European Case Law Identifier: | ECLI:EP:BA:1982:T001281.19820209 | ||||||||
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Datum der Entscheidung: | 09 Februar 1982 | ||||||||
Aktenzeichen: | T 0012/81 | ||||||||
Anmeldenummer: | 79104254.2 | ||||||||
IPC-Klasse: | - | ||||||||
Verfahrenssprache: | DE | ||||||||
Verteilung: | A | ||||||||
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Bezeichnung der Anmeldung: | - | ||||||||
Name des Anmelders: | Bayer | ||||||||
Name des Einsprechenden: | - | ||||||||
Kammer: | 3.3.01 | ||||||||
Leitsatz: | 1. Ist in einer Vorveröffentlichung ein der Strukturformel nach beschriebener chemischer Stoff neben anderen genannt, so wird auch dessen spezielle stereospezifische Form (threo-Form) - trotz fehlender wortwörtlicher Erwähnung - neuheitsschädlich getroffen, wenn sich letztere - unerkannt - als zwangsläufiges Ergebnis eines aus mehreren in der Vorveröffentlichung hinreichend durch Nennung des Ausgangsstoffes und der Verfahrensmaßnahmen beschriebenen Verfahrens erweist. In solchen Fällen kann keine Neuheit durch Auswahl mehr geltend gemacht werden; denn bei der gedanklichen Kombination aller aufgezählten Ausgangsstoffe mit der Gesamtheit der Verfahrensvarianten kommt kein für die Stoffauswahl unverzichtbares neues Element herein, das zu einer echten und nicht nur "identischen" Modifikation der Ausgangsstoffe führen könnte. 2. Die auf die Straffung des Verfahrens vor dem Europäischen Patentamt abzielende Regel 86(3) EPÜ kann auch im Beschwerdeverfahren angewendet werden (Regel 66(1)). Richtet die Beschwerdeführerin kurz vor der angesetzten mündlichen Verhandlung den Anspruch auf einen Gegenstand, der gleich zu Beginn des Beschwerdeverfahrens durch Streichung fallen gelassen und in dessen weiteren Verlauf nicht wieder aufgegriffen wurde, so ist ein solcher Patentanspruch nicht zuzulassen. |
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Relevante Rechtsnormen: |
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Schlagwörter: | Neuheit Auswahl Nichtzulassung von Patentansprüchen Patentansprüche/Nichtzulassung/Beschwerdeverfahren |
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Orientierungssatz: |
- |
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Angeführte Entscheidungen: |
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Anführungen in anderen Entscheidungen: |
Sachverhalt und Anträge
I. Die am 2. November 1979 eingegangene und am 28. Mai 1980 veröffentlichte europäische Patentanmeldung 79 104 254.2 mit der Veröffentlichungsnummer 0011 191, für welche die Priorität der Voranmeldung in der Bundesrepublik Deutschland vom 18. November 1978 in Anspruch genommen wird, wurde durch die Entscheidung der Prüfungsabteilung des Europäischen Patentamts vom 30. Dezember 1980 zurückgewiesen. Der Entscheidung liegen die ursprünglichen Ansprüche 1 bis 5 zugrunde.
II. Die Zurückweisung wird damit begründet, daß der Gegenstand dieser Ansprüche nicht mehr neu sei. In den DE-A 2 333 354 und 2 333 355 sei bereits ein Verfahren zur Reduktion von alpha-Phenoxy-alpha- (1-imidazolyl)-ketonen, unter anderem auch von 1 - (4 - Chlorphenoxy) - 1 - (imidazol - 1 - yl)-3,3 - dimethybutan - 2 - on, nach der auf Seite 6 der zuletzt genannten Druckschrift beschriebenen Verfahrensvariante b mittels Aluminiumisopropylat zu den entsprechenden sekundären Alkoholen beschrieben, wobei zwei diastereomere Formen entstehen könnten. Durch die Druckschriften seien alle technischen Merkmale des Anspruchs 2 vorweggenommen. Daraus folge, daß auch das Produkt dieses Reduktionsverfahrens, nämlich der Stoff nach Anspruch 1, bereits zum Stande der Technik gehöre.
Der Auffassung der Anmelderin, wonach dieser Druckschrift nicht expressis verbis die mit dem anmeldungsgemäßen Verfahren zu lösende Aufgabe, nämlich die Herstellung eines bestimmten Diastereomeren, entnommen werden könne und folglich - wegen Neuheit der Aufgabenstellung - der ganze Anspruch 2 als neu angesehen werden müsse, könne nicht beigetreten werden. Mit der Angabe, das in Anspruch 2 genannte Keton mittels Aluminiumisopropylat zu reduzieren, sei auch implizit die Aufgabe definiert, das entsprechende Reduktionsprodukt herzustellen (vgl. auch die Richtlinien für die Prüfung im Europäischen Patentamt Kapitel C IV, Abschnitt 7.5).
Diese bekannte Aufgabe unterscheide sich von der anmeldungsgemäß zu lösenden nur durch die Bezeichnung, nicht der Sache nach. Das herzustellende Verfahrensprodukt sei nämlich durch die Angabe der Ausgangsverbindung und der Art ihrer Umsetzung hinreichend genau definiert. Die Anmelderin habe lediglich andere Parameter zur Beschreibung derselben Sache benutzt. Zudem wurde ausgeführt, daß der Verwendungsanspruch 5 gegen Artikel 52(4) EPÜ verstoße, da er einem Verfahren zur therapeutischen Behandlung des menschlichen und tierischen Körpers gleichkomme.
III. Gegen diese Entscheidung vom 30. Dezember 1980 hat die Anmelderin am 7. Februar 1981 Beschwerde erhoben und diese am 2. April 1981 begründet. In der Beschwerdebegründung wurde gebeten, den Anspruch 5 zu streichen und gleichzeitig beantragt, das Patent mit den Ansprüchen 1 bis 4 zu erteilen. Am 7. Juli 1981 ist ein Antrag auf mündliche Verhandlung eingegangen. Diese hat am 9. Februar 1982 stattgefunden; dabei wurde der Antrag gestellt, das nachgesuchte Patent zu erteilen auf der Grundlage der Ansprüche 1 bis 5 aus dem Schriftsatz vom 4. Februar 1982, der allerdings bis dahin nicht zu den Akten gelangt war und daher in Fotokopie in der mündlichen Verhandlung überreicht wurde. Diese Ansprüche haben folgenden Wortlaut:
1. Verbindung der Formel
(FORMEL)
in Form des Diastereomeren mit dem Schmelzpunkt 158-159°C, und deren physiologisch verträglichen Säureadditionssalze.
2. Aus dem Diastereomerengemisch der Formel
(FORMEL)
das hydrophilere Diastereomere und seine physiologisch verträglichen Säureadditionssalze.
3. Aus dem Diastereomerengemisch der Formel
(FORMEL)
das Diastereomere mit der kleineren Kopplungkonstanten der Protonen H(a) und H(b) im NMR-Spektrum, und seine physiologisch verträglichen Säureadditionssalze.
4. Verfahren zur Herstellung der Verbindung gemäß Anspruch 1, dadurch gekennzeichnet, daß man 1 - (4 - Chlorphenoxy) - 1 - (1 - imidazolyl) - 3,3 - dimethyl - 2 - butanon der Formel
(FORMEL)
mit sekundären Alkoholaten in Gegenwart eines Verdünnungsmittels stereoselektiv reduziert und das Produkt gegebenfalls durch Umsetzen mit Säuren in die Salze überführt.
5. Verwendung der Verbindung gemäß Anspruch 1 oder deren physiologisch verträglichen Säureadditionssalze bei der Behandlung von Mykosen.
IV. Zur Beschwerdebegründung wird letztlich nur noch folgendes vorgetragen: Beim beanspruchten Stoff handele es sich um ein vom Stand der Technik unterscheidbares chemisches Individuum, das erstmals in der vorliegenden Anmeldung unter Angabe von physikalisch-chemischen Eigenschaften wie Schmelzpunkt, Hydrophilie und Angaben zum NMR-Spektrum beschrieben worden sei; dies ziehe die Neuheit dieser Verbindung nach sich.
In den beiden Entgegenhaltungen seien Azolylphenoxyäthenole einer allgemeinen Bruttoformel beschrieben, wobei auch die threo- und erythro-Form mitbeansprucht worden sei. Darüberhinaus sei im Beispiel 3 auch das p-Chlorphenoxy-Derivat mit dem Schmelzpunkt 145°-147°C als nächstliegender Stand der Technik beschrieben worden. Wie die Nacharbeitung ergeben habe, handele es sich hierbei um ein Gemisch mit einem Diastereomerenverhältnis threo-erythro von etwa 1:1. Hiervon unterscheide sich die beanspruchte Verbindung jedoch dadurch, daß sie einen charakteristischen Schmelzpunkt von 158°-159°C habe und das Enantiomerenpaar der reinen threo-Form darstelle. Die Neuheit dieser Verbindung manifestiere sich auch in einer überlegenen Wirksamkeit gegenüber dem Isomerengemisch. Zudem sei die Frage zu verneinen, daß die beanspruchte threo-Form etwa durch Nennung des Ausgangsstoffes und der Verfahrensweise implizit beschrieben worden sei. Zwar sei in einer Liste von über 20 Ausgangsstoffen auch der Ausgangsstoff genannt worden, mit dessen Hilfe der beanspruchte Stoff hergestellt worden sei. Es seien auch 5 alternative Verfahrensmethoden zur Reduktion der Ketone angegeben worden, die nach dem Kenntnisstand des Fachmanns wenig Aussicht für eine stereospezifische Reduktion der Ketone geboten hätten. Diese Tatsachen reichten jedoch für eine neuheitsschädliche Vorwegnahme eines Verfahrensproduktes nicht aus, das nur durch Auswahl eines aus über 20 Ausgangsstoffen und Anwendung einer aus 5 Arbeitsmethoden erhältlich sei. Wenngleich sich die in den Entgegenhaltungen aufgeführte Methode b von dem anmeldungsgemäß offenbarten Herstellungsverfahren durch kein zusätzliches technisches Merkmal unterscheide, könne nicht gefolgert werden, daß letzteres hierdurch erschöpfend beschrieben worden sei.
Entscheidungsgründe
1. Die Beschwerde entspricht den Artikeln 106 bis 108 und Regel 64 EPÜ; sie ist daher zulässig.
2. Von den 5 Patentansprüchen, die der Entscheidung antragsgemäß zugrundegelegt werden sollen, können nur die ersten vier Ansprüche als geltende Anspruchsfassung akzeptiert werden. Diese Ansprüche betreffen nämlich Gegenstände, die dem Beschwerdeverfahren von Anbeginn an zugrundegelegt wurden (vgl. den Antrag im Schriftsatz vom 31. März 1981 unter Ziffer IV), wenngleich zum Teil in umformulierter Form.
Anders verhält es sich mit dem Verwendungsanspruch 5, der mit der Erklärung im obengenannten Schriftsatz gleich zu Beginn des Verfahrens vor der Beschwerdeinstanz fallen gelassen wurde. Die Beschwerdeführerin ist auch im Laufe des knapp einjährigen Beschwerdeverfahrens nicht mehr auf diesen Anspruch zurückgekommen. Die Kammer mußte daher noch wenige Tage vor der mündlichen Verhandlung davon ausgehen, daß dieser Anspruch nicht wieder aufgegriffen und zum Gegenstand in der mündlichen Verhandlung und in der Entscheidung gemacht werden würde. Sie betrachtet es daher als angemessen, bei derartig verspätetem Vorbringen nicht unerheblicher Gegenstände die auf die Straffung des Verfahrens vor dem Europäischen Patentamt abzielende Regel 86(3) EPÜ anzuwenden, die sinngemäß auch für das Beschwerdeverfahren gilt (Regel 66(1) EPÜ). Das Wiederaufgreifen dieses Anspruchs wird daher nicht zugelassen.
3. Die geltende Fassung der Patentansprüche 1 bis 4 ist durch die Erstoffenbarung gedeckt (Anspruch 1: vgl. Anspruch 1 in Verbindung mit Beispiel1; Ansprüche 2 und 3: vgl. Anspruch 1 in Verbindung mit Seite 2 Absatz 3; Anspruch 4: vgl. Anspruch 2) und aus diesen Gründen nicht zu beanstanden. Indes erübrigt es sich, in vorliegendem Fall darüber zu befinden, ob diese Ansprüche unter anderem den Anforderungen nach Artikel 84, sowie Regel 29 und 30 EPÜ genügen, weil die Beschwerde aus anderen Gründen erfolglos bleibt.
4. In der DE-A-2 333 354 (nachfolgend Entgegenhaltung genannt) werden Imidazolyl-O, N-acetale einer in Anspruch 1 näher definierten allgemeinen Formel, sowie einzelne unter diese Formel fallenden Verbindungen beschrieben (vgl. Beispiele 1 bis 12). In Beispiel 3 ist auch 1 - (4 - Chlorphenoxy) - 1 -(1 - imidazolyl) - 3.3 - dimethyl - 2 - butanol genannt, das mit dem beanspruchten Stoff strukturell übereinstimmt. Die genannte Verbindung besitzt zwei asymetrische Kohlenstoffatome und kann daher in vier unterschiedlichen Raumformen auftreten, von denen je zwei spezielle Raumformen ein Enantiomerenpaar zweier diastereomeren Formen bilden, nämlich die sogenannte erythro- und die threo-Form (vgl. die Entgegenhaltung S. 2, Zeile 13-16 in Verbindung mit den Ausführungen der Beschwerdeführerin im Schriftsatz vom 1. Juli 1981). Aufgrund dieser sterischen Besonderheit erscheint es glaubhaft, daß die Verbindung nach Beispiel 3 der Entgegenhaltung mit dem Schmelzpunkt 145°-147°C nicht identisch ist mit der beanspruchten Verbindung, die einen Schmelzpunkt von 158°-159°C aufweist.
5. Indes ist der Begriff der Neuheit nicht so eng auszulegen, daß nur das expressis verbis Vorbeschriebene neuheitsschädlich ist. Artikel 54(1) EPÜ verfolgt den Zweck, den Stand der Technik von der erneuten Patentierung auszuschließen. Den Stand der Technik bildet nach Artikel 54(2) EPÜ alles, was der Öffentlichkeit vor dem Anmeldetag in irgendeiner Weise, unter anderem auch durch schriftliche Beschreibung zugänglich gemacht worden ist. In der Chemie gibt es viele Möglichkeiten, einen Stoff zu beschreiben. Üblicherweise erfolgt dies durch Angabe seiner exakten wissenschaftlichen Bezeichnung. Diese steht nicht immer am Anmeldetag zur Verfügung. Auch die Beschwerdeführerin hat ursprünglich (November 1978) nicht diesen kürzesten und besten Weg der Beschreibung für ihre beanspruchte Verbindung gewählt, sondern erst im Beschwerdeverfahren (April 1981) klargestellt, daß es sich bei ihrer Verbindung um die threo-Form handelt.
6. Wie die Beschwerdeführerin durch die Fassung der geltenden Ansprüche 1 bis 3 selbst zum Ausdruck bringt, sieht sie es als legal an, die in vorliegendem Fall nicht hinreichend exakte Strukturformel durch einen zusätzlichen Stoffparameter, wie Schmelzpunkt, Hydrophilie oder NMR-Kopplungskonstanten zu präzisieren. Außerdem wird in einer Reihe von Patentämtern die Praxis geübt, zur näheren Charakterisierung chemischer Stofferfindungen den Verfahrensparameter, in Form eines product-by-process-Anspruchs zuzulassen. Diese Praxis wird nach Kenntnis der Kammer auch im Europäischen Patentamt angewendet. Die Patentierung chemischer Stofferfindungen, die durch derartige Ansprüche definiert sind, muß zur Folge haben, daß solche Patentdokumente, wenn sie zum Stande der Technik erwachsen, neuheitsschädliche Wirkung gegen solche Anmeldungen entfalten, die den gleichen Stoff nur in anderer, vielleicht besser definierten Form beanspruchen. Um einen solchen Fall handelt es sich hier.
7. Zum Inhalt der Lehre einer Entgegenhaltung gehört nicht nur das, was in den Ausführungsbeispielen detailliert angegeben ist, sondern jede für den Fachmann ausführbare Information aus dem Anspruchs- und Beschreibungsteil. Nun sind in der zitierten Entgegenhaltung zur Herstellung der dort beanspruchten Imidazolyl-O,N-acetale wahlweise 5 Reduktionsmethoden angegeben, deren gemeinsames Merkmal die Übertragung von Wasserstoff auf das entsprechende Ausgangsketon unter Bildung des sekundären Alkohols ist. Diese Methoden sind nicht nur recht allgemein (vgl. Anspruch 2) oder anhand eines Formelschemas (vgl. Seite 3 unten bis Seite 5 unten), sondern auch sehr detailliert beschrieben (vgl. Seite 8-10). Darunter befindet sich auch die Variante b, die - unstreitig - alle technischen Einzelheiten zur Herstellung der anmeldungsgemäßen Verbindung enthält (Aluminiumisolpropylat in Isopropanol bei 20-120, besonders 50-100°C). Zudem befindet sich auf Seite 6 bis 7 der Beschreibung eine Liste von 20 Ausgangsketonen, darunter an vierter Stelle auch das Keton, das anmeldungsgemäß zur Herstellung der beanspruchten Verbindung eingesetzt wird.
8. In der Summe all dieser Informationen sieht die Kammer eine neuheitsschädliche Vorbeschreibung des beanspruchten Stoffes. Denn hierdurch erhält der Fachmann bezüglich des Ausgangsstoffes und der Reaktionsbedingungen alle erforderlichen Informationen um den beanspruchten Stoff herzustellen. Anders ausgedrückt erstreckt sich die den Stoff, der zwangsläufiges Resultat der Reduktion des p-Chlorphenoxy-Ketons aus der oben genannten Liste und Beispiel 3 nach der Variante b ist.
9. Zur Neuheitsschädlichkeit einer solchen Vorveröffentlichung bedarf es auch keiner besonderen Hervorhebung des Ausgangsstoffes oder der Verfahrensvariante. Entscheidend ist nur, was der Fachmann hieraus beim Nacharbeiten entnehmen kann. Gleichwohl ist in der Entgegenhaltung eine gewisse Hervorhebung des p-Chlorphenoxyketons aus der Liste der nur beispielshaft aufgezählten 20 Ausgangsverbindungen dadurch erfolgt, daß sich eines der 12 Beispiele mit der Herstellung des entsprechenden sekundären Alkohols befaßt. Zwar wird in diesem Beispiel (3) die Variante c (fälschlich a und b bezeichnet) des Reduktionsverfahrens angewendet; durch die in der Beschreibung gegebene Lehre, daß alle 5 Varianten des Reduktionsverfahrens für die Herstellung der sekundären Alkohole zur Verfügung stehen, wird dem Fachmann in Zusammenhang mit Beispiel 3 auch der Stoff durch schriftliche Beschreibung zugänglich, der zwangsläufiges Ergebnis der Variante b ist.
10. Dabei ist es für die Neuheitsschädlichkeit ohne Bedeutung, daß das zu gewinnende Endprodukt nicht in allen Einzelheiten, sondern ausschlaggebend durch den Verfahrensparameter beschrieben ist.
Es kommt ferner auch nicht darauf an, ob der Fachmann - wie die Beschwerdeführerin behauptet - vom Ergebnis der Nacharbeitung überrascht wäre; denn die Feststellung, daß beim Nacharbeiten von Beispiel 3 der Entgegenhaltung unter Austausch der Reduktionsvariante c gegen die von b das Verhältnis zwischen threo- und erythro-Form sich von ca. 1:1 in 90:1 ändert, wäre nur als unerwartete Erkenntnis über ein bekanntes Verfahren zu werten. Dies ist für Beurteilung der Neuheitsschädlichkeit einer Entgegenhaltung aber unbeachtlich.
11. Die Beschwerdeführerin macht demgegenüber Neuheit des Stoffes durch Auswahl geltend. Diese soll dadurch zustande kommen, daß - wie bei einer klassischen Auswahl - aus einer Reihe von über 20 Ausgangsstoffen einerseits und einer Reihe von 5 Verfahrensvarianten andererseits eine ganz bestimmte Kombination gewählt wird, nämlich die zwischen dem Chlorphenoxyketon Nr. 4 aus der Liste und der Verfahrensvariante b, und dabei ein überraschendes Ergebnis erzielt wird.
Dem kann nicht gefolgt werden. Die Stoffauswahl setzt begrifflich das Herausgreifen eines Teilbereichs aus einer Stoffgruppe voraus. So wäre natürlich der glückliche Griff nach der beanspruchten threo-Verbindung aus der Vielzahl der von Formel 1 der Entgegenhaltung umfaßten Stoffe eine echte Auswahl, wenn die Entgegenhaltung keine zusätzlichen Informationen liefern würde. Natürlich muß der Teilbereich selbst neu sein. Daran fehlt es hier, wie unter 7 und 8 ausgeführt.
12. Eine Stoffauswahl kann auf verschiedene Weise zustande kommen, z.B. dadurch, daß in einem vom Stande der Technik formelmäßig umfaßten Gebiet eine nicht erwähnte Verbindung oder Verbindungsgruppe aufgefunden wird, ohne daß ein Hinweis auf den oder die Ausgangsstoffe existiert. Um eine solche Auswahl in einem vom Stande der Technik zwar abgesteckten, trotzdem jungfräulichen Gebiet handelt es sich hier nicht.
13. Nennt jedoch die Entgegenhaltung neben dem Reaktionsweg auch den Ausgangsstoff ausdrücklich, so liegt regelmäßig eine Vorbeschreibung des Endprodukts vor; denn mit diesen Angaben liegt das Endprodukt unverrückbar fast. Sind hingegen zur Herstellung der Endprodukte zweierlei Klassen von Ausgangsstoffen notwendig und sind hierfür Beispiele für Einzelindividuen, jeweils in einer Auflistung gewissen Umfangs zusammengestellt, so kann gleichwohl ein Stoff, der durch Umsetzung eines speziellen Paares aus beiden Listen zustande kommt, als Auswahl im patentrechtlichen Sinne und damit als neu angesehen werden.
14. Die Beschwerdeführerin macht nun geltend, daß dieses Auswahlprinzip auch dann anwendbar sei, wenn es sich um die Kombination des Ausgangsstoffes aus einer Liste mit einer der alternativ angegebenen Verfahrensvarianten handele. Die Kammer teilt diese Auffassung nicht. Wie sich leicht zeigen läßt, liegt die Kombination zweier Ausgangsstoffe auf einer anderen Ebene als diejenige zwischen Ausgangstoffen und Verfahrensvarianten und ist daher nicht vergleichbar.
14.1. Betrachtet man die Ausgangsstoffe im einfachsten Fall als Bruchstücke des Endprodukts, so bedeutet im erstgenannten Fall jede denkgesetzliche Kombination eines bestimmten Ausgangsstoffes aus der ersten Reihe der Liste mit jedem beliebigen Ausgangsstoff aus der separaten zweiten Auflistung der weiter erforderlichen Ausgangsstoffe eine echte stoffliche Modifikation dieses Ausgangsstoffes; denn dieser wird von Kombination zu Kombination jeweils durch das unterschiedliche Bruchstück des zweiten Ausgangsstoffes zum ständig wechselnden Endprodukt komplettiert. Jedes Endprodukt erweist sich somit als Resultat zweier variabler Parameter.
14.2. Stoffe, die durch solches Herausgreifen eines speziellen Ausgangsstoffpaares aus dem sich potenzierenden Bereich der Möglichkeiten zustande kommen, werden - ohne sonstigen zusätzlichen Informationen - zurecht regelmäßig als nicht vorbeschrieben, sondern als neue Auswahl angesehen. Das neue Element, ohne das eine neue Stoffauswahl patentrechtlich nicht denkbar ist, kommt nicht etwa durch den fehlenden Hinweis auf das Endprodukt, sondern dadurch herein, daß die aus dem umfänglichen Bereich des Möglichen konkret ausgewählte Kombination der Öffentlichkeit nicht bekannt geworden ist.
14.3. Die Beschwerdeführerin wendet den Begriff der Auswahlerfindung zu Unrecht auf den vorliegenden Sachverhalt an, bei dem es um die Kombination eines bestimmten Ausgangsstoffes aus einer entsprechenden Liste mit einer der aufgezählten Herstellungsmethoden geht. Im Gegensatz zum vorangegangenen Fall wird bei solch einer Kombination keine echte stoffliche Modifikation des Ausgangsstoffes erreicht, sondern nur eine "identische" Modifikation; denn die Anwendung aller fünf näher beschriebenen Verfahren auf einen speziellen Ausgangsstoff hat zur Folge, daß stets dessen Hydrierungsprodukt entsteht, das sich vom Ausgangsketon durch den Mehrgehalt von zwei Wasserstoffatomen unterscheidet. Der Verfahrensparameter ist somit aus der Sicht des Endprodukts kein variabler Parameter, der zur Potenzierung des Bereichs der Möglichkeiten führen könnte, so daß sich in diesem Fall das Endprodukt gerade nicht als das Ergebnis zweier variabler Parameter erweist. Durch den Verfahrensparameter wird also kein - für die Auswahlerfindung unverzichtbares - neues Element hereingebracht. Vielmehr ist die Lehre aus der Entgegenhaltung, jedes der dort aufgezählten Ketone, auch das p-Chlorphenoxyketon den dort beschriebenen Reduktionsmethoden, auch der Methode b) zu unterwerfen, der Öffentlichkeit zugänglich geworden.
14.4. Zu keinem für die Beschwerdeführerin günstigerem Ergebnis würde man gelangen, wenn man anstelle der fünf Verfahrensvarianten die noch größere Zahl beschriebener Reduktionsmittel in einer Liste zusammenstellen und mit den aufgelisteten Ausgangsstoffen kombinieren würde; denn auch hierbei entstünde kein potenzierter Bereich möglicher Endprodukte der über das hinausginge, was der einzig variable Parameter "Ausgangsstoff" aufgrund sterischer Gegebenheiten erwarten läßt.
14.5. Der Umstand, daß ausgerechnet p-Chlorphenoxyketon bei Anwendung der Reduktionsmethode b) die praktisch reine threo-Verbindung ergibt, während Methode c) zu einem Gemisch aus threo- und erythro-Form führt, d.h. die nachträgliche Entdeckung, daß die vorbeschriebene Reduktionsmethode b) einen stereospezifischen Einfluß auf das hier interessierende Endprodukt hat, ist - wie unter 10 bereits ausgeführt - nur als überraschende Erkenntnis über ein bekanntes Verfahren, nicht aber als Auswahlerfindung zu bewerten; denn dies würde das Hereinbringen eines neuen Merkmals zusätzlich zum bekannten Ausgangsstoff p-Chlorphenoxyketon und der Methode b) voraussetzen.
15. Daraus folgt, daß mit der Beschreibung des Ausgangsketons aus der Entgegenhaltung automatisch die sekundären Alkohole im Sinne eines product-by-process-Anspruchs mitbeschrieben ist. Mit anderen Worten: Mit der Lehre aus der Entgegenhaltung, das Chlorphenoxyketon wahlweise mittels einer der fünf angegebenen Verfahrensvarianten zu reduzieren, ist das Verfahrensprodukt jeder dieser alternativen Reduktionsmethoden als der Öffentlichkeit durch schriftliche Beschreibung zugänglich anzusehen.
16. Dieses Prinzip gilt jedenfalls dann, wenn - wie hier - bei der strikten Nacharbeitung des Standes der Technik ein im strukturellen und konfigurativen Rahmen der Entgegenhaltung bleibendes Ergebnis erzielt wird, das sich von dem der konkreten Ausführungsbeispiele nur durch eine stärkere Verschiebung im threo-erythro-Verhältnis unterscheidet.
17. Bei der engen Verkettung zwischen Stoff und Verfahren im vorliegenden Fall, gelten die vorstehenden Überlegungen sinngemäß nicht nur für die Stoffansprüche 1 bis 3, sondern auch für den Verfahrensanspruch 4. Dieser enthält zwar kein spezifisch technisches Markmal, sondern nur die Anweisung, das p-Chlorphenoxyketon "stereoselektiv" zu reduzieren. Was die Beschwerdeführerin hierunter versteht, ergibt sich aus Beispiel 1 der vorliegenden Anmeldung, worin - unstreitig - die Variante b der Reduktionsmethode aus der Entgegenhaltung angewendet wird. Demnach betrifft auch der Verfahrensanspruch keinen im Sinne von Artikel 54(1) EPÜ neuen Gegenstand.
ENTSCHEIDUNGSFORMEL
Aus diesen Gründen wird wie folgt entschieden:
Die Beschwerde gegen die Entscheidung der Prüfungsabteilung des Europäischen Patentamts vom 30. Dezember 1980 wird zurückgewiesen.