European Case Law Identifier: | ECLI:EP:BA:1981:T000480.19810907 | ||||||||
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Datum der Entscheidung: | 07 September 1981 | ||||||||
Aktenzeichen: | T 0004/80 | ||||||||
Anmeldenummer: | 78100648.1 | ||||||||
IPC-Klasse: | - | ||||||||
Verfahrenssprache: | DE | ||||||||
Verteilung: | A | ||||||||
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Bezeichnung der Anmeldung: | - | ||||||||
Name des Anmelders: | Bayer | ||||||||
Name des Einsprechenden: | - | ||||||||
Kammer: | 3.3.01 | ||||||||
Leitsatz: | 1. Ein durch technische Merkmale klar definierbarer, ursprünglich offenbarter Gegenstand kann auf Antrag des Anmelders von einem umfassenderen Patentanspruch durch eine Ausnahmeregelung (Disclaimer) ausgeschlossen werden, sofern der im Patentanspruch verbleibende Gegenstand nicht klarer und knapper direkt (positiv) technisch definiert werden kann. 2. Der Umstand, dass der Disclaimer Gegenstand einer älteren, nicht vorveröffentlichten nationalen Anmeldung oder eines entsprechenden Schutzrechts ist, steht einer solchen Formulierung nicht im Wege. |
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Relevante Rechtsnormen: |
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Schlagwörter: | Disclaimer-Formulierung im Patentanspruch Offenbarung Abgrenzung von älteren nationalen Anmeldungen oder Schutzrechten |
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Orientierungssatz: |
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Angeführte Entscheidungen: |
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Anführungen in anderen Entscheidungen: |
Sachverhalt und Anträge
I. Die am 11. August 1978 eingegangene und am 18. April 1979 veröffentlichte europäische Patentanmeldung 78 100 648.1 mit der Veröffentlichungsnummer 0 001 389, für welche die Priorität der Voranmeldung in der Bundesrepublik Deutschland vom 23. August 1977 in Anspruch genommen wird, wurde durch Entscheidung der Prüfungsabteilung des Europäischen Patentamts vom 31. Juli 1980 zurückgewiesen. Dieser Entscheidung liegen 11 Patentansprüche zugrunde, von denen der Anspruch 1 in der Fassung vom 3. März 1980 folgenden Wortlaut hat: "Verfahren zur Herstellung von Polyätherpolyolen mit einem durchschnittlichen Molekulargewicht im Bereich von 200 bis 10 000 und mit einer durchschnittlichen Hydroxylfunktionalität von 2,0 bis 7,0 durch Anlagerung eines oder mehrerer cyclischer Äther, in Gegenwart eines sauren Katalysators, an einen Starter, bestehend aus Zuckern und gegebenenfalls mehrwertigen Alkoholen, dadurch gekennzeichnet, daß als Starter
A) Formose, welche gegebenenfalls in alpha-Stellung aldolisiert ist, oder
B) flüssige Gemische aus
a) hoch- und/oder niedermolekularen Polyhydroxylverbindungen und/oder Mono- oder Disacchariden und/oder natürlichen oder künstlichen Invertzuckern und
b) Formose, welche gegebenenfalls in alpha-Stellung aldolisiert ist, eingesetzt werden, wobei Formosen ausgenommen sind, welche direkt gemäß DE-OS 2 721093 und 2 721 186 aus Formaldehyd haltigen Synthesegasen hergestellt worden sind."
II. Gegenüber der einzig relevanten Entgegenhaltung, der AT-B 262 620 - so führt die Prüfungsabteilung aus - sei Neuheit und erfinderische Tätigkeit anzuerkennen, letztere insbesondere aufgrund der vorgelegten Vergleichsversuche. Trotzdem habe die Zurückweisung der Anmeldung erfolgen müssen, da Anspruch 1 formal nicht zulässig sei, weil er unter anderem den nicht zulässigen Disclaimer unter Bezugnahme auf die nicht vorveröffentlichte DE-A-2 721 186 enthalte. Die Bezugnahme auf eine noch nicht veröffentlichte Druckschrift, deren Inhalt auch dem Europäischen Patentamt am Tag der Einreichung der Anmeldung nicht bekannt gewesen sein könne, mache es für den Fachmann am Anmeldetag unmöglich, den Umfang der Anmeldung zu erkennen und stelle außerdem auch die Ausführbarkeit in Frage (Artikel 83). Rein formal handle es sich beim Aufrechterhalten einer derartigen Bezugnahme um eine Änderung, die den Anmeldungsgegenstand am Tag der Veröffentlichung dieser Druckschrift über den Inhalt der ursprünglichen Anmeldung hinaus erweitere und deshalb nicht zulässig sei (Artikel 123 (2)).
III. Gegen diese Entscheidung vom 31. Juli 1980 hat die Anmelderin am 16. August 1980 Beschwerde erhoben und diese gleichzeitig begründet.
IV. Den Einwendungen der Technischen Beschwerdekammer im Bescheid vom 17.2.81 gegen den obengenannten Patentanspruch ist die Beschwerdeführerin fristgerecht dadurch begegnet, daß sie - unter Berücksichtigung des Änderungsantrags vom 23. Juli 1981 - letztlich Patentansprüche folgender Fassung vorgelegt hat:
"1) Verfahren zur Herstellung von Polyätherpolyolen mit einem durchschnittlichen Molekulargewicht im Bereich von 200 bis 10 000 und mit einer durchschnittlichen Hydroxylfunktionalität von 2,0 bis 7,0 durch Anlagerung eines oder mehrerer cyclischer Äther, in Gegenwart eines sauren Katalysators, an einen Starter, bestehend aus Zuckern und gegebenenfalls mehrwertigen Alkoholen, dadurch gekennzeichnet, daß als Starter
A) Formose, welche gegebenenfalls in alpha-Stellung aldolisiert ist, oder
B) flüssige Gemische aus
a) hoch- und/oder niedermolekularen Polyhydroxylverbindungen und/oder Mono- oder Disacchariden und/oder natürlichen oder künstlichen Invertzuckern und
b) Formose, welche gegebenenfalls in alpha-Stellung aldolisiert ist, eingesetzt werden, wobei Formosen ausgenommen sind, welche direkt aus formaldehydhaltigen Synthesegasen hergestellt worden sind.
2) Verfahren nach Anspruch 1, dadurch gekennzeichnet, daß als Starter 20 bis 80 gew.-%ige Lösungen von kristallinen Mono- bzw. Disacchariden und/oder natürlichen bzw. künstlichen Invertzuckern in Formose eingesetzt werden.
3) Verfahren nach Anspruch 1, dadurch gekennzeichnet, daß als Starter 30 bis 70 gew.-%ige Lösungen von kristallinen Mono- bzw. Disacchariden und/oder natürlichen bzw. künstlichen Invertzuckern in Formose eingesetzt werden.
4) Verfahren nach Ansprüchen 1 bis 3, dadurch gekennzeichnet, daß der Starter 2 bis 100 Gew.-% bezogen auf Formose, an zwei- oder mehrwertigen Alkoholen mit einem Molekulargewicht zwischen 62 und 300 und/oder Polyäther-, Polyester-, Polyacetal- und/oder Polycarbonatpolyole mit einem Molekulargewicht zwischen 300 und 4000 enthält.
5) Verfahren nach Ansprüchen 1 bis 4, dadurch gekennzeichnet, daß Formosen mit einem Molekulargewicht zwischen 92 und 360 eingesetzt werden.
6) Verfahren nach Ansprüchen 1 bis 5, dadurch gekennzeichnet, daß Formosen mit einem Gehalt an reduzierenden Verbindungen, berechnet als Glukose, von 4 bis 85 Gew.-% eingesetzt werden,
7) Verfahren nach Ansprüchen 1 bis 6, dadurch gekennzeichnet, daß als cyclische Äther Äthylenoxid und/oder Propylenoxid eingesetzt werden.
8) Verfahren nach Ansprüchen 1 bis 7, dadurch gekennzeichnet, daß als saurer Katalysator ein Addukt einer Carbonsäure oder eines Carbonsäureanhydrids an Bortrifluorid eingesetzt wird.
9) Verfahren nach Ansprüchen 1 bis 8, dadurch gekennzeichnet, daß der Starter 0,5 bis 4 Gew.-%Wasser enthält. 10) Verwendung von nach Ansprüchen 1 bis 9 erhaltenen Polyätherpolyolen im Gemisch mit Polyisocyanaten zur Herstellung von Polyurethanen."
V. Die Anmelderin beantragt, die angefochtene Entscheidung aufzuheben und das Patent unter Zugrundelegung dieser Anspruchsfassung zu erteilen.
Entscheidungsgründe
1. Die Beschwerde entspricht den Artikeln 106 bis 108 und der Regel 64, EPÜ; sie ist daher zulässig.
2. Die geltende Fassung des Anspruchs 1, die im Oberbegriff dem nächstliegenden Stand der Technik - wie er sich aus der AT-B-262 620 ergibt - in gebührender Weise Rechnung trägt (Regel 29 (1) EPÜ), ist in formeller Hinsicht nicht zu beanstanden. Die Merkmale des geltenden Anspruchs 1 finden bis auf die Ausnahmebestimmung (vgl. die letzten 3 Zeilen) ihre Stütze im erstoffenbarten Patentanspruch 1. Der vom Patentschutz ausdrücklich ausgeschlossene und durch technische Merkmale im Sinne der Regel 29 (1) EPÜ definierte Gegenstand, nämlich der Einsatz von Formosen, welche direkt aus formaldehydhaltigen Synthesegasen hergestellt wurden, wurde von der Anmelderin ursprünglich als eine mögliche besonders wirtschaftliche Ausführungsform der Erfindung offenbart (vgl. Seite 11 ab Zeile 18 bis Seite 12 Zeile 11).
3. Ein solcher Gegenstand kann nachträglich auf Antrag des Anmelders vom Schutzbegehren eines umfassenderen Patentanspruchs durch eine Ausnahmebestimmung (Disclaimer) ausgeschlossen werden, sofern der im Patentanspruch verbleibende Gegenstand nicht klarer und knapper direkt, d.h. durch positive technische Merkmale definiert werden kann (EPÜ Artikel 84). Diese Voraussetzungen sind hier erfüllt. In der Beschreibung ist angegeben, daß Formosen beliebiger Art einsetzbar sind und daß zu deren Herstellung zahlreiche Verfahren einschließlich neuerer Verfahren der Anmelderin angewendet werden (vgl. Seite 8 ab Zeile 14 bis Seite 11 Zeile 17). Die Aufzählung all dieser Verfahren würde den Rahmen eines knappen und deutlichen Patentanspruchs sprengen und könnte zudem wegen einer möglicherweise unvollständigen Aufzählung der existierenden Verfahren zu einer ungerechtfertigten Beschränkung des Anspruchs führen. Die hier gewählte Disclaimer-Formulierung stellt daher die präziseste und knappste Fassung des Anspruchs 1 dar.
4. Der Umstand, daß der Disclaimer zum Teil Gegenstand einer älteren, nicht vorveröffentlichten nationalen Anmeldung oder eines entsprechenden Schutzrechts ist. steht einer solchen Formulierung nicht im Wege. Im Europäischen Patentübereinkommen ist zwar eine Abgrenzung gegenüber solchen Anmeldungen und Schutzrechten nicht vorgesehen; gleichwohl kann für den Anmelder ein Interesse bestehen, sich vorsorglich von einem potentiellen oder bereits bestehenden älteren nationalen Schutzrecht frühzeitig abzugrenzen (vgl. EPÜ Artikel 139 (2)).
5. Die geltenden Ansprüche 2-8 stimmen - bis auf die Berichtigung des Anspruchs 4 im Sinne der ursprünglichen Offenbarung aus Seite 17 Zeile 21 - mit den ursprünglichen Ansprüchen 2-8 überein. Die Ansprüche 9 und 10 sind durch die ursprünglichen Ansprüche 10 und 11 gedeckt.
6. In der AT-B 262 620 ist ein Verfahren zur Herstellung praktisch nicht reduzierender relativ niedrig viskoser Zuckerpolyäther durch Umsetzung von Mono- oder Oligosacchariden, also Zuckern und Zuckergemischen (vgl. Seite 2 Absatz 2), mit 1,2-Epoxiden in Gegenwert eines Borhalogenidkatalysators beschrieben, wobei als Verflüssigungsmittel ein mehrwertiger Alkohol zugegeben oder mittels Wasser in situ erzeugt wird (vgl. die Ansprüche 1 und 4 i.V. mit Seite 3 Zeile 2-3). Die Zugabe eines mehrwertigen Alkohols bzw. von Wasser ist auch beim beanspruchten Verfahren möglich (vgl. Anspruch 1 und Seite 14 Absatz 3 bzw. Anspruch 9); desgleichen bedient sich das beanspruchte Verfahren bevorzugt der Borfluoridkatalysatoren (vgl. Anspruch 8 und Seite 16 Zeile 18-23 mit den Beispielen der obengenannten AT-B). Ferner ist in dieser Druckschrift die weitere Umsetzung der Zuckerpolyäther mit Polyisocyanaten zu Polyurethanen beschrieben (vgl. Seite 3 Zeile 7-17 i.V. mit Beispiel 4).
7. Hiervon unterscheidet sich das beanspruchte Verfahren dadurch, daß ein durch Autokondensation von Formaldehyd erhältlichliches, als Formose bezeichnetes spezielles Zuckergemisch aus Polyolen, Hydroxyaldehyden und Hydroxyketonen eingesetzt wird (vgl. Anspruch 1 i.V. mit Seite 8 Zeile 14-18). Das Verfahren nach Anspruch 1 sowie den Unteransprüchen 2-9 ist daher neu. Das gleiche muß für den Verwendungsanspruch 10 gelten, weil er von den nach Anspruch 1-9 hergestellten Polyäthern gebrauch macht.
8. Die Anmeldung beruht auch auf einer erfinderischen Tätigkeit. Angesichts der gestellten Aufgabe, die vor allem in der Herstellung von Polyätherpolyolen relativ niedriger Viskosität bei gleichzeitiger Vermeidung einer Dunkelfärbung zu sehen ist (vgl. Seite 19 Zeile 33 bis Seite 20 Zeile 2 i.V. mit Seite 31 letzter Absatz und Seite 7 Zeile 18-22), ist die von der Anmelderin vorgeschlagene Lösung, Formose als Starter einzusetzen, als nicht naheliegend anzusehen; vielmehr ist das Ausmaß der anmeldungsgemäß erzielbaren Viskositätserniedrigung der Polyätherpolyole - wie bereits von der Vorinstanz festgestellt (vgl. Versuchsbericht vom 28. Januar 1980) - für den Fachmann überraschend. Diese überraschende Eigenschaft der nach den Ansprüchen 1-9 hergestellten Polyätherpolyole wirkt sich vorteilhaft bei deren Weiterverarbeitung zu Polyurethanen aus (vgl. Seite 33 Zeile 21 - Seite 34 Zeile 15), die Gegenstand des Anspruchs 10 ist, und trägt daher auch dessen Patentfähigkeit.
9. Die Neuheit und erfinderische Tätigkeit des Anmeldungsgegenstandes wurde im angefochtenen Beschluß der Prüfungsabteilung bereits festgestellt. Gleichwohl war die Prüfung dieser Patentierungsvoraussetzungen durch die Beschwerdekammer im Hinblick auf die nachstehend getroffene Anordnung geboten.
10. Aus den dargelegten Gründen hält die Kammer die Beschwerde für begründet.
11. Es ist kein Antrag auf Rückzahlung der Beschwerdegebühr nach Regel 67 EPÜ gestellt worden; der hier vorliegende Sachverhalt würde eine solche Maßnahme auch nicht rechtfertigen.
ENTSCHEIDUNGSFORMEL
Aus diesen Gründen wird wie folgt entschieden:
1. Die Entscheidung der Prüfungsabteilung des Europäischen Patentamts vom 31. Juli 1980 wird aufgehoben.
2. Die Sache wird an die Vorinstanz zurückverwiesen mit der Auflage, ein europäisches Patent aufgrund folgender Unterlagen zu erteilen . .