T 0488/18 () of 25.3.2021

European Case Law Identifier: ECLI:EP:BA:2021:T048818.20210325
Datum der Entscheidung: 25 März 2021
Aktenzeichen: T 0488/18
Anmeldenummer: 11186605.9
IPC-Klasse: G01M3/32
G01F23/00
Verfahrenssprache: DE
Verteilung: C
Download und weitere Informationen:
Text der Entscheidung in DE (PDF, 623 KB)
Alle Dokumente zum Beschwerdeverfahren finden Sie im Register
Bibliografische Daten verfügbar in: DE
Fassungen: Unpublished
Bezeichnung der Anmeldung: Leckagesonde für einen doppelwandigen Tank
Name des Anmelders: AFRISO-Euro-Index GmbH
Name des Einsprechenden: Rechtsanwalt Bornheimer, Jörg als Insolvenzverwalter der G. Ohliger GmbH & Co. KG
Kammer: 3.4.02
Leitsatz: -
Relevante Rechtsnormen:
European Patent Convention Art 108 (2007)
European Patent Convention Art 111(1) (2007)
European Patent Convention Art 123(2) (2007)
European Patent Convention R 84(2) (2007)
European Patent Convention R 99(2) (2007)
European Patent Convention R 103(4)(c) (2020)
European Patent Convention R 142(1)(b) (2007)
Rules of procedure of the Boards of Appeal Art 12(4) (2007)
RPBA2020 Art 011 (2020)
RPBA2020 Art 012(8) (2020)
VCLT Art. 31, 32
Schlagwörter: Entscheidung im schriftlichen Verfahren (ja)
Unterbrechung des Beschwerdeverfahrens wegen Insolvenzverfahren (nein)
Übertragung der Einsprechendenstellung (nein) - kein ausreichender Nachweis
Zulässigkeit der Beschwerde - Beschwerde hinreichend begründet (ja)
Änderungen - zulässig (ja)
Änderungen - Erweiterung über den Inhalt der Anmeldung in der eingereichten Fassung hinaus (nein)
Zurückverweisung an die erste Instanz
Zurückverweisung - (ja)
Teilweise Rückzahlung der Beschwerdegebühr (ja)
Orientierungssatz:

Eine Rückzahlungsmöglichkeit der Beschwerdegebühr gemäß Regel 103 (4) c) EPÜ kann es auch dann geben, wenn ein Antrag auf mündliche Verhandlung nicht vom Beschwerdeführer zurückgenommen wurde, sondern von einem anderen Verfahrensbeteiligten, der keine Beschwerde eingelegt hat (siehe Nrn. 8.3 - 8.9 der Entscheidungsgründe).

Angeführte Entscheidungen:
G 0004/88
G 0002/04
G 0002/12
G 0001/18
T 0220/83
T 0213/85
T 0162/97
T 1137/97
T 1533/07
T 2154/13
T 1668/14
T 0777/15
Anführungen in anderen Entscheidungen:
T 0901/18
T 0598/19
T 0666/19
T 0749/19
T 0795/19
T 1484/19
T 1026/20

Sachverhalt und Anträge

I. Die Patentinhaberin (Beschwerdeführerin) hat gegen die Entscheidung der Einspruchsabteilung, das Patent zu widerrufen, Beschwerde eingelegt. Mit ihrer Beschwerdebegründung vom 11. April 2018 reichte sie geänderte Ansprüche gemäß Hauptantrag, Hilfsantrag 1 und Hilfsantrag 2 ein. Die Beschwerdeführerin beantragte die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und die Aufrechterhaltung des Patents in geänderter Fassung auf der Grundlage der Patentansprüche gemäß dem mit der Beschwerdebegründung eingereichten Hauptantrag, hilfsweise auf der Grundlage der Patentansprüche gemäß dem mit der Beschwerdebegründung eingereichten Hilfsantrag 1 oder dem mit der Beschwerdebegründung eingereichten Hilfsantrag 2.

II. Mit Schreiben vom 16. August 2018, das am selben Tag mittels Fax beim EPA einging, teilte der zugelassene Vertreter der Firma G. Ohliger GmbH & Co. KG (damalige Einsprechende und Beschwerdegegnerin) der Kammer mit, dass gemäß dem als Kopie beigefügten Beschluss des Amtsgerichts Wuppertal ("gerichtlicher Beschluss") vom 8. August 2018 über "das Vermögen der Einsprechenden, der G. Ohliger GmbH & Co. KG, ... , das Insolvenzverfahren eingeleitet" worden sei und dass als vorläufiger Insolvenzverwalter Herr Rechtsanwalt J. Bornheimer bestellt worden sei. Des Weiteren beantragte er, "[i]m Lichte dieses Insolvenzverfahrens" das Beschwerdeverfahren "vorläufig zu unterbrechen".

III. In einem Schreiben vom 27. August 2018, das am 28. August 2018 beim EPA einging, teilte der zugelassene Vertreter der damaligen Beschwerdegegnerin der Kammer mit, dass er die Vertretung niederlege und dass zukünftige Korrespondenz direkt an die damalige Beschwerdegegnerin zu senden sei.

IV. Mit Schreiben vom 24. Oktober 2018, das am selben Tag mittels Fax beim EPA einging, reichte der zugelassene Vertreter, der zuvor die damalige Beschwerdegegnerin vertreten hatte, eine von dem durch den gerichtlichen Beschluss vom 8. August 2018 bestellten vorläufigen Insolvenzverwalter und vom Geschäftsführer der Beschwerdegegnerin unterzeichnete Einzelvollmacht ein und zeigte an, dass er von der damaligen Beschwerdegegnerin unter Zustimmung des vorläufigen Insolvenzverwalters mit der Vertretung in der vorliegenden Angelegenheit beauftragt worden sei.

V. Mit Schreiben vom 26. Oktober 2018, das am selben Tag mittels Fax beim EPA einging, reichte der zugelassene Vertreter die Beschwerdeerwiderung der damaligen Beschwerdegegnerin ein und beantragte, die Beschwerde als unzulässig zu verwerfen, hilfsweise das Patent in vollem Umfang, insbesondere im Umfang der mit der Beschwerdebegründung eingereichten Anträge, zu widerrufen, sowie eine mündliche Verhandlung für den Fall, dass die Beschwerdekammer die Beschwerde für zulässig erachtet.

VI. Mit Schreiben vom 23. September 2019, das am 24. September 2019 beim EPA einging, teilte der zugelassene Vertreter der damaligen Beschwerdegegnerin der Kammer Folgendes mit:

- Die Firma poschmann kunststofftechnik GmbH & Co. KG ("Firma poschmann") habe zwischenzeitlich alle wesentlichen Teile des Geschäftsbetriebs der Beschwerdegegnerin übernommen und führe nun die Geschäfte fort, was der Insolvenzverwalter auch bestätigen könne.

- Somit trete die Firma poschmann an die Stelle der insolventen Beschwerdegegnerin und führe das vorliegende Einspruchsbeschwerdeverfahren entsprechend fort.

Außerdem wurde gebeten, dass Beschwerdeverfahren fortzusetzen.

VII. In einer Mitteilung vom 29. November 2019 teilte die Kammer ihre folgende vorläufige und nicht bindende Meinung den Beteiligten mit:

Im vorliegenden Fall sei eine Unterbrechung des Verfahrens gemäß Regel 142 (1) b) EPÜ nicht möglich und eine Unterbrechung des Verfahrens in analoger Anwendung der Regel 84 (2) EPÜ käme nicht in Betracht. Deshalb bestehe für die Kammer keine Veranlassung, das Beschwerdeverfahren zu unterbrechen. Somit sei auch die Frage einer Fortsetzung des Beschwerdeverfahrens gegenstandslos.

Dem Antrag auf Übertragung der Parteistellung als Einsprechender könne nicht stattgegeben werden, da kein entsprechender Nachweis vorgelegt worden sei. Solange jedoch der erforderliche Nachweis nicht erbracht sei, bleibe die bisherige Beschwerdegegnerin in diesem Beschwerdeverfahren berechtigt und verpflichtet.

VIII. Am 20. Februar 2020 erging eine Ladung zu der für den 14. Oktober 2020 anberaumten mündlichen Verhandlung.

IX. In einer Mitteilung gemäß Artikel 15 (1) der revidierten Fassung der Verfahrensordnung der Beschwerdekammern (VOBK 2020, ABl. EPA 2019, A63) vom 16. Juni 2020 teilte die Kammer den Beteiligten ihre folgende vorläufige und nicht bindende Meinung mit:

Die Beschwerde sei zulässig. Die Kammer beabsichtige, alle mit der Beschwerdebegründung eingereichten Anträge in das Beschwerdeverfahren zuzulassen. Die in diesen Anträgen vorgenommene Änderung behebe den einzigen von der Einspruchsabteilung in ihrer Entscheidung diskutierten Mangel. Daher sei der angefochtenen Entscheidung die Grundlage entzogen und sie könne allein deshalb aufgehoben werden. Da die übrigen bereits im Verfahren vor der Einspruchsabteilung erhobenen Einwände der Einsprechenden in der angefochtenen Entscheidung nicht behandelt worden seien, beabsichtige die Kammer, die Angelegenheit gemäß Artikel 111 (1) Satz 2 EPÜ an die Einspruchsabteilung zur weiteren Entscheidung zurückzuverweisen.

X. Mit Schreiben vom 9. Juli 2020, das am 10. Juli 2020 beim EPA einging, nahm der zugelassene Vertreter namens und im Auftrag der damaligen Beschwerdegegnerin den hilfsweise gestellten Antrag auf mündliche Verhandlung zurück und beantragte eine Entscheidung im schriftlichen Verfahren.

XI. In einer Mitteilung vom 17. September 2020 der Geschäftstelle der Kammer wurden die Beteiligten darüber informiert, dass der für den 14. Oktober 2020 anberaumte Termin zur mündlichen Verhandlung aufgehoben wurde.

XII. Mit Schreiben vom 21. September 2020, das am 23. September 2020 beim EPA einging, teilte der zugelassene Vertreter der Kammer mit, dass er die Vertretung niederlege und dass zukünftige Korrespondenz direkt an die Firma G. Ohliger GmbH & Co. KG zu senden sei. Mit einer Mitteilung vom 30. September 2020 (EPA Form 3575) wurde dem zugelassenen Vertreter mitgeteilt, dass die Niederlegung der Vertretung mit Wirkung vom 23. September 2020 registriert worden sei.

XIII. Mit einer weiteren Mitteilung der Geschäftsstelle vom 30. September 2020 wurde der Firma G. Ohliger GmbH & Co. KG jeweils eine Kopie des Schreibens vom 21. September 2020 und der Mitteilung an den zugelassenen Vertreter vom 30. September 2020 (EPA Form 3575) geschickt. Die Mitteilung an die Firma G. Ohliger GmbH & Co. KG konnte nicht zugestellt werden und ging am 7. Oktober 2020 mit der Begründung ,,Empfänger/Firma unter der angegebenen Anschrift nicht zu ermitteln" wieder an das EPA zurück.

XIV. Mit Schreiben vom 30. Oktober 2020, das am selben Tag per Fax beim EPA einging, wurde seitens des Herrn Rechtsanwalts J. Bornheimer eine Kopie des weiteren Beschlusses des Amtsgerichts Wuppertal vom 1. November 2018 über die Insolvenzeröffnung und seine Bestellung zum Insolvenzverwalter eingereicht. Es wurde der Kammer auch mitgeteilt, dass der Insolvenzverwalter Partei kraft Amtes sei.

XV. Mit einer Mitteilung der Geschäftsstelle vom 23. November 2020 wurde dem Insolvenzverwalter jeweils eine Kopie des Schreibens vom 21. September 2020 (Niederlegung der Vertretung), der Mitteilung an den zugelassenen Vertreter vom 30. September 2020 (EPA Form 3575) und des Nachweises vom 7. Oktober 2020, dass diese Mitteilung der Firma G. Ohliger GmbH & Co. KG nicht zugestellt werden konnte, zur Kenntnisnahme geschickt.

XVI. Die Beschwerdeführerin machte nach der Einreichung ihrer Beschwerdebegründung keine weiteren Eingaben.

XVII. Der unabhängige Anspruch 1 des geänderten Hauptantrags der Beschwerdeführerin lautet wie folgt:

"Leckagesonde (1)

mit einem vertikalen Sondenrohr (2),

mit einem vertikalbeweglich gelagerten Auftriebskörper (3),

mit einem sich oben an das Sondenrohr (2) anschließenden Anzeigegehäuse (4), und

mit einem innerhalb des Anzeigegehäuses (4) vertikalverschiebbar geführten, durch eine Feder (7) zumindest gegen die Gewichtskraft des Auftriebskörpers (3) vorgespannten Leckmeldestößel (5), an dem der Auftriebskörper (3) hängend gehalten ist,

dadurch gekennzeichnet,

dass der Auftriebskörper (3) an dem Leckmeldestößel (5) mittels eines Fadens oder Drahts (6) hängend gehalten ist, dass zwischen Anzeigegehäuse (4) und Sondenrohr (2) eine Entlüftungsöffnung (13) vorgesehen ist, die das Rohrinnere mit der Atmosphäre verbindet, und dass der Auftriebskörper (3) vollständig innerhalb des Sondenrohrs (2) angeordnet ist."

Entscheidungsgründe

1. Entscheidung im schriftlichen Verfahren

Die Beschwerdeführerin hat keinen Antrag auf mündliche Verhandlung gestellt.

Der in der Beschwerdeerwiderung der damaligen Beschwerdegegnerin hilfsweise gestellte Antrag auf mündliche Verhandlung wurde durch die eindeutige schriftliche Erklärung vom 9. Juli 2020 zurückgenommen.

Da kein Antrag auf mündliche Verhandlung mehr vorlag und die Kammer eine mündliche Verhandlung auch nicht für sachdienlich hielt, wurde der Termin zur mündlichen Verhandlung vor der Kammer aufgehoben. Die vorliegende Entscheidung ergeht im schriftlichen Verfahren ohne mündliche Verhandlung gemäß Artikel 12 (8) VOBK 2020 unter Wahrung der Verfahrensrechte der Beteiligten nach Artikel 113 und 116 EPÜ. Insbesondere ist der Grundsatz des rechtlichen Gehörs nach Artikel 113 (1) EPÜ uneingeschränkt beachtet, da die Beteiligten zur Sache vorgetragen haben und die Kammer diesen Vortrag ihrer Entscheidung zugrunde gelegt hat. Die Beschwerdesache ist auf der Grundlage der zu überprüfenden angefochtenen Entscheidung und des schriftlichen Vorbringens der Beteiligten entscheidungsreif.

2. Beteiligtenstellung

2.1 Insolvenzverwalter als Partei kraft Amtes

In einem Insolvenzverfahren über das Vermögen der Firma G. Ohliger GmbH & Co. KG (Az. 145 IN 481/18), die die damalige Einsprechende und Beschwerdegegnerin im vorliegenden Beschwerdeverfahren war, wurde zunächst mit Beschluss des Amtsgerichts Wuppertal vom 8. August 2018 ein vorläufiger Insolvenzverwalter namentlich bestellt und angeordnet, dass Verfügungen der Schuldnerin über Gegenstände ihres Vermögens nur noch mit seiner Zustimmung wirksam sind (vgl. § 21 (2) der deutschen Insolvenzordnung (InsO)). Dieser vorläufige Insolvenzverwalter hat auch einer erneuten Bevollmächtigung des bisherigen zugelassenen Vertreters der damaligen Beschwerdegegnerin, der sein Mandat niedergelegt hatte, durch seine Unterschrift auf der mit Schreiben vom 24. Oktober 2018 beim EPA eingereichten Einzelvollmacht zugestimmt. Mit einem weiteren Beschluss des Amtsgerichts Wuppertal vom 1. November 2018, der der Kammer erstmalig mit Schreiben vom 30. Oktober 2020 vorgelegt wurde, wurde über das Vermögen der Firma G. Ohliger GmbH & Co. KG das Insolvenzverfahren eröffnet und der vorläufige Insolvenzverwalter wurde zum Insolvenzverwalter bestellt. Nach deutschem Insolvenzrecht ist der bestellte Insolvenzverwalter infolge des Insolvenzeröffnungsbeschlusses Partei kraft Amtes. Der bestellte Insolvenzverwalter ist daher im Wege gesetzlichen Parteiwechsels Verfahrensbeteiligter im vorliegenden Verfahren geworden und an die Stelle der früheren Einsprechenden und Beschwerdegegnerin getreten. Damit war das Beschwerdeverfahren mit dem Insolvenzverwalter der Firma G. Ohliger GmbH & Co. KG als Partei kraft Amtes und damit als Beschwerdegegner fortzuführen (vgl. auch T 1533/07, Nr. 2 der Entscheidungsgründe). Dem zugelassenen Vertreter, der mit der mit Schreiben vom 24. Oktober 2018 eingereichten und auch vom vorläufigen Insolvenzverwalter unterzeichneten Einzelvollmacht bevollmächtigt worden war, wurde das Mandat vom Insolvenzverwalter als Partei kraft Amtes nicht entzogen, sondern der zugelassene Vertreter hat selbst mit Schreiben vom 21. September 2020 die Vertretung niedergelegt. Es ist daher davon auszugehen, dass der Insolvenzverwalter, der Kenntnis von der Bevollmächtigung des zugelassenen Vertreters hatte, keine Einwände gegen eine Fortsetzung der Vertretung seitens des zugelassenen Vertreters hatte. Die Kammer sieht deshalb keinen Grund, die Vertretungsbefugnis des zugelassenen Vertreters bis zu seiner Niederlegung der Vertretung in Frage zu stellen.

2.2 Antrag auf Übertragung der Parteistellung als Einsprechender

Mit Schreiben vom 23. September 2019 wurde vorgetragen, dass die Firma poschmann kunststofftechnik GmbH & Co. KG in diesem Beschwerdeverfahren an die Stelle der Firma G. Ohliger GmbH & Co. KG getreten sei, da sie zwischenzeitlich alle wesentlichen Teile des Geschäftsbetriebs der Firma G. Ohliger GmbH & Co. KG übernommen habe und nun die Geschäfte fortführe.

Nach der Rechtsprechung der Beschwerdekammern kann die Parteistellung als Einsprechender übertragen werden, wenn ein einschlägiger Teil des Geschäftsbetriebs des Einsprechenden übertragen wurde (G 2/04, ABl. EPA 2005, 549), wobei der Einspruch allerdings nur als zum Geschäftsbetrieb des Einsprechenden gehörend zusammen mit jenem Bereich dieses Geschäftsbetriebs an einen Dritten übertragen oder abgetreten werden kann, auf den sich der Einspruch bezieht (G 4/88, ABl. EPA 1989, 480). Eine Übertragung der Einsprechendenstellung kann auch im Einspruchsbeschwerdeverfahren beantragt werden. Jedoch erlangt ein neuer Einsprechender die Parteistellung als Einsprechender und als Partei des Einspruchsbeschwerdeverfahrens erst dann, wenn entsprechende Nachweise vorgelegt werden (siehe z.B. T 1137/97, Nr. 4 der Entscheidungsgründe).

Obgleich die Kammer bereits in ihrer Mitteilung vom 29. November 2019 auf den erforderlichen Nachweis für die beantragte Übertragung der Beteiligtenstellung als Einsprechende auf die Firma poschmann kunststofftechnik GmbH & Co. KG hingewiesen hat, wurden bisher keine entsprechenden Beweismittel vorgelegt. Solange der entsprechende Nachweis des Rechtsübergangs jedoch nicht erbracht ist, bleibt der Insolvenzverwalter der Firma G. Ohliger GmbH & Co. KG als Partei kraft Amtes in diesem Beschwerdeverfahren der Beschwerdegegner.

3. Antrag auf Unterbrechung bzw. auf Fortsetzung des Beschwerdeverfahrens wegen des Insolvenzverfahrens

Dem Antrag auf Unterbrechung des Beschwerdeverfahrens wurde aus folgenden Gründen nicht stattgegeben:

3.1 Eine Unterbrechung des Verfahrens gemäß Regel 142 (1) b) EPÜ ist im vorliegenden Fall nicht möglich, da sich der Wortlaut dieser Vorschrift auf den Anmelder oder Patentinhaber, jedoch nicht auf den Einsprechenden bezieht. Somit sind die Voraussetzungen der Regel 142 (1) b) EPÜ im vorliegenden Fall nicht erfüllt.

3.2 Ebenso wenig kam eine Unterbrechung des Verfahrens in analoger Anwendung der Regel 84 (2) Satz 1 EPÜ in Betracht, da aus den folgenden Gründen kein Fall des in dieser Vorschrift genannten Verlusts der Geschäftsfähigkeit der früheren Beschwerdegegnerin vorliegt.

Das Einspruchsverfahren kann von Amts wegen fortgesetzt werden, wenn der Einsprechende stirbt oder seine Geschäftsfähigkeit verliert (Regel 84 (2) Satz 1 EPÜ). Diese Regelung ermöglicht im Interesse eines zügigen Verfahrens die Fortsetzung des Einspruchsverfahrens auch ohne die Beteiligung der Erben oder des gesetzlichen Vertreters des Einsprechenden. Die Ermittlung der Erben und die Annahme der Erbschaft bzw. die Bestellung eines gesetzlichen Vertreters kann, muss aber nicht abgewartet werden (vgl. dazu auch Singer/Stauder, Europäisches Patentübereinkommen, 8. Auflage, Artikel 101, Rdnr. 109 ff.)

Im vorliegenden Fall hat das Amtsgericht Wuppertal mit Beschluss vom 8. August 2018 in dem Insolvenzverfahren über das Vermögen der damaligen Einsprechenden und Beschwerdegegnerin ("Schuldnerin"), die eine juristische Person ist, einen vorläufigen Insolvenzverwalter namentlich bestellt und angeordnet, dass Verfügungen der Schuldnerin über Gegenstände ihres Vermögens nur noch mit seiner Zustimmung wirksam sind (vgl. auch § 21 (2) InsO). Damit wurde der Insolvenzschuldnerin laut Gerichtsbeschluss kein allgemeines Verwaltungs- und Verfügungsverbot auferlegt. Vielmehr sind Verfügungen der Schuldnerin über ihr gegenwärtiges und zukünftiges Vermögen über die Dauer des Insolvenzverfahrens weiterhin möglich, jedoch bedarf es für ihre Wirksamkeit der Zustimmung des vorläufigen Insolvenzverwalters. Die damalige Beschwerdegegnerin hat daher die alleinige Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis über ihr Unternehmensvermögen, zu dem auch die Einsprechendenstellung gehört (siehe auch G 4/88, supra), behalten.

Auch mit der Eröffnung des Insolvenzverfahren über das Vermögen der Firma G. Ohliger GmbH & Co. KG in dem weiteren Beschluss des Amtsgerichts Wuppertal vom 1. November 2018 und der namentlichen Bestellung des vorläufigen Insolvenzverwalters zum Insolvenzverwalter, der infolgedessen Partei kraft Amtes wurde, hat die frühere Beschwerdegegnerin ihre Geschäftsfähigkeit nicht verloren. Nach deutschem Insolvenzrecht verliert die Schuldnerin selbst bei einem Verlust der Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis über die Insolvenzmasse nicht ihre Rechts- und Geschäftsfähigkeit (vgl. Schulte, Patentgesetz mit EPÜ, 10. Auflage, Einleitung, Rdnr. 217).

3.3 Aus den oben dargelegten Gründen bestand für die Kammer keine Veranlassung, das Beschwerdeverfahren zu unterbrechen. Somit ist auch die Frage einer Fortsetzung des Beschwerdeverfahrens gegenstandslos.

4. Zulässigkeit der Beschwerde

4.1 In der Beschwerdeerwiderung wurde beantragt, die Beschwerde als unzulässig zu verwerfen, da die Beschwerdebegründung nicht die Erfordernisse des Artikels 108 EPÜ in Verbindung mit Regel 99 (2) EPÜ erfülle.

Dazu wurde im Wesentlichen argumentiert, dass es der Beschwerdebegründung sowohl an jeglichen Ausführungen zur Schutzfähigkeit (Artikel 54 und 56 EPÜ) der neu geltend gemachten Ansprüche als auch zu den Einwänden gemäß Artikel 84 und 123 EPÜ fehle, weshalb die Beschwerde wegen fehlender Beschwerdebegründung im Sinne des Artikels 108 EPÜ in Verbindung mit Regel 99 (2) EPÜ nicht zulässig sei.

4.2 Die Beschwerdeführerin hat keine Argumente zur Zulässigkeit ihrer Beschwerde vorgebracht.

4.3 Die Beschwerde ist aus folgenden Gründen ausreichend begründet und erfüllt daher die Voraussetzungen des Artikels 108 Satz 3 EPÜ in Verbindung mit der Regel 99 (2) EPÜ.

4.3.1 Nach ständiger Rechtsprechung der Beschwerdekammern ist eine Begründung im Sinne von Artikel 108 Satz 3 EPÜ als ausreichend anzusehen, wenn sie sich mit den tragenden Gründen der angefochtenen Entscheidung auseinandersetzt und die Gründe angibt, warum die Entscheidung der ersten Instanz nicht Bestand haben kann (siehe z.B. T 220/83, ABl. EPA 1986, 249, Nr. 4 der Entscheidungsgründe). Die Prüfung der Anforderungen des Artikels 108 Satz 3 EPÜ und der Regel 99 (2) EPÜ hat auf der Grundlage des Inhalts sowohl der Beschwerdebegründung als auch der angefochtenen Entscheidung zu erfolgen (siehe z.B. T 213/85, ABl. EPA 1987, 482, Nr. 3 der Entscheidungsgründe). Ob eine Beschwerdebegründung im Einzelfall den Mindestanforderungen des Artikels 108 EPÜ entspricht, kann nur aus dem jeweiligen Zusammenhang heraus entschieden werden (siehe auch T 162/97, Nr. 1.1.2 der Entscheidungsgründe).

4.3.2 Die Einspruchsabteilung basierte ihre Entscheidung, das Patent gemäß Artikel 101 (3) b) EPÜ zu widerrufen, einzig auf der Feststellung, dass der Anspruch 1 aller damals vorliegenden Anträge die Erfordernisse des Artikels 123 (2) EPÜ nicht erfülle, denn ihrer Ansicht nach sei das Merkmal "...und dass sowohl die Auftriebskörper (3) als auch der Faden oder Draht (6) vollständig innerhalb des Sondenrohrs (2) angeordnet sind" (im Folgenden als "Merkmal M8" bezeichnet) so nicht ursprünglich offenbart, da es weder Passagen noch Ausführungsbeispiele in der ursprünglichen Anmeldung gebe, wonach das Zugseil vollständig innerhalb des Sondenrohrs angeordnet sei.

4.3.3 In der Beschwerdebegründung wurde ausgeführt, dass das in der angefochtenen Entscheidung unter Artikel 123 (2) EPÜ beanstandete Merkmal im Anspruch 1 aller neu eingereichten Anträge gestrichen worden sei und der geänderte Anspruch gemäß aller neu eingereichten Anträge daher zulässig sei. Damit setzt sich die Beschwerdebegründung mit dem einzigen tragenden Grund der angefochtenen Entscheidung auseinander und stellt somit den für eine ausreichende Begründung erforderlichen Kausalzusammenhang mit der angefochtenen Entscheidung her (siehe Rechtsprechung der Beschwerdekammern des Europäischen Patentamts, 9. Auflage 2019, V.A.2.6.3 b)). Nach gefestigter Rechtsprechung kann eine Beschwerdebegründung auch dann als ausreichend angesehen werden, wenn ein neuer Tatbestand vorgebracht wird, der der Entscheidung die rechtliche Grundlage entzieht, insbesondere durch die Einreichung neuer Anspruchssätze (siehe dazu auch Rechtsprechung der Beschwerdekammern, V.A.2.6.5 c)). Für die Zulässigkeit der vorliegenden Beschwerde ist es daher nicht unbedingt erforderlich, dass die Beschwerdeführerin die Entscheidung der Einspruchsabteilung in ihrer Beschwerdebegründung als fehlerhaft angegriffen hat. Wenn, wie vorliegend, geänderte Ansprüche eingereicht werden, so kann eine Beschwerde auch zulässig sein, wenn in der Beschwerdebegründung ausreichende Gründe angegeben werden, warum die Änderungen geeignet sind, die von der Einspruchsabteilung gerügten Mängel auszuräumen (siehe auch T 1668/14). Die Beschwerdeführerin hat in ihrer Beschwerdebegründung angegeben, dass der einzige von der Einspruchsabteilung gerügte Mangel der unzulässigen Erweiterung nach Artikel 123 (2) EPÜ durch die Streichung des betreffenden Merkmals in den Ansprüchen ihrer mit der Beschwerdebegründung eingereichten Anträge ausgeräumt worden sei.

4.3.4 Da der Verstoß gegen Artikel 123 (2) EPÜ der einzige tragende Grund in der angefochtenen Entscheidung für den Widerruf des Patents ist, ist es im vorliegenden Fall für die Zulässigkeit der Beschwerde nicht erforderlich, dass die Beschwerdebegründung auch Ausführungen zur Klarheit, Neuheit und erfinderischen Tätigkeit enthält.

4.4 Da auch die übrigen Voraussetzungen des EPÜ für eine zulässige Beschwerde erfüllt sind, ist der Antrag des Beschwerdegegners, die Beschwerde als unzulässig zu verwerfen, nicht gewährbar.

5. Zulassung des Hauptantrags und der Hilfsanträge 1 und 2 der Beschwerdeführerin - Artikel 12 (4) VOBK 2007

5.1 Die revidierte Fassung der Verfahrensordnung der Beschwerdekammern (VOBK 2020) trat gemäß Artikel 24 (1) VOBK 2020 am 1. Januar 2020 in Kraft. Da im vorliegenden Fall die Beschwerdebegründung vor Inkrafttreten der revidierten Fassung der Verfahrensordnung der Beschwerdekammern eingereicht wurde, ist gemäß Artikel 25 (2) VOBK 2020 nicht Artikel 12 (4) bis (6) VOBK 2020 anzuwenden, sondern stattdessen ist Artikel 12 (4) in der Fassung von 2007 (VOBK 2007, siehe ABl. EPA 2007, 536 and EPÜ, 16. Auflage, Juni 2016, Seiten 601 bis 629) weiter anzuwenden.

5.2 Artikel 12 (4) VOBK 2007 sieht vor, dass es im Ermessen der Kammer steht, im Beschwerdeverfahren Anträge nicht zuzulassen, die bereits im erstinstanzlichen Verfahren hätten vorgebracht werden können. Bei der Entscheidung, ob der betreffende Antrag bereits im erstinstanzlichen Verfahren hätte vorgebracht werden können, ist zu prüfen, ob dies angesichts der besonderen Umstände des Einzelfalls hätte erwartet werden können.

5.3 Verfahrensverlauf im Einspruchsverfahren vor der Einspruchsabteilung

5.3.1 Es wurde gegen das vorliegende Patent in vollem Umfang Einspruch eingelegt. Der Einspruch war auf die Einspruchsgründe der mangelnden Neuheit (Artikel 100 a) i.V.m. Artikel 54 EPÜ) und der mangelnden erfinderischen Tätigkeit (Artikel 100 a) i.V.m. Artikel 56 EPÜ) gestützt.

5.3.2 Die Patentinhaberin hat in Reaktion auf den Einspruch mit Schreiben vom 19. Dezember 2016 geänderte Ansprüche eingereicht. Die Änderungen im Anspruch 1 umfassten hinzugefügte Merkmale aus den erteilten Ansprüchen 3 und 8 sowie Klarstellungen, die als Änderungen gekennzeichnet und im Begleitschreiben erläutert wurden. Zudem enthielt der geänderte Anspruch 1 im Vergleich zum erteilten Anspruch 1 das geänderte Merkmal, dass "sowohl der Auftriebskörper (3) als auch der Faden oder Draht (6) vollständig innerhalb des Sondenrohrs (2) angeordnet sind" (Hervorhebung durch die Kammer gekennzeichnet). Dieses Merkmal wird im Folgenden als Merkmal M8 bezeichnet. Die markierte Änderung im Merkmal M8 war jedoch weder als solche in den als "Korrekturvorlagen" bezeichneten Änderungsexemplaren gekennzeichnet noch wurde sie im Begleitschreiben erläutert.

5.3.3 Am 28. April 2017 erging eine Ladung zur mündlichen Verhandlung. In dem der Ladung beigefügten Bescheid teilte die Einspruchsabteilung den Beteiligten ihre vorläufige Meinung mit, dass die Ansprüche des mit Schreiben vom 19. Dezember 2016 eingereichten Hauptantrags den Erfordernissen des EPÜ genügten, da die aus der Beschreibung hinzugefügten Merkmale a) bis c) keine Unklarheiten i.S.v. Artikel 84 EPÜ einführten, der Anspruch 1 die Erfordernisse des Artikels 123 (2) EPÜ erfülle und der Gegenstand des Anspruchs 1 neu und erfinderisch gegenüber den Dokumenten E1 - E5 sei. Die Einspruchsabteilung stellte auch fest, dass die Einsprechende bis dahin keine Argumente in Bezug auf den Hauptantrag vorgebracht habe.

5.3.4 Mit Schreiben vom 4. Mai 2017 wies die Einsprechende darauf hin, dass ihr das Schreiben der Patentinhaberin vom 19. Dezember 2016 nicht zugestellt worden sei und sie deshalb auch nicht habe Stellung nehmen können. Sie informierte die Einspruchsabteilung auch darüber, dass sie das Schreiben der Patentinhaberin der elektronischen Akte des EPA entnommen habe und eine Erwiderung dazu verfassen und einreichen werde.

Dieses Schreiben der Einsprechenden wurde an die Patentinhaberin weitergeleitet.

5.3.5 Mit Schreiben vom 13. September 2017 nahm die Einsprechende zu dem Schreiben der Patentinhaberin vom 19. Dezember 2016 Stellung. Diesem Schreiben war als Anlage 1 eine Merkmalsanalyse des Anspruchs 1 gemäß Hauptantrag vom 19. Dezember 2016 beigefügt, die als letztes Merkmal das Merkmal M8 enthielt. Die Einsprechende erhob Einwände unter Artikel 84, 123 (2), (3), 54 und 56 EPÜ gegen den Anspruch 1 des Hauptantrags und der Hilfsanträge, wobei jedoch das Merkmal M8 von ihr nicht beanstandet wurde.

5.3.6 Mit Schreiben 26. Oktober 2017 reichte die Patentinhaberin einen neuen Hauptantrag und zwei neue Hilfsanträge ein, wobei das Merkmal M8 im Anspruch 1 aller Anträge unverändert blieb.

5.3.7 Mit Schreiben vom 7. November 2017 teilte die Patentinhaberin mit, dass sie nicht an der mündlichen Verhandlung teilnehmen werde.

5.3.8 In der mündlichen Verhandlung, die gemäß Regel 115 (2) EPÜ in Abwesenheit der Patentinhaberin stattfand, argumentierte die Einsprechende erstmals, dass das Merkmal M8 im Anspruch 1 aller Anträge nicht ursprünglich offenbart sei und dass das Merkmal M8 auch schon im Prüfungsverfahren als nicht ursprünglich offenbart beanstandet worden sei (siehe Niederschrift über die mündliche Verhandlung vor der Einspruchsabteilung ("Niederschrift"), Punkte 2.1, 3.1 und 4.1). Zudem erhob die Einsprechende bezüglich der weiteren Merkmale des Anspruchs 1 des Hauptantrags und des Hilfsantrags 1 noch weitere Einwände gemäß Artikel 123 (2) und (3) EPÜ (siehe Niederschrift, Punkte 2.3 und 3.2) und bezüglich des Hilfsantrags 2 einen weiteren Einwand gemäß Artikel 123 (3) EPÜ (siehe Niederschrift, Punkt 4.2). Die Einspruchsabteilung kam in der mündlichen Verhandlung zu dem Schluss, dass das Merkmal M8 in der ursprünglich eingereichten Anmeldung nicht offenbart sei. Am Ende der mündlichen Verhandlung verkündete der Vorsitzende die Entscheidung, dass die Einspruchsabteilung unter Berücksichtigung der im Einspruchsverfahren vorgenommenen Änderungen das Patent widerruft (Artikel 101 (3) b) EPÜ).

5.4 Angesichts des oben dargestellten Verlaufs des Verfahrens vor der Einspruchsabteilung ist die Kammer zu der Auffassung gelangt, dass die Beschwerdeführerin erst mit Erhalt der Niederschrift über die mündliche Verhandlung vor der Einspruchsabteilung bzw. mit Erhalt der angefochtenen Entscheidung von dem Einwand gemäß Artikel 123 (2) EPÜ gegen das Merkmal M8 Kenntnis erlangen konnte.

Im Fall T 2154/13 entschied die Kammer, dass das Fernbleiben von der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung allein es nicht rechtfertigt, im Beschwerdeverfahren neue Anträge als (mutmaßliche) Reaktion auf den Verlauf der mündlichen Verhandlung zu stellen, an der die antragstellende Partei aus freien Stücken nicht teilgenommen hat. Anders als im Fall T 2154/13 gab es jedoch im vorliegenden Fall für einen Einwand der unzulässigen Erweiterung gegen das Merkmal M8 im erstinstanzlichen Verfahren keinen Anhaltspunkt vor der mündlichen Verhandlung. Deshalb konnte von der Beschwerdeführerin nicht erwartet werden, die vorliegenden Anträge bereits im erstinstanzlichen Verfahren zu stellen. Nach Meinung der Kammer kann daher im vorliegenden Fall das Fernbleiben der Beschwerdeführerin von der mündlichen Verhandlung nicht zu ihren Ungunsten bewertet werden.

5.5 Da die Beschwerdeführerin die vorliegenden Anträge nicht bereits im erstinstanzlichen Verfahren hätte stellen können und müssen, hat die Kammer auch kein Ermessen gemäß Artikel 12 (4) VOBK 2007, diese Anträge nicht in das Beschwerdeverfahren zuzulassen. Der Hauptantrag und die Hilfsanträge 1 und 2 der Beschwerdeführerin werden daher gemäß Artikel 12 (4) VOBK 2007 berücksichtigt.

6. Hauptantrag und Hilfsanträge 1 und 2 der Beschwerdeführerin - Artikel 123 (2) EPÜ

6.1 Die Einspruchsabteilung basierte ihre Entscheidung, das Patent zu widerrufen, allein auf der Feststellung, dass der Anspruch 1 aller damals vorliegenden Anträge die Erfordernisse des Artikels 123 (2) EPÜ nicht erfülle, da das Merkmal "... und dass sowohl der Auftriebskörper (3) als auch der Faden oder Draht (6) vollständig innerhalb des Sondenrohrs (2) angeordnet sind" (Merkmal M8) so nicht ursprünglich offenbart sei, da es weder Passagen noch Ausführungsbeispiele in der ursprünglichen Anmeldung gebe, wonach das Zugseil bzw. der Faden oder Draht vollständig innerhalb des Sondenrohrs angeordnet sei.

6.2 Die Beschwerdeführerin argumentierte, dass das von der Einspruchsabteilung in ihrer Entscheidung unter Artikel 123 (2) EPÜ beanstandete Merkmal in allen Anträgen gestrichen worden sei und der Patentanspruch 1 gemäß den neu eingereichten Anträgen daher zulässig sei.

6.3 Der Beschwerdegegner trug diesbezüglich keine Argumente vor.

6.4 Die Kammer ist der Meinung, dass die von der Beschwerdeführerin vorgenommene Änderung in den ursprünglich eingereichten Anmeldeunterlagen (siehe Figuren 1 und 2 sowie Beschreibung, Seite 5, Zeilen 23 bis 28) offenbart ist. Damit erfüllt das Merkmal, dass "der Auftriebskörper (3) vollständig innerhalb des Sondenrohrs (2) angeordnet ist" die Erfordernisse des Artikels 123 (2) EPÜ.

6.5 Die von der Beschwerdeführerin gemachte Änderung behebt den einzigen von der Einspruchsabteilung in ihrer Entscheidung diskutierten Mangel. Der angefochtenen Entscheidung ist daher die Grundlage entzogen, so dass sie aufzuheben ist.

7. Zurückverweisung der Angelegenheit an die Einspruchsabteilung zur weiteren Entscheidung -

Artikel 111 (1) Satz 2 EPÜ

Weder die im Einspruchsverfahren von der Einsprechenden vorgebrachten weiteren Einwände gemäß Artikel 123 (2) und (3) EPÜ (siehe Niederschrift, Punkte 2.3, 3.2 und 4.2) noch die von ihr im Einspruchsverfahren vorgebrachten Einwände gemäß Artikel 84, 54 und 56 EPÜ (siehe z.B. Schreiben der Einsprechenden vom 13. September 2017) wurden in der angefochtenen Entscheidung von der Einspruchsabteilung behandelt. Die genannten Einwände wurden daher von der Einspruchsabteilung noch nicht geprüft und entschieden. Angesichts des bedeutenden Ausmaßes einer ausstehenden Überprüfung der noch nicht von der Einspruchsabteilung behandelten Erfordernisse des EPÜ liegen besondere Gründe im Sinne des gemäß Artikel 25 (1) VOBK 2020 vorliegend anwendbaren Artikels 11 Satz 1 VOBK 2020 vor, die Angelegenheit gemäß Artikel 111 (1) Satz 2 EPÜ zur weiteren Entscheidung an die Einspruchsabteilung zurückzuverweisen.

8. Rückzahlung der Beschwerdegebühr in Höhe von 25% - Regel 103 (4) c) EPÜ

Die am 1. April 2020 in Kraft getretene neu gefasste Regel 103 EPÜ gilt für die vorliegende Beschwerde, da sie am Tag des Inkrafttretens bereits anhängig war (siehe Artikel 2 des Beschlusses des Verwaltungsrats CA/D 14/19 vom 12. Dezember 2019 (ABl. EPA 2020, A5)).

8.1 Regel 103 (4) c) EPÜ sieht die Rückzahlung der Beschwerdegebühr in Höhe von 25 % vor, wenn "ein etwaiger Antrag auf mündliche Verhandlung innerhalb eines Monats ab Zustellung einer von der Beschwerdekammer zur Vorbereitung der mündlichen Verhandlung erlassenen Mitteilung zurückgenommen wird und keine mündliche Verhandlung stattfindet".

8.2 Im vorliegenden Fall stellte die damalige Beschwerdegegnerin in ihrer Beschwerdeerwiderung hilfsweise einen Antrag auf mündliche Verhandlung. Diesen Antrag nahm sie innerhalb eines Monats nach der Zustellung der zur Vorbereitung der mündlichen Verhandlung erlassenen Mitteilung der Kammer nach Artikel 15 (1) VOBK 2020 zurück. Daraufhin wurde der anberaumte Termin zur mündlichen Verhandlung aufgehoben. Die Beschwerdeführerin hat während des gesamten Beschwerdeverfahrens keinen Antrag auf mündliche Verhandlung gestellt.

8.3 Es stellt sich daher die Frage, ob es eine Rückzahlungsmöglichkeit der Beschwerdegebühr gemäß Regel 103 (4) c) EPÜ geben kann, wenn ein Antrag auf mündliche Verhandlung nicht vom Beschwerdeführer zurückgenommen wurde, sondern von einem anderen Verfahrensbeteiligten, der keine Beschwerde eingelegt hat.

8.4 Nach der ständigen Rechtsprechung der Großen Beschwerdekammer und der Beschwerdekammern ist das Europäische Patentübereinkommen (EPÜ), obwohl die Europäische Patentorganisation nicht Vertragspartei des Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge vom 23. Mai 1969 (nachfolgend: Wiener Übereinkommen) ist, gemäß den in den Artikeln 31 und 32 des Wiener Übereinkommens aufgestellten Grundsätzen auszulegen (siehe G 1/18, ABl. EPA 2020, A26, BEGRÜNDUNG DER STELLUNGNAHME, Nr. III, erster Absatz mit zahlreichen Verweisen auf weitere Rechtsprechung). Nach Artikel 31 (1) des Wiener Übereinkommens ist ein Vertrag "nach Treu und Glauben in Übereinstimmung mit der gewöhnlichen, seinen Bestimmungen in ihrem Zusammenhang zukommenden Bedeutung und im Lichte seines Zieles und Zweckes auszulegen." In Anwendung des Artikels 32 des Wiener Übereinkommens dienen die vorbereitenden Arbeiten ("Travaux préparatoires") und die Umstände des Abschlusses des EPÜ lediglich als ergänzende Quellen, die das Ergebnis der Auslegung bestätigen, oder sie werden herangezogen, wenn bei Anwendung der allgemeinen Auslegungsregel keine sinnvolle Bedeutung zu bestimmen ist (siehe z.B. G 2/12, ABl. EPA 2016, 27, Nr. V. (4) der Entscheidungsgründe; G 1/18, supra, BEGRÜNDUNG DER STELLUNGNAHME, Nr. III, letzter Absatz).

8.5 Wörtliche Auslegung der Regel 103 (4) c) EPÜ

Nach dem Wortlaut der Regel 103 (4) c) EPÜ muss "ein etwaiger Antrag auf mündliche Verhandlung" (englische Fassung: "any request for oral proceedings" und französische Fassung: "une requête en procédure orale") innerhalb der Einmonatsfrist zurückgenommen werden, damit es die Möglichkeit einer Rückzahlung der Beschwerdegebühr in Höhe von 25 % geben kann. Aus dem Wortlaut der Regel 103 (4) c) EPÜ lässt sich jedoch nicht ableiten, wessen Antrag auf mündliche Verhandlung zurückgenommen werden muss, damit es diese Rückzahlungsmöglichkeit geben kann. Der Formulierung "ein etwaiger Antrag" ("any request"; "une requête") ist nur zu entnehmen, dass die Rücknahme eines Antrags auf mündliche Verhandlung für diese Rückzahlungsmöglichkeit vorliegen muss. Aus diesem Wortlaut kann jedoch nicht geschlossen werden, dass es sich dabei um einen Antrag handeln muss, der von einem bestimmten Verfahrensbeteiligten gestellt wurde.

Im einseitigen Beschwerdeverfahren ist dies unproblematisch, da es nur den Beschwerdeführer als einzigen Verfahrensbeteiligten gibt und infolgedessen auch nur dieser eine Verfahrensbeteiligte einen Antrag auf mündliche Verhandlung nach Artikel 116 (1) Satz 1 EPÜ stellen und später zurücknehmen kann.

Anders sieht es hingegen im mehrseitigen Beschwerdeverfahren aus. Hier kann gemäß Artikel 116 (1) Satz 1 EPÜ jeder Verfahrensbeteiligte, unabhängig davon, ob er Beschwerde eingelegt hat, einen Antrag auf mündliche Verhandlung stellen und gegebenenfalls später zurücknehmen. Dem Wortlaut der Regel 103 (4) c) EPÜ ist jedoch nicht zu entnehmen, dass es in einem mehrseitigen Beschwerdeverfahren darauf ankommt, ob der zurückgenommene Antrag auf mündliche Verhandlung von einem Beschwerdeführer oder von einem der übrigen Verfahrensbeteiligten gestellt wurde. Insbesondere kann aus der Verwendung der Formulierung "ein etwaiger Antrag" ("any request"; "une requête") nicht geschlossen werden, dass die Frage der Rückzahlung davon abhängt, ob der zurückgenommene Antrag auf mündliche Verhandlung von einem Beschwerdeführer oder einem anderen Verfahrensbeteiligten gestellt wurde. Auch der Wortlaut der weiteren Voraussetzung in Regel 103 (4) c) EPÜ

(" ... und keine mündliche Verhandlung stattfindet") gibt diesbezüglich keinen Aufschluss, denn, ob eine mündliche Verhandlung im Beschwerdeverfahren stattfindet, hängt nicht davon ab, dass ein Antrag auf mündliche Verhandlung (auch) vom Beschwerdeführer gestellt wurde.

Zusammenfassend stellt die Kammer fest, dass die Regel 103 (4) c) EPÜ ihrem Wortlaut nach lediglich fordert, dass "ein etwaiger Antrag" auf mündliche Verhandlung zurückgenommen wird. Es gibt keinen Anhaltspunkt im Wortlaut der Regel 103 (4) c) EPÜ, dass die Rückzahlungsmöglichkeit an die Voraussetzung geknüpft ist, dass ein Antrag auf mündliche Verhandlung vom Beschwerdeführer zurückgenommen wurde. Deshalb kommt es bei einer wörtlichen Auslegung der Regel 103 (4) c) EPÜ für die Möglichkeit einer Rückzahlung der Beschwerdegebühr in Höhe von 25 % an einen Beschwerdeführer im mehrseitigen Beschwerdeverfahren nicht darauf an, ob dieser Beschwerdeführer einen Antrag auf mündliche Verhandlung gestellt und zurückgenommen hat. Bei einer wörtlichen Auslegung der Regel 103 (4) c) EPÜ besteht diese Rückzahlungsmöglichkeit daher auch dann, wenn die Rücknahme eines Antrags auf mündliche Verhandlung nicht vom Beschwerdeführer erklärt wurde, sondern von einem anderen Verfahrensbeteiligten.

8.6 Systematische Auslegung

Laut den Grundsätzen des Wiener Übereinkommens ist die systematische Auslegung die zweite Säule bei der Auslegung einer Rechtsvorschrift und ihrer Begriffe (siehe G 2/12, supra, Nr. VII. 2. (1) der Entscheidungsgründe mit zahlreichen Verweisen auf andere Entscheidungen/ Stellungnahmen der Großen Beschwerdekammer; G 1/18, supra, BEGRÜNDUNG DER STELLUNGNAHME, Nr. IV. 2., erster Absatz). Bei der Anwendung dieser zweiten Auslegungsweise ist die Bedeutung des betreffenden Wortlauts im Kontext der entsprechenden Vorschrift selbst zu ermitteln. Zudem muss die Vorschrift unter Berücksichtigung "ihrer Stellung und Funktion innerhalb einer kohärenten Gruppe mit ihr zusammenhängender Rechtsnormen ausgelegt werden" (siehe z.B. G 2/12, supra, Nr. VII. 2. (1) der Entscheidungsgründe).

Regel 103 EPÜ ist die einzige Vorschrift im EPÜ über die Rückzahlung der Beschwerdegebühr. In der Regel 103 (1) a) EPÜ geht es um die mögliche Rückerstattung der Beschwerdegebühr wegen eines wesentlichen Verfahrensmangels, wenn der Beschwerde abgeholfen oder ihr stattgegeben wird, und deshalb um einen ganz anderen rechtlichen Sachverhalt als in der Regel 103 (4) c) EPÜ. Ansonsten sieht die Regel 103 EPÜ die vollständige oder teilweise Rückzahlung der Beschwerdegebühr vor, wenn "die Beschwerde" (englische Fassung: "the appeal" und französische Fassung: "le recours") unter bestimmten Voraussetzungen zurückgenommen wird (Regel 103 (1) b), (2),

(3) a) - c) und (4) a) und b) EPÜ). Hier stellt der Wortlaut nicht darauf ab, dass "eine etwaige" Beschwerde zurückgenommen wird, sondern es muss "die Beschwerde" zurückgenommen werden, damit es die Rückzahlungsmöglichkeit gibt. Deshalb gibt es einen direkten Zusammenhang zwischen einer bestimmten Beschwerde, die zurückgenommen wird, und der Beschwerdegebühr, die für diese Beschwerde bezahlt wurde. Zudem betrifft dieser Tatbestand nur den Beschwerdeführer, da nur dieser die Beschwerde zurücknehmen kann, und nicht die anderen Verfahrensbeteiligten, die keine Beschwerde eingelegt haben. Außerdem ist diese Rückzahlungsmöglichkeit allein davon abhängig, dass die Rücknahme der Beschwerde unter bestimmten zeitlichen Bedingungen in bestimmten Phasen des Beschwerdeverfahrens erfolgt. Es gibt jedoch keine weitere Voraussetzung, die vergleichbar ist mit der in der Regel 103 (4) c) EPÜ enthaltenen Voraussetzung, dass keine mündliche Verhandlung stattfindet. Die Rückerstattung der Beschwerdegebühr an den Beschwerdeführer, der seine Beschwerde zurückgenommen hat, erfolgt im mehrseitigen Beschwerdeverfahren auch dann, wenn weitere Beschwerden gegen dieselbe Entscheidung anhängig sind (und bleiben) und das Beschwerdeverfahren fortgesetzt wird, wobei dann der Beschwerdeführer, der seine Beschwerde zurückgenommen hat, Verfahrensbeteiligter bleibt. Die Rückerstattung der Beschwerdegebühr bei der Rücknahme der Beschwerde ist also nicht davon abhängig, dass das Beschwerdeverfahren ohne Endentscheidung beendet wird. Es kann daher sofort bei der Rücknahme der Beschwerde festgestellt werden, ob die Voraussetzungen einer der in Regel 103 EPÜ dafür geregelten Rückzahlungsmöglichkeiten der Beschwerdegebühr erfüllt sind und nicht erst, wie im Falle der Regel 103 (4) c) EPÜ, bei Abschluss des Beschwerdeverfahrens.

Bei einer systematischen Auslegung der Regel 103 EPÜ insgesamt erweist sich, dass der vom Gesetzgeber in der Regel 103 (4) c) EPÜ vorgesehene rechtliche Sachverhalt für eine Rückzahlungsmöglichkeit der Beschwerdegebühr nicht mit den anderen in Regel 103 EPÜ geregelten Rückzahlungsmöglichkeiten vergleichbar ist. Es werden verschiedene Formulierungen verwendet, so dass die systematische Auslegung der Regel 103 EPÜ der oben vorgenommenen wörtlichen Auslegung der Regel 103 (4) c) EPÜ nicht entgegensteht.

8.7 Teleologische Auslegung

Nach Artikel 31 (1) des Wiener Übereinkommens kommt es bei der Auslegung der Regel 103 (4) c) EPÜ auch auf das Ziel und den Zweck dieser Vorschrift an.

Die Rückzahlungsmöglichkeit nach Regel 103 (4) c) EPÜ soll schon nach ihrer Formulierung und der Abgrenzung gegenüber den anderen in der Regel 103 EPÜ vorgesehenen Fällen der Rückzahlung der Beschwerdegebühr in Beschwerdefällen, in denen ein Antrag auf mündliche Verhandlung vorliegt, erkennbar einen Anreiz schaffen, dass solche Anträge zurückgenommen werden, damit letztlich eine Entscheidung in der Sache ergeht, ohne dass eine mündliche Verhandlung stattgefunden hat.

Zum einen führt der Wegfall einer mündlichen Verhandlung zu einer relevanten Arbeitsentlastung der Beschwerdekammer in dem betreffenden Beschwerdefall und in manchen Fällen auch zu einem Wegfall von Dolmetscherkosten. Zum anderen kann diese Beschwerdekammer die frei gewordene Kapazität unter Umständen für die Anberaumung einer mündlichen Verhandlung in einem anderen Beschwerdefall nutzen. Außerdem kann ein durch den Wegfall einer mündlichen Verhandlung freigewordener Verhandlungssaal ggf. auch von einer anderen Beschwerdekammer für eine mündliche Verhandlung genutzt werden. Darüber hinaus kann die Entscheidung in der betreffenden Beschwerdesache unter Umständen bereits vor dem für die mündliche Verhandlung anberaumten Termin ergehen, d.h. das Beschwerdeverfahren kann rascher zum Abschluss gebracht werden und es kann somit für die Beteiligten und die Öffentlichkeit zu einem früheren Zeitpunkt Rechtssicherheit geschaffen werden.

Das oben dargelegte offensichtlich vorrangige Ziel der Regel 103 (4) c) EPÜ, d.h. der Wegfall einer mündlichen Verhandlung, wird im einseitigen Verfahren immer dann erreicht, wenn der Beschwerdeführer seinen Antrag auf mündliche Verhandlung nicht aufrechterhält, es sei denn, die Beschwerdekammer erachtet die Durchführung der mündlichen Verhandlung dennoch nach Artikel 116 (1) Satz 1 EPÜ für sachdienlich.

Im mehrseitigen Verfahren ist zu bedenken, dass dieses Ziel nicht immer dann erreicht wird, wenn der Beschwerdeführer seinen Antrag auf mündliche Verhandlung zurücknimmt. Abgesehen von der Frage der Sachdienlichkeit der mündlichen Verhandlung aus der Sicht der Kammer, hängt der Wegfall der mündlichen Verhandlung dann davon ab, ob die anderen Verfahrensbeteiligten auch einen Antrag auf mündliche Verhandlung gestellt haben und wenn ja, ob sie ihren Antrag ebenfalls zurücknehmen oder ob ihr Antrag als Hilfsantrag gestellt wurde und im Lichte der zu treffenden Endentscheidung der Kammer nicht mehr berücksichtigt werden muss.

Andererseits kann die mündliche Verhandlung im mehrseitigen Verfahren auch dann wegfallen, wenn nur ein Verfahrensbeteiligter, der nicht Beschwerde eingereicht hat, seinen Antrag auf mündliche Verhandlung zurücknimmt. In diesem Fall hängt es jedoch auch davon ab, ob die anderen Verfahrensbeteiligten einschließlich des Beschwerdeführers ebenfalls einen Antrag auf mündliche Verhandlung gestellt haben und wenn ja, ob sie ihren Antrag ebenfalls zurücknehmen oder ob ihr Antrag als Hilfsantrag gestellt wurde und im Lichte der zu treffenden Endentscheidung der Kammer nicht mehr berücksichtigt werden muss.

Im mehrseitigen Verfahren kann also die Rücknahme eines Antrags auf mündliche Verhandlung, gleichgültig von welchem Verfahrensbeteiligten, dazu führen, dass keine mündliche Verhandlung stattfindet. Ob die mündliche Verhandlung bei einer solchen Rücknahme dann stattfindet oder nicht, hängt allerdings auch von dem bisherigen bzw. weiteren Verhalten der anderen Verfahrensbeteiligten ab. Wenn z.B. ein Beschwerdeführer im gesamten Beschwerdeverfahren keinen Antrag auf mündliche Verhandlung gestellt hat, dann führt dieses Verhalten dazu, dass eine mündliche Verhandlung nicht mehr erforderlich ist, wenn der Beschwerdegegner seinen Antrag auf mündliche Verhandlung zurücknimmt, es sei denn, der Beschwerdeführer stellt dann selbst einen Antrag auf mündliche Verhandlung oder die Beschwerdekammer erachtet die Durchführung der mündlichen Verhandlung dennoch nach Artikel 116 (1) Satz 1 EPÜ für sachdienlich. Die Rückzahlungsmöglichkeit von 25 % der Beschwerdegebühr gemäß Regel 103 (4) c) EPÜ dürfte daher für die Beschwerdeführer ein Anreiz sein, entweder ihren Antrag auf mündliche Verhandlung zurückzunehmen oder durch ihr Verhalten dazu beizutragen, dass keine mündliche Verhandlung stattfindet, wenn ein anderer Verfahrensbeteiligter seinen Antrag auf mündliche Verhandlung zurücknimmt. Daher sollte, wenn eine mündliche Verhandlung nach der rechtzeitigen Rücknahme eines Antrags auf mündliche Verhandlung nicht stattfindet und damit das Ziel und der Zweck der Regel 103 (4) c) EPÜ erreicht werden, die anteilige Beschwerdegebühr an den Beschwerdeführer auch dann zurückgezahlt werden, wenn nicht er, sondern ein anderer Verfahrensbeteiligter die Rücknahme erklärt hat.

8.8 Travaux préparatoires

Dieses Ergebnis der Auslegung der Regel 103 (4) c) EPÜ gemäß den in Artikel 31 (1) des Wiener Übereinkommens aufgestellten Grundsätzen wird weiter gestützt durch die Materialien, die gemäß Artikel 32 des Wiener Übereinkommens zur Stützung einer gemäß Artikel 31 des Wiener Übereinkommens sich ergebenden Bedeutung als ergänzende Auslegungsmittel herangezogen werden dürfen.

Die Gründe für den Änderungsvorschlag betreffend Regel 103 EPÜ, die anteilige Rückzahlung der Beschwerdegebühr auch bei einer Rücknahme eines Antrags auf mündliche Verhandlung vorzusehen, finden sich in den Erläuterungen zu diesem Änderungsvorschlag (siehe Dokument CA/80/19 vom 4. Oktober 2019).

Nr. 52 dieses CA-Dokuments lautet: "Insbesondere wird vorgeschlagen, einige zusätzliche Möglichkeiten der teilweisen Rückzahlung bei Rücknahme der Beschwerde einzuführen und die Rückzahlung auch auf die Rücknahme des Antrags auf mündliche Verhandlung auszudehnen. Dies dürfte sich positiv auf die Verfahrenseffizienz und die Arbeitslast der Beschwerdekammern und somit auf ihre Kostendeckung auswirken. [...] "

Die Begründung für diese neue Möglichkeit einer teilweisen Rückzahlung der Beschwerdegebühr im Falle einer Rücknahme des Antrags auf mündliche Verhandlung findet sich im Abschnitt VII.B a) (iv) des Dokuments CA/80/19 mit der Überschrift "Rücknahme des Antrags auf mündliche Verhandlung (Rückzahlung: 25%)".

Nr. 82 lautet: "Wird ein Antrag auf mündliche Verhandlung rechtzeitig vor der mündlichen Verhandlung zurückgenommen, kann die betreffende Beschwerdekammer die frei gewordene Kapazität unter Umständen für die Anberaumung einer mündlichen Verhandlung in einem anderen Beschwerdefall nutzen. Außerdem könnten dann die Dolmetscher so rechtzeitig abbestellt werden, dass sich die Dolmetschkosten [sic] verringern oder gänzlich vermeiden lassen."

Daraus ist zu entnehmen, dass sich die rechtzeitige Rücknahme eines Antrags auf mündliche Verhandlung positiv auf die Verfahrenseffizienz, die Arbeitslast der Beschwerdekammern und die finanziellen Belastungen für das Europäische Patentamt auswirken kann.

Es heißt dann weiter:

"Der geeignetste Zeitpunkt, zu dem der Beschwerdeführer - ebenso wie die übrigen Beteiligten am Beschwerdeverfahren - durch einen entsprechenden Anreiz dazu veranlasst werden sollten, ihre Absicht zur Rücknahme des Antrags auf mündliche Verhandlung mitzuteilen, wäre bei Zustellung der Mitteilung nach dem geänderten Artikel 15 (1) VOBK. Eine Frist von einem Monat sollte einem Verfahrensbeteiligten ausreichen, um zu entscheiden, ob er seinen Antrag auf mündliche Verhandlung zurücknehmen will oder nicht." (Nr. 84; Hervorhebung durch die Kammer)

und

"Daher wird vorgeschlagen, die Beschwerdegebühr in Höhe von 25 % zurückzuzahlen, wenn trotz eines vorangegangenen Antrags auf mündliche Verhandlung die Entscheidung letzten Endes ergeht, ohne dass eine mündliche Verhandlung stattgefunden hat. Dies wird der Fall sein, wenn die Kammer eine mündliche Verhandlung nicht für sachdienlich hält und im einseitigen Verfahren der Anmelder/Beschwerdeführer seinen Antrag auf mündliche Verhandlung zurücknimmt bzw. im mehrseitigen Verfahren alle Beteiligten ihre Anträge auf mündliche Verhandlung zurücknehmen." (Nr. 85; Hervorhebung durch die Kammer)

In diesen beiden Absätzen wird, neben der Frage des bestmöglichen Zeitpunkts im Beschwerdeverfahren für eine Rücknahme eines Antrags auf mündliche Verhandlung, auch der Anreiz angesprochen, durch den der Beschwerdeführer, aber auch die übrigen Verfahrensbeteiligten veranlasst werden sollen, dies zu tun. Und dieser Anreiz wird in der Rückzahlung der Beschwerdegebühr in Höhe von 25 % gesehen. Allerdings soll diese Rückzahlung nur dann erfolgen, wenn die Entscheidung letztlich ohne mündliche Verhandlung ergeht. Die Kammer schließt aus dieser Begründung, dass der Anreiz, den vorangegangenen Antrag auf mündliche Verhandlung zurückzunehmen, auch für den Beschwerdegegner gelten soll, selbst wenn dieser Anreiz in einer Rückzahlung der Beschwerdegebühr in Höhe von 25 % an den Beschwerdeführer besteht.

In Nr. 85 wird der Fall angesprochen, wenn im mehrseitigen Verfahren alle Beteiligten ihre Anträge auf mündliche Verhandlung zurücknehmen. Nr. 86 befasst sich mit weiteren Szenarien im mehrseitigen Verfahren und lautet: "Wenn im mehrseitigen Verfahren nur ein Beteiligter seinen Antrag auf mündliche Verhandlung zurücknimmt und die mündliche Verhandlung trotzdem stattfindet, sollte keine Rückzahlung erfolgen. Zwar muss die Kammer in einem solchen Fall möglicherweise weniger Zeit und Arbeit aufwenden, weil davon ausgegangen werden kann, dass der Beteiligte, der seinen Antrag zurückgenommen hat, sich allein auf sein schriftliches Vorbringen stützt, doch scheint diese geringere Arbeitslast nicht ausreichend, um eine teilweise Rückzahlung der Beschwerdegebühr zu rechtfertigen." (Hervorhebung durch die Kammer)

Diese Erläuterungen bestätigen die oben dargelegte Auslegung durch die Kammer, dass es im mehrseitigen Verfahren die Rückzahlungsmöglichkeit nach Regel 103 (4) c) EPÜ geben kann, wenn ein Verfahrensbeteiligter - und nicht zwingend der Beschwerdeführer - seinen Antrag auf mündliche Verhandlung zurücknimmt, sofern es zu einem Wegfall der mündlichen Verhandlung kommt, was offensichtlich auch in diesen Erläuterungen als das vorrangige Ziel der Regel 103 (4) c) EPÜ angesehen wird.

8.9 Angesichts der oben dargelegten Auslegung der Regel 103 (4) c) EPÜ durch die Kammer kann es eine Rückzahlungsmöglichkeit der Beschwerdegebühr gemäß Regel 103 (4) c) EPÜ auch dann geben, wenn ein Antrag auf mündliche Verhandlung nicht vom Beschwerdeführer zurückgenommen wurde, sondern von einem anderen Verfahrensbeteiligten, der keine Beschwerde eingelegt hat. Daher erfüllt die vom Beschwerdegegner erklärte Rücknahme des Antrags auf mündliche Verhandlung im vorliegenden Fall das Erfordernis der Rücknahme "eines etwaigen Antrags auf mündliche Verhandlung" nach Regel 103 (4) c) EPÜ.

8.10 In der Entscheidung T 777/15 mit einem vergleichbaren Sachverhalt wurde die Rückzahlungsmöglichkeit der Beschwerdegebühr an eine der Beschwerdeführerinnen gemäß Regel 103 (4) c) EPÜ mit folgender Begründung verneint: Die Kammer legt die Regel 103 (4) c) EPÜ so aus, dass sie einem Beteiligten, der zunächst eine mündliche Verhandlung vor der Kammer beantragt hatte, einen Anreiz bietet, einen solchen Antrag in einem späteren Stadium des Beschwerdeverfahrens zu überdenken, und für den Fall, dass der Beteiligte diesen Antrag aufgibt, eine Belohnung in Form einer teilweisen Rückerstattung der Beschwerdegebühr dieses Beteiligten vorsieht. Dementsprechend kommt der beschwerdeführenden Einsprechenden 5, eine beschwerdeführende Beteiligte, die im Verfahren vor der Kammer keine mündliche Verhandlung beantragt hat, die Rücknahme des Antrags auf mündliche Verhandlung durch einen anderen Beteiligten nicht zugute. (Siehe T 777/15, Nr. 4.1 der Entscheidungsgründe; Übersetzung von dieser Kammer).

Dieser engen Auslegung der Regel 103 (4) c) EPÜ kann sich die Kammer jedoch aus den oben dargelegten Gründen (Nrn. 8.4 - 8.8 oben) nicht anschließen.

8.11 Es wurde vorliegend auch die Einmonatsfrist nach Regel 103 (4) c) EPÜ eingehalten. Die von der Beschwerdekammer zur Vorbereitung der mündlichen Verhandlung erlassene Mitteilung nach Artikel 15 (1) VOBK 2020 vom 16. Juni 2020 gilt nach Regel 126 (2) EPÜ mit dem zehnten Tag nach der Abgabe zur Post als zugestellt, d.h. am 26. Juni 2020. Damit endete die in Regel 103 (4) c) EPÜ genannte einmonatige Frist am Montag, den 27. Juli 2020 (Regel 131 (2), (4) und Regel 134 (1) EPÜ). Der in der Beschwerdeerwiderung hilfsweise gestellte Antrag auf mündliche Verhandlung wurde am 10. Juli 2020 zurückgenommen und damit innerhalb eines Monats ab Zustellung der von der Beschwerdekammer zur Vorbereitung der mündlichen Verhandlung erlassenen Mitteilung.

8.12 Da im vorliegenden Fall auch keine mündliche Verhandlung stattfand, sind sämtliche Voraussetzungen der Regel 103 (4) c) EPÜ für eine Rückzahlung der Beschwerdegebühr in Höhe von 25% erfüllt.

Entscheidungsformel

Aus diesen Gründen wird entschieden:

1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.

2. Die Angelegenheit wird an die erste Instanz zur weiteren Entscheidung zurückverwiesen.

3. Die Beschwerdegebühr ist in Höhe von 25% zurückzuzahlen.

Quick Navigation