Zusammenfassung des Verfahrens
I. In der Begründung der Entscheidung T 574/89 vom 11. Juli 1991 befand die Technische Beschwerdekammer 3.3.1, daß Parteien, die der mündlichen Verhandlung aus freien Stücken ferngeblieben seien, "auf ihr Recht, gehört zu werden, verzichtet hätten" und daher "alle relevanten Argumente oder Beweismittel, die von den in einer mündlichen Verhandlung anwesenden Parteien vorgetragen werden, der Entscheidung zugrunde gelegt werden könnten, ohne daß es darauf ankomme, ob die nun vorgetragenen Argumente oder Beweismittel den nicht erschienenen Parteien bereits vorher aus den Schriftsätzen bekannt waren oder ob sie mit deren Vortrag rechnen mußten."
II. Demgegenüber vertrat die Beschwerdekammer 3.2.1 in der Begründung der Entscheidung T 484/90 (ABl. EPA 1993, 448) die Auffassung, daß "mit einer Entscheidung, die einen ordnungsgemäß zur mündlichen Verhandlung geladenen, dort aber nicht erschienenen Beteiligten beschwere und auf neue Beweismittel - wie z. B. eine neue Entgegenhaltung - gestützt sei, zu der sich der Beteiligte nicht habe äußern können, zwangsläufig dessen Recht auf rechtliches Gehör verletzt werde, es sei denn, der nicht erschienene Beteiligte hätte zum Ausdruck gebracht, daß er auf die Ausübung dieses Rechts verzichte."
III. Aufgrund dieser voneinander abweichenden Entscheidungen legte der Präsident des Europäischen Patentamts der Großen Beschwerdekammer mit Schreiben vom 3. September 1992 gemäß Artikel 112 (1) b) EPÜ die folgende Rechtsfrage vor:
"Darf bei freiwilligem Fernbleiben einer Partei von der mündlichen Verhandlung die verkündete Entscheidung zu deren Ungunsten auf in der mündlichen Verhandlung vorgebrachte neue Tatsachen, Beweismittel und/oder Argumente gestützt werden?"
IV. Der Präsident des EPA führte aus, daß es sich bei dem in Artikel 113 (1) EPÜ niedergelegten Gebot der Gewährung rechtlichen Gehörs um einen in allen Vertragsstaaten anerkannten Grundsatz von Verfassungsrang handle. Dieses Gebot bedeute aber seines Erachtens nicht, daß im europäischen Verfahren alle Gründe, auf die eine Entscheidung gestützt werde, im schriftlichen Verfahren dargelegt werden müßten.
Aus den Bestimmungen des EPÜ lasse sich nicht ableiten, daß das Verfahren vor den Instanzen des EPA im wesentlichen schriftlich sei. Vielmehr solle die mündliche Verhandlung genauso wie das schriftliche Verfahren den Beteiligten die Möglichkeit geben, sich zu allen Streitpunkten zu äußern.
Gemäß der ständigen Praxis und Rechtsprechung der Beschwerdekammern könne demnach am Ende einer mündlichen Verhandlung eine Entscheidung verkündet werden, die sich auf ein in der mündlichen Verhandlung erstmals vorgetragenes Vorbringen stütze, sofern der Gegenseite eine sofortige Stellungnahme hierzu zumutbar gewesen sei.
V. Der Präsident des EPA war der Ansicht, es sei davon auszugehen, daß eine ordnungsgemäß geladene Partei, die aus freien Stücken nicht erscheine, darauf verzichte, zu den in ihrer Abwesenheit in der mündlichen Verhandlung vorgebrachten Tatsachen und Beweismitteln Stellung zu nehmen. Der Grundsatz des rechtlichen Gehörs im Sinne des Artikels 113 (1) EPÜ sei damit hinreichend gewahrt. Die Sachlage sei insofern nicht anders, als wenn eine Partei von der ihr gebotenen Möglichkeit einer schriftlichen Stellungnahme zu den Argumenten der Gegenseite keinen Gebrauch mache.
Es könne daher nicht als unangemessene Benachteiligung einer Partei, die der mündlichen Verhandlung freiwillig ferngeblieben sei, angesehen werden, wenn die zuständige Instanz des EPA am Ende der mündlichen Verhandlung auf der Grundlage dieses neuen Vorbringens entscheide, da sich die abwesende Partei ja hierzu hätte äußern können, wenn sie erschienen wäre. Andernfalls könnte eine Partei allein durch ihr freiwilliges Fernbleiben von der mündlichen Verhandlung eine schriftliche Fortsetzung des Verfahrens oder eine neue mündliche Verhandlung erzwingen, was der Verfahrensökonomie und den Interessen der anwesenden Parteien widerspräche.
Begründung der Stellungnahme
1. Die Rahmenbedingungen der Fragestellung lassen erkennen, daß sich die Rechtsfrage auf mehrseitige Verfahren bezieht. Die vorliegende Stellungnahme beschränkt sich daher auf diese Fälle und läßt die einseitigen Verfahren unberührt. Im übrigen liegt es auf der Hand, daß die Frage sich stellt, sobald die sachliche Debatte in der mündlichen Verhandlung für beendet erklärt wird, unabhängig davon, ob die Entscheidung in der Sitzung ergeht oder nicht.
2. Wie der Präsident des EPA in der Begründung zu seiner Rechtsfrage hervorhebt, weist Artikel 113 (1) EPÜ nur nochmals auf das in den Vertragsstaaten allgemein anerkannte Grundprinzip des rechtlichen Gehörs hin, wenn er vorschreibt, daß Entscheidungen "nur auf Gründe gestützt werden [dürfen], zu denen die Beteiligten sich äußern konnten". Wie in der Entscheidung J 20/85 (ABl. EPA 1987, 102, Nr. 4 a der Entscheidungsgründe) ausgeführt wird, "ist diese Bestimmung des Übereinkommens von größter Bedeutung, wenn die Gerechtigkeit im Verfahren zwischen dem Europäischen Patentamt und den Verfahrensbeteiligten gewahrt bleiben soll".
3. Die vorgelegte Rechtsfrage betrifft die Anwendung des Grundsatzes des rechtlichen Gehörs auf Tatsachen und Beweismittel, die während einer in Abwesenheit einer ordnungsgemäß geladenen Partei abgehaltenen mündlichen Verhandlung erstmals vorgebracht werden. Sie bezieht sich aber auch auf neue Argumente, auf die hier jedoch gesondert eingegangen wird, da es sich um ein Vorbringen anderer Art handelt (vgl. Nr. 10).
4. In Regel 71 (2) EPÜ heißt es: "Ist ein zu einer mündlichen Verhandlung ordnungsgemäß geladener Beteiligter vor dem Europäischen Patentamt nicht erschienen, so kann das Verfahren ohne ihn fortgesetzt werden." Im Interesse einer ordnungsgemäßen Rechtspflege muß nämlich verhindert werden, daß ein Beteiligter durch sein Fernbleiben den Erlaß der Entscheidung verzögert.
5. In allen Vertragsstaaten gilt im übrigen der Grundsatz des ordnungsgemäßen Verfahrens, wonach die Beteiligten der Gegenseite ihr Vorbringen so rechtzeitig mitteilen müssen, daß diese ihre Gegenargumente vorbereiten kann. Stößt ein Beteiligter verspätet auf neue Beweismittel oder Tatsachen, so ist er verpflichtet, diese der Gegenseite unverzüglich zur Kenntnis zu bringen.
6. In jedem - auch in einem im wesentlichen mündlich geführten - gerichtlichen Verfahren gibt es daher einen - unerläßlichen - schriftlichen Verfahrensabschnitt, der es den Beteiligten ermöglicht, rechtzeitig von den von der Gegenseite zur Stützung ihrer Anträge vorgebrachten Tatsachen und Beweismittel Kenntnis zu nehmen.
7. Wenn in einer mündlichen Verhandlung neue Beweismittel oder Tatsachen eingeführt werden, die durchaus früher hätten vorgebracht werden können, liegt ein Verfahrensmißbrauch vor, den die zuständige Instanz des EPA dadurch unterbinden kann, daß sie es in Anwendung des Artikels 114 (2) EPÜ ablehnt, dieses Vorbringen zu berücksichtigen.
8. Erscheint es einer Einspruchsabteilung oder einer Beschwerdekammer jedoch gemäß Artikel 114 (1) EPÜ erforderlich, diese neuen Tatsachen oder Beweismittel zu berücksichtigen, so muß sie, wie in Artikel 113 (1) EPÜ gefordert, den anderen Beteiligten zunächst Gelegenheit zur Stellungnahme hierzu geben, bevor sie eine auf solche Tatsachen oder Beweismittel gestützte Entscheidung erläßt. Dadurch kann sich natürlich das Verfahren verlängern, selbst wenn alle Beteiligten an der mündlichen Verhandlung teilnehmen, weil sie möglicherweise nicht sofort Stellung nehmen können. Der Beteiligte, auf den das neue Vorbringen zurückgeht, hätte allerdings keinerlei Grund, sich über eine Verzögerung zu beklagen, die er selbst verursacht hat, und sollte grundsätzlich die durch sein Verhalten verursachten zusätzlichen Kosten tragen.
9. Ferner ist anzumerken, daß erstmals in der mündlichen Verhandlung vorgebrachte Beweismittel, die jedoch vorher angekündigt waren und lediglich die Behauptung der vorbringenden Partei bestätigen, in der Begründung der Entscheidung aufgegriffen werden können, sofern die Tatsachen, auf die sie sich beziehen, den abwesenden Beteiligten bereits bekannt waren.
10. Bezüglich der neuen Argumente sind, sofern sie an den Gründen, auf die die Entscheidung gestützt ist, nichts ändern, die Erfordernisse des Artikels 113 (1) EPÜ auch dann erfüllt, wenn die Beteiligten aufgrund ihres freiwilligen Fernbleibens von der mündlichen Verhandlung keine Gelegenheit hatten, sich dazu zu äußern, denn es handelt sich hier im Grunde genommen nicht um ein neues Vorbringen als solches, sondern um eine Untermauerung der bereits vorgebrachten Tatsachen und Rechtsgründe.
Schlußfolgerung
Aus diesen Gründen beantwortet die Große Beschwerdekammer die ihr vom Präsidenten des Europäischen Patentamts mit Schreiben vom 3. September 1992 vorgelegte Rechtsfrage wie folgt:
1. Eine Entscheidung zuungunsten eines Beteiligten, der trotz ordnungsgemäßer Ladung der mündlichen Verhandlung ferngeblieben ist, darf nicht auf erstmals in dieser mündlichen Verhandlung vorgebrachte Tatsachen gestützt werden.
2. Unter den gleichen Umständen können neue Beweismittel nur berücksichtigt werden, wenn sie vorher angekündigt waren und lediglich die Behauptungen des Beteiligten bestätigen, der sich auf sie beruft, während neue Argumente grundsätzlich in der Begründung der Entscheidung aufgegriffen werden können.