T 1385/15 () of 3.12.2019

European Case Law Identifier: ECLI:EP:BA:2019:T138515.20191203
Datum der Entscheidung: 03 Dezember 2019
Aktenzeichen: T 1385/15
Anmeldenummer: 06724082.0
IPC-Klasse: A61L 2/18
A61B 19/00
C11D 3/04
C11D 3/06
C11D 3/30
B08B 3/08
Verfahrenssprache: DE
Verteilung: C
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Bibliografische Daten verfügbar in: DE
Fassungen: Unpublished
Bezeichnung der Anmeldung: MASCHINELLE DESINFEKTION VON GEGENSTÄNDEN
Name des Anmelders: Chemische Fabrik Dr. Weigert GmbH & Co. KG
Name des Einsprechenden: THE PROCTER & GAMBLE COMPANY
Kammer: 3.3.10
Leitsatz: -
Relevante Rechtsnormen:
European Patent Convention Art 54
Schlagwörter: Neuheit einer zweiten (bzw. weiteren) nicht medizinischen Verwendung
Neuheit - Kombination von Dokumenten
Orientierungssatz:

Einem Anspruch auf eine weitere nicht-medizinische Verwendung kann Neuheit nicht abgesprochen werden, wenn die beanspruchte technische Wirkung des Stoffes und die beanspruchte Verwendungsweise nicht in Kombination im Stand der Technik offenbart sind (Punkt 2.4 der Begründung).

Angeführte Entscheidungen:
G 0002/88
G 0006/88
T 0254/93
T 0605/09
Anführungen in anderen Entscheidungen:
-

Sachverhalt und Anträge

I. Die Beschwerde der Beschwerdeführerin (Patentinhaberin) richtet sich gegen die Entscheidung der Einspruchsabteilung, das Europäische Patent EP 1 865 998 wegen mangelnder Neuheit unter Artikel 101(2) EPÜ zu widerrufen.

II. Im Einspruchsverfahren war das Patent unter Artikel 100(a) EPÜ wegen mangelnder Neuheit und mangelnder erfinderischer Tätigkeit (Artikel 54 und 56 EPÜ) angegriffen worden. Ein zwischenzeitlich geltend gemachter Einwand unter Artikel 100(b) EPÜ wurde im Lauf des Verfahrens wieder fallen gelassen.

III. Der unabhängige Anspruch 1 des Patents, auf dem die angefochtene Entscheidung beruht, lautet wie folgt:

"Verwendung eines Reinigungsmittels, das wenigstens zwei verschiedene Tenside enthält, ausgewählt aus wenigstens zwei der drei Gruppen kationische, nichtionische und amphotere Tenside, und anwendungsfertig verdünnt in wässriger Lösung einen pH-Wert von wenigstens 10,5 aufweist, zur Abtötung/Inaktivierung von Mikroorganismen ausgewählt aus der Gruppe bestehend aus Bakterien, Viren und Pilzen bei der maschinellen Desinfektion von Gegenständen."

IV. In der angefochtenen Entscheidung berief sich die Einspruchsabteilung auf die Dokumente:

D1a: WO 03/064580

D2: US 6,376,448

Sie gelangte dabei zu der Auffassung, der unabhängige Verwendungsanspruch 1 sei nicht neu gegenüber dem Dokument D1a, unter Berücksichtigung von D2. Zwar offenbarten weder D1a noch D2 für sich genommen alle Merkmale des Anspruchs 1 des Patents. Nach Analyse der Entscheidung G 6/88, die für die Beurteilung der Neuheit von Ansprüchen, die auf eine zweite nicht-medizinische Verwendung gerichtet sind, einschlägig ist, kam sie aber zu dem Schluss, dass das Merkmal "zur Abtötung von (...) Bakterien, Viren und Pilzen" nicht geeignet sei, Neuheit gegenüber D1a herzustellen. Diese technische Wirkung der im Anspruch definierten Reinigungsmittel sei nämlich bereits aus D2 bekannt und könne daher gemäß dem Leitsatz der G 6/88 ("(...) wenn dieses technische Merkmal nicht bereits früher der Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden ist") dem Anspruch keine Neuheit verleihen.

V. In ihrer Beschwerdebegründung und im weiteren Verfahren trat die Beschwerdeführerin dieser Auffassung entgegen. Nach Ansicht der Beschwerdeführerin ist der Anspruchsgegenstand weder in D1a noch in D2 vorbeschrieben. Die von der Einspruchsabteilung vorgenommene Analyse sei von G 6/88 nicht gedeckt. Die Bedingung des Leitsatzes aus G 6/88, das entsprechende technische Merkmal dürfe nicht bereits früher der Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden sein, beziehe sich auf eine Kombination aller Merkmale des Anspruchs in einer einzigen Offenbarung; dies gehe aus Punkt 8 der Entscheidungsbegründung hervor.

VI. Die Beschwerdegegnerin hingegen hielt die Analyse der Einspruchsabteilung für korrekt. Des weiteren vertrat sie die Auffassung, Neuheit sei schon gegenüber D1a alleine nicht gegeben, da die in D1a beschriebene Wirkung gegen Prionen auch eine Wirkung gegen etwa Bakterien implizit offenbare.

VII. Die Beschwerdeführerin (Patentinhaberin) beantragt die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung sowie die Feststellung, dass der erteilte unabhängige Anspruch 1 und die von Anspruch 1 abhängigen Ansprüche den Erfordernissen des Artikels 54 EPÜ genügen, und die Zurückverweisung an die Einspruchsabteilung zur weiteren Prüfung (Hauptantrag).

Hilfsweise beantragt die Beschwerdeführerin die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung sowie (in der aufgeführten Rangfolge):

- die Feststellung der Neuheit bezüglich eines der mit der Beschwerdebegründung vom 11. September 2015 eingereichten Hilfsanträge 1 bis 3 sowie die Zurückverweisung an die Einspruchsabteilung;

- die Aufrechterhaltung des erteilten Patents im erteilten Umfang; oder

- die Aufrechterhaltung des Patents im Umfang eines der mit der Beschwerdebegründung vom 11. September 2015 eingereichten Hilfsanträge 1 bis 9.

VIII. Die Beschwerdegegnerin (Einsprechende) beantragt die Zurückweisung der Beschwerde.

Entscheidungsgründe

1. Die Beschwerde ist zulässig.

2. Neuheit (Artikel 54 EPÜ)

2.1 Anspruch 1 des erteilten Patents ist als Verwendungsanspruch formuliert. Neuheit einer nicht-medizinischen Verwendung wurde in den Entscheidungen G 2/88 und G 6/88 analysiert und die Kriterien für die Neuheitsbeurteilung derart formulierter Ansprüche festgelegt.

Der Leitsatz der Entscheidung G 6/88 lautet wie folgt (Hervorhebungen durch die Kammer):

"Ein Anspruch, der auf die Verwendung eines bekannten Stoffes für einen bestimmten Zweck gerichtet ist, der auf einer in dem Patent beschriebenen technischen Wirkung beruht, ist dahingehend auszulegen, dass er diese technische Wirkung als funktionelles technisches Merkmal enthält; ein solcher Anspruch ist nach Artikel 54 (1) EPÜ dann nicht zu beanstanden, wenn dieses technische Merkmal nicht bereits früher der Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden ist."

Der entsprechende Teil der Leitsätze der Entscheidung G 2/88 ist inhaltsgleich in englischer Sprache.

2.2 Der vorliegende Anspruch betrifft die Verwendung eines Reinigungsmittels, das wenigstens zwei verschiedene Tenside enthält, ausgewählt aus wenigstens zwei der drei Gruppen kationische, nichtionische und amphotere Tenside.

D1a offenbart unter anderem die Verwendung eines solchen Tensidgemischs zur Destabilisierung von Prionen bei der maschinellen Desinfektion von medizinischen Geräten. D2 offenbart unter anderem die antibakterielle Aktivität eines anspruchsgemäßen Tensidgemischs bei manueller Reinigung von Oberflächen (siehe Beispiel 6 in Tabellen 1 und 4). Dies war unstrittig.

Der vorliegende Anspruch richtet sich nun auf die Verwendung eines solchen Tensidgemischs zur Abtötung/Inaktivierung von Mikroorganismen ausgewählt aus der Gruppe bestehend aus Bakterien, Viren und Pilzen bei der maschinellen Desinfektion von Gegenständen.

2.3 Die Einspruchsabteilung war der Ansicht, das funktionelle technische Merkmal, das den Anspruch von D1a unterscheide, sei die Verwendung "zur Abtötung/Inaktivierung von Mikroorganismen ausgewählt aus der Gruppe bestehend aus Bakterien, Viren und Pilzen". Alle anderen Merkmale des Anspruchs seien in D1a offenbart. Allerdings sei ja aus D2 bekannt, dass anspruchsgemäße Reinigungsmittel eine antibakterielle Wirkung haben. Daher sei, im Gegensatz zu der im Leitsatz der G 6/88 definierten Erfordernis, das unterscheidende technische Merkmal durchaus bereits früher der Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden. Der Leitsatz verlange nicht, dass die Offenbarung der durch dieses Merkmal beschriebenen technischen Wirkung im Stand der Technik in Kombination mit den anderen Merkmalen des Anspruchs erfolgt sein müsse. Neuheit wurde daher verneint.

2.4 Nach Überzeugung der Kammer ist die in der angefochtenen Entscheidung vertretene Rechtsauffassung von G 6/88 nicht gedeckt.

2.4.1 Zum Einen gehört es zu den Grundsätzen der Neuheitsbeurteilung unter Artikel 54 EPÜ, dass zur Aberkennung der Neuheit eines Anspruchs dessen technischen Merkmale im Stand der Technik in Kombination offenbart sein müssen (siehe etwa Rechtsprechung der Beschwerdekammern, 9. Auflage, Kapitel I.C.4 bis I.C.4.2). In G 6/88 selbst wird in Punkt 8 der Entscheidungsgründe ausgeführt, dass auf mangelnde Neuheit nur erkannt werden kann, sollten alle technischen Merkmale der beanspruchten Erfindung in Verbindung miteinander der Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden sein. Auch wenn der Leitsatz dieses Erfordernis nicht extra spezifiziert, so wird doch aus der Entscheidung selbst klar, dass dies so zu verstehen ist.

Die Kammer folgt daher der Ansicht der Beschwerdeführerin, dass ein Neuheitseinwand nicht auf die Kombination der Lehre der D1a und D2 gestützt werden kann. Insbesondere kann eine gemäß G 6/88 als funktionelles technisches Merkmal dienende technische Wirkung des bekannten Stoffes nicht isoliert der D2 entnommen und mit den übrigen, aus D1a bekannten Merkmalen zu einer neuheitsschädlichen Offenbarung zusammengesetzt werden.

Die von der Beschwerdegegnerin angeführten Entscheidungen T 254/93 und T 605/09 ändern daran nichts; diese Entscheidungen betrafen die Frage, ob ein beanspruchter Effekt bereits implizit in jeweils einem Dokument des Standes der Technik offenbart war, und nicht die Kombination verschiedener Dokumente in der Neuheitsanalyse.

2.4.2 Zum Anderen ist nach Ansicht der Kammer das funktionelle technische Merkmal im Sinne der G 6/88 im vorliegenden Fall auch nicht die antimikrobielle Aktivität der Zusammensetzungen an sich.

Die Beschwerdeführerin hat mit Recht darauf verwiesen, dass G 6/88 die technische Wirkung des bekannten Stoffes nicht isoliert, sondern bei der beschriebenen Verwendungsweise betrachtet (Punkt 8.2 der Entscheidungsgründe). Zusammenfassend wird in G 6/88 dargelegt, dass das neuheitsbegründende funktionelle technische Merkmal darin besteht, eine technische Wirkung in einem bestimmten Zusammenhang zu erzielen (Punkt 9 der Entscheidungsgründe). Im vorliegenden Fall ist daher das funktionelle technische Merkmal die antimikrobielle Aktivität im Zusammenhang mit der im Anspruch genannten maschinellen Desinfektion von Gegenständen. Dieses Merkmal ist in D2 nicht offenbart, und kann diesem Dokument deshalb ohnehin nicht entnommen werden.

Die Beschwerdegegnerin hatte zwar argumentiert, das bloße Einbringen eines Verfahrensmerkmals in den Verwendungsanspruch ("maschinell") ändere nichts daran, dass die beanspruchte Wirkung des Stoffes (antimikrobiell) für sich gesehen neu sein müsse. Das Verfahrensmerkmal müsse daher bei der Neuheitsbetrachtung ignoriert werden. Dieses Argument verkennt allerdings die Natur des funktionellen technischen Merkmals, wie es in G 6/88 definiert wurde. Im vorliegenden Anspruch besteht dieses Merkmal eben nicht ausschließlich in der aus dem Zusammenhang genommenen antimikrobiellen Aktivität der Tensidmischungen, sondern in dieser Aktivität bei anspruchsgemäßer Verwendung, d. h. bei der maschinellen Desinfektion von Gegenständen.

2.5 Ein weiterer, davon unabhängiger, Streitpunkt war, ob D1a bereits für sich genommen eine antimikrobielle, insbesondere antibakterielle Wirkung der im vorliegenden Anspruch verwendeten Tensidmischungen offenbart.

Diese Frage wurde in der angefochtenen Entscheidung verneint (siehe Punkt 2.3 der Entscheidungsgründe).

Die Beschwerdegegnerin beruft sich in ihrer Argumentation insbesondere darauf, dass D1a an verschiedenen Stellen den Ausdruck "Desinfektion" benutzt, der nach allgemeinem Verständnis, und auch nach der Offenbarung der D1a selbst (siehe Seite 3, Zeilen 6-9), einen sterilen Zustand zur Folge hat. Da die zu desinfizierenden Gegenstände vor dem Reinigungsprozess bakteriell belastet waren, sei auf diese Weise eine antibakterielle Wirkung der eingesetzten Tensidzusammensetzungen offenbart. Speziell sei auf Seite 8, Zeilen 16-20 von einer "erfindungsgemäßen Reinigung/Desinfektion" die Rede, die nach dem Vorspülen und vor einer Thermodesinfektion durchgeführt werde. Deshalb sei die desinfizierende Wirkung auch nicht ausschließlich dem abschließenden Thermodesinfektionsschritt zuzuschreiben.

Die Kammer folgt in dieser Frage jedoch den von der Beschwerdeführerin vorgebrachten Argumenten. D1a schreibt an keiner Stelle eine desinfizierende Wirkung ausdrücklich einer Mischung zweier unterschiedlicher Tenside zu, wie vorliegend beansprucht. In der allgemeinen Beschreibung wird die beanspruchte Wirkung immer nur "einem Tensid" zugeschrieben (etwa Seite 3, letzter Absatz). Die Rolle zusätzlicher optionaler Tenside besteht in der Lösungsvermittlung (Seite 4, Zeilen 22-34). Im Ausführungsbeispiel, in dem eine Tensidmischung verwendet wird, wird die Desinfektion der abschließenden Hitzebehandlung zugeschrieben.

2.6 Zusammenfassend ist also festzuhalten, dass die Offenbarungen von D1a und D2 die Neuheit des unabhängigen Anspruchs 1 und der davon abhängigen Ansprüche nicht in Frage stellen können.

3. Zurückverweisung

Die angefochtene Entscheidung beschäftigt sich ausschließlich mit der Frage der Neuheit des unabhängigen Anspruchs 1. In diesem Punkt war der Beschwerdeführerin aus den oben angeführten Gründen recht zu geben.

Die Beschwerdegegnerin hat bezüglich einer möglichen Zurückverweisung keine Anträge gestellt. Die Kammer gibt daher dem Hauptantrag der Beschwerdeführerin statt und verweist die Angelegenheit unter Artikel 111 EPÜ zur weiteren Prüfung des Einspruchs an die Einspruchsabteilung zurück.

Über die Zulassung bzw. Gewährbarkeit der vorliegenden Hilfsanträge der Beschwerdeführerin braucht somit nicht entschieden zu werden.

Entscheidungsformel

Aus diesen Gründen wird entschieden:

1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.

2. Die Angelegenheit wird zur weiteren Prüfung an die Einspruchsabteilung zurückverwiesen.

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