G 0006/88 (Mittel zur Regulierung des Pflanzenwachstums) of 11.12.1989

European Case Law Identifier: ECLI:EP:BA:1989:G000688.19891211
Datum der Entscheidung: 11 Dezember 1989
Aktenzeichen: G 0006/88
Vorlageentscheidung: T 0208/88
Anmeldenummer: 80106574.9
IPC-Klasse: A01N 43/54
Verfahrenssprache: DE
Verteilung: A
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Fassungen: OJ | Published
Bezeichnung der Anmeldung: -
Name des Anmelders: Bayer
Name des Einsprechenden: -
Kammer: EBA
Leitsatz: Ein Anspruch, der auf die Verwendung eines bekannten Stoffes für einen bestimmten Zweck gerichtet ist, der auf einer in dem Patent beschriebenen technischen Wirkung beruht, ist dahingehend auszulegen, daß er diese technische Wirkung als funktionelles technisches Merkmal enthält; ein solcher Anspruch ist nach Artikel 54 (1) EPÜ dann nicht zu beanstanden, wenn dieses technische Merkmal nicht bereits früher der Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden ist.
Relevante Rechtsnormen:
European Patent Convention 1973 Art 54
European Patent Convention 1973 Art 69
European Patent Convention 1973 Art 112(1)(a)
Schlagwörter: Zweite nicht-medizinische Indikation
Neuheit der zweiten nicht-medizinischen Verwendung bei gleicher technischer Realisierungsform
Orientierungssatz:

-

Angeführte Entscheidungen:
T 0012/81
T 0068/85
T 0139/85
T 0231/85
T 0303/86
T 0124/87
Anführungen in anderen Entscheidungen:
G 0003/14
T 0049/87
T 0276/88
T 0958/90
T 0105/92
T 0110/92
T 0877/92
T 0013/93
T 0082/93
T 0210/93
T 0254/93
T 0848/93
T 0262/94
T 0379/94
T 0698/94
T 0150/95
T 0189/95
T 0838/95
T 0169/96
T 0410/96
T 0978/96
T 1073/96
T 0133/97
T 0470/97
T 0978/97
T 0319/98
T 0717/98
T 0800/98
T 0910/98
T 0308/99
T 0462/99
T 0947/99
T 0952/99
T 1049/99
T 1104/99
T 0274/00
T 0279/00
T 0846/00
T 0445/01
T 1269/01
T 0209/02
T 0609/02
T 0684/02
T 0780/02
T 0858/02
T 0920/02
T 0977/02
T 0102/03
T 0217/03
T 0334/03
T 0503/03
T 0520/03
T 0060/04
T 0509/04
T 0528/04
T 1011/04
T 1343/04
T 0047/05
T 0639/05
T 0950/05
T 1287/05
T 1320/05
T 1547/05
T 0699/06
T 0826/06
T 1010/06
T 1167/06
T 1614/06
T 1649/06
T 1663/06
T 1855/06
T 0892/07
T 1847/07
T 0304/08
T 0491/08
T 1168/08
T 2215/08
T 0428/09
T 0511/09
T 1839/09
T 1955/09
T 0302/10
T 0303/10
T 0569/10
T 1823/11
T 2149/11
T 0404/12
T 0887/12
T 1047/12
T 1822/12
T 0633/13
T 2170/13
T 0201/14
T 0875/14
T 1539/14
T 1101/15
T 1385/15
T 1720/15
T 2299/15
T 0283/16
T 0680/16
T 1105/16
T 1159/16
T 2218/16
T 0308/17
T 0747/18
T 1338/18
T 1345/18
T 1437/18
T 0099/19
T 0438/19
T 3118/19
T 0056/21
T 0638/21
T 1504/21
T 1863/21
T 0177/22
T 0439/22
T 1616/22

Zusammenfassung des Verfahrens

I. Bei der Prüfung und Entscheidung der Beschwerdesache T 208/88 legte die Beschwerdekammer Chemie 3.3.1 in ihrer Entscheidung vom 20. Juli 1988 der Großen Beschwerdekammer gemäß Artikel 112 (1) a) EPÜ von Amts wegen die folgende Rechtsfrage vor:

Ist ein Anspruch auf die Verwendung einer chemischen Verbindung oder Verbindungsklasse für einen bestimmten nichtmedizinischen Zweck neu im Sinne von Artikel 54 EPÜ gegenüber einem Stand der Technik, der die Verwendung dieser Verbindung(sklasse) für einen anderen nichtmedizinischen Zweck offenbart, wenn die technische Realisierung beider Lehren identisch und das einzige neue Merkmal des Anspruchs der Verwendungszweck selbst ist?

Diese Frage war bereits in der am 19. März 1988 eingereichten Beschwerdebegründung sachlich erörtert worden. In einer Mitteilung vom 7. Oktober 1988 wies die Kammer die Beschwerdeführerin darauf hin, daß der Großen Beschwerdekammer im Rahmen der gleichzeitig anhängigen Beschwerde G 2/88 im wesentlichen dieselbe Frage vorgelegt worden war, und forderte sie zu einer weiteren ergänzenden Stellungnahme auf. Daraufhin reichte die Beschwerdeführerin mit Datum vom 7. März, 1. Juni und 9. Juni 1989 weitere Ausführungen ein. Am 26. Juni 1989 fand eine mündliche Verhandlung statt, in der die Beschwerdeführerin ihrem Vorbringen noch einige Punkte hinzufügte.

II. Die Argumentation der Beschwerdeführerin im Zusammenhang mit der angesprochenen Rechtsfrage läßt sich wie folgt zusammenfassen:

1. Die Entdeckung neuer und überraschender Eigenschaften einer Verbindung, die gewerblich anwendbar seien, könne die Grundlage für eine patentierbare Erfindung bilden. Im Falle der streitigen Anmeldung beschränke sich beispielsweise die technische Lehre nicht auf die mechanischen Anwendungsmittel und müsse als Ganzes gewürdigt werden: Wenn die Lehre zum technischen Handeln in ihrer Gesamtheit nicht zum Stand der Technik gehöre, sei Neuheit gegeben. In diesem Zusammenhang müsse anerkannt werden, daß die technischen Merkmale bei "Verwendungs-" und "Verfahrenserfindungen" unterschiedlich geartet seien.

2. Die Entscheidung G 1/83 (ABl. EPA 1985, 60) sei auf den vorliegenden Fall nicht anwendbar, und aus dem Zusammenhang gerissene Passagen dieser Entscheidung dürften nicht gegen die jetzige Beschwerdeführerin herangezogen werden. Bei der vorliegenden Beschwerde sei das EPÜ unmittelbar - zugunsten der Beschwerdeführerin - anwendbar, da die Ausschlußbestimmungen des Artikels 52 (4) EPÜ nicht zuträfen. Das EPÜ sei so auszulegen, daß für alle Erfinder unabhängig von der Art ihrer Erfindung Gleichbehandlung sichergestellt sei.

3. Bei der Bewertung der Neuheit sei nicht der rein intellektuelle Informationsgehalt maßgeblich, sondern die konkrete Anleitung zum technischen Handeln. Ein Verwendungspatent werde nicht für die Mittel zur Realisierung der Verwendung erteilt, sondern für die bis dahin unbekannte Verwendung selbst. Verwendungsverfahren müßten von Herstellungsverfahren unterschieden werden. Ein neuer Verwendungszweck sei eine funktionelle Angabe, die ein technisches Merkmal der Erfindung darstelle. Ausschlaggebend für die Neuheitsprüfung sei, ob der Inhalt der Ansprüche in seiner Gesamtheit zum Stand der Technik gehöre.

4. Wenn Ansprüche für eine Verwendungserfindung wie im vorliegenden Fall zurückgewiesen würden, wäre das EPÜ mit dem Recht der meisten Vertragsstaaten unvereinbar, die eine neue Verwendung eines bekannten Erzeugnisses in der Regel patentierten.

III. In der mündlichen Verhandlung am 26. Juni 1989 hob die Beschwerdeführerin insbesondere auf folgende Punkte ab:

1. Es dürfe keine Ungleichbehandlung von weiteren medizinischen und weiteren nichtmedizinischen Verwendungen geben.

2. Ein Verwendungsanspruch sei nicht mit einem Verfahrensanspruch gleichzusetzen, sondern stelle eine eigene Anspruchskategorie dar.

3. Verwendungsansprüche der zur Diskussion stehenden Art müßten im Interesse der internationalen Harmonisierung zugelassen werden.

4. Das neue technische Merkmal in einem solchen Verwendungsanspruch sei funktioneller Art.

Am Ende der mündlichen Verhandlung behielt sich die Kammer ihre Entscheidung vor.

IV. Mit Schreiben vom 3. August 1989 richtete der Präsident des Europäischen Patentamts gemäß dem am 7. Juli 1989 in Kraft getretenen Artikel 11a der Verfahrensordnung der Großen Beschwerdekammer (ABl. EPA 1989, 362) an den Vorsitzenden der Großen Beschwerdekammer den schriftlichen begründeten Antrag, sich zu einigen Fragen von allgemeinem Interesse, die sich im Zusammenhang mit der vorgelegten Frage stellten, äußern zu dürfen.

Mit Schreiben vom 13. September 1989 antwortete der Vorsitzende dem Präsidenten, daß die Große Beschwerdekammer beschlossen habe, ihn vor allem deshalb nicht zu einer Stellungnahme aufzufordern, weil die betreffende Rechtsfrage der Großen Beschwerdekammer erstmals am 26. April 1988 vorgelegt worden sei, die mündliche Verhandlung am 26. Juni 1989 stattgefunden habe und die der Entscheidungs findung dienenden Erörterungen der Großen Beschwerdekammer bereits in einem fortgeschrittenen Stadium seien.

Entscheidungsgründe

1. In Anbetracht des Zweckes, der mit der Befassung der Großen Beschwerdekammer gemäß Artikel 112 EPÜ verfolgt wird, sollte die Große Beschwerdekammer die ihr vorgelegte Frage nicht zu eng auffassen, sondern so prüfen und beantworten, daß die dahinterstehenden Rechtsfragen geklärt werden.

2. Bis zum Inkrafttreten des EPÜ im Jahr 1978 hatte sich die Funktion der Patentansprüche bei der Bestimmung des Schutzbereichs des Patents in den nationalen Patentsystemen der jetzigen Vertragsstaaten unterschiedlich entwickelt. In diesen Entwicklungen spiegelten sich auch die zum Teil unterschiedlichen nationalen Vorstellungen wider, die dem Begriff des Patentschutzes zugrunde liegen.

So war insbesondere der Umfang, in dem der Wortlaut der Ansprüche den Schutzbereich bestimmte, von Land zu Land stark verschieden, so daß dieser Umstand die Art der Anspruchsformulierung erheblich beeinflußte.

In einigen Ländern, insbesondere in Deutschland hing der Schutzbereich des Patents in der Praxis weniger vom Wortlaut der Ansprüche, sondern vielmehr davon ab, was entsprechend der im Patent enthaltenen Offenbarung als Beitrag des Erfinders gegenüber dem Stand der Technik angesehen werden konnte, also worin die allgemeine erfinderische Idee bestand. In anderen Ländern, vor allem im Vereinigten Königreich, wurde hingegen der genaue Wortlaut der Ansprüche als ausschlaggebend betrachtet, weil sie im Interesse der Rechtssicherheit dazu bestimmt waren, das, was geschützt sein sollte, von dem abzugrenzen, was nicht geschützt sein sollte.

2.1. Die Art der Formulierung der Ansprüche entwickelte sich entsprechend der relativen Bedeutung ihrer Funktion in den einzelnen Ländern natürlicherweise unterschiedlich. Es liegt auf der Hand, daß in Ländern wie dem Vereinigten Königreich der Wortlaut eines Anspruchs eine viel detailliertere Definition enthalten mußte, was geschützt werden sollte, als in Ländern wie Deutschland, wo es angemessener war, das Wesen der erfinderischen Idee herauszuarbeiten.

2.2. Es gibt im Grunde zwei verschiedene Arten von Ansprüchen, nämlich Ansprüche auf Gegenstände (z. B. Erzeugnisse, Vorrichtungen) und Ansprüche auf Tätigkeiten (z. B. Methoden, Verfahren, Verwendungen).

Mehrere Unterklassen sind möglich (z. B. Stoffe, Stoffgemische, Maschinen oder Herstellungsverfahren, Verfahren zur Herstellung von Stoffen, Testverfahren etc.). Ferner sind auch Ansprüche möglich, die Merkmale enthalten, die sich sowohl auf Tätigkeiten als auch auf Gegenstände beziehen. Zwischen den einzelnen Anspruchsformen gibt es keine starren Grenzen.

2.3. Die der Großen Beschwerdekammer vorgelegte Frage betrifft "Verwendungsansprüche", d. h. Ansprüche, die eine "Verwendung des Stoffes X für einen bestimmten Zweck" definieren oder eine ähnliche Formulierung aufweisen.

Die Offenbarung einer bisher unbekannten Eigenschaft eines bekannten Stoffes, die eine neue technische Wirkung zur Verfügung stellt, kann zweifellos ein wertvoller, erfinderischer Beitrag zum Stand der Technik sein.

In Ländern wie Deutschland ist für solche Erfindungen seit langem in der Regel durch "Verwendungsansprüche" Schutz gewährt worden.

In Ländern wie dem Vereinigten Königreich waren bis 1978 derartige Verwendungsansprüche in Patentanmeldungen und Patenten kaum zu finden; ein Anspruch auf eine Erfindung dieser Art wäre vielmehr in der Regel durch die wesentlichen physikalischen Schritte definiert worden, die die zu schützende "Tätigkeit" ausmachen.

2.4. Auch nach dem Inkrafttreten des EPÜ enthalten europäische Patentanmeldungen, die aus verschiedenen Vertragsstaaten stammen, noch immer Ansprüche, die entsprechend der oben genannten althergebrachten Praxis dieser Vertragsstaaten abgefaßt sind.

Die Erfordernisse für die Abfassung von Ansprüchen für Erfindungen, die Gegenstand europäischer Patentanmeldungen und Patente sind, und die Patentierbarkeit dieser Erfindungen müssen jedoch nach EPÜ-Recht entschieden werden. Die Funktion der Ansprüche ist für die praktische Durchführung des europäischen Patentsystems von zentraler Bedeutung.

2.5. Artikel 84 EPÜ sieht vor, daß die Patentansprüche einer europäischen Patentanmeldung "den Gegenstand angeben [müssen], für den Schutz begehrt wird." Regel 29 (1) EPÜ verlangt ferner, daß "der Gegenstand des Schutzbegehrens ... in den Patentansprüchen durch Angabe der technischen Merkmale der Erfindung anzugeben" ist. Bei der Formulierung eines Anspruchs kommt es daher vor allem darauf an, daß diese Erfordernisse unter Berücksichtigung der Art des Erfindungsgegenstands und des Zwecks der Ansprüche erfüllt werden.

Die Ansprüche dienen nach dem EPÜ dazu, den Schutzbereich des Patents (oder der Patentanmeldung) (Art. 69 EPÜ) und damit die Rechte des Patentinhabers in den benannten Vertragsstaaten (Art. 64 EPÜ) unter Berücksichtigung der Voraussetzungen für die Patentierbarkeit nach den Artikeln 52 bis 57 EPÜ festzulegen. Unter den technischen Merkmalen einer Erfindung sind demnach die für sie wesentlichen physischen Merkmale zu verstehen.

Betrachtet man die beiden unter Nummer 2.2 genannten grundlegenden Arten von Ansprüchen, so sind die technischen Merkmale eines Anspruchs für einen Gegenstand dessen physikalische Parameter und die technischen Merkmale eines Anspruchs für eine Tätigkeit die physischen Schritte, die diese Tätigkeit definieren. In einigen Entscheidungen der Beschwerdekammern wird auch die Auffassung vertreten, daß die technischen Merkmale in bestimmten Fällen funktionell definiert werden können (siehe z. B. T 68/85, ABl. EPA 1987, 228; T 139/85, EPOR 1987, 229).

3. Die Auslegung der Ansprüche zur Bestimmung ihrer technischen Merkmale ist gemäß Artikel 69 (1) EPÜ und dem dazu ergangenen Protokoll vorzunehmen. Das Protokoll wurde von den Vertragsstaaten als fester Bestandteil in das EPÜ übernommen, um ein Instrument zur Harmonisierung der von Land zu Land unterschiedlichen Abfassung und Auslegung von Patentansprüchen (s. Nr. 2.1) zu schaffen. Die Schlüsselrolle, die den Patentansprüchen nach dem EPÜ zukommt, würde zweifellos ausgehöhlt, wenn der Schutzbereich und damit auch die Rechte in den einzelnen benannten Vertragsstaaten infolge der überlieferten, rein nationalen Praxis der Anspruchsauslegung ganz unterschiedlich ausfielen; das Protokoll wurde hauptsächlich deshalb zusätzlich in das EPÜ aufgenommen, um damit einen Mittelweg für die Auslegung der Ansprüche europäischer Patente während ihrer gesamten Laufzeit zu schaffen, der einen Kompromiß zwischen den verschiedenen nationalen Konzepten der Anspruchsauslegung und Schutzbereichsbestimmung darstellt ("soll ... einen angemessenen Schutz für den Patentinhaber mit ausreichender Rechtssicherheit für Dritte verbinden").

Das Protokoll verfolgt offenkundig den Zweck, eine Überbewertung des konkreten Wortlauts der Patentansprüche zu vermeiden, wenn diese losgelöst vom übrigen Text des entsprechenden Patents betrachtet werden; zum anderen soll aber auch vermieden werden, daß der allgemeinen erfinderischen Idee, wie sie im Text des Patents in Abgrenzung zum maßgeblichen Stand der Technik offenbart ist, zuviel Gewicht beigemessen wird, ohne den Wortlaut der Patentansprüche als Definitionshilfe hinreichend zu berücksichtigen.

4. Die rechtlichen Fragen im Zusammenhang mit der Patentierbarkeit von Ansprüchen auf eine neue Verwendung eines bekannten Stoffes waren Gegenstand der ersten sieben Entscheidungen, die von der Großen Beschwerdekammer getroffen wurden, nämlich G 1-7/83 (von denen drei, G 1/83, G 5/83 und G 6/83, in Deutsch, Englisch bzw. Französisch in ABl. EPA 1985, 60, 64 bzw. 67 veröffentlicht worden sind). Bei allen diesen Entscheidungen ging es um die Patentierbarkeit weiterer medizinischer Indikationen eines Stoffes, von dem bereits eine medizinische Anwendung bekannt war, sowie um die für solche Erfindungen geeignete Anspruchsform. Alle diese Entscheidungen haben im wesentlichen denselben Inhalt. Daher braucht in der hier vorliegenden nur auf die entsprechende deutschsprachige Entscheidung G 1/83 verwiesen zu werden.

Die Große Beschwerdekammer hat geprüft, inwieweit die dort angegebenen Überlegungen auch auf die im vorliegenden Fall zu klärende Rechtsfrage von Bedeutung sind.

Die der Großen Beschwerdekammer damals vorgelegte Rechtsfrage war im wesentlichen durch den besonderen Ausschluß des Patentschutzes für "Verfahren zur ... Behandlung des menschlichen oder tierischen Körpers" in Artikel 52 (4) Satz 1 EPÜ und die in Artikel 54 (5) EPÜ vorgesehene Ausnahme hiervon entstanden. In der Begründung dieser Entscheidung wurde deshalb in erster Linie eine Rechtsfrage beantwortet, die die Gewährbarkeit von Ansprüchen betrifft, die eine besondere Art von medizinischen oder tiermedizinischen Erfindungen zum Gegenstand haben. Die ratio decidendi dieser Entscheidung beschränkte sich im wesentlichen auf die richtige Auslegung der Artikel 52 (4) und 54 (5) EPÜ in ihrem Zusammenhang.

Auf diesem Gebiet der Technik sind die üblichen Verwendungsansprüche durch Artikel 52 (4) EPÜ verboten; Artikel 54 (5) EPÜ sieht jedoch ausdrücklich eine Ausnahme von den allgemeinen Neuheitsregeln (Art. 54 (1) bis (5) EPÜ) für die erste medizinische oder tiermedizinische Verwendung eines Stoffes oder Stoffgemisches vor, indem er Ansprüche auf den Stoff oder das Stoffgemisch für diese Verwendung zuläßt. In der Sache G 1/83 wurde dies auf die zweite und alle weiteren therapeutischen Anwendungen angewandt, allerdings mit dem ausdrücklichen Hinweis, daß diese besondere Ableitung der Neuheit nur auf Ansprüche angewandt werden könne, die auf die Verwendung von Stoffen oder Stoffgemischen für die Anwendung in einem Verfahren nach Artikel 52 (4) EPÜ gerichtet seien. Die jetzige Große Beschwerdekammer schließt sich dieser Auffassung an.

Mit der damaligen Entscheidung in der Sache G 1/83 wird dem Erfinder einer neuen Verwendung eines bekannten Medikaments ein Schutz gewährt, der dem üblicherweise für eine neue nichtmedizinische Verwendung gewährten zwar ähnlich, im Vergleich dazu aber doch eingeschränkt ist. Die Patentierbarkeit einer neuen und erfinderischen zweiten nichtmedizinischen Verwendung eines Erzeugnisses wurde grundsätzlich anerkannt (siehe Entscheidungsgründe Nr. 21). Die Patentierbarkeit "der (zweiten oder jeder weiteren) Verwendung eines Stoffes oder Stoffgemisches zur Herstellung eines Arzneimittels für eine bestimmte neue, erfinderische therapeutische Anwendung" wurde aus der Überlegung heraus bejaht, daß Ansprüche, die auf die Verwendung eines Stoffes zu therapeutischen Zwecken gerichtet sind, infolge des in Artikel 52 (4) EPÜ enthaltenen (und mit mangelnder gewerblicher Anwendbarkeit begründeten) Patentierungsverbots für therapeutische Verfahren vom Patentschutz ausgenommen sind (s. Entscheidungsgründe Nr. 13), ähnliche Ansprüche für eine nichtmedizinische Verwendung jedoch (als gewerblich anwendbar) ohne weiteres gewährbar wären. Vergleiche: "Verwendung von X zur Behandlung der Krankheit A bei Säugetieren" (nicht gewährbar) und "Verwendung von X zur Behandlung der Krankheit B bei Getreidepflanzen" (gewährbar).

Die Rechtsfrage hingegen, mit der die Große Beschwerdekammer im vorliegenden Fall befaßt worden ist, bezieht sich nicht auf medizinische Erfindungen, sondern ist allgemeiner Natur, da sie in erster Linie die Auslegung des Artikels 54 (1) und (2) EPÜ betrifft.

5. Die vorgelegte Frage geht davon aus, daß das einzige neue Merkmal des zu prüfenden Anspruchs der Zweck ist, für den der Stoff verwendet werden soll. Da jedoch die Auslegung des Artikels 54 (1) und (2) EPÜ und der (etwa) gewährbare Schutzumfang für Erfindungen, die eine weitere nicht- medizinische Verwendung betreffen, Fragen von allgemeiner Bedeutung sind, hält es die Kammer für angezeigt, die Frage unter allgemeineren Aspekten zu untersuchen und insbesondere andere mögliche Wertungen für derartige Verwendungsansprüche zu prüfen.

6. Wie unter Nummer 2 bis 2.5 dargelegt, müssen die Ansprüche eines europäischen Patents die technischen Merkmale der Erfindung und damit den technischen Gegenstand des Patents so eindeutig definieren, daß dessen Schutzbereich festgelegt und ein Vergleich mit dem Stand der Technik angestellt werden kann, um sicherzustellen, daß die beanspruchte Erfindung unter anderem neu ist. Eine beanspruchte Erfindung ist nur dann neu, wenn sie mindestens ein wesentliches technisches Merkmal enthält, durch das sie sich vom Stand der Technik unterscheidet.

Bei der Beurteilung der Neuheit eines Anspruchs besteht eine erste grundlegende Bewertung zunächst darin, den Anspruch auf seine technischen Merkmale hin zu untersuchen.

7. Bei Ansprüchen, die vom Wortlaut her eindeutig eine neue Verwendung eines bekannten Stoffes definieren, geht die richtige Auslegung je nach ihrem Wortlaut im Gesamtzusammenhang des Patents in der Regel dahin, daß die Erzielung einer neuen technischen Wirkung, die der neuen Verwendung zugrunde liegt, zu den technischen Merkmalen der beanspruchten Erfindung zählt. In diesem Zusammenhang muß im Hinblick auf die Ausführungen unter Nummer 2.1 und 2.2 das Protokoll über die Auslegung des Artikels 69 berücksichtigt werden (s. Nr. 4). Somit erfordert die richtige Auslegung eines solchen Verwendungsanspruchs bei Patenten, in denen eine besondere technische Wirkung beschrieben ist, die dieser Verwendung zugrunde liegt, mit Rücksicht auf das Protokoll, daß ein funktionelles Merkmal in diesem Anspruch als technisches Merkmal implizit enthalten ist, daß also zum Beispiel der Stoff tatsächlich die besondere Wirkung hervorruft.

7.1. Ein Beispiel für einen solchen in dieser Weise auszulegenden Anspruch ist der Entscheidung T 231/85 (ABl. EPA 1989, 74) zu entnehmen. Die zu beurteilenden Ansprüche waren auf die "Verwendung von (bestimmten Stoffen) ... zur Bekämpfung von Pilzen und zur vorbeugenden Bekämpfung von Pilzen" gerichtet; die Anmeldung enthielt die technische Lehre, wie dies zu geschehen hat, damit diese Wirkung erzielt wird. Die Vorveröffentlichung 1 hatte die Verwendung derselben Stoffe als Wachstumsregulator beschrieben. Sowohl bei der Anmeldung T 231/85 als auch bei der Entgegenhaltung 1 wurden die jeweiligen Behandlungen in derselben Weise durchgeführt (somit war das Ausführungsmittel dasselbe).

Die Prüfungsabteilung hatte die Auffassung vertreten, daß die beanspruchte Erfindung nicht neu sei; sie hatte sich dabei von der Überlegung leiten lassen, daß das Ausführungsmittel dasselbe wie in der Entgegenhaltung 1 sei und die beanspruchte Wirkung, die der Verwendung als Pilzbekämpfungsmittel zugrunde lag, somit durch die in der Entgegenhaltung 1 beschriebene Behandlung erzielt worden sein mußte. Die Beschwerdekammer hingegen vertrat die Auffassung, daß die beanspruchte Erfindung neu sei, weil sich die technische Lehre in der Anmeldung von der in der Entgegenhaltung 1 unterscheide, und daß die Verwendung bisher unbekannt gewesen sei, auch wenn das Ausführungsmittel dasselbe sei.

Nach Auffassung der Großen Beschwerdekammer ist der streitige Anspruch entsprechend den Ausführungen unter Nummer 7 über die Auslegung von Ansprüchen im Hinblick auf das Protokoll zu Artikel 69 EPÜ richtig so auszulegen, daß er das folgende funktionelle technische Merkmal implizit enthält, nämlich daß die genannten Stoffe bei ihrer Verwendung entsprechend dem beschriebenen Ausführungsmittel tatsächlich die pilzbekämpfende Wirkung erzielen (d. h. diese Funktion erfüllen). Ein solches funktionelles Merkmal ist ein technisches Merkmal, das die Erfindung qualifiziert. Der Verwendungsanspruch ist eigentlich als ein Anspruch zu sehen, der technische Merkmale enthält, die sich sowohl auf einen Gegenstand (den Stoff und seine Beschaffenheit) als auch auf eine Tätigkeit (das Ausführungsmittel) beziehen. Mit anderen Worten: Hält man sich an die in dem Protokoll beschriebene Art der Auslegung von Ansprüchen, so dürfen Ansprüche auf die "Verwendung eines Stoffes A für den Zweck B" nicht wörtlich dahingehend ausgelegt werden, daß sie als technische Merkmale nur "den Stoff" und "das Mittel zur Erzielung des Zweckes B" enthalten; sie müssen (in bestimmten Fällen) so ausgelegt werden, daß sie als technisches Merkmal auch die Funktion der Erzielung des Zweckes B enthalten (weil dies das technische Ergebnis ist). Diese Auslegungsweise steht nach Auffassung der Großen Beschwerdekammer in Einklang mit dem Ziel und dem Zweck des Protokolls über die Auslegung des Artikels 69 EPÜ.

Wenn ein solcher Anspruch bei richtiger Auslegung im Gesamtzusammenhang des Patents ein funktionelles technisches Merkmal enthält, so muß noch geklärt werden, ob die auf diese Weise beanspruchte Erfindung neu ist.

8. Nach Artikel 54 (2) EPÜ bildet den Stand der Technik "alles, was ... der Öffentlichkeit durch schriftliche oder mündliche Beschreibung, durch Benutzung oder in sonstiger Weise zugänglich gemacht worden ist." Unabhängig von dem Mittel, durch das die Information der Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden ist (z. B. schriftliche oder mündliche Beschreibung, Benutzung, bildliche Darstellung in einem Film oder auf einer Fotografie oder auch eine Kombination dieser Mittel), ist also die Frage, was der Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden ist, im Einzelfall eine Tatfrage.

Das Wort "zugänglich" ist mit der Vorstellung verbunden, daß alle technischen Merkmale der beanspruchten Erfindung in Verbindung miteinander der Öffentlichkeit bekanntgegeben oder zugänglich gemacht worden sein müssen, damit auf mangelnde Neuheit erkannt werden kann.

Im Falle einer "schriftlichen Beschreibung", die für eine Einsichtnahme offen ist, wird gerade der Informationsgehalt dieser schriftlichen Beschreibung zugänglich gemacht. Darüber hinaus können durch die Lehre, die die schriftliche Beschreibung enthält, z. B. über die Durchführung eines Verfahrens, als zwangsläufiges Ergebnis der Ausführung dieser Lehre weitere Informationen zugänglich gemacht werden (s. hierzu z. B. die Entscheidungen T 12/81 "Diastereomere", ABl. EPA 1982, 296, Entscheidungsgründe Nr. 7 bis 10, T 124/87 "Copolymers", EPOR 1989, 33 und T 303/86 "Flavour concentrates", EPOR 1989, 95).

In allen diesen Fällen muß jedoch genau unterschieden werden zwischen dem, was tatsächlich zugänglich gemacht worden ist, und dem, was verborgen geblieben oder sonstwie nicht zugänglich gemacht worden ist. In diesem Zusammenhang ist auch auf den Unterschied zwischen mangelnder Neuheit und mangelnder erfinderischer Tätigkeit hinzuweisen: Eine Information, auf die sich eine Erfindung bezieht, kann "zugänglich gemacht worden" sein (dann ist sie nicht neu); sie kann auch nicht zugänglich gemacht worden, aber naheliegend sein (dann ist sie neu, aber nicht erfinderisch); sie kann ferner nicht zugänglich gemacht worden und auch nicht naheliegend sein (dann ist sie neu und erfinderisch). So kann insbesondere das, was verborgen geblieben ist, dennoch naheliegend sein.

8.1. In Fällen, in denen z. B. die Verwendung eines Stoffes - wenn auch für einen anderen Zweck als den beanspruchten - beschrieben worden ist und diese Verwendung inhärent dieselbe technische Wirkung wie die beanspruchte Verwendung hatte, stellt sich die Frage, ob die Neuheit fehlt.In diesem Zusammenhang können auch Probleme im Hinblick auf die Verletzung des Patents auftreten, wenn in diesen Fällen keine mangelnde Neuheit angenommen wird, denn der Benutzer einer früher beschriebenen Verwendung könnte Gefahr laufen, ein später eingereichtes Patent zu verletzen.

Die Große Beschwerdekammer möchte hierzu feststellen, daß es im Zusammenhang mit Artikel 54 (2) EPÜ darum geht zu entscheiden, was der Öffentlichkeit "zugänglich gemacht" worden ist, und nicht darum, was in dem (z. B. durch eine frühere schriftliche Beschreibung oder eine frühere Benutzung (Vorbenutzung)) zugänglich Gemachten "inhärent" enthalten gewesen sein mag. Nach dem EPÜ ist eine nicht erkannte oder heimliche Benutzung kein Grund, um die Rechtsgültigkeit eines europäischen Patents anzuzweifeln. Diesbezüglich unterscheiden sich möglicherweise die Bestimmungen des EPÜ vom früheren nationalen Recht einiger Vertragsstaaten oder auch vom derzeitigen Recht einiger Nichtvertragsstaaten. Somit stellt sich die Frage der "Inhärenz" im Zusammenhang mit Artikel 54 EPÜ als solche nicht. Etwaige ältere Rechte aus einer Vorbenutzung einer Erfindung sind Sache des nationalen Rechts (s. hierzu z. B. Art. 38 des noch nicht in Kraft getretenen Gemeinschaftspatentübereinkommens).

Zu den oben angesprochenen Verletzungsproblemen sei außerdem bemerkt, daß sich aus der Entscheidung G 1/83 im medizinischen Bereich ähnliche Probleme ergeben würden.

8.2. Zur Verdeutlichung dieses Arguments soll hier nochmals der der Entscheidung T 231/85 zugrunde liegende Sachverhalt herangezogen werden. Wenn die Ansprüche in der unter Nummer 7.1 beschriebenen Weise ausgelegt werden, so ist im Zusammenhang mit der Neuheit die Frage zu stellen, ob die Entgegenhaltung (1) der Öffentlichkeit als technisches Merkmal zugänglich gemacht hat, daß die Stoffe eine pilzbekämpfende Wirkung aufweisen, wenn sie in der beschriebenen Weise verwendet werden.

Die damalige Beschwerdekammer verwies in ihrer Entscheidung auf die "bisher unbekannte" Verwendung dieser Stoffe zur Bekämpfung von Pilzen und die "unerkannte Schutzwirkung" (auch wenn bei einer Anwendung dieser Stoffe auf Pflanzen das Mittel dazu (die "technische Ausführung") dasselbe war). Obwohl also in der Entgegenhaltung (1) ein Verfahren beschrieben war, bei dem Pflanzen zum Zwecke der Wachstumskontrolle mit Stoffen behandelt werden, und dieses Verfahrenbei seiner Anwendung zwangsläufig auch eine Verwendung dieser Stoffe zur Pilzbekämpfung eingeschlossen hätte, so ist doch das oben genannte technische Merkmal des Anspruchs, das dieser Verwendung zugunde liegt, der Öffentlichkeit nicht durch die frühere schriftliche Beschreibung in der Entgegenhaltung (1) "zugänglich gemacht" worden.

9. Die Antwort auf die vorgelegte Frage läßt sich daher wie folgt zusammenfassen: Bei einem Anspruch auf eine neue Verwendung eines bekannten Stoffes kann diese neue Verwendung eine neu entdeckte und im Patent beschriebene technische Wirkung wiedergeben. Die Erzielung dieser technischen Wirkung ist als funktionelles technisches Merkmal des Anspruchs zu betrachten (z. B. die Erreichung dieser technischen Wirkung in einem bestimmten Zusammenhang). Ist dieses technische Merkmal der Öffentlichkeit zuvor nicht durch eines der in Artikel 54 (2) EPÜ genannten Mittel zugänglich gemacht worden, dann ist die beanspruchte Erfindung neu, auch wenn diese technische Wirkung bei der Ausführung dessen, was zuvor der Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden war, möglicherweise inhärent aufgetreten ist.

ENTSCHEIDUNGSFORMEL

Aus diesen Gründen wird entschieden,

daß die der Großen Beschwerdekammer vorgelegte Rechtsfrage wie folgt zu beantworten ist:

Ein Anspruch, der auf die Verwendung eines bekannten Stoffes für einen bestimmten Zweck gerichtet ist, der auf einer in dem Patent beschriebenen technischen Wirkung beruht, ist dahingehend auszulegen, daß er diese technische Wirkung als funktionelles technisches Merkmal enthält; ein solcher Anspruch ist nach Artikel 54 (1) EPÜ dann nicht zu beanstanden, wenn dieses technische Merkmal nicht bereits früher der Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden ist.

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