren in der Chemie nur gewährbar, wenn die Aufgabe, d. h. die Notwendigkeit, bestimmte patentierbare Erzeugnisse als Verfahrenswirkung zu erzielen, nicht bereits Bestandteil des Stands der Technik ist. Schließt jedoch die Modifikation einer bekannten Vorrichtung keine echte Entscheidung zugunsten einer eindeutig gewünschten Verbesserung ein, befindet sich also der Fachmann zwangsläufig in einer "Einbahn-Situation", so muß die zusätzliche Erzielung eines bisher unerwarteten "Extra"- oder Nebeneffekts, der als Lösung einer bisher unbekannten Aufgabe ausgelegt werden kann, nicht unbedingt ausschlaggebend für die Patentierbarkeit sein (vgl. "Elektromagnetischer Schalter/Allan-Bradley", T 21/81, ABl. EPA 1983, 15-21).
7. Bei der Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit im Zusammenhang mit der in der vorliegenden Anmeldung vorgeschlagenen Modifikation der bekannten Mehrschichttablette geht es nicht darum, ob der Fachmann eine Trennschicht zwischen die Schichten hätte legen können, sondern darum, ob er dies in Erwartung einer Verbesserung oder eines Vorteils auch getan hätte. Da die Tablette nach Yen allem Anschein nach und in Anbetracht ihrer Vermarktung eine befriedigende Lösung für das Problem der unerwünschten Migration bot, mußte die Hinzufügung einer Trennschicht überflüssig und technisch völlig sinnlos erscheinen. Angesichts der Erkenntnis, daß eine Trennschicht doch einen wesentlichen Effekt mit sich bringt, war das Ergebnis nicht vorhersehbar, und die beanspruchte Modifikation weist aus diesem Grund eine erfinderische Tätigkeit auf.
8. Die vorstehenden Überlegungen gelten unter der Bedingung, daß der Mangel der Yen-Tablette am Prioritätstag der Anmeldung nicht Teil des Stands der Technik war. Andernfalls hätte der erfahrene Fachmann keine andere Wahl gehabt, als eine Trennschicht gegen die berichtete unerwünschte Migration in der Zusammensetzung vorzuschlagen. Dies wäre ebenso naheliegend gewesen wie die Trennung des flüssigen, unadsorbierten Simethicons von der Antacidum-Komponente durch eine Trennschicht gemäß der Lehre der sehr naheliegenden gastrointestinalen Zusammensetzung aus der Entgegenhaltung 1. Die Prüfungsabteilung hat die fehlende Patentierbarkeit einer solchen Maßnahme richtig erkannt, da das Verhalten flüssigen Simethicons bereits bekannt war. Dies kann jedoch nicht für das an einen Träger adsorbierte Simethicon gelten, wenn die damit verbundene Aufgabe nicht zum allgemeinen Wissensstand gehört. Umgekehrt folgt daraus aber auch, daß die Modifikation des mit einer Trennschicht versehenen Systems nach der Entgegenhaltung 1 durch Adsorption der Flüssigkeit an der 20- bis 40fachen Menge eines Trägers der Lehre dieser Entgegenhaltung nicht entnommen werden kann, ohne daß man die Zusammensetzung stark verändert und die dann sinnlos gewordene Trennschicht wegläßt.
9. Ob die Entdeckung einer echten technischen Aufgabe auch bei Tabletten gegeben ist, bei denen Simethicon an Träger adsorbiert und dann unter Beimengung eines Antacidums oder als gesonderte Schicht mit einem Antacidum tablettiert wird, hängt davon ab, ob der Schaumtest als eindeutiges Anzeichen für eine Antiflatulenz-Wirkung im Magen gewertet werden kann. Tabletten sind für den Gebrauch in vivo gedacht, und In-vitro-Tests sind technisch nicht unbedingt relevant, es sei denn, daß sie Anzeichen für die Beseitigung oder Verminderung der Flatulenz ergeben. Da der vermutete Zusammenhang durch die angegebenen Literaturstellen gestützt wird, geht die Kammer davon aus, daß eine erfinderische Tätigkeit für die beanspruchten Tabletten glaubhaft nachgewiesen worden ist.
ENTSCHEIDUNGSFORMEL
Aus diesen Gründen wird wie folgt entschieden:
1. Die Entscheidung der Prüfungsabteilung vom 20. Juli 1982 wird aufgehoben.
2. Die Sache wird an die Vorinstanz mit der Auflage zurückverwiesen, auf der Grundlage der folgenden Unterlagen ein europäisches Patent zu erteilen:
1. Beschreibung:
Seiten 1, 2, 4 und 10 (neue Seite 9) der ursprünglich eingereichten Patentanmeldung;
Seiten 3, 6 und 10, eingegangen am 5. März 1984 mit Schreiben vom 2. März 1984;
Seiten 5, 7, 8 und 11, eingegangen am 10. März 1984 mit Schreiben vom 8. März 1984.
2. Ansprüche:
Ansprüche 1 bis 5 (Seite 1), eingegangen am 10. März 1984 mit Schreiben vom 8. März 1984;
Anspruch 6 (Seite 2), eingegangen am 5. März 1984 mit Schreiben vom 2. März 1984.
3. Zeichnungen:
Seite 1/1 (Abb. 1 bis 3), eingegangen am 10. März 1984 mit Schreiben vom 8. März 1984.