European Case Law Identifier: | ECLI:EP:BA:2019:G000118.20190718 | ||||||||
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Datum der Entscheidung: | 18 Juli 2019 | ||||||||
Aktenzeichen: | G 0001/18 | ||||||||
Anmeldenummer: | - | ||||||||
IPC-Klasse: | - | ||||||||
Verfahrenssprache: | FR | ||||||||
Verteilung: | A | ||||||||
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Bezeichnung der Anmeldung: | - | ||||||||
Name des Anmelders: | - | ||||||||
Name des Einsprechenden: | - | ||||||||
Kammer: | EBA | ||||||||
Leitsatz: | 1. Die Beschwerde gilt in folgenden Fällen als nicht eingelegt: a) wenn die Beschwerdeschrift innerhalb der in Artikel 108 Satz 1 EPÜ vorgesehenen Frist von zwei Monaten eingereicht UND die Beschwerdegebühr nach Ablauf dieser Frist von zwei Monaten entrichtet wird; b) wenn die Beschwerdeschrift nach Ablauf der in Artikel 108 Satz 1 EPÜ vorgesehenen Frist von zwei Monaten eingereicht UND die Beschwerdegebühr nach Ablauf dieser Frist von zwei Monaten entrichtet wird; c) wenn die Beschwerdegebühr innerhalb der in Artikel 108 Satz 1 EPÜ vorgesehenen Frist von zwei Monaten für die Einreichung der Beschwerdeschrift entrichtet UND die Beschwerdeschrift nach Ablauf dieser Frist von zwei Monaten eingereicht wird. 2. In den Fällen 1 a) bis 1 c) wird die Rückzahlung der Beschwerdegebühr von Amts wegen angeordnet. 3. Wenn die Beschwerdegebühr innerhalb oder nach Ablauf der in Artikel 108 Satz 1 EPÜ vorgesehenen Frist von zwei Monaten für die Einreichung der Beschwerdeschrift entrichtet UND die Beschwerdeschrift nicht eingereicht wird, wird die Beschwerdegebühr zurückgezahlt. |
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Relevante Rechtsnormen: |
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Schlagwörter: | Als eingelegt geltende Beschwerde Zulässige Beschwerde Beschwerdegebühr Rückzahlung |
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Orientierungssatz: |
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Angeführte Entscheidungen: | |||||||||
Anführungen in anderen Entscheidungen: |
Inhaltsverzeichnis
A. ZUSAMMENFASSUNG DES VERFAHRENS
I. Vorlage nach Artikel 112 (1) b) EPÜ
1. T 1897/17 3.4.01 vom 14. Februar 2018 "minderheitliche" Rechtsprechungslinie
2. T 1325/15 3.5.07 vom 7. Juni 2016 "mehrheitliche" Rechtsprechungslinie
3. T 2406/16 3.3.05 vom 21. September 2017 "mehrheitliche" Rechtsprechungslinie
4. T 1946/15 3.2.02 vom 19. Oktober 2016 und T 198/16 3.5.04 vom 20. März 2018 "mehrheitliche" Rechtsprechungslinie
II. Stellungnahmen Dritter
B. BEGRÜNDUNG DER STELLUNGNAHME
I. Zulässigkeit der Vorlage
1. Berichtigte Lesart der Vorlagefrage
2. Zulässigkeitsvoraussetzungen Artikel 112 (1) b) EPÜ
II. Anwendung von Artikel 108 Sätze 1 und 2 EPÜ durch die Beschwerdekammern und die Große Beschwerdekammer
1. Artikel 108 Sätze 1 und 2 EPÜ Fallkonstellationen
2. "Mehrheitliche" Rechtsprechungslinie
(1) Fallkonstellation 1 Die Beschwerdeschrift wird INNERHALB der vorgeschriebenen Frist von zwei Monaten eingereicht UND die Beschwerdegebühr wird NACH Ablauf dieser Frist von zwei Monaten entrichtet
(2) Fallkonstellation 2 Die Beschwerdeschrift wird NACH Ablauf der Frist von zwei Monaten eingereicht UND die Beschwerdegebühr wird NACH Ablauf dieser Frist von zwei Monaten entrichtet
(3) Fallkonstellation 3 Die Beschwerdegebühr wird INNERHALB der Frist von zwei Monaten entrichtet UND die Beschwerdeschrift wird NACH Ablauf dieser Frist von zwei Monaten eingereicht
3. "Minderheitliche" Rechtsprechungslinie
4. Literatur/Doktrin
III. Regeln zur Auslegung des EPÜ
IV. Anwendung der Auslegungsregeln
1. Wörtliche Auslegung
2. Systematische Auslegung
3. Teleologische Auslegung
V. Rechtsfolge bei Nichtvornahme beider Handlungen oder einer der beiden Handlungen innerhalb der Frist von zwei Monaten gemäß Artikel 108 EPÜ
VI. Fallkonstellationen 1 und 2 Zwischenergebnisse
VII. Als nicht eingelegt geltende Beschwerde unzulässige Beschwerde und Regel 101 (1) EPÜ
VIII. Rückzahlung der Beschwerdegebühr
IX. Fallkonstellation 3 Zwischenergebnisse
X. "Travaux préparatoires" zu Artikel 108 Satz 1 und 2 EPÜ
XI. Rechtsprechung der Beschwerdekammern bei Nichtzahlung der Einspruchsgebühr
C. SCHLUSSFOLGERUNG
A. ZUSAMMENFASSUNG DES VERFAHRENS
I. Vorlage nach Artikel 112 (1) b) EPÜ
Der Präsident des Europäischen Patentamts (EPA) hat mit Schriftsatz vom 7. Juni 2018 der Großen Beschwerdekammer nach Artikel 112 (1) b) EPÜ folgende Frage vorgelegt:
"Wenn erst nach Ablauf der in Artikel 108 EPÜ vorgesehenen Frist von zwei Monaten Beschwerde eingelegt und/oder die Beschwerdegebühr entrichtet wird, ist die Beschwerde dann unzulässig oder gilt sie als nicht eingelegt, und muss die Beschwerdegebühr zurückgezahlt werden?"
Der Präsident des EPA erklärte im vorgenannten Schriftsatz, dass die Bedingungen des Artikels 112 (1) b) EPÜ erfüllt seien, nämlich dass Beschwerdekammern über diese Frage voneinander abweichende Entscheidungen getroffen hätten und die Beantwortung dieser Frage "zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsanwendung" notwendig sei. Belegt wurde die divergierende Rechtsprechung in der Vorlage mit der Entscheidung T 1897/17 als Beispiel der sogenannten "minderheitlichen" Rechtsprechungslinie, die zu dem Schluss kommt, dass die Beschwerde unzulässig ist, und den Entscheidungen T 1325/15 und T 2406/16 als Beispielen der anderen, sogenannten "mehrheitlichen" Rechtsprechungslinie, der zufolge die Beschwerde als nicht eingelegt gilt. Zudem erklärte der Präsident des EPA, dass die Antwort "eindeutige Auswirkungen auf die Praxis der erstinstanzlichen Organe des Amts" habe, da mehrere Vorschriften des EPÜ einen ähnlichen Wortlaut hätten.
Die vom Präsidenten des EPA in seiner Vorlage analysierten divergierenden Entscheidungen der Beschwerdekammern lassen sich wie folgt zusammenfassen:
1. T 1897/17 3.4.01 vom 14. Februar 2018 "minderheitliche" Rechtsprechungslinie
Im vorliegenden Fall war nach Ablauf der in Artikel 108 Satz 2 EPÜ vorgesehenen Frist von zwei Monaten die Beschwerdeschrift eingereicht und die Gebühr entrichtet worden. Nachdem die Kammer den Antrag der Beschwerdeführerin auf Wiedereinsetzung in die Zweimonatsfrist zurückgewiesen hatte, entschied sie, dass die Beschwerde als unzulässig zu verwerfen (und nicht als nicht eingelegt zu betrachten) und die Beschwerdegebühr nicht zurückzuzahlen war. Aus Sicht der Kammer war die Formulierung der Regel 101 (1) EPÜ völlig klar: wenn eine Beschwerde nicht die Erfordernisse der Artikel 106 - 108 EPÜ erfüllt, verwirft die Kammer sie als unzulässig. Die in Artikel 108 Satz 2 enthaltene Rechtsfiktion dass die Beschwerde erst nach Entrichtung der Beschwerdegebühr als eingelegt gilt könne nur dahin gehend verstanden werden, dass eine (implizite) Zusatzbedingung für die Zulässigkeit der Beschwerde aufgestellt werde, nämlich die Entrichtung der Beschwerdegebühr. Die Kammer befand weiter, dass die mit dieser Fiktion verbundenen verfahrensrechtlichen Folgen nicht in Artikel 108 EPÜ geregelt seien, sondern ausschließlich unter Regel 101 (1) EPÜ fielen, der zufolge die Beschwerde unzulässig sei. Unter Verweis auf die Argumentation der 2014 ergangenen Vorlageentscheidungen T 2017/12 (ABl. EPA 2014, A76) und T 1553/13 (ABl. EPA 2014, A84) vertrat sie die Auffassung, dass diese Auslegung mit den Grundsätzen des Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge ("Wiener Übereinkommen") im Einklang stehe und dass die Analyse der später hierzu ergangenen Entscheidungen T 1325/15 und T 2406/16 (s. u.) sowie der Entscheidung R 4/15 der Großen Beschwerdekammer vom 16. September 2016 keine überzeugende Grundlage dafür biete, die Schlussfolgerung infrage zu stellen, dass die Beschwerde unzulässig sei. Die Kammer stellte fest, dass die Formulierung von Artikel 108 Satz 2 EPÜ auch in anderen Vorschriften des EPÜ verwendet werde (Artikel 99 (1) und 112a (4) letzter Satz EPÜ). Der grundlegende Unterschied zwischen diesen drei Artikeln und anderen Bestimmungen des EPÜ bestehe darin, dass zu diesen Artikeln und Vorschriften bestimmte Verfahrensregeln gehörten, nämlich die Regeln 101 (1), 77 (1) und 108 (1) EPÜ. Diese Regeln bestätigten und ergänzten die klare Formulierung des Artikels 108 Satz 2 und der Artikel 99 und 112a (4) EPÜ, dass nämlich eine Beschwerde, ein Einspruch oder ein Überprüfungsantrag unzulässig sei, wenn die Zulässigkeitsvoraussetzungen, zu denen laut EPÜ die fristgerechte Entrichtung einer Gebühr gehöre, nicht erfüllt seien. Die Verwerfung einer als unzulässig erachteten Beschwerde müsse deshalb als unabdingbar zur Wahrung der Rechtssicherheit betrachtet werden. Die Kammer schlussfolgerte, dass es keinerlei Rechtsgrundlage für die Hypothese gebe, wonach die Beschwerde als nicht eingelegt gilt, und die Beschwerde deshalb als unzulässig verworfen werden müsse.
2. T 1325/15 3.5.07 vom 7. Juni 2016 "mehrheitliche" Rechtsprechungslinie
In T 1325/15 erfolgten sowohl die Einreichung der Beschwerdeschrift als auch die Entrichtung der Beschwerdegebühr nach Ablauf der vorgeschriebenen Frist von zwei Monaten. Die Kammer erklärte zunächst, die Beschwerdekammern hätten in zahlreichen Entscheidungen Artikel 108 Satz 2 EPÜ so ausgelegt, dass keine Beschwerde vorliege, d. h. die Beschwerde als nicht eingelegt gelte, wenn die Beschwerdeschrift nach Ablauf der Zweimonatsfrist eingereicht und/oder die Beschwerdegebühr nach Ablauf dieser Frist entrichtet wurde. Sie betonte, dass in Anbetracht der Grundsätze der Rechtssicherheit und der einheitlichen Rechtsanwendung eine Beschwerdekammer, die über eine Rechtsfrage zu befinden habe, berücksichtigen müsse, wie diese Frage in anderen Entscheidungen beantwortet worden sei. Bei einer ständigen Rechtsprechung, die seit Jahren als zufriedenstellend und vorhersehbar angesehen werde, bedürfe es eines zwingenden Grundes, um einer anderen Auslegung den Vorzug zu geben, die zu einem anderen Ergebnis führe. Im vorliegenden Fall gelangte die Kammer zu dem Schluss, dass es keinen zwingenden Grund gebe, von der ständigen Rechtsprechung abzuweichen, wonach eine nicht fristgerecht eingelegte Beschwerde als nicht eingelegt gelte. Dieser Ansatz entspreche einer Auslegung des EPÜ im Einklang mit den im Wiener Übereinkommen verankerten Auslegungsgrundsätzen, denen zufolge eine Vorschrift zunächst ausgehend von ihrem Wortlaut ausgelegt werden müsse. Zudem werde in mehreren Vorschriften des EPÜ verlangt, dass Schriftstücke rechtzeitig oder innerhalb einer bestimmten Frist eingereicht werden müssten. In der Regel werde die verspätete Einreichung eines Dokuments so behandelt, als wäre es nicht eingereicht worden. Gemäß Artikel 108 Satz 1 EPÜ sei die Beschwerde innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung der Entscheidung einzulegen. Die Kammer schloss daraus, dass gemäß der eindeutig mehrheitlichen Rechtsprechung der Beschwerdekammern eine nicht fristgerecht eingelegte Beschwerde rechtlich gesehen nicht existiere und die Beschwerdegebühr demnach zurückzuzahlen sei.
3. T 2406/16 3.3.05 vom 21. September 2017 "mehrheitliche" Rechtsprechungslinie
In T 2406/16 war die Beschwerdeschrift innerhalb der vorgeschriebenen Frist von zwei Monaten eingereicht, die Beschwerdegebühr jedoch erst nach Ablauf der Zweimonatsfrist entrichtet worden. Die Kammer folgte der vorgenannten Entscheidung T 1325/15. Sie verwies auch auf die Entscheidung R 4/15 der Großen Beschwerdekammer, wonach ein Überprüfungsantrag gemäß Artikel 112a (4) Satz 3 EPÜ als nicht gestellt gilt, wenn die vorgeschriebene Gebühr erst nach Ablauf der Frist entrichtet wurde. Die Große Beschwerdekammer hatte ferner klargestellt, dass Artikel 108 Satz 2 und Artikel 112a (4) Satz 3 EPÜ im Wesentlichen gleich formuliert und somit gleich auszulegen sind. Die Kammer hielt weiter fest, dass die abschließende Entscheidung der Beschwerdekammer in der vorgenannten Sache T 1553/13, nachdem die Befassung der Großen Beschwerdekammer für unzulässig befunden worden war (G 1/14, ABl. EPA 2016, A95), exakt der Entscheidung R 4/15 gefolgt sei. In Anbetracht dieser Entscheidungen gelangte die Kammer zu dem Schluss, dass die Beschwerde als nicht eingelegt gelte und die Beschwerdegebühr somit ohne Grundlage entrichtet worden und zurückzuzahlen sei.
4. T 1946/15 3.2.02 vom 19. Oktober 2016 und T 198/16 3.5.04 vom 20. März 2018 "mehrheitliche" Rechtsprechungslinie
Die Vorlage erwähnt auch diese beiden Entscheidungen, die der sogenannten "mehrheitlichen" Rechtsprechungslinie gefolgt sind.
II. Stellungnahmen Dritter
Die Große Beschwerdekammer hat gemäß Artikel 10 ihrer Verfahrensordnung die Öffentlichkeit eingeladen, zur Vorlage des Präsidenten Stellung zu nehmen (ABl. EPA 2018, A71). Daraufhin sind neun Amicus-curiae-Schriftsätze eingegangen, die auf der Website des EPA unter der Rubrik der Großen Beschwerdekammer eingesehen werden können. Die meisten Verfasser sprachen sich für den Ansatz der sogenannten "mehrheitlichen" Rechtsprechungslinie aus, d. h. wenn erst nach Ablauf der in Artikel 108 EPÜ vorgesehenen Frist von zwei Monaten Beschwerde eingelegt und/oder die Beschwerdegebühr entrichtet wird, so soll die Beschwerde als nicht eingelegt gelten, und die Beschwerdegebühr muss zurückgezahlt werden.
"Wenn erst nach Ablauf der in Artikel 108 EPÜ vorgesehenen Frist von zwei Monaten Beschwerde eingelegt und/oder die Beschwerdegebühr entrichtet wird, ist die Beschwerde dann unzulässig oder gilt sie als nicht eingelegt, und muss die Beschwerdegebühr zurückgezahlt werden?"
Die verschiedenen Fallkonstellationen lassen sich in der folgenden Tabelle darstellen:
B. BEGRÜNDUNG DER STELLUNGNAHME
I. Zulässigkeit der Vorlage
1. Berichtigte Lesart der Vorlagefrage
Der Wortlaut des ersten Teils der Frage in der französischen Fassung "Lorsque la formation d'un recours et/ou la taxe de paiement ..." und die Formulierung "la taxe de paiement" sind unklar und wohl falsch. Wie zu Recht in einem Amicus-curiae-Schriftsatz festgestellt, ist eine "Zahlungsgebühr" oder "Auftragsgebühr" (vom Verfasser des Schriftsatzes vorgeschlagene Übersetzung von "taxe de paiement") weder im EPÜ noch in der Gebührenordnung vorgesehen. Die Große Beschwerdekammer ist jedoch der Auffassung, dass es sich um einen Fehler handelt, der aufgrund der Lektüre der gesamten Vorlage leicht zu korrigieren ist, und "la taxe de paiement" im Sinne von "le paiement de la taxe de recours" (die Entrichtung der Beschwerdegebühr) zu verstehen ist. Bei der Veröffentlichung der Vorlagefrage im Amtsblatt des EPA (ABl. EPA 2018, A71) wurde denn auch eine dahin gehende Berichtigung vorgenommen: in einer Fußnote wurde zum Zweck der Übersetzung darauf hingewiesen, welche Bedeutung die Große Beschwerdekammer dem Begriff gibt. Dementsprechend ist die der Großen Beschwerdekammer vorgelegte Frage wie folgt zu lesen:
2. Zulässigkeitsvoraussetzungen Artikel 112 (1) b) EPÜ
Nach Artikel 112 (1) b) EPÜ kann der Präsident des EPA zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung oder wenn sich eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung stellt, die Große Beschwerdekammer anrufen, wenn zwei Beschwerdekammern über diese Frage voneinander abweichende Entscheidungen getroffen haben.
Somit hat die Große Beschwerdekammer zu prüfen, ob die Vorlagefrage gemäß Artikel 112 (1) b) EPÜ zulässig ist, d. h.
i) ob sie zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsanwendung einer Antwort bedarf oder es sich bei ihr um eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung handelt
und
ii) ob zwei Beschwerdekammern über die vorgelegte Frage voneinander abweichende Entscheidungen getroffen haben.
(1) Hinsichtlich der ersten Zulässigkeitsvoraussetzung, die bei jeder Vorlage gegeben sein muss, gleich, ob sie nach Artikel 112 (1) a) EPÜ von einer Beschwerdekammer oder nach Artikel 112 (1) b) EPÜ vom Präsidenten des EPA ausgeht, heißt es unter Nummer 34 der Vorlage, dass die Antwort auf die Frage "eindeutige Auswirkungen auf die Praxis der erstinstanzlichen Organe des Amts (u. a. Prüfungsabteilungen und Einspruchsabteilungen) haben wird, da mehrere Vorschriften des EPÜ einen ähnlichen Wortlaut wie Artikel 108 EPÜ aufweisen und die bestehende Praxis bei verspäteter Einreichung eines Antrags oder verspäteter Zahlung einer vorgeschriebenen Gebühr eindeutige Rechtsfolgen vorsieht, die in der Regel in der Rückzahlung der jeweiligen Gebühr bestehen, wenn der Antrag als nicht gestellt gilt." In Abschnitt D.II der Vorlage werden die verschiedenen Vorschriften des EPÜ, die einen ähnlichen Wortlaut wie Artikel 108 Sätze 1 und 2 aufweisen, sowie die entsprechende Praxis und Rechtsprechung der Beschwerdekammern analysiert.
Die Große Beschwerdekammer teilt die Auffassung des Präsidenten des Amts. Es gilt, eine "Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung" zu beantworten, die, wie vom Präsidenten des Amts unterstrichen, nicht nur a) Auswirkungen über die gestellte Frage hinaus hat, sondern auch b) für eine große Zahl vergleichbarer Fälle relevant sein könnte.
a) Dieselbe Formulierung wie in Artikel 108 Satz 2 EPÜ und der dazugehörigen Regel 101 (1) EPÜ wurde vom Gesetzgeber in Artikel 99 (1) Satz 2 EPÜ (Einspruch/Entrichtung der Einspruchsgebühr) zusammen mit Regel 77 (1) EPÜ und in Artikel 112a (4) Satz 4 EPÜ (Überprüfungsantrag/Entrichtung der Gebühr für den Überprüfungsantrag) zusammen mit Regel 108 (1) EPÜ übernommen.
Aufgrund der Ähnlichkeit des vom Gesetzgeber gewählten Wortlauts liegt auf der Hand, dass die Beantwortung der Vorlagefrage einschließlich der Frage der Rückzahlung der entrichteten Gebühr unmittelbare Auswirkungen auf die übrigen oben genannten rechtlichen Sachverhalte hat.
b) Die Frage, welche Rechtsfolge die Nichtzahlung der Beschwerdegebühr innerhalb der Zweimonatsfrist oder die Einreichung der Beschwerdeschrift nach Ablauf dieser Frist unter rechtzeitiger Entrichtung der Beschwerdegebühr hat, also ob die Beschwerde als unzulässig verworfen wird oder als nicht eingelegt gilt, betrifft eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung, weil sie für eine potenziell große Zahl von Fällen vor den Beschwerdekammern relevant und daher nicht nur für die Beteiligten an diesem Beschwerdeverfahren von großem Interesse ist. Zudem ist die Klärung dieser Rechtsfrage nicht nur für die Nutzer des europäischen Patentsystems bedeutsam, sondern auch für alle Beschwerdekammern und das EPA selbst, da, wie auch in den Amicus-curiae-Schriftsätzen hervorgehoben wurde, bei vielen anderen rechtlichen Sachverhalten über die Rechtsfiktion der nicht eingelegten Beschwerde (bzw. des nicht gestellten Antrags) oder der Zulässigkeit bzw. Unzulässigkeit und infolgedessen über die (Nicht-)Rückzahlung der entrichteten Gebühr befunden werden muss. Die Auslegung von Artikel 108 Satz 2 EPÜ hat mithin Konsequenzen, die eindeutig über die Vorlagefrage hinausgehen.
(2) Die zweite Voraussetzung für die Zulässigkeit der Vorlage, das Erfordernis der Sicherung einer einheitlichen Rechtsanwendung, ist ebenfalls erfüllt. In seiner Vorlage verweist der Präsident des Amts auf divergierende Entscheidungen (s. o.); zum einen analysiert er die Entscheidung T 1897/17 3.4.01, die für die minderheitliche Rechtsprechungslinie steht (s. o.), zum anderen die Entscheidungen T 1325/15 3.5.07 und T 2406/16 3.3.05 (s. o.), die beide für die mehrheitliche Rechtsprechungslinie stehen. Gemäß der Rechtsprechung der Großen Beschwerdekammer ist der Begriff der "voneinander abweichenden Entscheidungen" in Artikel 112 (1) b) EPÜ im Sinne von "divergierenden Entscheidungen" auszulegen (s. z. B. G 3/08, ABl. EPA 2011, 10, Nr. 7.3.7 letzter Absatz der Entscheidungsgründe). Hier weichen die betreffenden Entscheidungen im Hinblick auf den Ausgang des Beschwerdeverfahrens voneinander ab: im einen Fall wird auf Unzulässigkeit der Beschwerde erkannt und die Beschwerdegebühr nicht zurückgezahlt, in den beiden anderen Fällen gilt die Beschwerde als nicht eingelegt, und die Beschwerdegebühr wird zurückgezahlt. Es handelt sich um zwei rechtlich vollkommen verschiedene und somit "divergierende" Ergebnisse, die mit rechtlich unterschiedlichen oder gar einander widersprechenden Argumenten begründet werden.
3. In Anbetracht der obigen Ausführungen ist die Vorlage zulässig.
II. Anwendung von Artikel 108 Sätze 1 und 2 EPÜ durch die Beschwerdekammern und die Große Beschwerdekammer
1. Artikel 108 Sätze 1 und 2 EPÜ Fallkonstellationen
Artikel 108 Sätze 1 und 2 EPÜ 2000: "Die Beschwerde ist nach Maßgabe der Ausführungsordnung innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung der Entscheidung beim Europäischen Patentamt einzulegen. Die Beschwerde gilt erst als eingelegt, wenn die Beschwerdegebühr entrichtet worden ist."
Ausgehend vom Wortlaut des Artikels 108 Sätze 1 und 2 und unter Berücksichtigung der einschlägigen Rechtsprechung der Großen Beschwerdekammer und der Beschwerdekammern sind drei Fallkonstellationen vorstellbar:
- Fallkonstellation 1 Die Beschwerdeschrift wird innerhalb der vorgeschriebenen Frist von zwei Monaten eingereicht UND die Beschwerdegebühr wird NACH Ablauf dieser Frist von zwei Monaten entrichtet;
- Fallkonstellation 2 Die Beschwerdeschrift wird NACH Ablauf der Frist von zwei Monaten eingereicht UND die Beschwerdegebühr wird NACH Ablauf dieser Frist von zwei Monaten entrichtet;
- Fallkonstellation 3 Die Beschwerdegebühr wird innerhalb der Frist von zwei Monaten entrichtet UND die Beschwerdeschrift wird NACH Ablauf dieser Frist von zwei Monaten eingereicht.
FORMULA/TABLE/GRAPHIC
Wahrscheinlich hat der Präsident des Amts aufgrund des Wortlauts von Artikel 108 Sätze 1 und 2 EPÜ seine Frage mit den Konjunktionen "und/oder" formuliert. Auch in den meisten Amicus-curiae-Schriftsätzen wurde die der Großen Beschwerdekammer vorgelegte Frage unter dem Aspekt der unterschiedlichen rechtlichen Sachverhalte bzw. Fallkonstellationen analysiert und kommentiert.
Für jede Fallkonstellation sind zwei Fragen zu beantworten:
- Ist die Beschwerde zulässig oder gilt sie als nicht eingelegt; mit anderen Worten: welche Rechtsfolge ergibt sich daraus? UND
- Muss die gegebenenfalls entrichtete Beschwerdegebühr zurückgezahlt werden?
2. "Mehrheitliche" Rechtsprechungslinie
(1) Fallkonstellation 1 Die Beschwerdeschrift wird INNERHALB der vorgeschriebenen Frist von zwei Monaten eingereicht UND die Beschwerdegebühr wird NACH Ablauf dieser Frist von zwei Monaten entrichtet
Es handelt sich hier um den klassischen Fall, dass der Beschwerdeführer innerhalb der Frist von zwei Monaten mit Einreichung einer der Ausführungsordnung entsprechenden Beschwerdeschrift das Beschwerdeverfahren eingeleitet, die Beschwerdegebühr aber erst nach Ablauf dieser Frist entrichtet hat. Diese Konstellation schließt auch den Fall ein, dass der Beschwerdeführer die Beschwerde innerhalb der Frist von zwei Monaten eingelegt, es aber unterlassen hat, die Beschwerdegebühr zu entrichten.
Wenn die Beschwerdegebühr nicht oder erst nach Ablauf der genannten Zweimonatsfrist entrichtet wird, gilt die Beschwerde nach der sogenannten "mehrheitlichen" Rechtsprechungslinie als nicht wirksam eingelegt, d. h. die Beschwerde ist nicht existent.
Die diesbezüglichen Entscheidungen der Juristischen Beschwerdekammer und der Technischen Beschwerdekammern werden im Folgenden in chronologischer Reihenfolge aufgeführt (die Liste ist nicht erschöpfend; es werden Entscheidungen genannt, die regelmäßig in anderen Entscheidungen analysiert oder angeführt bzw. in den Nachschlagewerken zum europäischen Patentrecht erwähnt werden): J 2/78 vom 1. März 1979 (ABl. EPA 1979, 283); J 21/80 vom 26. Februar 1981 (ABl. EPA 1981, 101); J 16/82 vom 2. März 1983 (ABl. EPA 1983, 262); T 105/85 3.3.1 vom 5. Februar 1987; J 24/87 vom 6. November 1987; T 742/96 3.2.5 vom 5. September 2000; T 1486/11 3.3.05 vom 13. April 2012; T 2274/11 3.5.06 vom 29. August 2012; J 5/15 vom 22. Juni 2015; T 181/14 3.5.02 vom 13. Juli 2017; T 2406/16 3.3.05 vom 21. September 2017.
a) J 2/78 ist die erste Entscheidung zur Fallkonstellation 1. Da keine Beschwerdegebühr entrichtet wurde, entschied die Juristische Beschwerdekammer ohne Angabe einer Begründung, dass die Beschwerde "als nicht eingelegt gilt" (Wortlaut analog zu Artikel 108 Satz 2 in der Fassung des EPÜ 1973). Der Entscheidung J 2/78 wurde in J 21/80 gefolgt. In diesem Fall war die Beschwerdegebühr verspätet entrichtet worden. Die Juristische Beschwerdekammer stellte fest: "Da somit keine wirksame Beschwerde vorliegt, ist die verspätet gezahlte Beschwerdegebühr zurückzuzahlen.", (s. Nr. 4 der Entscheidungsgründe). Die Entscheidung enthielt keine weitere Begründung. Der Tenor lautet in der Verfahrenssprache Französisch: "Le recours contre la décision de la Section de dépôt du 12 mai 1980 est considéré comme non formé." Der Entscheidung J 21/80 wurde später in der Entscheidung J 16/82 gefolgt. Unter den Nummern 2 und 9 der Entscheidungsgründe stellte die Kammer Folgendes fest (Verfahrenssprache Deutsch):
"2. Zu den Voraussetzungen einer rechtswirksamen Beschwerde gehört, dass die Beschwerdegebühr innerhalb der nach Artikel 108 EPÜ vorgeschriebenen 2-Monatsfrist entrichtet wurde. Andernfalls gilt die Beschwerde nach Artikel 108 Satz 2 EPÜ nicht als eingelegt (siehe Entscheidung der JurBK J 21/80 vom 26. Februar 1981, ABl. EPA 1981, 101).
9. Da eine Wiedereinsetzung somit nicht stattfinden kann, gilt die Beschwerde gem. Artikel 108 Satz 2 EPÜ als nicht eingelegt. Artikel 108 Satz 2 EPÜ ist entsprechend seiner Entstehungsgeschichte in Zusammenhang mit Satz 1 in dem Sinne zu verstehen, dass die Beschwerde nicht als eingelegt gilt, wenn die Beschwerdegebühr nicht innerhalb der in Satz 1 genannten Beschwerdefrist entrichtet worden ist (siehe auch die bereits unter Nr. 2 erwähnte J 21/80 vom 26. Februar 1981, ABl. EPA 1981, 101).", (Hervorhebung durch die Kammer).
In J 16/82 verwies die Juristische Beschwerdekammer pauschal auf die Entstehungsgeschichte des Artikels 108 EPÜ, ohne anzugeben, aus welchem Grund diese Vorschrift so ausgelegt wurde.
b) In den übrigen vorgenannten Entscheidungen befanden die Beschwerdekammern, dass keine Beschwerde eingelegt worden war und folglich die Beschwerdegebühr zurückgezahlt werden musste, ohne in den Entscheidungsgründen ausdrücklich anzugeben, warum sie zu diesem Ergebnis gelangt waren. Dies gilt auch für die in der Vorlage analysierte neuere Entscheidung T 2406/16, die auf frühere Entscheidungen verweist.
c) In der Sache R 4/15 vom 16. September 2016, bei der es um die verspätete Entrichtung der Gebühr für den Überprüfungsantrag ging, kam die Große Beschwerdekammer ohne nähere Erläuterungen zu dem Schluss, dass der Überprüfungsantrag als nicht gestellt galt, und ordnete die Rückzahlung der entsprechenden Gebühr an (Verfahrenssprache Englisch): "From the above, the Enlarged Board concludes that the fee for petition for review was paid out of time. It therefore unanimously decides that the petition for review is deemed not to have been filed. In the absence of a petition for review, there is no legal basis for paying the fee involved, which must therefore be reimbursed." (s. Nrn. 10 bis 12 der Entscheidungsgründe).
(2) Fallkonstellation 2 Die Beschwerdeschrift wird NACH Ablauf der Frist von zwei Monaten eingereicht UND die Beschwerdegebühr wird NACH Ablauf dieser Frist von zwei Monaten entrichtet
Die diesbezüglichen Entscheidungen der Technischen Beschwerdekammern werden im Folgenden in chronologischer Reihenfolge aufgeführt (die Liste ist nicht erschöpfend; es werden Entscheidungen genannt, die regelmäßig in anderen Entscheidungen analysiert oder angeführt bzw. in der Vorlage, den Amicus-curiae-Schriftsätzen und in den Nachschlagewerken zum europäischen Patentrecht erwähnt werden): T 60/01 3.5.2 vom 1. Oktober 2000; T 2056/08 3.2.04 vom 15. Januar 2009; T 585/08 3.5.04 vom 20. Oktober 2009; T 1325/15 3.5.07 vom 7. Juni 2016; T 1553/13 3.2.06 vom 23. November 2016; T 1954/13 3.3.04 vom 27. Oktober 2017.
a) Die Beschwerdekammern, die Fälle behandelt haben, bei denen die Einreichung der Beschwerdeschrift UND die Entrichtung der Beschwerdegebühr nach Ablauf der Zweimonatsfrist erfolgt sind und die in der Regel mit Wiedereinsetzungsanträgen einhergingen, haben bei der Zurückweisung der Wiedereinsetzungsanträge nicht erläutert, warum die Beschwerde als nicht eingelegt zu betrachten war; sie verwiesen auf Artikel 108 Satz 2 EPÜ und befanden, dass die Beschwerde als nicht eingelegt gilt oder nicht existent ist. Siehe beispielsweise die Entscheidungen T 60/01 3.5.2, Nummern 3 und 4 der Entscheidungsgründe; T 2056/08 3.2.4, Nummer 5 der Entscheidungsgründe; T 585/08 3.5.04, Nummern 22 und 24 der Entscheidungsgründe.
b) Lediglich in der Entscheidung T 1325/15 die in der Vorlage angeführt und analysiert wird gab die Kammer 3.5.07, nachdem ihr Zwischenergebnis lautete, den Wiedereinsetzungsantrag zurückzuweisen, eine explizite Begründung für ihre Schlussfolgerung ab, dass die Beschwerde als nicht eingelegt gilt (s. Nrn. 34 bis 43 der Entscheidungsgründe). Zunächst erinnerte sie daran (s. Nr. 38 der Entscheidungsgründe), dass nach den im Wiener Übereinkommen verankerten Grundsätzen für die Vertragsauslegung jede Auslegung einer Bestimmung von deren Wortlaut auszugehen hat; das Ergebnis dieser Auslegung muss unter anderem durch eine systematische Auslegung der Bestimmung unter Berücksichtigung ihrer Funktion und ihrer Position innerhalb des gesamten EPÜ bestätigt werden. Anschließend prüfte sie (s. Nr. 39 der Entscheidungsgründe) die Hypothese, dass die verspätete Einreichung der Beschwerdeschrift zumindest in gewissem Umfang rechtlich wirksam ist und nicht so behandelt werden darf, als ob keine Beschwerde eingelegt worden wäre. In diesem Zusammenhang stellte sie fest (s. Nr. 40 der Entscheidungsgründe), dass gemäß zahlreichen Vorschriften des EPÜ ein Dokument innerhalb einer bestimmten Frist oder "rechtzeitig" einzureichen sei. Im letzteren Fall bestimmt die Ausführungsordnung entweder die Dauer der Frist oder überlässt es dem EPA, diese Dauer festzulegen ("innerhalb einer zu bestimmenden Frist"). In den meisten Fällen nennt das EPÜ auch die Rechtsfolge der nicht rechtzeitigen Einreichung des Schriftstücks, ohne jedoch zwischen verspäteter Einreichung und Nichteinreichung zu unterscheiden. In einigen Fällen ist die rechtzeitige Einreichung des Dokuments eine unabdingbare Voraussetzung für die Anwendung einer anderen Bestimmung, und seine verspätete Einreichung oder Nichteinreichung hat schlicht zur Folge, dass diese andere Bestimmung nicht zur Anwendung kommt; so kann z. B. ein Anmelder, der die in Artikel 55 (2) EPÜ vorgesehene Bescheinigung nicht innerhalb von vier Monaten nach Einreichung der europäischen Patentanmeldung (R. 25 EPÜ) einreicht, von der Ausnahmeregelung des Artikels 55 (1) EPÜ hinsichtlich Ausstellungen keinen Gebrauch machen. Nach dem EPÜ wird die verspätete Einreichung eines Schriftstücks in der Regel so behandelt wie dessen Nichteinreichung. Die Beschwerdekammer kam schließlich zu dem Ergebnis (s. Nr. 41 der Entscheidungsgründe), dass nach Artikel 108 Satz 1 EPÜ die Beschwerde innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung der Entscheidung einzulegen ist. Wird keine Beschwerdeschrift eingereicht, liegt keine Beschwerde vor. Da das EPÜ nicht zwischen der verspäteten Einreichung und der Nichteinreichung eines Dokuments unterscheidet, ist eine Beschwerde inexistent, wenn sie nicht rechtzeitig eingelegt wurde.
c) Auch die Beschwerdekammer 3.3.04 erläuterte in T 1954/13 vom 27. Oktober 2017 die Gründe für ihre Entscheidung, dass die Beschwerde als nicht eingelegt gilt. Unter Nummer 42 der Entscheidungsgründe legte sie dar, dass aus den ersten beiden Sätzen des Artikels 108 EPÜ zusammengenommen folge, dass eine Beschwerde nur dann als eingelegt gelte, wenn innerhalb der in Artikel 108 Satz 1 EPÜ vorgesehenen Frist von zwei Monaten nicht nur die Beschwerdeschrift eingereicht, sondern auch die Beschwerdegebühr entrichtet worden sei (s. in diesem Sinne auch die vorgenannte J 16/82, Nr. 9 der Entscheidungsgründe, sowie T 778/00, ABl. EPA 2001, 554, Nr. 2.2 der Entscheidungsgründe). Die Verbindung zwischen den beiden Sätzen ergebe sich noch deutlicher aus dem Wortlaut von Artikel 108 Satz 2 EPÜ 1973 in der englischen Fassung ("The notice of appeal shall not be deemed to have been filed until after the fee for appeal has been paid"), (Hervorhebung durch die Kammer). Somit legte die Kammer Artikel 108 Satz 2 EPÜ dahin gehend aus, dass die Entrichtung der Beschwerdegebühr innerhalb der Zweimonatsfrist ein weiteres Erfordernis für die Einlegung der Beschwerde sei. Dies entspreche im Übrigen dem "allgemeinen Konzept" des EPÜ, dass ein Antrag (z. B. Prüfungs-, Wiedereinsetzungs-, Beschränkungs-, Widerrufs-, Einspruchs- oder Überprüfungsantrag) erst als gestellt gilt, wenn die Zahlung fristgerecht erfolgt ist.
(3) Fallkonstellation 3 Die Beschwerdegebühr wird INNERHALB der Frist von zwei Monaten entrichtet UND die Beschwerdeschrift wird NACH Ablauf dieser Frist von zwei Monaten eingereicht
Die nachstehende Liste enthält die Entscheidungen der Juristischen Beschwerdekammer und der Technischen Beschwerdekammern zur Fallkonstellation 3, die in der Vorlage, den Amicus-curiae-Schriftsätzen und in der Fachliteratur zum europäischen Patentrecht erwähnt werden (die Liste ist nicht erschöpfend):
J 19/90 vom 30. April 1992; T 371/92 3.3.3 vom 2. Dezember 1993 (ABl. EPA 1995, 324); T 696/95 3.2.3 vom 16. November 1995; T 266/97 3.2.03 vom 22. Juni 1998; T 445/98 3.2.1 vom 10. Juli 2000; T 778/00 3.2.4 vom 6. Juli 2001 (ABl. EPA 2001, 554); T 1479/09 3.2.04 vom 25. November 2009; T 1943/09 3.4.03 vom 31. Mai 2010; T 377/11 3.3.10 vom 14. Dezember 2011; T 861/12 3.3.01 vom 2. März 2016; T 181/14 3.5.02 vom 13. Juli 2017; T 327/17 3.3.09 vom 14. Dezember 2017; T 2520/17 3.3.05 vom 9. April 2018.
a) In J 19/90 stellte die Juristische Beschwerdekammer fest, dass die Entrichtung der Beschwerdegebühr allein keine rechtswirksame Einlegung einer Beschwerde darstelle und die Beschwerde deshalb als nicht eingelegt gelte. Dies sei auch dann der Fall, wenn als Zahlungszweck "Beschwerdegebühr" zu einer bestimmten Patentanmeldung angegeben und das Formblatt für die Zahlung von Gebühren und Auslagen (EPA Form 1010) verwendet werde. Dieser Feststellung wurde in den Entscheidungen T 371/92, T 696/95, T 266/97, T 778/00, T 1479/09, T 1943/09, T 377/11, T 861/12, T 181/14 und T 2520/17 gefolgt, ohne dass in den Entscheidungsgründen auf die Rechtsfolge eingegangen wurde, d. h. auf die Frage, ob die Beschwerde als nicht eingelegt gilt oder inexistent ist.
b) Nur in den Entscheidungen T 445/98 und T 778/00 behandelten die Beschwerdekammern den Wortlaut des Artikels 108 EPÜ und die Rechtsfolge einer Einreichung der Beschwerdeschrift nach Ablauf der Frist von zwei Monaten unter rechtzeitiger Entrichtung der Beschwerdegebühr.
In T 445/98 (Verfahrenssprache Englisch) heißt es unter Nummer 5 der Entscheidungsgründe: "..., the Board considers that Article 108 EPC distinguishes two stages of the appeal: the first stage relates to the existence of the appeal which requires two conditions: the notice of appeal must be filed in writing at the European Patent Office within two months after the date of notification of the decision appealed from, and the fee for appeal must have been paid. Only if the appeal fulfils these two requirements of Article 108 EPC is it deemed to have been filed, i.e. the appeal is in existence. The second stage of appeal, which relates to the issue of admissibility, can only come into effect where an appeal is in existence. On the contrary where the appeal is deemed not to have been filed, the issue of admissibility does not even arise."
In der Entscheidung T 778/00 (Verfahrenssprache Deutsch) wurde unter Nummer 2.2 der Entscheidungsgründe festgestellt, dass: "... Einlegung der Beschwerde und Zahlung der Beschwerdegebühr in Artikel 108 Satz 1 und 2 EPÜ als zwei getrennte Erfordernisse der Beschwerde geregelt [sind]. Nach diesen Bestimmungen kann die Zahlung der Beschwerdegebühr die Einlegung der Beschwerde nicht ersetzen. Ansonsten hätte es genügt, die Zahlung der Beschwerdegebühr vorzuschreiben, des weiteren Erfordernisses der Einlegung der Beschwerde hätte es nicht bedurft. Dieser Struktur der Vorschrift entspricht auch ihr Wortlaut. Satz 2 ist mit Satz 1 durch die zeitliche Bestimmung "erst" verbunden und knüpft damit an eine eingelegte Beschwerde an, die nur dann Wirksamkeit erlangen kann, wenn die in Satz 2 geregelte Bedingung, d. h. die Zahlung der Gebühr, eintritt. Dieser Zusammenhang wird auch aus Artikel 4 (1) GebO deutlich, nach dem mangels abweichender Regelung eine Gebühr mit dem Eingang des entsprechenden Antrags fällig wird (vgl. Gall, Münchner Gemeinschaftskommentar, 10. Lfg. 1986, Art. 51 EPÜ, Rdn 86, 105). Dies hat aber auch zur Folge, dass die Beschwerdegebühr erst mit Einlegung der Beschwerde fällig wird. Geht keine Beschwerde ein, so ist die Beschwerdegebühr ohne Rechtsgrund gezahlt und daher zurückzuzahlen (ständige Rechtsprechung seit T 41/82, ABl. EPA 1982, 256, Gründe Nr. 1)."
c) In der Sache R 18/13 waren sowohl die Stellung des Überprüfungsantrags als auch die Entrichtung der entsprechenden Gebühr nach Ablauf der in Artikel 112a (4) Satz 2 EPÜ vorgesehenen Frist von zwei Monaten erfolgt, und die Große Beschwerdekammer kam nach Zurückweisung des Wiedereinsetzungsantrags zu folgendem Ergebnis (Verfahrenssprache Deutsch): "Infolgedessen gilt der Antrag auf Überprüfung als nicht gestellt. Die gezahlte Überprüfungsgebühr ist ohne Rechtsgrund gezahlt worden und ist daher zurückzuzahlen.", (s. Nr. 26 der Entscheidungsgründe).
3. "Minderheitliche" Rechtsprechungslinie
Recherchen haben ergeben, dass nur in 15 Entscheidungen der Beschwerdekammern entschieden wurde, dass die Beschwerde als unzulässig zu verwerfen sei, wenn die Einreichung der Beschwerdeschrift und/oder die Entrichtung der Beschwerdegebühr nach Ablauf der in Artikel 108 EPÜ vorgesehenen Frist von zwei Monaten erfolgte. Nur in einer Entscheidung gelangte die Große Beschwerdekammer zum selben Ergebnis. Dabei handelt es sich um folgende Entscheidungen in chronologischer Reihenfolge:
T 489/93 3.2.4 vom 25. Februar 1994; T 1100/97 3.2.5 vom 8. Mai 1998; T 79/01 3.3.4 vom 25. März 2003; T 122/02 3.2.4 vom 23. Juni 2003; T 260/06 3.4.03 vom 18. Juli 2006; T 1465/07 3.4.02 vom 9. Mai 2008; T 1926/09 3.3.05 vom 28. September 2010; R 2/10 vom 3. November 2010; T 1289/10 3.5.06 vom 13. April 2011; T 1535/10 3.2.03 vom 13. Mai 2011; T 2210/10 3.2.02 vom 15. September 2011; T 1234/11 3.2.03 vom 21. Dezember 2011; T 742/11 3.4.03 vom 29. März 2012; T 2450/16 3.5.04 vom 9. Oktober 2017; T 1897/17 3.4.01 vom 14. Februar 2018; T 1823/16 3.5.01 vom 28. Juni 2018.
Nur in drei dieser Entscheidungen, nämlich T 489/93 3.2.4, T 79/01 3.3.4 und T 1897/17 3.4.01, begründeten die jeweiligen Kammern, warum die Beschwerde als unzulässig verworfen werden sollte.
a) In T 489/93 erfolgten sowohl die Einreichung der Beschwerdeschrift als auch die Entrichtung der Beschwerdegebühr nach Ablauf der Frist von zwei Monaten. Die Kammer ordnete zwar die Rückzahlung der Beschwerdegebühr an, weil sie davon ausging, dass die Beschwerde als nicht eingelegt gelte, verwarf die Beschwerde aber als unzulässig. Unter Nummer 9 der Entscheidungsgründe stellte die Kammer Folgendes fest (Verfahrenssprache Deutsch): "Die Beschwerde war daher als unzulässig zu verwerfen, Regel 65 (1) EPÜ. Der Wortlaut in Regel 65 (1) EPÜ [1973; entspricht R. 101(1) EPÜ 2000] 'als unzulässig' ist in einem weiteren Sinn verwendet, d. h. umfasst sowohl den Fall der existenten (aber "unzulässigen") wie den der nicht existenten Beschwerde."
b) In T 79/01 wurde die Beschwerde als unzulässig verworfen, nachdem die Beschwerdegebühr nicht in voller Höhe entrichtet worden war. Die Kammer vertrat die Auffassung, dass dies einer folgerichtigen Auslegung der Regel 65 (1) EPÜ 1973 entspreche, und führte in Nummer 10 der Entscheidungsgründe aus (Verfahrenssprache Englisch):
"There is no reason to provide the appellant with a more favourable treatment in case of late (or insufficient, as in the present case) payment of the appeal fee (ie the appeal is deemed not been filed and the appeal fee is reimbursed) as in case of, for example, late filed statement of grounds (inadmissibility of the appeal). Moreover the "travaux preparatoires" seem to support this interpretation. In the "Materialien zum EPÜ" (IV/6514/61-D) is provided for, with reference to the "Entscheidungsmöglichkeiten der Beschwerdekammer", that "Die Kammer kann feststellen, dass die Beschwerde wegen Nichtentrichtung der Gebühr unzulässig ist"."
c) In T 1897/17 begründete die Beschwerdekammer, warum die Beschwerde als unzulässig zu verwerfen sei, wenn die Einreichung der Beschwerdeschrift und/oder die Entrichtung der Beschwerdegebühr nach Ablauf der in Artikel 108 Satz 1 EPÜ vorgesehenen Frist von zwei Monaten erfolgte. In Nummer 15 Absatz 2 der Entscheidungsgründe stellte sie Folgendes fest (Verfahrenssprache Englisch):
"According to the clear wording of R. 101 (1) EPC, which is an Implementing Regulation of Art. 106 to Art. 108 EPC, if an appeal does not fulfil the legal requirements of (here) Art. 108 EPC, the board of appeal shall reject it as inadmissible. The legal fiction of Art. 108 EPC, second sentence, that the notice of appeal shall not be deemed to have been filed until the appeal fee has been paid, can, in the board's view only be understood as setting an additional (implicit) condition for an appeal to be admissible, namely the (timely) payment of the appeal fee. No procedural consequences follow from Art. 108 EPC, second sentence; these are exclusively governed by R. 101 (1) EPC, providing for the rejection of the appeal as inadmissible if the appeal does not comply with Art. 108 EPC, i.e. also in the case of late payment of the appeal fee (cf. T 79/01, quoting the travaux préparatoires to the EPC, IV/6514/61-D: 'Die Kammer kann feststellen, dass die Beschwerde wegen Nichtentrichtung der Gebühr unzulässig ist')."Sie griff dann die in den Vorlageentscheidungen T 2017/12 (Nrn. 3.4.2 und 3.4.3 der Entscheidungsgründe) und T 1553/13 (G 1/14 und G 2/14) vorgenommene Analyse der "Travaux préparatoires" auf und kam zu folgendem Ergebnis: "... it would appear incorrect to read Article 108, second sentence, EPC in a way it is not worded [namely, that it was to be read as "Notice of appeal shall not be deemed to have been filed until the fee for appeal has been paid in time", remark of the current board] ...". Durch eine Analyse der betreffenden Vorschriften (Art. 108 zusammen mit R. 101 (1) EPÜ) und ähnlicher Bestimmungen (Art. 99 (1) zusammen mit R. 77 (1); Art. 112a (4) zusammen mit R. 108 (1) EPÜ) gelangte die Kammer letztendlich zu dem Schluss, dass das EPÜ keine Rechtsgrundlage dafür bietet, die Beschwerde für nicht eingelegt zu erklären: "It is true that the wording of Art. 108 EPC, second sentence, "... not be deemed to have been filed ...", is also used in other provisions of the EPC, notably Art. 112a (4) EPC, last sentence and Art. 99 (1) EPC (further examples are listed in T 2017/12). There is, however, a fundamental difference between these three provisions on the one hand, and other provisions of the EPC using the same or similar wording on the other hand: in these three cases, specific procedural (implementing) rules exist, namely R. 101 (1) EPC, R. 77 (1) EPC and R. 108 (1) EPC. They confirm and complement the (clear) wording of Art. 108 EPC, second sentence, Art. 99 (1) EPC, second sentence, and Art. 112a (4) EPC, last sentence respectively: to reject as inadmissible a legal remedy (appeal, opposition or petition for review) attacking an EPO decision, if it does not fulfil the requirements for admissibility, which, in the system of the EPC, include the timely payment of the respective fee. In all three cases, EPO decisions would become finally binding on the parties, if not attacked by means of the respective legal remedy. The rejection of a legal remedy found inadmissible is a requirement to ensure legal certainty, a principle also generally recognised in the EPO's Contracting States.
Consequently, R. 101 (1) EPC and R. 77 (1) EPC can be seen as the implementing provisions envisaged by the travaux préparatoires (as cited in T 2017/12 'Ob in der Ausführungsordnung zu diesem Abkommen eine entsprechende Bestimmung aufgenommen werden soll, wird später zu entscheiden sein.'), confirming and supplementing the (ordinary) meaning of Art. 108 EPC, second sentence and Art. 99 (1) EPC, second sentence respectively, by explicitly stating the procedural consequence arising from the late-filing of the respective fee, i.e. to reject the appeal or opposition as inadmissible. The travaux préparatoires do not cover Art. 112a EPC as this article was only introduced into the EPC 2000."
d) In den übrigen vorstehend genannten Entscheidungen wurde unabhängig von der Fallkonstellation ob also die Beschwerdeschrift innerhalb/nach Ablauf der Beschwerdefrist eingereicht und/oder die Beschwerdegebühr innerhalb/nach Ablauf dieser Frist entrichtet wurde die Beschwerde als unzulässig verworfen, ohne dass eine Rückzahlung der Beschwerdegebühr angeordnet wurde. Die Frage der Unzulässigkeit der Beschwerde wurde in den jeweiligen Entscheidungsgründen nicht behandelt.
e) Die Große Beschwerdekammer kam in ihrer Entscheidung R 2/10 vom 3. November 2010 zu dem Ergebnis, dass der Überprüfungsantrag unzulässig war, wobei die entsprechende Gebühr fristgerecht entrichtet worden war, gab aber keine Erläuterungen zur Rechtsfolge ab.
4. Literatur/Doktrin
Die sogenannte "mehrheitliche" Rechtsprechungslinie wurde von der Fachliteratur vorbehaltlos und einstimmig bestätigt: Singer, Europäisches Patentübereinkommen, 1. Auflage, 1989, Artikel 108 EPÜ, Rdnr. 5; Bühler in Singer/Stauder, 7. Auflage 2016, Artikel 108 EPÜ, Rdnr. 27; Keussen in Benkard, 3. Auflage 2019, Artikel 108 EPÜ, Rdnr. 64 ff.; Moufang in Schulte, 10. Auflage 2017, Anhang zu § 73 PatG, Artikel 108 EPÜ, Rdnr. 19 ff.; Moser in Münchner Gemeinschaftskommentar, 20. Lieferung, Juli 1997, Artikel 108 EPÜ, Rdnr. 27; Gall in Münchner Gemeinschaftskommentar, 10. Lieferung, Februar 1986, Artikel 51, Rdnr. 398; Paterson, The European Patent System, London 1992, Anm. 2 - 44; Weiss/Ungler, Die europäische Patentanmeldung und der PCT in Frage und Antwort, 9. Auflage 2017, Kapitel 16 "Beschwerdeverfahren", Punkt 16.5, Rdnr. 1545; Visser, The annotated European Patent Convention, 26. Auflage 2018, Artikel 108, Nrn. 1 - 4.
Die diesbezügliche Rechtslage fasst Singer in der 1. Auflage 1989 seines vorgenannten Werks wie folgt zusammen: "Die Beschwerde gilt nach Satz 2 erst als eingelegt, wenn die Beschwerdegebühr entrichtet worden ist. Diese Formulierung findet sich bereits in dem ersten Arbeitsentwurf von 1961 und bedeutet, dass vor Zahlung der Gebühr keine wirksame Beschwerde vorliegt; der Beschwerdeschriftsatz ist lediglich ein Stück Papier ohne rechtliche Wirkung." Er erwähnte ausdrücklich das auch in den vorgenannten Entscheidungen angeführte Arbeitsdokument zu den entsprechenden Bestimmungen, das nachstehend unter Punkt X, "Travaux préparatoires", analysiert wird.
III. Regeln zur Auslegung des EPÜ
Das EPÜ muss, obwohl die Europäische Patentorganisation nicht Vertragspartei des Wiener Übereinkommens vom 23. Mai 1969 ist, gemäß den darin aufgestellten Grundsätzen ausgelegt werden. In ihren allerersten Entscheidungen (G 1/83, ABl. EPA 1985, 60, G 5/83, ABl. EPA 1985, 64, und G 6/83, ABl. EPA 1985, 67; vgl. "Einleitende Bemerkungen: Auslegung des Europäischen Patentübereinkommens") hat die Große Beschwerdekammer die Anwendbarkeit dieser Grundsätze anerkannt. Diese werden in zahlreichen Entscheidungen sowie von den Beschwerdekammern anerkannt und angewandt (G 2/02 und G 3/02, ABl. EPA 2004, 483; G 2/08, ABl. EPA 2010, 456; J 9/98 und J 10/98, ABl. EPA 2003, 184; T 128/82, ABl. EPA 1984, 164; T 1173/97, ABl. EPA 1999, 609; Rechtsprechung der Beschwerdekammern, 8. Auflage 2016, Kapitel III.H.1). Die einschlägigen Artikel 31 und 32 des Wiener Übereinkommens lauten wie folgt:
"Artikel 31 Allgemeine Auslegungsregel
1. Ein Vertrag ist nach Treu und Glauben in Übereinstimmung mit der gewöhnlichen, seinen Bestimmungen in ihrem Zusammenhang zukommenden Bedeutung und im Lichte seines Zieles und Zweckes auszulegen.
2. Für die Auslegung eines Vertrags bedeutet der Zusammenhang außer dem Vertragswortlaut samt Präambel und Anlagen
a) jede sich auf den Vertrag beziehende Übereinkunft, die zwischen allen Vertragsparteien anlässlich des Vertragsabschlusses getroffen wurde;
b) jede Urkunde, die von einer oder mehreren Vertragsparteien anlässlich des Vertragsabschlusses abgefasst und von den anderen Vertragsparteien als eine sich auf den Vertrag beziehende Urkunde angenommen wurde.
3. Außer dem Zusammenhang sind in gleicher Weise zu berücksichtigen:
a) jede spätere Übereinkunft zwischen den Vertragsparteien über die Auslegung des Vertrags oder die Anwendung seiner Bestimmungen;
b) jede spätere Übung bei der Anwendung des Vertrags, aus der die Übereinstimmung der Vertragsparteien über seine Auslegung hervorgeht;
c) jeder in den Beziehungen zwischen den Vertragsparteien anwendbare einschlägige Völkerrechtssatz.
4. Eine besondere Bedeutung ist einem Ausdruck beizulegen, wenn feststeht, dass die Vertragsparteien dies beabsichtigt haben.
Artikel 32 Ergänzende Auslegungsmittel
Ergänzende Auslegungsmittel, insbesondere die vorbereitenden Arbeiten und die Umstände des Vertragsabschlusses, können herangezogen werden, um die sich unter Anwendung des Artikels 31 ergebende Bedeutung zu bestätigen oder die Bedeutung zu bestimmen, wenn die Auslegung nach Artikel 31:
a) die Bedeutung mehrdeutig oder dunkel lässt oder
b) zu einem offensichtlich sinnwidrigen oder unvernünftigen Ergebnis führt."
Aus beiden Artikeln zusammen ergibt sich, dass ein Vertrag (hier das EPÜ) zuerst in Übereinstimmung mit der gewöhnlichen, seinen Bestimmungen in ihrem Zusammenhang zukommenden Bedeutung und im Lichte seines Zieles und Zweckes auszulegen ist, was bedeutet, dass der Richter von klaren Rechtsbestimmungen nicht abweichen darf; dieser Grundsatz betrifft das Erfordernis des guten Glaubens.
Aus Artikel 32 des Wiener Übereinkommens geht ferner hervor, dass vorbereitende Dokumente und die Umstände des Abschlusses des EPÜ primär heranzuziehen sind, um eine Bedeutung zu bestätigen oder eine Bedeutung zu bestimmen, wenn die ersten, gewöhnlichen Auslegungsmittel zu einem mehrdeutigen oder sinnwidrigen Ergebnis führen würden.
IV. Anwendung der Auslegungsregeln
1. Wörtliche Auslegung
Die betreffenden Vorschriften lauten in den drei Amtssprachen, die gleichermaßen verbindlich sind, wie folgt:
Article 108, première et deuxième phrases CBE 2000 : "Le recours doit être formé, conformément au règlement d'exécution, auprès de l'Office européen des brevets dans un délai de deux mois à compter de la signification de la décision. Le recours n'est réputé formé qu'après le paiement de la taxe de recours. "
Article 108 first and second sentences EPC 2000: "Notice of appeal shall be filed, in accordance with the Implementing Regulations, at the European Patent Office within two months of notification of the decision. Notice of appeal shall not be deemed to have been filed until the fee for appeal has been paid."
Artikel 108 erster und zweiter Satz EPÜ 2000: "Die Beschwerde ist nach Maßgabe der Ausführungsordnung innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung der Entscheidung beim Europäischen Patentamt einzulegen. Die Beschwerde gilt erst als eingelegt, wenn die Beschwerdegebühr entrichtet worden ist."
Nach der Rechtsprechung der Großen Beschwerdekammer und in Anwendung der vorgenannten Grundsätze des Wiener Übereinkommens (s. insbesondere G 2/12, ABl. EPA 2016, A27, Abschnitte V bis VII der Entscheidungsgründe mit zahlreichen Verweisen auf andere Entscheidungen/Stellungnahmen der Großen Beschwerdekammer) beginnt die Große Beschwerdekammer bei der Auslegung von Vorschriften des EPÜ in der Regel mit dem Wortlaut der betreffenden Vorschrift; selbst wenn die Bedeutung aus diesem Wortlaut eindeutig hervorgeht, ist danach zu prüfen, ob das Ergebnis der wörtlichen Auslegung durch die Bedeutung der Wörter in ihrem Zusammenhang bestätigt wird.
(1) Gemäß Artikel 108 Satz 1 EPÜ ist nach Maßgabe der Ausführungsordnung und innerhalb von zwei Monaten "Beschwerde einzulegen", d. h. eine Beschwerdeschrift einzureichen, die unter anderem einen Antrag enthält, in dem der Beschwerdegegenstand festgelegt wird (Art. 108 Satz 1 zusammen mit R. 99 (1) c) EPÜ), also eine Willenserklärung, dass die Entscheidung erster Instanz angefochten wird. Ohne eine solche Erklärung wird kein Beschwerdeverfahren eingeleitet und steht die Entscheidung der ersten Instanz nicht zur Überprüfung der Beschwerdekammer. Der Wortlaut von Artikel 108 Satz 1 EPÜ ist in den drei Amtssprachen des EPA leicht unterschiedlich, wobei jeder Wortlaut gemäß Artikel 177 (1) EPÜ gleichermaßen verbindlich ist. In der englischen Fassung lautet die Formulierung "Notice of appeal" während Satz 1 in der deutschen Fassung mit "Die Beschwerde" und nicht mit "Die Beschwerdeschrift" und in der französischen Fassung mit "Le recours" und nicht mit "L'acte de recours" beginnt. Daraus kann keine Absicht des Gesetzgebers abgeleitet werden. Die ursprünglichen Fassungen von Artikel 108 Satz 1 EPÜ 1973 (später EPÜ 2000) wurden nur in deutscher und französischer Sprache abgefasst und enthielten die Worte "Beschwerde" bzw. "recours". Unabhängig von der Sprache sieht Satz 1 des Artikels vor, dass innerhalb von zwei Monaten nach Maßgabe der Ausführungsordnung die Beschwerde durch Einreichung einer Beschwerdeschrift eingelegt wird. Danach ist "Beschwerdeschrift eingereicht" gleichbedeutend mit "Beschwerde eingelegt" zu verstehen und umgekehrt "Beschwerdeschrift nicht eingereicht" gleichbedeutend mit "Beschwerde nicht eingelegt".
(2) Gemäß Artikel 108 Satz 2 EPÜ ist für die Einlegung einer Beschwerde eine Beschwerdegebühr zu entrichten: "Die Beschwerde gilt erst als eingelegt, wenn die Beschwerdegebühr entrichtet worden ist." Dieser Satz 2 sieht eine Rechtsfiktion vor: "Die Beschwerde gilt erst als eingelegt, wenn die Beschwerdegebühr entrichtet worden ist.", (Hervorhebung durch die Kammer).
a) Nach einer ersten Lesart von Satz 2 (enge wörtliche Auslegung) kann die darin enthaltene Rechtsfiktion so verstanden werden, dass sich dadurch allein der Tag der Beschwerdeeinlegung bestimmen lässt. Wird beispielsweise die Beschwerdeschrift innerhalb der Frist von zwei Monaten eingereicht und die Beschwerdegebühr nach Ablauf dieser Zweimonatsfrist entrichtet, gilt nach dieser engen wörtlichen Lesart die Beschwerde als am Tag der Zahlung der Beschwerdegebühr eingelegt in diesem Beispiel heißt das nach Ablauf der Zweimonatsfrist, was zur Folge hat, dass die Beschwerde nach Regel 101 (1) EPÜ unzulässig ist ("Entspricht die Beschwerde nicht den Artikeln 106 bis 108, Regel 97 oder Regel 99 Absatz 1 b) oder c) oder Absatz 2, so verwirft die Beschwerdekammer sie als unzulässig, sofern die Mängel nicht vor Ablauf der Fristen nach Artikel 108 beseitigt worden sind."). Dieser Auslegung zufolge wird die Einreichung der Beschwerdeschrift nicht infrage gestellt, wenn die Rechtsfiktion sich nur auf die in Artikel 108 Satz 2 genannte Entrichtung der Beschwerdegebühr bezieht (s. im Gegensatz dazu nachstehend die breite wörtliche Auslegung, die Auswirkungen auf die Einreichung der Beschwerdeschrift hat).
b) Nach einer zweiten Lesart von Satz 2 (breite wörtliche Auslegung) besagt die Rechtsfiktion, dass eine Beschwerde nur dann als eingelegt gilt, wenn innerhalb der in Artikel 108 Satz 1 EPÜ vorgesehenen Frist von zwei Monaten die Beschwerdegebühr entrichtet worden ist. Die Formulierung "erst ... wenn ..." ("... until ..." in der englischen Fassung des EPÜ 2000, "... until after ..." in der englischen Fassung des EPÜ 1973, "n'... qu'..." in der französischen Fassung) stellt eine temporale Verknüpfung mit Satz 1 her, die impliziert, dass eine Beschwerde bereits durch die vorschriftsgemäße Einreichung der Beschwerdeschrift eingelegt ist und dass sie erst dann als wirksam eingelegt gilt, wenn das Erfordernis von Satz 2 erfüllt ist, d. h. wenn die Beschwerdegebühr zum selben oder zu einem späteren Zeitpunkt, aber innerhalb der Zweimonatsfrist entrichtet wird. Diese zeitliche Komponente der beiden Handlungen wird im englischen Wortlaut der Regel 20 (2) Satz 1 EPÜ 1973 (entspricht R. 22 (2) Satz 1 EPÜ 2000) deutlich, der ähnlich formuliert ist wie Artikel 108 Satz 2 EPÜ: "The request shall not be deemed to have been filed until such time as an administrative fee has been paid.", (Hervorhebung durch die Kammer). Eine Beschwerde ist also nur dann wirksam eingelegt, wenn die Beschwerdegebühr innerhalb der Frist von zwei Monaten entrichtet wird. Die Entrichtung dieser Gebühr innerhalb der Zweimonatsfrist ist eine notwendige Voraussetzung für die wirksame Einlegung der Beschwerde. Eine Beschwerdeschrift, die den in der Ausführungsordnung festgelegten Bedingungen entspricht und innerhalb der vorgeschriebenen Frist von zwei Monaten eingereicht wird (Artikel 108 Satz 1 EPÜ), lässt eine Beschwerde nur dann eingelegt sein, wenn die Beschwerdegebühr innerhalb dieser Zweimonatsfrist entrichtet wird (Artikel 108 Satz 2 EPÜ). Umgekehrt tritt bei Nichtzahlung oder verspäteter Zahlung der Beschwerdegebühr die in Artikel 108 Satz 2 EPÜ vorgesehene Rechtsfiktion ein und die Beschwerde gilt als nicht eingelegt bzw. das innerhalb der Zweimonatsfrist als Beschwerdeschrift eingereichte Schriftstück gilt als nicht eingegangen.
Die kombinierte Lesart der ersten beiden Sätze des Artikels 108 EPÜ entspricht derjenigen der vorgenannten Entscheidungen J 16/82, Nummer 9 der Entscheidungsgründe, T 778/00, Nummer 2.2 der Entscheidungsgründe, und T 1954/13, Nummer 40 der Entscheidungsgründe, die alle der mehrheitlichen Rechtsprechungslinie angehören. Dies wurde im Übrigen durch die Entscheidung G 1/86 vom 24. Juni 1987 (ABl. EPA 1987, 447) bestätigt, in der es in Nummer 8 Absatz 1 der Entscheidungsgründe heißt: "Erst wenn die Beschwerde eingelegt und die entsprechende Gebühr entrichtet worden ist, liegt eine Beschwerde vor. Mit diesen beiden Handlungen leitet der Beschwerdeführer das Verfahren ein. Der Rechtszug ist eröffnet", (Verfahrenssprache Deutsch). Die Große Beschwerdekammer kann sich dieser Analyse nur anschließen.
Zwischenergebnis:
Bei einer wörtlichen Auslegung basierend auf der kombinierten Lesart von Artikel 108 Sätze 1 und 2 EPÜ (breite wörtliche Auslegung) ist eine Beschwerde nur dann wirksam eingelegt, wenn die Beschwerdegebühr innerhalb der vorgeschriebenen Frist von zwei Monaten entrichtet wird. Der Wortlaut der drei Sprachfassungen dieser Vorschrift ist nicht widersprüchlich. Mittels der Rechtsfiktion, die mit der Entrichtung der Beschwerdegebühr innerhalb der Zweimonatsfrist verbunden ist, wird der Zeitpunkt der Einlegung der Beschwerde festgelegt. Umgekehrt folgt aus der Rechtsfiktion von Artikel 108 Satz 2 EPÜ, wenn die Beschwerdeschrift innerhalb der Zweimonatsfrist eingereicht und die Beschwerdegebühr nach Ablauf dieser Frist oder überhaupt nicht entrichtet wird, dass die Beschwerde als nicht eingelegt gilt, d. h. der Rechtszug ist nicht eröffnet oder, anders ausgedrückt, die Beschwerde ist als nicht existent zu betrachten. Diese wörtliche Auslegung des Artikels 108 Sätze 1 und 2 EPÜ führt zu einem Ergebnis, das dem Zweck der Bestimmung entspricht.
2. Systematische Auslegung
Laut den Grundsätzen des Wiener Übereinkommens ist die systematische Auslegung die zweite Säule bei der Auslegung einer Rechtsvorschrift und ihrer Begriffe (s. insbesondere G 2/12, ABl. EPA 2016, A27, Abschnitte V bis VII der Entscheidungsgründe mit zahlreichen Verweisen auf andere Entscheidungen/Stellungnahmen der Großen Beschwerdekammer). Bei der Anwendung dieser zweiten Auslegungsweise ist die Bedeutung des betreffenden Wortlauts im Kontext der entsprechenden Vorschrift unter Berücksichtigung von deren Stellung und Funktion innerhalb einer kohärenten Gruppe mit ihr zusammenhängender Rechtsnormen zu ermitteln.
Das EPÜ sieht in vielen weiteren Vorschriften die Rechtsfiktion der Nichteinreichung eines Schriftstücks vor, wenn die entsprechende Gebühr nicht gezahlt wird: Artikel 135 (3) Satz 2 EPÜ Umwandlungsgebühr, Regel 22 (2) Satz 1 EPÜ Verwaltungsgebühr, Regel 88 (3) Satz 3 EPÜ Kostenfestsetzungsgebühr, Regel 89 (2) Satz 2 EPÜ Einspruchsgebühr, Regel 123 (3) EPÜ Beweissicherungsgebühr, Regel 136 (1) Satz 3 EPÜ Wiedereinsetzungsgebühr. Bei all diesen rechtlichen Sachverhalten gilt das eingereichte Schriftstück (z. B. der Antrag auf Rechtsübergang der europäischen Patentanmeldung) erst als eingereicht, wenn die entsprechende Gebühr entrichtet worden ist (z. B. die Verwaltungsgebühr nach R. 22 (2) Satz 1 EPÜ). Anders ausgedrückt hat die Nichtzahlung der entsprechenden Gebühr die Rechtsfiktion der Nichteinreichung des (ursprünglich) eingereichten Schriftstücks zur Folge.
Diese Rechtsfiktion sieht das EPÜ auch bei anderen rechtlichen Sachverhalten vor, die nichts mit der Entrichtung einer Gebühr zu tun haben. So können nach Artikel 14 (4) EPÜ natürliche oder juristische Personen mit Wohnsitz oder Sitz in einem Vertragsstaat, in dem eine andere Sprache als Deutsch, Englisch oder Französisch Amtssprache ist, auch fristgebundene Schriftstücke in einer Amtssprache dieses Staats einreichen, beispielsweise eine Erwiderung auf eine Mitteilung der Prüfungsabteilung. Sie müssen jedoch nach Maßgabe der Ausführungsordnung eine Übersetzung in einer Amtssprache des EPA einreichen. Wird diese nicht rechtzeitig eingereicht, so gilt das Schriftstück als nicht eingereicht (Art. 14 (4) Satz 3 EPÜ). Andere Vorschriften im EPÜ sehen die von einer ersten Handlung ausgelöste Durchführung einer späteren Handlung (in der Regel die Einreichung eines Schriftstücks) vor, wobei die Nichtdurchführung der späteren Handlung die unmittelbare Rechtsfolge hat, dass die erste Handlung als nicht erfolgt gilt (bzw. "als nicht eingereicht"). Als Beispiele seien genannt in Regel 5 EPÜ die Nichteinreichung der Beglaubigung einer Übersetzung, in Regel 50 (3) EPÜ die nicht erfolgte Nachholung der Unterzeichnung eines Schriftstücks, in Regel 56 (4) EPÜ die Zurücknahme nachgereichter fehlender Teile der Beschreibung oder fehlender Zeichnungen, in Regel 152 (6) EPÜ die Nichteinreichung einer Vollmacht des Vertreters. In T 1325/15 nannte die Beschwerdekammer als Beispiel, dass ein Anmelder, der die Ausstellungsbescheinigung gemäß Regel 25 EPÜ nicht rechtzeitig d. h. innerhalb von vier Monaten nach Einreichung der europäischen Patentanmeldung einreicht, sich nicht auf die Unschädlichkeit der Offenbarung nach Artikel 55 (1) EPÜ berufen kann. In diesem Sinne entspricht der Wortlaut von Artikel 108 Satz 2 der Systematik der EPÜ-Vorschriften, die die Rechtsfiktion des Nichteinreichens des eingereichten Schriftstücks oder die fiktive Zurücknahme des eingereichten Schriftstücks vorsieht.
Zwischenergebnis:
Bei einer systematischen Auslegung des EPÜ insgesamt erweist sich, dass der Gesetzgeber zahlreiche rechtliche Sachverhalte vorgesehen hat, bei denen die Rechtsfolge der Nichtdurchführung einer zweiten Handlung darin besteht, dass die erste Handlung gemäß einer Rechtsfiktion nicht erfolgt ist. Es werden verschiedene Formulierungen verwendet, die diese Rechtsfiktion definieren und dazu führen, dass die erste Handlung inexistent ist.
3. Teleologische Auslegung
Wie nationale und internationale Gerichte wendet auch die Große Beschwerdekammer die teleologische Methode zur Auslegung der Vorschriften des EPÜ an. Dabei untersucht sie den objektiven Sinn und Zweck der Vorschriften (z. B. G 1/88 (ABl. EPA 1989, 189), Nr. 5 der Entscheidungsgründe; G 1/03 (ABl. EPA 2004, 413), Nr. 2.1.1 der Entscheidungsgründe). Ausgangspunkt ist hierbei die Ermittlung des Grundgedankens der betreffenden Vorschrift (ratio legis), weil die Auslegung nicht dem Geist der Vorschrift entgegenstehen darf (G 6/91 (ABl. EPA 1992, 491), Nr. 8 der Entscheidungsgründe).
Artikel 108 Sätze 1 und 2 EPÜ verknüpft die Einlegung der Beschwerde mit einer Rechtsfiktion. Das EPÜ sieht viele rechtliche Sachverhalte vor, bei denen Rechtsfiktionen eine Rolle spielen. Mit der Rechtsfiktion der Zurücknahme der europäischen Patentanmeldung bei Nichtzahlung von Gebühren (z. B. Anmelde- und Recherchengebühr, Art. 78 (2) EPÜ, Jahresgebühr, Art. 86 (1) EPÜ, Prüfungsgebühr, Art. 94 (2) EPÜ) oder bei Unterlassen einer Handlung (z. B. Einreichung der Übersetzung der europäischen Patentanmeldung in einer der Amtssprachen des EPA, Art. 14 (2) Satz 3 EPÜ, Antwort auf eine Mitteilung der Prüfungsabteilung, Art. 94 (4) EPÜ, Antwort auf eine Mitteilung der Beschwerdekammer, Art. 110 EPÜ zusammen mit R. 100 (3) EPÜ) wollte der Gesetzgeber ein vereinfachtes Verfahren zur Bearbeitung der Akte bereitstellen, bei dem keine begründete Zurückweisungsentscheidung für die betreffende Patentanmeldung abgefasst werden muss. Eingeführt wurde diese mit der Zurücknahmefiktion verbundene Vereinfachung zuerst in den nationalen Patentrechtssystemen, insbesondere in Österreich (s. Verordnung der Bundesregierung vom 12. Juli 1923 über die Vereinfachung der behördlichen Einrichtungen und des Verfahrens auf dem Gebiete des gewerblichen Rechtschutzes, Artikel 1, Punkt 20, Bundesgesetzblatt der Republik Österreich 1923, Seite 1363) und den nordischen Ländern (für Schweden s. Paragraf 5 des Patentgesetzes vom 16. Mai 1884, geändert durch das Gesetz Nr. 192 vom 5. Juni 1931 (S.F.S. 1931:192) auf Vorschlag Nr. 136 vom 26. Februar 1931, gebilligt durch Schreiben an den König Nr. 239 vom 20. Mai 1931); später wurde sie dann in die Artikel und Regeln des EPÜ aufgenommen (s. auch Weiss/Ungler, Die europäische Patentanmeldung und der PCT in Frage und Antwort, 9. Auflage 2017, Fußnote 60). Der Anmelder, Patentinhaber oder Einsprechende erhält nach seiner bewussten oder unbeabsichtigten Unterlassung statt einer begründeten Entscheidung über die Zurückweisung des Antrags bzw. der europäischen Patentanmeldung eine Mitteilung über den Rechtsverlust.
Im EPÜ bestimmt Regel 69 EPÜ 1973 (nunmehr R. 112 EPÜ 2000) das Verfahren zur Feststellung des Rechtsverlusts. Durch dieses vereinfachte Verfahren, das durch die bloße Nichteinhaltung der betreffenden Frist ausgelöst wird, kann die Akte unter Wahrung der Rechte des Anmelders, Patentinhabers bzw. Einsprechenden geschlossen werden. Nachstehend wird in den Abschnitten V und X dargelegt, dass bei den ersten Beratungen über den künftigen Artikel 108 EPÜ und den Beratungen über die künftige Regel 69 EPÜ 1973 (nunmehr R. 112 EPÜ 2000) der Wortlaut des Artikels 108 Satz 1 und 2 EPÜ im Einklang mit dem Willen des Gesetzgebers stand, analog zu anderen rechtlichen Sachverhalten ein vereinfachtes und wirksames Verfahren zu schaffen, das dem allgemeinen Zweck des im EPÜ vorgesehenen Verfahrens entspricht.
Im Beschwerdeverfahren wird dieses vereinfachte Verfahren zum Schließen der Akte von den Geschäftsstellenbeamten der Beschwerdekammern durchgeführt. Das Präsidium hat gemäß Artikel 6 (2) der Verfahrensordnung der Beschwerdekammern den Geschäftsstellenbeamten die Zuständigkeit dafür übertragen, Mitteilungen von Rechtsverlusten gemäß Regel 112 (1) EPÜ zu erlassen (s. Artikel 2 Absatz 7 der Entscheidung des Präsidiums der Beschwerdekammern vom 12. November 2007, ABl. EPA 2008, Beilage 1, 49).
Zwischenergebnis:
Die teleologische Auslegung, d. h. die Ermittlung der Bedeutung nach dem Zweck des Artikels 108 Sätze 1 und 2 EPÜ, gelangt zu denselben Zwischenergebnissen wie die wörtliche und die systematische Auslegung. Mit der an die Entrichtung der Beschwerdegebühr gekoppelten Rechtsfiktion in Artikel 108 Satz 2 EPÜ wollte der Gesetzgeber wie auch bei vielen anderen rechtlichen Sachverhalten ein vereinfachtes Verfahren zum Abschluss der Akte bereitstellen. In diesem Sinn ist der Wortlaut in Bezug auf die Einlegung der Beschwerde auszulegen.
V. Rechtsfolge bei Nichtvornahme beider Handlungen oder einer der beiden Handlungen innerhalb der Frist von zwei Monaten gemäß Artikel 108 EPÜ
Weder in Artikel 108 EPÜ noch in irgendeiner anderen Bestimmung des EPÜ oder seiner Ausführungsordnung ist die Rechtsfolge in den vorstehend genannten Fällen ausdrücklich festgelegt.
Dasselbe gilt für andere Bestimmungen des EPÜ mit ähnlichem Wortlaut, z. B. über die Einlegung des Einspruchs (Art. 99 (1) EPÜ) oder die Einreichung eines Überprüfungsantrags (Art. 112a EPÜ). Nur für die Stellung des Prüfungsantrags (Art. 94 (1) Sätze 1 und 2 EPÜ) sieht der Gesetzgeber in Artikel 94 (2) EPÜ ausdrücklich vor, dass die Rechtsfiktion der Zurücknahme der Patentanmeldung gilt, wenn "ein Prüfungsantrag nicht rechtzeitig gestellt" wird.
1. Die sogenannte "mehrheitliche" Rechtsprechungslinie schließt aus der Nichterwähnung im Rechtstext und unter bloßer Bezugnahme auf die vorbereitenden Arbeiten zu Artikel 108 EPÜ (s. o. J 16/82, Nr. 9 der Entscheidungsgründe), dass die Rechtsfolge darin besteht, dass die Beschwerde als nicht eingelegt gilt. Die sogenannte "minderheitliche" Rechtsprechungslinie gelangt hingegen nach einer Analyse der vorbereitenden Arbeiten zu Artikel 108 EPÜ und unter Berücksichtigung der Regel 65 (1) EPÜ 1973 (nunmehr R. 101 (1) EPÜ), die auf Artikel 108 EPÜ verweist (s. o. T 79/01, Nr. 10 der Entscheidungsgründe) zu dem Schluss, dass die Beschwerde unzulässig ist.
2. In den Vorlageentscheidungen T 1553/13 und T 2017/12 sowie in T 1897/17 hatten die Beschwerdekammern aufgrund der bloßen Lektüre von Teil IV/6.514/61-D (detaillierte Analyse weiter unten) der "Travaux préparatoires" zum Entwurf des Artikels 93, der später zu Artikel 108 EPÜ wurde, auf Unzulässigkeit der Beschwerde erkannt. Sie stellten Folgendes fest:
"... dass die Fiktion der nicht erhobenen Beschwerde bei nicht rechtzeitiger Zahlung der Beschwerdegebühr erwogen wurde, aber weder diese Formulierung, noch das damit verbundene Verfahren in die endgültige Fassung des Europäischen Patentübereinkommens übernommen wurden.", (s. T 1553/13, Nr. 8.4.3, Absatz 4 der Entscheidungsgründe), (Verfahrenssprache Deutsch; Hervohebung durch die Kammer);
"... the provisions and the procedure originally envisaged were different from the ones eventually adopted. In particular the draft article explicitly defined an appeal for which the appeal fee was not paid on time as being deemed not to be filed. This definition of what seems to be a special case does not exist in the article as it was finally adopted. There is no record of a discussion of this point with reference to the present wording. Thus it cannot be ruled out that the legislators in fact adopted the present wording because they no longer wished to make the situation of an appeal fee being paid late into such a special case.", (T 2017/12, Nr. 3.4.3 Absatz 4 der Entscheidungsgründe; Verfahrenssprache Englisch).
Diese Feststellungen sind unrichtig.
Bei der Auslegung völkerrechtlicher Verträge können subsidiär die Materialien zur Entstehungsgeschichte berücksichtigt werden. Gemäß Artikel 32 des Wiener Übereinkommens können ergänzende Auslegungsmittel, insbesondere die vorbereitenden Arbeiten und die Umstände des Vertragsabschlusses, herangezogen werden, um die sich unter Anwendung des Artikels 31 ergebende Bedeutung zu bestätigen oder die Bedeutung zu bestimmen, wenn die Auslegung nach Artikel 31 a) die Bedeutung mehrdeutig oder dunkel lässt oder b) zu einem offensichtlich sinnwidrigen oder unvernünftigen Ergebnis führt (J 8/82, ABl. EPA 1984, 155, Nr. 13 der Entscheidungsgründe; J 4/91, ABl. EPA 1992, 402, Nr. 2.4.2 der Entscheidungsgründe; T 128/82, ABl. EPA 1984, 164, Nr. 9 der Entscheidungsgründe; G 2/07, ABl. EPA 2012, 130, Nr. 4.3 der Entscheidungsgründe und G 1/08, ABl. EPA 2012, 206, Nr. 4.3 der Entscheidungsgründe).
Aus der Analyse der "Travaux préparatoires" zur früheren Regel 69 (1) EPÜ 1973 (nunmehr R. 112 (1) EPÜ) und nicht zum Artikel 108 EPÜ geht eindeutig hervor, dass der Gesetzgeber in dieser Regel zunächst ausdrücklich den Rechtsverlust als Rechtsfolge einer Nichteinlegung der Beschwerde vorgesehen hatte, es dann jedoch im Verlauf der Beratungen über diese Regel im Interesse einer Vereinfachung vorzog, in der endgültigen Fassung der Regel 69 (1) EPÜ 1973 eine allgemeine Formulierung zu verwenden, die alle rechtlichen Sachverhalte abdeckt, in denen es zu einem Rechtsverlust kommt.
3. Analyse der Entstehungsgeschichte der Regel 69 (1) EPÜ 1973
(1) Der Abschnitt "Zu Artikel 69 Nummer 1" des von der Untergruppe "Ausführungsordnung" der Arbeitsgruppe I in der Sitzung vom 23. bis 27. November 1970 erstellten Entwurfs einer Ausführungsordnung enthält folgenden Wortlaut: "(1) Stellt das Europäische Patentamt fest, dass eine europäische Patentanmeldung als zurückgenommen gilt, so teilt es dies dem Anmelder gemäß Artikel 161 des Übereinkommens mit. (2) Ist der Anmelder der Auffassung, dass die europäische Patentanmeldung nicht als zurückgenommen gilt, so kann er innerhalb einer Frist von zwei Monaten nach Zustellung der Mitteilung gemäß Absatz 1 eine Entscheidung ... beantragen. ...", (s. BR/67 d/70).
(2)
a) Aus dem Bericht über die Sitzung der Untergruppe "Ausführungsordnung" vom 12. bis 14. Januar 1971 geht unter Nummer 40 Folgendes hervor: "Die Nummer 1 zu Artikel 69 (Dok. BR/67/70, Seite 14), die von der Untergruppe ... erarbeitet worden war, sieht ein vereinfachtes Verfahren für den Fall vor, dass das Patentamt feststellt, dass eine europäische Patentanmeldung als zurückgenommen gilt. Die Anwendung eines solchen Verfahrens das die Beschwerderechte des Anmelders wahrt und zugleich die Aufgabe des Patentamts erleichtert ist dadurch gerechtfertigt, dass es sich hier nur um reine Tatfragen handelt, wie beispielsweise die rechtzeitige Entrichtung einer Gebühr. Die Untergruppe kam auf Vorschlag der britischen Delegation überein, dass dieses vereinfachte Verfahren auf andere Fälle ausgedehnt werden könnte, bei denen es sich gleichfalls nur um reine Tatfragen handelt. Die Untergruppe hat folglich ... einen Text angenommen, in dem vier weitere Fälle vorgesehen sind.", (s. BR/84 d/71).
b) Der Abschnitt "Zu Artikel 69 Nummer 1" wurde "Zu Artikel 159 Nummer 11" und enthält den folgenden Wortlaut, der in dieser Fassung beschlossen wurde:
"(1) Stellt das Europäische Patentamt fest, dass
a) eine europäische Patentanmeldung ganz oder teilweise als zurückgenommen gilt,
b) ...,
c) ...,
d) ein Einspruch oder eine Beschwerde als nicht eingelegt gilt oder
e) ...,
so teilt es dies dem Betreffenden gemäß Artikel 161 des Übereinkommens mit.", (s. BR/81 d/71), (Hervorhebung durch die Kammer).
(3) Wie aus Nummer 24 des Berichts über die Sitzung der Arbeitsgruppe I vom 22. bis 26. November 1971 hervorgeht, wurde, nachdem die Gruppe Vorschläge der britischen Delegation zur Einbeziehung anders gearteter Rechtsverluste angenommen hatte, bemerkt, "dass die in dieser Bestimmung enthaltene Liste unvollständig sein könnte und dass daher gegebenenfalls nach einer allgemeinen Formulierung gesucht werden sollte, die alle diejenigen Fälle erfasse, in denen ein Antrag als nicht gestellt gilt, wenn keine Gebühren bezahlt worden sind.", (s. BR/144 d/71, Nr. 24 und BR/134 d/71), (Hervorhebung durch die Kammer).
(4) Die letztgenannte Empfehlung war anschließend Gegenstand von Beratungen in der Arbeitsgruppe I und auf der Regierungskonferenz. Eine allgemeine Formulierung wurde der Diplomatischen Konferenz in München vorgelegt. Regel 70 (1) (später R. 69 (1) EPÜ 1973) lautete wie folgt: "(1) Stellt das Europäische Patentamt fest, dass ein Rechtsverlust auf Grund des Übereinkommens eingetreten ist, ohne dass eine Entscheidung über die Zurückweisung der europäischen Patentanmeldung oder über die Erteilung, den Widerruf oder die Aufrechterhaltung des europäischen Patents oder über die Beweisaufnahme ergangen ist, so teilt es dies dem Betroffenen nach Artikel 119 mit."
Auf den Mechanismus, wie die Feststellung eines Rechtsverlusts zugestellt wird, ging auch Van Empel in The Granting of European Patents, Leyden 1975, unter Nummer 393 ein: "As for the normal sanction to non-payment of fees ... the party concerned will be informed by the EPO of his loss of rights, pursuant to Rule 69 (1). If he disagrees with the finding of the EPO he may, of course, argue his case and may eventually take the case to a Board of Appeal (Rule 69 (2))."
Vorläufige Schlussfolgerung:
Wie im Übrigen in den Vorlageentscheidungen T 1553/13 und T 2017/12 und in T 1897/17 festgestellt wurde, in der es heißt: "... the legislator in fact elsewhere used explicit wording to specify the consequences of a late-filed request. An example can be found in Article 94(2) EPC, which reads: "If no request for examination has been made in due time, the application shall be deemed to be withdrawn." Consequently, it would appear incorrect to read Article 108, second sentence, EPC in a way it is not worded.", (s. T 2017/12, Nr. 3.4.3 Absatz 5 der Entscheidungsgründe, T 1553/13, Nr. 8.4.3 Absatz 4 der Entscheidungsgründe; T 1897/17, Nr. 15 der Entscheidungsgründe, Seite 15, letzter Absatz), ist es zutreffend, dass die Rechtsfolge "die Beschwerde gilt als nicht eingelegt" nicht ausdrücklich in Artikel 108 EPÜ genannt ist.
Aus der Analyse der "Travaux préparatoires" zur Regel 69 (1) EPÜ 1973 wird ersichtlich, dass der Gesetzgeber gleichwohl ausdrücklich in Regel 69 (1) EPÜ 1973 (nunmehr R. 112 (1) EPÜ) als Rechtsfolge festlegen wollte, dass die Beschwerde als nicht eingelegt gilt, indem er in einer einzigen Bestimmung und in einer allgemeinen Formulierung alle Fälle von Rechtsverlusten zusammengefasst hat, die nicht auf eine Entscheidung über die Zurückweisung der europäischen Patentanmeldung, die Erteilung, den Widerruf oder die Aufrechterhaltung des europäischen Patents oder über die Beweisaufnahme zurückgehen (R. 112 (1) EPÜ: "(1) Stellt das Europäische Patentamt fest, dass ein Rechtsverlust eingetreten ist, ohne dass eine Entscheidung über die Zurückweisung der europäischen Patentanmeldung, die Erteilung, den Widerruf oder die Aufrechterhaltung des europäischen Patents oder über die Beweisaufnahme ergangen ist, so teilt es dies dem betroffenen Beteiligten mit."). Der Gesetzgeber wollte also nicht alle infrage kommenden Sachverhalte auflisten, bei denen aufgrund einer Rechtsfiktion etwas "gilt als" ("gilt als zurückgenommen", "gilt als nicht eingereicht", "gilt als nicht eingelegt", "gilt als nicht gestellt" oder "gilt als nicht erfolgt"), weil womöglich manche vergessen worden wären, sondern zog es vor, sie implizit durch eine allgemein gehaltene negative Formulierung zu bestimmen, die genau definierte Sachverhalte ausschließt, nämlich Entscheidungen über die Zurückweisung der europäischen Patentanmeldung, die Erteilung, den Widerruf oder die Aufrechterhaltung des europäischen Patents oder über die Beweisaufnahme.
Somit wird bei Nichtzahlung von Gebühren, einschließlich der Beschwerdegebühr, und erst recht bei verspäteter Entrichtung der Beschwerdegebühr der betreffende Beteiligte (Anmelder, Patentinhaber, Einspre-chende usw.) gemäß dieser Vorschrift benachrichtigt.
In diesem Sinne wollte die Große Beschwerdekammer in G 1/90 (ABl. EPA 1991, 275, Nr. 8 der Entscheidungsgründe) Artikel 99 (1) Satz 3 EPÜ verstanden wissen: "Das Einspruchsverfahren bezieht sich auf ein bereits erteiltes Patent. Diesem Verfahren ist der Verlust des Patentrechts als Folge einer Fristversäumung durch den Patentinhaber fremd. Abgesehen von der Nichtzahlung der Einspruchsgebühr (Artikel 99 (1) Satz 3 EPÜ) fehlt es an Rechtsfolgen, die in Form einer Fiktion auftreten.", (Hervorhebung durch die Kammer).
VI. Fallkonstellationen 1 und 2 Zwischenergebnisse
In Anbetracht der obigen Ausführungen lautet die Antwort auf die zu den Fallkonstellationen 1 und 2 gestellte Frage, dass "die Beschwerde als nicht eingelegt gilt" (Fiktion der Nichteinlegung der Beschwerde). Bei Fallkonstellation 1 wird die Beschwerdeschrift INNERHALB der Frist von zwei Monaten eingereicht UND die Beschwerdegebühr NACH Ablauf der Zweimonatsfrist entrichtet; bei Fallkon-stellation 2 wird die Beschwerdeschrift NACH Ablauf der Frist von zwei Monaten eingereicht UND die Beschwerdegebühr NACH Ablauf der Zweimonatsfrist entrichtet (s. Tabelle Seite 12).
VII. Als nicht eingelegt geltende Beschwerde unzulässige Beschwerde und Regel 101 (1) EPÜ
In Anbetracht der Erörterungen in den vorgenannten Kammerentscheidungen hält es die Große Beschwerdekammer für erforderlich, ihren Standpunkt zu den Zusammenhängen zwischen Artikel 108 Sätze 1 und 2 EPÜ und Regel 101 (1) EPÜ (vormals R. 65 (1) EPÜ 1973) darzulegen. Die sogenannte "minderheitliche" Rechtsprechungslinie ist nämlich ausgehend vom Wortlaut der Regel 101 (1) EPÜ zu dem Schluss gelangt, dass die Beschwerde in den erörterten Fallkonstellationen unzulässig sei. Regel 101 (1) EPÜ lautet wie folgt: "Entspricht die Beschwerde nicht den Artikeln 106 bis 108, Regel 97 oder Regel 99 Absatz 1 b) oder c) oder Absatz 2, so verwirft die Beschwerdekammer sie als unzulässig, sofern die Mängel nicht vor Ablauf der Fristen nach Artikel 108 beseitigt worden sind." Dieser Wortlaut entspricht dem der Regel 65 (1) EPÜ 1973 mit Ausnahme der Verweisungen auf die Regeln, deren Nummerierung sich geändert hat.
Die Artikel 106, 107 und 108 EPÜ 1973 regeln die Voraussetzungen, die bei Ablauf der zweimonatigen bzw. der viermonatigen Frist erfüllt sein müssen, damit die Beschwerde als eingelegt gilt und für zulässig erachtet wird. Nach Artikel 108 Sätze 1 und 2 EPÜ wird das Beschwerdeverfahren durch einen ersten Schritt die Einlegung der Beschwerde in Gang gesetzt, wobei der Beschwerdeführer innerhalb einer Frist von zwei Monaten nach Zustellung der Entscheidung eine Beschwerdeschrift einzureichen hat; die Beschwerde gilt erst als eingelegt, wenn die Beschwerdegebühr entrichtet worden ist. Nur wenn beide Handlungen innerhalb der vorgeschriebenen Zweimonatsfrist vorgenommen wurden, gilt die Beschwerde als eingelegt und existiert somit. Steht fest, dass die Beschwerde existiert, stellt sich in einem zweiten Schritt die Frage ihrer Zulässigkeit. So müssen innerhalb der Zweimonatsfrist mehrere Voraussetzungen erfüllt sein, wie etwa die Angabe der angefochtenen Entscheidung (Art. 106 zusammen mit R. 99 (1) b) EPÜ), die Angabe des Beschwerdeführers (Art. 107 zusammen mit R. 99 (1) a) EPÜ, s. hierzu die Entscheidung der Großen Beschwerdekammer G 1/12, ABl. EPA 2014, A114, Nrn. 17 bis 23 der Entscheidungsgründe) oder die Angabe der Anschrift des Beschwerdeführers (Art. 107 zusammen mit R. 99 (1) a) EPÜ). Eine weitere Voraussetzung für die Zulässigkeit der Beschwerde ist die Einreichung der Beschwerdebegründung (Art. 108 Satz 3 EPÜ), die spätestens mit Ablauf der Frist von vier Monaten erfolgt sein muss. Sind diese Voraussetzungen bei Fristablauf nicht erfüllt, ist die Beschwerde gemäß Regel 101 (1) EPÜ als unzulässig zu verwerfen, sofern die Mängel nicht vor Ablauf der Fristen nach Artikel 108 EPÜ beseitigt worden sind. Dieses zweistufige Vorgehen zur Einleitung des Beschwerdeverfahrens (Handlungen, mit denen Beschwerde eingelegt wird, und für die Zulässigkeit der Beschwerde erforderliche Handlungen) wurde in einer Reihe von Entscheidungen der Beschwerdekammern analysiert und behandelt, so in den vorgenannten Entscheidungen T 445/98, Nummern 5 bis 7 der Entscheidungsgründe, und T 1954/13, Nummer 43 Absatz 2 der Entscheidungsgründe. Demnach kann die Zulässigkeit der Beschwerde nur geprüft werden, wenn die Beschwerde wirksam eingelegt ist. In diesem Zusammenhang ist der Begriff "Beschwerde" in Regel 101 (1) EPÜ im Sinne von "eingelegte Beschwerde" zu lesen ("Entspricht die eingelegte Beschwerde nicht den Artikeln 106 bis 108 ..."), (Hervorhebung durch die Kammer). Wo in Regel 101 (1) EPÜ auf Artikel 108 EPÜ (ohne Angabe von Sätzen) verwiesen wird, ist folglich Satz 3 gemeint; die Beschwerde wird als unzulässig verworfen, wenn die Beschwerdebegründung nicht oder nicht fristgerecht eingereicht wird.
VIII. Rückzahlung der Beschwerdegebühr
Das EPÜ sieht in Regel 103 (vormals Regel 67 EPÜ 1973) die Rückzahlung der Beschwerdegebühr vor. Die Fälle, in denen die Rückzahlung erfolgt, sind klar definiert und beziehen sich nicht auf die rechtlichen Sachverhalte, die in der Vorlagefrage des Amtspräsidenten an die Große Beschwerdekammer behandelt werden.
Von den beiden möglichen Antworten auf die Vorlagefrage ("Beschwerde gilt als nicht eingelegt" oder "Beschwerde ist unzulässig") betrifft die Rückzahlung der Beschwerdegebühr nur den Fall, dass die Große Beschwerdekammer die Beschwerde für nicht existent erachtet, d. h. dass die Beschwerde als nicht eingelegt gilt. Wie vorstehend erläutert, wird diese Schlussfolgerung für die Fallkonstellationen 1 und 2 gezogen.
Was Gebührenzahlungen an das EPA und insbesondere die Bestimmung des Fälligkeitstags anbelangt, sei auf Artikel 4 (1) der Gebührenordnung (GebO) verwiesen, der besagt: "Gebühren, deren Fälligkeit sich nicht aus den Vorschriften des Übereinkommens oder des PCT oder der dazugehörigen Ausführungsordnungen ergibt, werden mit dem Eingang des Antrags auf Vornahme der gebührenpflichtigen Amtshandlung fällig." Demnach bezeichnet der "Fälligkeitstag" nicht den letzten Tag der Frist für die Zahlung einer Gebühr, wie dies in vielen nationalen oder internationalen Rechtsvorschriften der Fall ist, sondern den ersten Tag, von dem an eine Zahlung wirksam geleistet werden kann. Wie in Artikel 4 GebO (s. o.) geregelt, ergibt sich der Fälligkeitstag in der Regel aus den Vorschriften des EPÜ oder aber dem Eingang des Antrags auf Vornahme der gebührenpflichtigen Amtshandlung. Außer in ausdrücklich benannten Ausnahmefällen (z. B. Entrichtung der europäischen Jahresgebühr) kann eine Gebühr nicht vor ihrem Fälligkeitstag wirksam entrichtet werden. Wird die Gebühr vor dem ihre Fälligkeit begründenden Tatbestand entrichtet, muss sie zurückgezahlt werden, da die Zahlung grundlos erfolgte. Wenn also zum Zeitpunkt der Gebührenzahlung ein bestimmtes Verfahren (z. B. Einspruchsverfahren vor dem EPA) noch nicht eingeleitet worden ist (z. B. durch Einreichung der Einspruchsschrift), wurde die Gebühr (hier Einspruchsgebühr) ohne Rechtsgrund gezahlt und ist von Amts wegen zurückzuzahlen.
Im Beschwerdeverfahren vor den Beschwerdekammern ist der Fälligkeitstag der Beschwerdegebühr der Tag der Einreichung der Beschwerdeschrift (s. hierzu Gall, Münchner Gemeinschaftskommentar, 10. Lfg. 1986, Art. 51 EPÜ, Rdnrn. 86, 105 und ständige Rechtsprechung seit den vorgenannten Entscheidungen J 21/80, J 16/82 und T 778/00). Dies bedeutet, dass die Beschwerdegebühr erst mit Einreichung der Beschwerdeschrift fällig wird. Geht keine Beschwerdeschrift ein, so wurde die Beschwerdegebühr ohne Rechtsgrund gezahlt und ist daher, wie von der ständigen Rechtsprechung seit T 41/82, ABl. EPA 1982, 256, Nummer 1 der Entscheidungsgründe bestätigt, von Amts wegen zurückzuzahlen. Wurde die Beschwerdeschrift rechtzeitig oder nach Ablauf der genannten Frist eingereicht und die Beschwerdegebühr somit fällig, aber erst nach Ablauf der Zweimonatsfrist entrichtet, so gilt das Beschwerdeverfahren als nicht eingeleitet. Da die Beschwerde als nicht eingelegt gilt, ist die Beschwerdegebühr nicht mehr fällig und muss daher zurückgezahlt werden, denn die Gebühr gilt als ohne Rechtsgrund gezahlt.
Zwischenergebnisse:
In Anbetracht der obigen Ausführungen muss für die Fallkonstellationen 1 und 2, bei denen das Ergebnis lautete, dass die Beschwerde als nicht eingelegt gilt, also nicht existiert, von Amts wegen die Rückzahlung der Beschwerdegebühr angeordnet werden, da die Gebühr ohne Rechtsgrund gezahlt wurde.
IX. Fallkonstellation 3 Zwischenergebnisse
Bei Fallkonstellation 3 wird die Beschwerdegebühr INNERHALB der Frist von zwei Monaten entrichtet UND die Beschwerdeschrift wird NACH Ablauf dieser Zweimonatsfrist eingereicht.
Bei dieser Fallkonstellation wird die Beschwerdegebühr innerhalb der vorgeschriebenen Zweimonatsfrist, aber schon vor Fälligkeit entrichtet. Wie vorstehend erläutert, wird die Beschwerdegebühr erst bei Einreichung der Beschwerdeschrift fällig; erfolgt diese nach Ablauf der Zweimonatsfrist, wird die Gebühr erst am Tag der Einreichung der Beschwerdeschrift oder gleichzeitig mit deren Einreichung fällig. Die Fallkonstellation 3 ähnelt also insofern dem Fall 2, als beide Handlungen (Einreichung der Beschwerdeschrift und Zahlung der Beschwerdegebühr) nach Ablauf der Zweimonatsfrist vorgenommen werden, weil sich der Tag der Zahlung der Beschwerdegebühr auf den Tag der Einreichung der Beschwerdeschrift verschiebt, also auf einen Zeitpunkt nach Ablauf der Zweimonatsfrist. Wie vorstehend zur Fallkonstellation 2 festgestellt wurde, existiert keine Beschwerde, und die Beschwerdegebühr muss zurückgezahlt werden, da sie ohne Rechtsgrund gezahlt wurde.
X. "Travaux préparatoires" zu Artikel 108 Sätze 1 und 2 EPÜ
Erstmals wurde in der Entscheidung J 16/82 vom 2. März 1983 (s. Abschnitt II 2 (1) der Stellungnahme) auf die Entstehungsgeschichte von Artikel 108 Satz 2 EPÜ verwiesen, wenn auch nur sehr knapp durch bloßen Verweis auf die "Entstehungsgeschichte" dieser Vorschrift. In der Entscheidung T 79/01 vom 25. März 2003 (Nr. 10 der Entscheidungsgründe) hat die Kammer mit einer Analyse des Dokuments IV/6.514/61-D vom 26. September 1961 ihren Standpunkt begründet, dass die Beschwerdegebühr nicht zu erstatten sei, da die Beschwerde als unzulässig verworfen werden müsse. In der ersten Auflage von "Europäisches Patentübereinkommen", 1989, Art. 108 Abs. 5 verwies Singer auch auf dieses Dokument und gelangte zu dem Ergebnis, dass die Nichtzahlung der Beschwerdegebühr die Rechtsfolge hat, dass die Beschwerde als nicht einge-legt gilt. In den Entscheidungen T 2017/12 vom 24. Februar 2014 und T 1553/13 vom 20. Februar 2014 (Vorlageentscheidungen zu G 1/14 und G 2/14) analysierten die beiden Beschwerdekammern die Dokumente (insbesondere IV/6.514/61-D) und die Beratungen, die zu der letztlich auf der Münchner Diplomatischen Konferenz von 1973 angenommenen Fassung der Bestimmungen geführt haben. Diese Analyse wurde von Teschemacher in den Mitteilungen der Patentanwälte 2018, Seiten 314 ff. kommentiert. Die Entscheidung T 1897/17 (Vorlage und Abschnitt I 1. der Stellungnahme) griff die Analysen und Schlussfolgerungen der Entscheidungen T 2017/12 und T 1553/13 auf.
Da sich die "mehrheitliche" wie auch die "minderheitliche" Rechtsprechungslinie zur Begründung ihrer Entscheidungen auf die "Travaux préparatoires" gestützt hat, hält es die Große Beschwerdekammer für erforderlich, die Entwürfe der Artikel sowie die diesbezüglichen Beratungen genau zu analysieren.
(1) Haertel-Entwurf des Übereinkommens (nachstehend "Haertel-Entwurf"), Artikel 1 bis 100 (deutsche Fassung unter Nr. IV/5569/61-D) Entwürfe der Artikel 93 Absatz 1 und 97 Absatz 1
a) Entwurf von Artikel 93 Absatz 1 und Erörterung
alpha) Im "Haertel-Entwurf" wird ein Entwurf des Artikels 93 vorgeschlagen, der später zu Artikel 108 EPÜ werden sollte. Der Entwurf von Artikel 93 (2) Satz 2 lautet: "Wird die Beschwerdegebühr nicht rechtzeitig [d. h. innerhalb der in Absatz 1 festgelegten Frist von zwei Monaten] ["ledit délai" in der französischen Fassung], entrichtet, so gilt die Beschwerde als nicht erhoben.", [Einfügungen in eckigen Klammern durch die Kammer].
Auf Seite 9 des Entwurfs wird unter "Bemerkungen" zum Entwurf von Artikel 93 (2) Folgendes festgestellt: "Absatz 2 befasst sich mit der Entrichtung der Beschwerdegebühr, die erforderlich ist, um die Zahl der willkürlichen Beschwerden zu vermindern. ... Die Feststellung, dass eine eingelegte Beschwerde mangels rechtzeitiger Gebührenzahlung als nicht erhoben gilt, wird dem Beschwerdeführer in einer wiederum beschwerdefähigen Entscheidung zugestellt werden müssen. Es erscheint nicht erforderlich, diesen Grundsatz im Abkommen selbst festzulegen. Ob in die Ausführungsordnung zu diesem Abkommen eine entsprechende Bestimmung aufgenommen werden soll, wird später zu entscheiden sein."
beta) Erörterungen zum Entwurf des Artikels 93 IV/6.514/61-D
Dieser Entwurf des Artikels 93 wurde in Brüssel in der dritten Sitzungsperiode der Arbeitsgruppe "Patente" vom 25. September bis 6. Oktober 1961 erörtert. Im Bericht über die Sitzung vom 25. September 1961 (s. S. 3 des Dokuments IV/6.514/61-D, "Erörte-rungen zu Artikel 93 des Vorentwurfs des Abkommens") wird Folgendes festgehalten: "Die Gruppe erklärt sich mit Artikel 93 Absatz 2 in sachlicher Hinsicht einverstanden. Herr Van Benthem stellt die Frage, ob das Abkommen ein Rechtsmittel gegen die Feststellung vorsehe, dass die Beschwerde wegen Nichtentrichtung der Gebühr als nicht eingelegt gelte. Der Präsident antwortet hierauf, in diesem Fall müsse ein Rechtsmittel vor dem europäischen Patentgericht möglich sein." Anschließend wurde beschlossen, den Entwurf des Artikels 93 an den Redaktionsausschuss zu überweisen.
b) Entwurf von Artikel 97 Absatz 1 und Erörterung:
alpha) Der Entwurf von Artikel 97 Absätze 1 und 2 hat folgenden Wortlaut:
"1) Ist die Beschwerde nicht statthaft oder nicht in der vorgeschriebenen Form oder Frist eingelegt, so verwirft die Beschwerdekammer sie als unzulässig." "2) Ist die Beschwerde sachlich nicht begründet, so weist sie die Beschwerdekammer als unbegründet zurück."
Die Frage der Zulässigkeit der Beschwerde wird nur in Absatz 1 behandelt. Auf Seite 17 des Entwurfs wird unter "Bemerkungen" zum Entwurf von Artikel 97 (1) und (2) Folgendes festgestellt: "In den Absätzen 1 und 2 wird ein terminologischer Unterschied gemacht, ob einer Beschwerde wegen Fehlens bestimmter formeller Erfordernisse oder wegen Fehlens eines sachlichen Grundes der Erfolg versagt wird. Im ersten Fall [Absatz 1] wird die Beschwerde "als unzulässig verworfen". Dies geschieht z. B., wenn die Beschwerde von jemandem erhoben worden ist, der durch die angegriffene Entscheidung nicht beschwert ist, oder wenn die Beschwerde verspätet eingelegt, die Beschwerdegebühr aber rechtzeitig entrichtet worden ist. (Ist jedoch die Beschwerdegebühr nicht oder nicht rechtzeitig eingegangen, so gilt gemäß Artikel 93 Abs. 2 die Beschwerde 'als nicht erhoben'.)", [Einfügung in eckigen Klammern durch die Kammer].
beta) Erörterungen zum Entwurf des Artikels 97 IV/6.514/61-D
Der Wortlaut des Entwurfs von Artikel 97, der später zu Artikel 111 EPÜ wurde, wurde am 26. September 1961 in der dritten Sitzungsperiode der Arbeitsgruppe "Patente" erörtert (s. S. 6 des Dokuments IV/6.514/61-D, "Erörterungen zu Artikel 97 des Vorentwurfs"). Aus dem Bericht geht Folgendes hervor:
"Der Präsident erklärt, dass die ersten drei Absätze dieses Artikels die fünf Entscheidungsmöglichkeiten der Beschwerdekammer regeln.
1. Die Kammer kann feststellen, dass die Beschwerde wegen Nichtentrichtung der Gebühr unzulässig ist (Artikel 93 Absatz 2).
2. Ist die Beschwerde sachlich nicht begründet, so weist sie die Beschwerdekammer als unbegründet zurück.
3. Ist die Beschwerde ganz oder teilweise begründet, so hebt die Beschwerdekammer die angefochtene Entscheidung ganz oder teilweise auf und entscheidet entweder in der Sache selbst oder verweist die Sache zur weiteren Behandlung an die Stelle zurück, die die angefochtene Entscheidung erlassen hat.".
Punkt 1 wurde nicht erörtert. Anschließend wurde beschlossen, den Entwurf des Artikels 97 an den Redaktionsausschuss zu überweisen.
c) Schlussfolgerungen aus den Entwürfen der Artikel 93 und 97 und den diesbezüglichen Erörterungen
- Der Entwurf des Artikels 93 in seiner ersten Fassung sieht vor, dass bei Nichtentrichtung der Beschwerdegebühr die Beschwerde "als nicht erhoben" gilt. Bei der Erörterung dieses Artikelentwurfs hatte die Gruppe der vorgeschlagenen Formulierung zugestimmt. Aus den "Bemerkungen" zum Entwurf des Artikels 93 geht hervor, dass später darüber entschieden werden sollte, wie eine "Feststellung, dass eine eingelegte Beschwerde mangels rechtzeitiger Gebührenzahlung als nicht erhoben gilt," angefochten werden könne. In diesem Sinne beantwortete der Sitzungspräsident die Frage Herrn Van Benthems bei der Erörterung dieses Artikelentwurfs.
- Im "Haertel-Entwurf", Abschnitt "Bemerkungen" zum Entwurf des Artikels 97, wird unter Verweis auf den Entwurf von Artikel 93 Absatz 2 deutlich gemacht, dass die Nichtentrichtung oder die verspätete Zahlung der Beschwerdegebühr die Rechtsfolge hat, dass die Beschwerde "als nicht erhoben [gilt]".
- Der Entwurf von Artikel 97 Absatz 1 sieht vor, dass die Beschwerde als unzulässig verworfen wird, wenn sie nicht in der vorgeschriebenen Frist eingelegt wurde; in den "Bemerkungen" heißt es, das dies beispielsweise der Fall ist, wenn die Beschwerdegebühr rechtzeitig entrichtet, die Beschwerde aber verspätet eingelegt worden ist. Andererseits erklärte der Sitzungspräsident bei der Erörterung dieser Bestimmung, dass der Entwurf des Artikels 97 bei Nichtentrichtung der Beschwerdegebühr die Unzulässigkeit der Beschwerde vorsehe, und verwies dabei auf den Entwurf von Artikel 93 Absatz 2, was im Widerspruch zum Wortlaut von Absatz 2 des Entwurfs von Artikel 93 zu stehen scheint.
d) Entwürfe der Artikel 93 und 97 Fortsetzung der Beratungen
Im Anschluss an diese erste Erörterung der Artikelentwürfe arbeitete der Redaktionsausschuss eine neue Fassung der Entwürfe der Artikel 93 und 97 aus (s. Dokument IV/5569/1/61-D vom 26. und 28. September 1961). Die Bestimmungen über die Einlegung der Beschwerde (Entwurf des Artikels 93) wurden in einen einzigen Absatz zusammengefasst, dessen Satz 2 wie folgt lautet: "Die Beschwerde gilt erst als eingelegt, wenn die in der Gebührenordnung zu diesem Abkommen vorgeschriebene Gebühr entrichtet worden ist." Absatz 1 des Entwurfs von Artikel 97 wird wie folgt umformuliert: "Entspricht die Beschwerde nicht den Bestimmungen der Artikel 91 bis 93 oder der Ausführungsordnung zu diesem Abkommen, so verwirft die Beschwerdekammer sie als unzulässig". Diese neuen Wortlaute wurden nur minimal geändert und entsprechen den künftigen Fassungen von Artikel 108 Satz 2 und Regel 65 (1), wie sie auf der Münchner Diplomatischen Konferenz von 1973 angenommen wurden.
(2) Auslegung der "Travaux préparatoires" in den in der Vorlage angeführten Entscheidungen T 79/01 sowie T 1897/17, von denen Letztere die Entscheidung T 2017/12 anführt ("minderheitliche" Rechtsprechungslinie)
a) T 79/01, Nummer 10 der Entscheidungsgründe: Die Beschwerdekammer führt zur Feststellung, dass die Beschwerde unzulässig sei, die "Travaux préparatoires" an, insbesondere das Dokument IV/6.514/61-D, worin es unter "Entscheidungsmöglichkeiten der Beschwerdekammer" heißt: "Die Kammer kann feststellen, dass die Beschwerde wegen Nichtentrichtung der Gebühr unzulässig ist". Sie verweist also lediglich auf die Zusammenfassung, die der Sitzungspräsident in der dritten Sitzung der Arbeitsgruppe "Patente" zur Einführung in die Erörterung des Entwurfs von Artikel 97 abgibt, und versäumt es, auf den vom Präsidenten genannten Artikel 93 (2) hinzuweisen, der ausdrücklich als Rechtsfolge vorsieht, dass die Beschwerde als nicht eingelegt gilt. Auch versäumt sie es, durch Verweis auf Artikel 93 (2) den offensichtlichen Widerspruch zwischen den möglichen Entscheidungsergebnissen (Unzulässigkeit bzw. Fiktion der Nichteinlegung) aufzulösen. Schließlich geht sie mit keiner Silbe auf weitere Elemente des Wortlauts oder der Erörterung dieser Bestimmungen ein. Deshalb hält die Große Beschwerdekammer die Entscheidung in diesem Punkt für falsch.
b) T 1897/17 (die T 2017/12 anführt), Nummer 3.4.3 der Entscheidungsgründe: Die Beschwerdekammer kam unter Bezugnahme auf das Dokument IV/6.514/61-D (s. o.) zu folgendem Ergebnis: "It is thus clear that the provisions and the procedure originally envisaged were different from the ones eventually adopted. In particular the draft article explicitly defined an appeal for which the appeal fee was not paid on time as being deemed not to be filed. This definition of what seems to be a special case does not exist in the article as it was finally adopted. There is no record of a discussion of this point with reference to the present wording. Thus it cannot be ruled out that the legislators in fact adopted the present wording because they no longer wished to make the situation of an appeal fee being paid late into such a special case."
Die Schlussfolgerung der Kammer ist unrichtig und wird vom Erörterungsverlauf nicht gestützt: nach der Erörterung der Entwürfe der Artikel 93 und 97 wurde die Rechtsfiktion "Beschwerde gilt als nicht erhoben" sehr wohl vom Redaktionsausschuss im neuen Wortlaut des Artikels 93 beibehalten (s. Dokument IV/5569/1/61-D), und die Streichung von "rechtzeitig" ("dans les délais" in der französischen Fassung) lässt vermuten, dass der Gesetzgeber über den Fall der verspäteten Zahlung hinaus auch die Nichtentrichtung der Beschwerdegebühr abdecken wollte, ohne auszuschließen, dass die genannte Rechtsfolge (Beschwerde gilt als nicht erhoben) dem Beschwerdeführer mitgeteilt wird (s. im selben Sinn Teschemacher in Mitteilungen der Patentanwälte 2018, 314, 318). Somit scheint die Schlussfolgerung wie sie in T 1897/17 und T 2017/12 erwogen wird , dass der Gesetzgeber die verspätete Zahlung der Beschwerdegebühr nicht mehr zu einem Sonder-fall (mit der Folge, dass die Beschwerde als nicht eingelegt gilt) machen wollte, eine Auslegung zu sein, die über die Erörterungen und angenommenen Entwürfe der Artikel hinaus-geht.
Schlussfolgerungen
Aus den "Travaux préparatoires" geht Folgendes hervor:
1. Die Rechtsfiktion "Beschwerde gilt als nicht eingelegt" bei Nichtentrichtung oder verspäteter Zahlung der Beschwerdegebühr war vom Gesetzgeber bereits 1961 vorgesehen und wurde nach der Erörterung bei der Neuformulierung der Bestimmungen beibehalten (s. Entwürfe des Artikels 93 und "Bemerkungen" zum Entwurf des Artikels 97).
2. Im Rahmen der Erörterung des Entwurfs von Artikel 97 ist Punkt 1 der einleitenden Zusammenfassung des Sitzungspräsidenten über die Entscheidungsmöglichkeiten der Beschwerdekammern widersprüchlich; es werden darin die Unzulässigkeit der Beschwerde und die in Artikel 93 (2) vorgesehene Rechtsfiktion genannt. Somit lässt sich daraus nicht auf die Unzulässigkeit der Beschwerde bei Nichtentrichtung der Beschwerdegebühr schließen.
3. Der Wortlaut von Artikel 97 Absatz 1 zusammen mit den "Bemerkungen" zum Entwurf von Artikel 97 (Unzulässigkeit der Beschwerde) betrifft anscheinend nur den Fall, dass die Beschwerdegebühr innerhalb der vorgeschriebenen Frist entrichtet und die Beschwerdeschrift nach Ablauf der vorgeschriebenen Frist eingereicht wird; dieser lässt sich nicht analog auf die anderen zur Debatte stehenden Fallkonstellationen übertragen.
XI. Rechtsprechung der Beschwerdekammern bei Nichtzahlung der Einspruchsgebühr
Artikel 99 (1) letzter Satz EPÜ sieht mit einem dem Artikel 108 Satz 2 EPÜ ähnlichen Wortlaut vor, dass erst durch Entrichtung der Einspruchsgebühr der Einspruch eingelegt ist.
Die Technischen Beschwerdekammern waren in einigen Fällen mit der Frage befasst, ob "der Einspruch als eingelegt gilt" (nicht erschöpfende Aufzählung): T 47/88 3.3.1 vom 17. Oktober 1988; T 473/93 3.3.2 vom 1. Februar 1994; T 748/93 3.3.3 vom 19. April 1994; T 806/99 3.4.2 vom 24. Oktober 2000; T 1048/00 3.2.3 vom 18. Juni 2003; T 1200/01 3.5.2 vom 6. November 2002; T 1530/06 3.4.02 vom 10. September 2008; T 1265/10 3.2.04 vom 15. April 2011; T 1644/10 3.3.05 vom 26. Oktober 2011.
In all diesen Entscheidungen kamen die Beschwerdekammern zu dem Schluss, dass bei Nichtzahlung der Gebühr innerhalb der Frist von neun Monaten oder bei verspäteter Zahlung dieser Gebühr der Einspruch als nicht eingelegt gilt, und ordneten bei verspätet entrichteter Gebühr die Gebührenrückzahlung an. Bei keiner dieser Entscheidungen wurde in den Entscheidungsgründen angegeben, warum diese Rechtsfolge eintrat. Nur in der vorgenannten Entscheidung T 748/93, Nummer 6 der Entscheidungsgründe, zog die Kammer eine Parallele zwischen den rechtlichen Sachverhalten der Einlegung eines Einspruchs und der Einlegung einer Beschwerde. Unter Verweis auf die vorgenannte Entscheidung G 1/86 hielt sie es für angebracht, klarzustellen, dass das Einspruchsverfahren nur existiert, wenn die Einspruchsschrift eingereicht und die Einspruchgebühr entrichtet worden ist: "... before a prospective appellant has lodged the appeal and paid the appeal fee, or equally before a prospective opponent has effectively filed a notice of opposition and paid the opposition fee, he does not assume the role of a party, because the respective proceedings are not yet in existence.", (Verfahrenssprache Englisch).
Betrachtet man die Rechtsprechung der Beschwerdekammern über die Einlegung des Einspruchs, so ist festzustellen, dass hier unabhängig von den Fallkonstellationen Einigkeit in der Sache besteht, d. h. das Einspruchsverfahren wird durch die Fiktion abgeschlossen, dass "der Einspruch als nicht eingelegt gilt", und die Einspruchsgebühr ist zurückzuzahlen. Diese Rechtsprechung bestätigt die vorstehenden Zwischenergebnisse.
C. Schlussfolgerung
In Anbetracht der obigen Ausführungen gelangt die Große Beschwerdekammer zu dem Schluss, dass unabhängig von den Fallkonstellationen die sogenannte "mehrheitliche" Rechtsprechungslinie anzuwenden ist und die sogenannte "minderheitliche" Rechtsprechungslinie nicht mehr anwendbar ist.
Aus diesen Gründen wird die der Großen Beschwerdekammer vom Präsidenten des EPA vorgelegte Rechtsfrage wie folgt beantwortet:
1. Die Beschwerde gilt in folgenden Fällen als nicht eingelegt:
a) wenn die Beschwerdeschrift innerhalb der in Artikel 108 Satz 1 EPÜ vorgesehenen Frist von zwei Monaten eingereicht UND die Beschwerdegebühr nach Ablauf dieser Frist von zwei Monaten entrichtet wird;
b) wenn die Beschwerdeschrift nach Ablauf der in Artikel 108 Satz 1 EPÜ vorgesehenen Frist von zwei Monaten eingereicht UND die Beschwerdegebühr nach Ablauf dieser Frist von zwei Monaten entrichtet wird;
c) wenn die Beschwerdegebühr innerhalb der in Artikel 108 Satz 1 EPÜ vorgesehenen Frist von zwei Monaten für die Einreichung der Beschwerdeschrift entrichtet UND die Beschwerdeschrift nach Ablauf dieser Frist von zwei Monaten eingereicht wird.
2. In den Fällen 1 a) bis 1 c) wird die Rückzahlung der Beschwerdegebühr von Amts wegen angeordnet.
3. Wenn die Beschwerdegebühr innerhalb oder nach Ablauf der in Artikel 108 Satz 1 EPÜ vorgesehenen Frist von zwei Monaten für die Einreichung der Beschwerdeschrift entrichtet UND die Beschwerdeschrift nicht eingereicht wird, wird die Beschwerdegebühr zurückgezahlt.