Sachverhalt und Anträge
I. Das europäische Patent Nr. 84 221, das ein Verfahren zur Herstellung einer dünnen optischen Membran betrifft, wurde 1987 erteilt. Der unabhängige Anspruch 1 lautet wie folgt:
"Verfahren zur Herstellung einer optischen Membran aus einer Lösung, die wenigstens ein Polymer und wenigstens ein Lösungsmittel enthält, gekennzeichnet durch die Stufen des Auftragens der Lösung auf eine horizontale Fläche eines Trägers (8), der um eine im wesentlichen vertikale Achse drehbar ist, der Beschleunigung des Trägers (8) von einer ersten auf eine zweite Drehgeschwindigkeit, um die Lösung unter der Einwirkung von Zentrifugalkräften radial nach außen zu verteilen, der Bildung der Membran während der Drehung des Trägers (8) durch Abdampfen des Lösungsmittels in der Lösung, wobei die Radialkräfte, die auf die Membran einwirken, und die Abdampfung des Lösungsmittels bewirken, daß die gebildete Membran straff auf der Fläche aufliegt und im wesentlichen frei von Schlieren (Hervorhebung hinzugefügt) ist, und des Entfernens der Membran nach ihrer Bildung von der Stützfläche (8)."
II. Gegen das Patent wurde aus allen in Artikel 100 EPÜ genannten Gründen Einspruch eingelegt. Hinsichtlich des Einspruchsgrunds nach Artikel 100 c) EPÜ wurde unter anderem behauptet, das während der Prüfung der Patentanmeldung hinzugefügte Merkmal "im wesentlichen frei von Schlieren" in Anspruch 1 des Patents sei ein Gegenstand, der über den Inhalt der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung hinausgehe. Die Einspruchsabteilung ließ dieses Vorbringen gelten und widerrief das Patent nach Artikel 102 (1) EPÜ (ohne auf die übrigen von der Einsprechenden angeführten Einspruchsgründe einzugehen).
III. Die Patentinhaberin legte gegen die Entscheidung der Einspruchsabteilung Beschwerde ein und beantragte vor der Technischen Beschwerdekammer 3.4.2, daß die Angelegenheit zur weiteren Entscheidung auf der Grundlage bestimmter Änderungen an den Ansprüchen des Streitpatents an die erste Instanz zurückverwiesen wird. Hinsichtlich des Merkmals "im wesentlichen frei von Schlieren" in Anspruch 1 wurde in Hilfsanträgen vorgeschlagen, diesen Ausdruck durch "von im wesentlichen gleichmäßiger Dicke" zu ersetzen oder am Ende der Beschreibung den folgenden Satz einzufügen: "Die Wörter 'im wesentlichen frei von Schlieren' in Anspruch 1 waren in der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung nicht enthalten. Dies stellt jedoch keinen Verstoß gegen Artikel 123 (2) EPÜ dar, weil diese Wörter als gleichbedeutend mit 'von im wesentlichen gleichmäßiger Dicke' zu verstehen sind."
Die Einsprechende beantragte die Zurückweisung der Beschwerde.
IV. Nachdem die Technische Beschwerdekammer 3.4.2 untersucht hatte, welche technische Bedeutung der Begriff "Schlieren" in diesem Zusammenhang hat, wobei "Schlieren" für die Zwecke des der Großen Beschwerdekammer vorliegenden Falls als eine Art Unregelmäßigkeit in einer optischen Membran (Filament, feiner Grat usw.) angesehen werden können, die zu einer Störung der Lichtausbreitung durch die Membran führt, kam sie in ihrer Zwischenentscheidung vom 11. November 1992 zu dem Schluß, daß das hinzugefügte Merkmal "im wesentlichen frei von Schlieren" in seinem Umfang zwar nicht genau, aber nicht bar jeder technischen Bedeutung sei. Obwohl es auf das Erzeugnis gerichtet sei, bilde es ein beschränkendes Merkmal des Verfahrensanspruchs 1, denn es bestimme, daß die Verfahrensschritte so angelegt sein müßten, daß eine im wesentlichen schlierenfreie Membran entstehe. Da sich das strittige Merkmal nicht aus der Patentanmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung ableiten lasse, sei die Kammer ebenso wie die Einspruchsabteilung der Meinung, daß es einen Gegenstand darstelle, der im Sinne des Artikels 123 (2) EPÜ über den Inhalt der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung hinausgehe.
V. Was den Vorschlag der Patentinhaberin anbelangt, das Merkmal "im wesentlichen frei von Schlieren" durch "von im wesentlichen gleichmäßiger Dicke" zu ersetzen, so vertrat die Technische Beschwerdekammer 3.4.2 die Auffassung, daß diese Maßnahme nicht gegen Artikel 123 (2) EPÜ verstoße, da sie von der ursprünglichen Beschreibung ordnungsgemäß gestützt werde. Allerdings erweitere sie den Schutzbereich des Anspruchs 1 des Patents in der erteilten Fassung im Sinne des Artikels 123 (3) EPÜ insofern, als nicht nur ein Verfahren geschützt werde, dessen Parameter so gewählt seien, daß eine im wesentlichen schlierenfreie Membran entstehe, sondern auch ein Verfahren, das zwar zu einer im wesentlichen gleichmäßigen Dicke führe, aber dennoch Schlieren hervorrufe (was nach Meinung der Kammer aus technischen Gründen ohne weiteres der Fall sein könne).
VI. Bei der Prüfung des Vorschlags, am Ende der Beschreibung den unter Nummer III genannten Satz einzufügen, erschien es der Technischen Beschwerdekammer 3.4.2 äußerst fraglich, ob die Bedeutung des hinzugefügten Merkmals "im wesentlichen frei von Schlieren" durch eine solche Einfügung verändert werden könne. Die Kammer vertrat die Auffassung, daß allein schon die Einfügung im Sinne des Artikels 123 (2) EPÜ über den Inhalt der Patentanmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung hinausgehe, weil der Ausdruck "im wesentlichen frei von Schlieren" einerseits und die Behauptung, er sei gleichbedeutend mit "von im wesentlichen gleichmäßiger Dicke", andererseits von der ursprünglichen Offenbarung nicht gestützt würden.
VII. Angesichts der Sachlage im ihr vorliegenden Fall hatte die Technische Beschwerdekammer 3.4.2 den Eindruck, daß die Erfordernisse der Absätze 2 und 3 des Artikels 123 EPÜ in entgegengesetzte Richtungen gingen und daß jeder Versuch, das vor der Erteilung zu Unrecht hinzugefügte Merkmal "im wesentlichen frei von Schlieren" aus dem Anspruch 1 des Streitpatents zu streichen, zu einer Erweiterung des Schutzbereichs des Patents führen würde.
VIII. Bei der Prüfung der grundsätzlichen Beziehung zwischen den Absätzen 2 und 3 des Artikels 123 EPÜ stellte die Technische Beschwerdekammer 3.4.2 fest, daß Schwierigkeiten nicht aufträten, wenn ein Patent ordnungsgemäß erteilt worden sei, und daß die Probleme in dem ihr vorliegenden Fall erst während des Prüfungsverfahrens entstanden seien. Die Kammer stellte sich auf den Standpunkt, daß ein Anmelder für Änderungen an der Anmeldung, die er während des Prüfungsverfahrens vornehme oder denen er zustimme, zwar voll verantwortlich sei, daß aber einen Teil der Verantwortung auch die Prüfungsabteilung trage, wenn sie gegen vom Anmelder vorgeschlagene unzulässige Änderungen keine Einwände erhebe. Sie hielt es für nicht befriedigend, daß ein Anmelder nie völlig sicher sein könne, daß ihn Änderungen, die er im Prüfungsverfahren gutgläubig vorschlage oder akzeptiere, nicht in eine unentrinnbare Falle führten.
IX. Nachdem die Technische Beschwerdekammer 3.4.2 unter anderem auch untersucht hatte, wie das vorstehend genannte Problem bislang in der Rechtsprechung der Beschwerdekammern des EPA und auch des deutschen Bundespatentgerichts behandelt worden ist, kam sie zu dem Schluß, daß die Beziehung zwischen den Absätzen 2 und 3 des Artikels 123 EPÜ eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung sei, die zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsanwendung geklärt werden müsse. Die Kammer legte daher gemäß Artikel 112 (1) a) EPÜ der Großen Beschwerdekammer die folgenden Frage vor:
Kann ein europäisches Patent im Hinblick auf Artikel 123 (2) und (3) EPÜ im Einspruchsverfahren aufrechterhalten werden, wenn es in der erteilten Fassung Gegenstände enthält, die über den Inhalt der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung hinausgehen und auch den von den Ansprüchen bestimmten Schutzbereich einschränken?
X. Auf eine Mitteilung vom 17. Februar 1993 hin reichten die am Beschwerdeverfahren Beteiligten, die nach Artikel 112 (2) EPÜ auch am Verfahren vor der Großen Beschwerdekammer beteiligt sind, eine Stellungnahme zu der vorgelegten Frage ein; auf Antrag beider Beteiligter fand am 19. Oktober 1993 eine mündliche Verhandlung statt; die Patentinhaberin (Beschwerdeführerin) wurde durch Herrn David Young Q. C., die Einsprechende (Beschwerdegegnerin) durch Herrn Nicholas Pumfrey Q. C. vertreten.
Entscheidungsgründe
1. Insoweit sich die Beteiligten in ihren Vorbringen vor der Großen Beschwerdekammer auf den Sachverhalt in dem vor der Technischen Beschwerdekammer 3.4.2 anhängigen Fall bezogen haben, stellt die Große Beschwerdekammer fest, daß sie nur mit der ihr vorgelegten Rechtsfrage befaßt ist und daß der Sachverhalt in dem bei der vorlegenden Kammer anhängigen Fall nur der Veranschaulichung einiger praktischer Aspekte der Grundsatzfrage dienen kann. Ferner ist zu bemerken, daß im Verfahren vor der Großen Beschwerdekammer im vorliegenden Fall keine Verfahrensfragen geprüft werden müssen, die nicht in unmittelbarem Zusammenhang mit der ihr vorgelegten Rechtsfrage stehen. Die Große Beschwerdekammer wird sich mithin nicht mit den Fragen befassen, die unter den Nummern 7 und 8 des Schreibens der Einsprechenden vom 16. Juni 1993 aufgeworfen worden sind und bei denen es darum geht, wie die Einspruchsabteilungen Fälle behandeln sollten, in denen ein Patent aus mehreren Gründen angefochten worden ist, und wie die Beschwerdekammern ihre Entscheidungen begründen sollten.
2. In der der Großen Beschwerdekammer vorgelegten Frage, ob ein europäisches Patent unter bestimmten Umständen im Einspruchsverfahren aufrechterhalten werden kann, wird auf Artikel 123 (2) und (3) EPÜ Bezug genommen. In formaler Hinsicht ist hierzu festzustellen, daß im Einspruchsverfahren unmittelbar nicht Artikel 123 (2) EPÜ, sondern vielmehr Artikel 100 c) in Verbindung mit Artikel 101 EPÜ in Betracht kommt, wie dies auch von den Beteiligten eingeräumt wird. Zu fragen ist nämlich, ob der Einspruchsgrund nach Artikel 100 c) EPÜ, der Gegenstand des europäischen Patents gehe über den Inhalt der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung hinaus, der Aufrechterhaltung des Patents entgegensteht. Dieser Einspruchsgrund steht insofern im Zusammenhang mit Artikel 123 (2) EPÜ, als er nur dann Anwendung findet, wenn die Anmeldung im Verfahren vor der Patenterteilung unter Verstoß gegen Artikel 123 (2) EPÜ geändert worden ist. Eine solche unzulässige Änderung kann nach Artikel 138 (1) c) EPÜ auch ein Grund für die Nichtigerklärung des europäischen Patents aufgrund des Rechts eines EPÜ- Vertragsstaats sein.
3. Artikel 123 (3) EPÜ hingegen, wonach im Einspruchsverfahren die Patentansprüche eines europäischen Patents nicht in der Weise geändert werden dürfen, daß sein Schutzbereich erweitert wird, bezieht sich offensichtlich nur auf das Verfahren nach der Patenterteilung. Eine gegen Artikel 123 (3) EPÜ verstoßende Änderung kann nach Artikel 138 (1) d) EPÜ ein Grund für die Nichtigerklärung des europäischen Patents aufgrund des Rechts eines EPÜ-Vertragsstaats sein.
4. Probleme im Zusammenhang mit der Anwendung des Artikels 123 (2) und (3) EPÜ sind in der Vergangenheit in einer Reihe von Fällen von den Beschwerdekammern behandelt worden; einige dieser Fälle wurden im vorliegenden Fall von den Beteiligten im Verfahren vor der Großen Beschwerdekammer angezogen und kommentiert, insbesondere die Entscheidungen T 194/84 (ABl. EPA 1990, 59), T 371/88 (ABl. EPA 1992, 157), T 231/89 (ABl. EPA 1993, 13), T 938/90 (EPOR 1993, 287) und T 108/91 (EPOR 1993, 407 und ABl. EPA 1994, 228). Insoweit die Beschwerdekammern in diesen Fällen in den ursprünglichen Anmeldungen eine Grundlage dafür fanden, daß hinzugefügte, nicht offenbarte technische Merkmale ohne Verstoß gegen Artikel 123 (3) EPÜ durch andere ersetzt werden durften, scheinen sie unstrittig zu sein. Strittig dürfte auch nicht die in der Sache T 231/89 vertretene Auffassung sein, daß ein hinzugefügtes, nicht offenbartes Merkmal ohne jegliche technische Bedeutung aus einem Anspruch gestrichen werden kann, ohne daß gegen Artikel 123 (3) EPÜ verstoßen wird. Bei der der Großen Beschwerdekammer hier vorgelegten Frage geht es aber im Kern vielmehr darum, was zu tun ist, wenn vor der Patenterteilung einem Anspruch ein nicht offenbartes, beschränkendes und technisch bedeutsames Merkmal hinzugefügt wurde, das nicht gestrichen oder durch ein anderes in der ursprünglichen Anmeldung ordnungsgemäß offenbartes Merkmal ersetzt werden kann, ohne daß der Schutzbereich des Patents in der erteilten Fassung unter Verstoß gegen Artikel 123 (3) EPÜ erweitert wird. Diese Grundsatzfrage ist bislang nur im Fall T 231/89 eingehender behandelt worden; angeschnitten wurde sie auch in den Fällen T 938/90 und T 108/91.
5. In der Sache T 231/89 vertrat die Beschwerdekammer die Auffassung, daß ein beschränkendes Merkmal, das einem Anspruch vor der Patenterteilung unter Verstoß gegen Artikel 123 (2) EPÜ hinzugefügt worden sei, ungeachtet seiner Eigenschaft als Erweiterung darin verbleiben könne, sofern es für die Beurteilung der Neuheit und der erfinderischen Tätigkeit unerheblich sei. Diese Überlegung ist von der Einsprechenden mit der Begründung kritisiert worden, sie beruhe auf einer irrelevanten, für die Entscheidung in diesem Fall unerheblichen Spekulation über eine Beziehung zwischen den Absätzen 2 und 3 des Artikels 123 EPÜ, die man angestellt habe, obwohl keine Argumente zu diesem Punkt vorgebracht worden seien. Die Einsprechende hat die Große Beschwerdekammer auch darauf aufmerksam gemacht, daß sogar die Technische Beschwerdekammer 3.4.2 in ihrer Vorlageentscheidung Zweifel an der vorstehend genannten Überlegung geäußert habe. Nach Auffassung der Einsprechenden stellen die Absätze 2 und 3 des Artikels 123 EPÜ völlig getrennte Grundprinzipien des europäischen Patentrechts dar, die von gleichrangiger Bedeutung seien und vom EPA gemäß ihrem Wortlaut angewendet werden müßten.
6. Im Lauf des Verfahrens vor der Großen Beschwerdekammer wurde auch auf die Rechtsprechung und die Lehre hinsichtlich hinzugefügter, nicht offenbarter Gegenstände im Vereinigten Königreich und in Deutschland Bezug genommen; untersucht wurde insbesondere die sogenannte "Fußnoten-Lösung", die beispielsweise in einer Entscheidung des Bundespatentgerichts vom 28. Juni 1988 ("Flanschverbindung"; GRUR 1990, 114) Anwendung gefunden hatte. Diese Lösung ist dadurch gekennzeichnet, daß in die Beschreibung des Streitpatents eine Erklärung des Inhalts eingefügt werden soll, daß das nicht offenbarte Merkmal (das in dem Anspruch beibehalten wird, damit der Schutzbereich nicht erweitert wird) eine unzulässige Erweiterung darstellt, aus der keine Rechte hergeleitet werden können. Die Patentinhaberin hielt eine Lösung dieser Art für geeignet, um die Wirkung eines hinzugefügten, nicht offenbarten Merkmals zu "neutralisieren"; die Einsprechende hingegen meinte, daß die "Fußnoten-Lösung" auf einer speziellen Bestimmung des deutschen Rechts (§ 38 PatG 1981) beruhe, für die es im EPÜ keine Entsprechung gebe, und daß die Einfügung einer Erklärung gemäß dieser Lösung in die Beschreibung keinerlei "neutralisierende" Wirkung habe, sondern de facto auf die erneute Hinzufügung eines neuen, nicht offenbarten Gegenstands hinauslaufe. Die Einsprechende machte ferner darauf aufmerksam, daß die "Fußnoten-Lösung" vom Bundesgerichtshof noch nicht geprüft, geschweige denn gebilligt worden sei.
7. Die Patentinhaberin verwies auch auf die ständige Praxis, Disclaimer zur Abgrenzung des Schutzbereichs gegenüber einem Stand der Technik zuzulassen, der Anmeldern während des Prüfungsverfahrens zur Kenntnis gebracht wurde, und behauptete, daß es mit dieser Praxis in Einklang stünde, wenn ein eindeutig beschränkendes Merkmal der vorliegenden Art in einem Anspruch verbleiben dürfe, ohne daß das Patent dadurch seine Gültigkeit verliere. Ein ähnliches Argument sei auch von der Beschwerdekammer im vorstehend genannten Fall T 231/89 angeführt worden.
8. Beide Beteiligten nahmen Bezug auf den Zweck und die Aufgabe des Artikels 123 (2) und (3) EPÜ im Rahmen des europäischen Patentsystems und machten hierzu umfassende Bemerkungen. Der Großen Beschwerdekammer scheint Einvernehmen darüber zu bestehen, daß diese Bestimmungen in erster Linie einen angemessenen Interessenausgleich zwischen den Anmeldern und Patentinhabern einerseits und den Wettbewerbern und sonstigen Dritten andererseits herstellen sollen, wie dies auch im Protokoll über die Auslegung des Artikels 69 EPÜ zum Ausdruck kommt. Allerdings stellt sich natürlich die Frage, wie ein solcher angemessener Interessenausgleich im Einzelfall aussieht.
9. Artikel 123 (2) EPÜ liegt eindeutig der Gedanke zugrunde, daß es einem Anmelder nicht gestattet sein darf, seine Position durch Hinzufügung von in der ursprünglichen Anmeldung nicht offenbarten Gegenständen zu verbessern, weil ihm dies zu einem ungerechtfertigten Vorteil verhülfe und der Rechtssicherheit für Dritte, die sich auf den Inhalt der ursprünglichen Anmeldung verlassen, abträglich sein könnte. Artikel 123 (3) EPÜ hingegen zielt unmittelbar auf den Schutz der Interessen Dritter ab, indem er jede Erweiterung der Ansprüche eines erteilten Patents selbst dann verbietet, wenn die Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung eine Grundlage dafür enthält.
10. Der Schutzbereich des europäischen Patents und der europäischen Patentanmeldung wird von Artikel 69 EPÜ geregelt. In diesem Zusammenhang ist zu beachten, daß nach Artikel 69 (2) EPÜ das Patent in seiner erteilten oder im Einspruchsverfahren geänderten Fassung rückwirkend den Schutzbereich der Anmeldung bestimmt, soweit er dadurch nicht erweitert wird. Mit anderen Worten: Selbst wenn die Ansprüche im erteilten Patent weiter gefaßt sind als in der veröffentlichten Anmeldung - was der Fall sein kann, sofern es hierfür eine Grundlage in der ursprünglich eingereichten Fassung der Anmeldung gibt -, werden die Rechte Dritter von einer solchen Erweiterung für den Zeitraum bis zur Erteilung des Patents nicht berührt; sind hingegen die Ansprüche im erteilten Patent enger gefaßt als in der veröffentlichten Anmeldung, so profitieren Dritte hiervon von Anfang an.
11. Die Rechtssicherheit für Dritte, die sich auf den Inhalt der Patentanmeldung in der eingereichten und veröffentlichten Fassung verlassen, ist offensichtlich gefährdet, wenn nicht offenbarte Gegenstände hinzugefügt werden, die eine Grundlage für die Erweiterung des Schutzbereichs des Patents in der erteilten Fassung gegenüber dem in der ursprünglichen Anmeldung Offenbarten und Beanspruchten darstellen können. Eine solche Erweiterung kann in einer Verallgemeinerung spezifischer Merkmale oder Ausführungsarten und in der Einführung neuer Alternativen bestehen. Es kommt grundsätzlich nicht darauf an, ob die Hinzufügung die Ansprüche, die Beschreibung oder die Zeichnungen betrifft, denn nach Artikel 69 EPÜ und dem Protokoll über seine Auslegung wird der Schutzbereich des Patents durch all diese Komponenten bestimmt. Allerdings sind die Ansprüche in dieser Beziehung zweifellos die wichtigste Komponente. Wird während der Prüfung einer Anmeldung ein hinzugefügter Gegenstand nicht beschränkender Art unter Verstoß gegen Artikel 123 (2) EPÜ eingeführt und im Einspruchsverfahren ein Einwand nach Artikel 100 c) EPÜ erhoben, so kann der hinzugefügte Gegenstand aus dem Patent herausgenommen werden, ohne daß gegen Artikel 123 (3) EPÜ verstoßen wird, denn der Schutzbereich des Patents wird dadurch nicht erweitert, sondern eingeschränkt, und das Patent kann nach Artikel 102 (3) EPÜ auf der Grundlage des Inhalts der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung in geändertem Umfang aufrechterhalten werden. Mit anderen Worten: Es kann wieder ein angemessener Interessenausgleich zwischen dem Patentinhaber und Dritten hergestellt werden.
12. Die Rechtsfrage, mit der die Große Beschwerdekammer im vorliegenden Fall befaßt worden ist, betrifft jedoch nicht den vorstehend geschilderten Sachverhalt, sondern den Sonderfall, daß während des Prüfungsverfahrens ein nicht offenbartes technisches Merkmal hinzugefügt wurde, das den Schutzbereich der Ansprüche des Patents in der erteilten Fassung im Vergleich zur eingereichten und veröffentlichten Anmeldung einschränkt. Im Hinblick auf die Rechtssicherheit für Dritte unterscheidet sich dieser Fall offensichtlich insofern grundlegend von dem vorstehend geschilderten, als sich Dritte, die sich auf die Anmeldung in der eingereichten und veröffentlichten Fassung verlassen haben, einem erteilten Patent gegenübersehen, das keinen breiteren, sondern einen engeren Schutzbereich hat als erwartet und daher ihre Tätigkeit weniger behindert.
13. Die Große Beschwerdekammer teilt die Ansicht der Einsprechenden, daß sich im EPÜ kein Anhaltspunkt für den von der Beschwerdekammer in der Entscheidung T 231/89 geäußerten Gedanken findet, es bestehe eine Wechselbeziehung zwischen den Absätzen 2 und 3 des Artikels 123 EPÜ, wobei je nach Lage des Einzelfalls der eine als vorrangig und der andere als nachrangig anzuwenden sei. Wie in der Stellungnahme der Großen Beschwerdekammer in der Sache G 3/89 (ABl. EPA 1993, 117) erläutert, steht diese Auslegung nicht im Einklang mit dem verbindlichen Charakter des Artikels 123 (2) EPÜ. Die Absätze 2 und 3 des Artikels 123 EPÜ sind vielmehr voneinander unabhängig. Fällt ein beschränkendes Merkmal unter Artikel 123 (2) EPÜ, so kann es folglich im Hinblick auf Artikel 100 c) EPÜ weder im Patent beibehalten noch ohne Verstoß gegen Artikel 123 (3) EPÜ aus den Ansprüchen gestrichen werden. Nur wenn sich das hinzugefügte Merkmal ohne Verstoß gegen Artikel 123 (3) EPÜ durch ein in der ursprünglichen Anmeldung offenbartes anderes Merkmal ersetzen läßt, kann das Patent (in geändertem Umfang) aufrechterhalten werden. Dies mag in der Praxis selten vorkommen. Insofern muß man einräumen, daß Artikel 123 (2) in Verbindung mit Artikel 123 (3) EPÜ recht harte Folgen für einen Anmelder haben kann, denn er läuft Gefahr, daß er nach Änderung seiner Anmeldung selbst dann in einer unentrinnbaren Falle sitzt und alles verliert, wenn die Änderung den Schutzbereich einschränkt. Wie von der Einsprechenden geltend gemacht, ist diese Härte an sich aber noch kein hinreichender Anlaß, Artikel 123 (2) EPÜ nicht anzuwenden, denn er soll die Interessen der Öffentlichkeit gebührend schützen. Es kommt grundsätzlich auch nicht darauf an, ob eine solche Änderung von der Prüfungsabteilung gebilligt worden ist. Die Verantwortung für Änderungen an einer Patentanmeldung (oder einem Patent) trägt letztlich immer der Anmelder (bzw. der Patentinhaber).
14. Die Große Beschwerdekammer stimmt mit der Einsprechenden auch darin überein, daß das EPÜ keine Grundlage für eine "Fußnoten- Lösung" der unter Nummer 6 genannten Art enthält. Dies folgt, wie im vorangehenden Absatz erörtert, aus dem verbindlichen Wesen und dem verbindlichen Charakter des Artikels 123 (2) und (3) EPÜ sowie aus der Funktion der Beschreibung und der Ansprüche eines im Rahmen des europäischen Patentsystems erteilten Patents.
Die Hauptaufgabe der Beschreibung eines europäischen Patents besteht darin, die Erfindung so zu offenbaren, daß sie ausgeführt werden kann (Art. 83 EPÜ). Die Aufgabe der Patentansprüche ist es, den Gegenstand des Schutzbegehrens durch Angabe seiner technischen Merkmale anzugeben (Art. 84 und R. 29 (1) EPÜ). Wird ein technisch bedeutsames Merkmal in einen Anspruch eines erteilten Patents aufgenommen, so ist dieses Merkmal nach Artikel 69 (1) EPÜ in Verbindung mit den übrigen technischen Merkmalen des Anspruchs beispielsweise von einem nationalen Gericht zu berücksichtigen, wenn es in einem Verletzungsverfahren nach nationalem Recht gemäß Artikel 64 (3) EPÜ den Schutzbereich des Patents bestimmt. Nach Artikel 69 (1) EPÜ und dem Protokoll über die Auslegung des Artikels 69 EPÜ ist es zulässig, die Beschreibung eines Patents zur Auslegung des Wortlauts solcher technischer Merkmale eines Anspruchs und mithin zur Bestimmung des Schutzbegehrens heranzuziehen. Allerdings ist in keiner der vorstehend genannten Bestimmungen des EPÜ vorgesehen oder zugelassen, daß in die Beschreibung eines bestimmten Patents eine Erklärung darüber aufgenommen wird, welche Rechte aus dem Vorhandensein eines bestimmten technischen Merkmals in einem Anspruch dieses Patents hergeleitet werden können. Die von der sogenannten "Fußnoten-Lösung" vorgesehene Aufnahme einer solchen Erklärung in ein Patent während des Einspruchsverfahrens wäre nach Auffassung der Großen Beschwerdekammer im Hinblick auf die vorstehend genannten Bestimmungen des EPÜ mit dem europäischen Patentsystem unvereinbar und würde die Kompetenzen des EPA in diesem System überschreiten.
15. Den vorstehenden Schlußfolgerungen liegt die Annahme zugrunde, daß das betreffende hinzugefügte Merkmal als Gegenstand zu betrachten ist, der im Sinne des Artikels 123 (2) EPÜ über den Inhalt der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung hinausgeht. Es ist jedoch noch zu prüfen, ob ein beschränkendes Merkmal zwangsläufig immer als ein solcher Gegenstand anzusehen ist. Bei der Beantwortung dieser Frage müssen der unter den Nummern 8 und 9 erläuterte globale Zweck des Artikels 123 (2) und (3) EPÜ, nämlich der Interessenausgleich zwischen den Beteiligten, und auch die unter Nummer 10 genannte Wirkung des Artikels 69 (2) EPÜ berücksichtigt werden.
16. Es hängt von den Umständen ab, ob die Hinzufügung eines nicht offenbarten Merkmals, das den Schutzbereich des Patents in der erteilten Fassung einschränkt, dem Zweck des Artikels 123 (2) EPÜ zuwiderläuft, der verhindern soll, daß ein Anmelder für etwas Patentschutz erhält, das er am Tag der Anmeldung nicht ordnungsgemäß offenbart und vielleicht noch nicht einmal erfunden hatte, und sich dadurch einen ungerechtfertigten Vorteil verschafft. Ist davon auszugehen, daß ein solches hinzugefügtes Merkmal zwar den Schutzbereich des Patents einschränkt, aber einen technischen Beitrag zum Gegenstand der beanspruchten Erfindung leistet, so würde es dem Patentinhaber nach Auffassung der Großen Beschwerdekammer zu einem ungerechtfertigten Vorteil verhelfen und damit dem vorstehend genannten Zweck zuwiderlaufen. Daher wäre ein solches Merkmal eine Erweiterung im Sinne dieser Bestimmung. Ein typisches Beispiel hierfür dürfte der Fall sein, daß das beschränkende Merkmal zu einer erfinderischen Auswahl führt, die in der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung nicht offenbart ist und sich auch sonst nicht daraus ableiten läßt. Schließt das betreffende Merkmal hingegen lediglich den Schutz für einen Teil des Gegenstands der beanspruchten Erfindung gemäß der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung aus, so kann man vernünftigerweise nicht unterstellen, daß seine Hinzufügung dem Anmelder zu einem ungerechtfertigten Vorteil verhilft. Sie beeinträchtigt auch nicht die Interessen Dritter (vgl. Nr. 12). Nach Auffassung der Großen Beschwerdekammer ist ein solches Merkmal bei richtiger Auslegung des Artikels 123 (2) EPÜ deshalb nicht als Gegenstand zu betrachten, der im Sinne dieser Bestimmung über den Inhalt der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung hinausgeht. Folglich kann ein Patent, das ein solches Merkmal in den Ansprüchen enthält, aufrechterhalten werden, ohne daß gegen Artikel 123 (2) EPÜ verstoßen oder Anlaß für einen Einspruchsgrund nach Artikel 100 c) EPÜ gegeben wird. Da das Merkmal in den Ansprüchen beibehalten wird, kann auch kein Verstoß gegen Artikel 123 (3) EPÜ vorliegen.
17. Ob ein beschränkendes Merkmal als Erweiterung im Sinne des Artikels 123 (2) EPÜ zu betrachten ist, kann natürlich nur nach der Sachlage im Einzelfall entschieden werden.
ENTSCHEIDUNGSFORMEL
Aus diesen Gründen wird entschieden:
Die der Großen Beschwerdekammer vorgelegte Rechtsfrage ist wie folgt zu beantworten:
1. Enthält ein europäisches Patent in der erteilten Fassung Gegenstände, die im Sinne des Artikels 123 (2) EPÜ über den Inhalt der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung hinausgehen und auch seinen Schutzbereich einschränken, so kann es im Einspruchsverfahren nicht unverändert aufrechterhalten werden, weil der Einspruchsgrund nach Artikel 100 c) EPÜ seiner Aufrechterhaltung entgegensteht. Das Patent kann auch nicht durch Streichung dieser beschränkenden Gegenstände aus den Ansprüchen geändert werden, weil eine solche Änderung den Schutzbereich erweitern würde, was nach Artikel 123 (3) EPÜ unzulässig ist. Es kann deshalb nur aufrechterhalten werden, wenn die Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung eine Grundlage dafür bietet, daß diese Gegenstände ohne Verstoß gegen Artikel 123 (3) EPÜ durch andere ersetzt werden können.
2. Ein Merkmal, das in der Anmeldung ursprünglich nicht offenbart war, ihr aber während der Prüfung hinzugefügt wurde und - ohne einen technischen Beitrag zum Gegenstand der beanspruchten Erfindung zu leisten - lediglich den Schutzbereich des Patents in der erteilten Fassung einschränkt, indem es den Schutz für einen Teil des Gegenstands der in der ursprünglichen Anmeldung beanspruchten Erfindung ausschließt, ist nicht als Gegenstand zu betrachten, der im Sinne des Artikels 123 (2) EPÜ über den Inhalt der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung hinausgeht. Der Einspruchsgrund nach Artikel 100 c) EPÜ steht deshalb der Aufrechterhaltung eines europäischen Patents, das ein solches Merkmal enthält, nicht entgegen.