T 0820/96 () of 23.12.1998

European Case Law Identifier: ECLI:EP:BA:1998:T082096.19981223
Datum der Entscheidung: 23 Dezember 1998
Aktenzeichen: T 0820/96
Anmeldenummer: 89123295.1
IPC-Klasse: C08F 291/02
Verfahrenssprache: DE
Verteilung: C
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Bibliografische Daten verfügbar in: DE
Fassungen: Unpublished
Bezeichnung der Anmeldung: Mehrphasige, wäßrige Kunststoffdispersion und ihre Verwendung in Überzugsmitteln
Name des Anmelders: Röhm GmbH
Name des Einsprechenden: -
Kammer: 3.3.03
Leitsatz: -
Relevante Rechtsnormen:
European Patent Convention 1973 Art 123(2)
Schlagwörter: Disclaimer - zulässig nach Änderung
Orientierungssatz:

-

Angeführte Entscheidungen:
T 0004/80
T 0007/86
T 0160/92
Anführungen in anderen Entscheidungen:
-

Sachverhalt und Anträge

I. Die vorliegende, am 7. Juni 1996 eingegangene Beschwerde richtet sich gegen die Entscheidung der Prüfungsabteilung vom 11. April 1996, mit der die europäische Patentanmeldung Nr. 89 123 295.1, angemeldet am 15. Dezember 1989 unter Inanspruchnahme einer DE Priorität vom 24. Dezember 1988 und veröffentlicht unter der Nr. 0 376 096, zurückgewiesen wurde.

II. Die angefochtene Entscheidung beruht auf einer Anspruchsfassung, die aus dem am 18. Mai 1995 eingereichten Anspruch 1 und den ursprünglichen Ansprüchen 2 bis 5 besteht.

Anspruch 1 lautete wie folgt:

"1. Wäßriges Überzugsmittel, enthaltend als Bindemittel dispergierte Latexteilchen mit einem mittleren Teilchendurchmesser unter 140 nm, aufgebaut aus

a) einem Kernmaterial mit einer dynamischen Glastemperatur über 60°C und

b) einem Schalenmaterial, das 0.5 bis 10 Gew.-% Einheiten einer ungesättigten polymerisierbaren Carbonsäure enthält, mit einer dynamischen Glastemperatur unter 80°C, wobei die dynamische Glastemperatur der Schale mindestens 20 K unterhalb der des Kerns liegt,

dadurch gekennzeichnet, daß das Kern- und Schalenmaterial zusammengenommen weniger als 30 Gew.-% Monomereinheiten aus Vinylarylverbindungen enthalten und daß die wäßrige Dispersion der Latexteilchen eine Mindestfilmbildungstemperatur MFT unter 50°C hat und das Kernmaterial 5-45 Gew.-% und das Schalenmaterial 95-55 Gew.-% der Latexteilchen ausmachen."

Die Ansprüche 2 bis 4 betrafen besondere Ausführungsformen des Gegenstandes von Anspruch 1, Anspruch 5 bezog sich auf die Verwendung der in den Ansprüchen 1 bis 4 spezifizierten Kunststoffdispersionen zur Herstellung von Überzügen auf festen Substraten.

III. Die angefochtene Entscheidung wies die vorliegende Anmeldung zurück wegen Verletzung der Bestimmung des Artikels 123 (2) EPÜ durch die - zur Neuheitsabgrenzung gegenüber der Entgegenhaltung (2) AT-C-238 849 - in den Anspruch 1 aufgenommene Ausnahmebestimmung (Disclaimer) "..., daß das Kern- und Schalenmaterial zusammengenommen weniger als 30 Gew.-% Monomereinheiten aus Vinylarylverbindungen enthalten ...". Dieses Merkmal, das in den Erstunterlagen der Anmeldung nicht offenbart gewesen sei, könne gemäß dieser Entscheidung auch als Disclaimer nicht gewährt werden, weil es der Entgegenhaltung (2) nicht entnehmbar sei, sondern eine willkürliche Auswahl aus deren Lehre darstelle.

Die angefochtene Entscheidung stellte auch fest, daß der Gegenstand des Anspruchs 1 ohne diesen Disclaimer von Beispiel 4 der Entgegenhaltung (2) vorweggenommen sei.

IV. Die Beschwerdeführerin hielt in ihrer am 17. August 1996 eingegangenen Beschwerdebegründung die zurückgewiesene Anspruchsfassung als Hauptantrag aufrecht und reichte als Hilfsantrag eine Alternativfassung des Anspruchs 1 ein, die sich nur dadurch vom Anspruch 1 des Hauptantrags unterschied, daß die Angabe "30 Gew.-%" in dem Disclaimer durch "20 Gew.-%" ersetzt wurde.

V. Die Kammer stellte in einem Bescheid vom 23. September 1998 zweierlei fest:

erstens, daß der Gegenstand des Anspruchs 1 des Hauptantrags, selbst unter der Annahme der Zulässigkeit des Disclaimers gegenüber der Offenbarung der Entgegenhaltung (2), nicht neu sei; und

zweitens, daß Anspruch 1 des Hilfsantrags wegen unzureichender Übereinstimmung mit der Offenbarung der Entgegenhaltung (2) im Sinne von Artikel 123 (2) EPÜ nicht zulässig sei.

VI. Mit Schriftsatz vom 9. November 1998 reichte die Beschwerdeführerin einen neuen Satz von drei Ansprüchen ein, dessen Anspruch 1, bis auf die folgenden zwei Änderungen im Disclaimer, dem des vormaligen Haupt- und Hilfsantrags entspricht: die Prozentangabe lautet jetzt "20,2 Gew.-%" und der Begriff "Vinylarylverbindungen" wurde durch "Monovinylarylverbindungen" ersetzt.

In den Ansprüchen 2 und 3 des neuen Satzes wurde gegenüber denselben Ansprüchen des vormaligen Haupt- und Hilfsantrags der einleitende Begriff "Kunststoffdispersion" in Übereinstimmung mit Anspruch 1 durch die Bezeichnung "Wäßriges Überzugsmittel" ersetzt.

VII. Die Beschwerdeführerin beantragt, die angefochtene Entscheidung zu widerrufen und ein Patent auf der Basis der am 9. November 1998 eingereichten Ansprüche zu erteilen.

Entscheidungsgründe

1. Die Beschwerde ist zulässig.

2. Artikel 123 (2) EPÜ

Anspruch 1 basiert überwiegend auf seiner Fassung gemäß den Erstunterlagen.

2.1. Die folgenden in den Anspruch 1 zusätzlich aufgenommenen Merkmale basieren auf den nachstehend genannten Stellen der Erstunterlagen:

- wäßriges Überzugsmittel, Bindemittel mit dispergierten Latexteilchen: überleitender Absatz Seite 7/Seite 8;

- 0.5 bis 10 Gew.-% Einheiten einer ungesättigten polymerisierbaren Carbonsäure: überleitender Satz Seite 13/Seite 14;

- Mindestfilmbildungstemperatur MFT unter 50 °C: Anspruch 2.

2.2. Das weitere zusätzliche Merkmal, "daß das Kern- und Schalenmaterial zusammengenommen weniger als 20,2 Gew.-% Monomereinheiten aus Monvinylarylverbindungen enthalten" ist zwar nicht in den Erstunterlagen, wohl aber in der Entgegenhaltung (2) offenbart. Es dient als Disclaimer zur Vermeidung einer neuheitsschädlichen Vorwegnahme und verstößt somit nicht gegen Artikel 123 (2) EPÜ (cf. T 0004/80, ABl. EPA 1982, 149). Konkret basiert dieser Disclaimer auf der Offenbarung von Beispiel 16 der Entgegenhaltung (2), derzufolge die Polymerisatteilchen 20,2 Gew.-% Styrol (2 x 10 = 20 Teile gegenüber einer Gesamtmonomermenge von 99 Teilen) enthalten, wobei Styrol (nur) ein bevorzugter Sonderfall der gemäß Seite 1, Zeilen 7 bis 18 generell offenbarten Monovinylarylverbindungen ist.

2.3. Anspruch 1 genügt somit den Erfordernissen des Artikels 123 (2) EPÜ.

2.4. Die Ansprüche 2 und 3 wurden bezüglich der Bezeichnung ihres Gegenstandes "wäßriges Überzugsmittel" an den Anspruch 1 angepaßt, im übrigen entsprechen sie den Ansprüchen 3 und 4 der Erstunterlagen.

2.5. Die vorliegende Anspruchsfassung erfüllt somit insgesamt die Bedingung des Artikels 123 (2) EPÜ.

3. Neuheit

3.1. Entgegenhaltung (2)

Diese Entgegenhaltung betrifft nach Anspruch 1 ein Verfahren zur Herstellung einer Mischpolymerisat-Emulsion aus (A) mindestens einem Monomer, das polymerisiert filmbildend ist und ein weiches Polymerisat bildet und das ein Acrylsäurealkylester mit bis zu 8 Kohlenstoffatomen in der Alkylgruppe oder ein Methacrylsäurealkylester mit 4 - 12 Kohlenstoffatomen in der Alkylgruppe ist, (B) mindestens einem polymerisierbaren Monovinylidenmonomer, das polymerisiert nicht-filmbildend ist und ein hartes Polymerisat bildet und das Styrol, ein im Kern substituiertes Styrol oder ein Gemisch davon mit einem Methacrylsäurealkylester mit bis zu 3 Kohlenstoffatomen ist, und (C) einer alpha,ß-ungesättigten Monovinylidencarbonsäure einer bestimmten allgemeinen Formel, wobei 95 - 99,5 % des Mischpolymerisats aus den Monomeren (A) und (B) in einem Verhältnis (A):(B) im Bereich 2:8 bis 7:3 bestehen und dementsprechend 0,5 - 5. % aus dem Monomer (C) bestehen.

Die Mischpolymerisation erfolgt dabei in wäßriger Emulsion in einer ersten Stufe mit mindestens 70 % der Gesamtmenge an Monomer (A) und bis zu 70 % der Gesamtmenge an Monomer (B), gefolgt von einer zweiten Stufe mit dem Rest der Monomeren (B) und gegebenenfalls (A), wobei in mindestens einer dieser zwei Stufen zumindest ein Teil des Monomers (C) und in der anderen Stufe der Rest des Monomers (C) zugesetzt wird.

Gemäß Beispiel 16 werden in der ersten Stufe Styrol, Methacrylsäuremethylester, Acrylsäure-2-äthylhexylester und Methacrylsäure, in der zweiten Stufe Styrol, Methacrylsäuremethylester und Methacrylsäure in einer Gesamtmenge aller Monomeren in beiden Stufen von 99. Teilen umgesetzt, wovon der Styrolanteil 20 Teile beträgt (je 10 Teile in der ersten und zweiten Stufe).

3.2. Der in obigem Punkt 2.2 diskutierte Disclaimer stellt die Neuheit des Gegenstandes des Anspruchs 1 der vorliegenden Anmeldung gegenüber der Entgegenhaltung (2) her. Der Disclaimer schließt nämlich eine Überschneidung der Offenbarungen dieser beiden Gegenstände dadurch aus, daß er den niedrigsten in der Entgegenhaltung (2) offenbarten Prozentwert der Monovinylarylverbindung gemäß Beispiel 16 als Untergrenze des, nach oben offenen, Ausschlußbereichs definiert.

3.3. Eine Dispersion, deren Polymerteilchen eine Gesamtstyrolmenge von 7,125 Gew.-% enthalten, wie in Punkt 3 der angefochtenen Entscheidung errechnet, ist nicht Teil der Offenbarung der Entgegenhaltung (2).

Diese Berechnung basiert, wie aus der folgenden Analyse hervorgeht, auf einer unzulässigen Kombination von separaten Offenbarungsinhalten:

Die Berechnung geht nämlich einerseits von der in Anspruch 1 definierten Untergrenze der Gesamtmonomermenge (A) + (B) von 95 % aus und errechnet anhand dieser, in Kombination mit dem davon in Anspruch 1 unabhängig offenbarten Verhältnis (A):(B) = 7:3, einen Mindestanteil an Monomer (B) von 28,5 Gew.-% (95 x 3/10); dieser bereits durch Kombination zweier Bereiche (Listen) kalkulierte Wert muß, zur Errechnung eines Styrolanteils von 7,125 %, weiterkombiniert werden mit der Aussage auf Seite 3, Zeilen 46 bis 49, wonach, bei Verwendung als Monomer (B) von Gemischen einer Monovinylarylverbindung mit Methacrylsäureestern, höchstens 75 % des Styrols durch derartige Methacrylsäureester ausgetauscht werden. Unter Berücksichtigung dieses 75 % Wertes (d. h. von 100 % Monomer (B) sind nur 25 % Styrol), der einen ganz bestimmten Fall betrifft und selbst diesfalls noch einen Extremwert darstellt, dessen technische Sinnhaftigkeit im Zusammenhang mit den anderen Grenzwerten der Polymerzusammensetzung, die in Anspruch 1 definiert sind, nicht zwangsläufig angenommen werden kann, wurde in Punkt 3 der angefochtenen Entscheidung eine Untergrenze des Styrolanteils von 7,125 % errechnet (28,5 x 25/100).

Dieser Styrolwert von 7,125 %, der sich erst aus einer Kombination von drei separat offenbarten Bereichsgrenzen errechnet, gehört nicht zum (impliziten) Offenbarungsinhalt der Entgegenhaltung (2), da zu seiner Bestimmung Annahmen bezüglich der gleichzeitigen Realisierbarkeit von drei unzusammenhängend offenbarten Extremwerten getroffen werden müssen, die nicht Bestandteil der Offenbarung sind (cf. T 0007/86, ABl. EPA 1988, 381).

3.4. Der Gegenstand des Anspruchs 1 ist somit gegenüber der Entgegenhaltung (2) neu.

4. Die Zurückweisung der Anmeldung erfolgte wegen Nichtübereinstimmung des einzigen Antrags der Anmelderin mit der Bestimmung des Artikels 123 (2) EPÜ. Die Anmelderin hatte zwar in ihrem Schriftsatz vom 26. September 1995, Seite 3, letzter Satz ihre Bereitschaft erklärt, den Disclaimer in Anspruch 1 eventuell abzuändern ("Eine notfalls vertretbare Grenze wären 20 Gew.-% ...") und im ersten Satz der Seite 4 desselben Schriftsatzes die Prüfungsabteilung gebeten, "eine gewährbare Abgrenzung gegen E2 festzulegen", im unmittelbar darauffolgenden Satz aber festgestellt: "Bis dahin möchten wir unseren am 17. Mai 1995 beantragten Anspruch 1 aufrechterhalten."

Somit lag kein Hilfsantrag vor und die Prüfungsabteilung konnte die Anmeldung ohne Verletzung des rechtlichen Gehörs der Anmelderin (Artikel 113 EPÜ) aufgrund des einzigen Antrags zurückweisen. Eine Verpflichtung der Prüfungsabteilung zur Beratung der Anmelderin besteht unter dem EPÜ nicht und eine solche kann auch nicht aus dem Grundsatz des Vertrauensschutzes abgeleitet werden, der zwischen dem EPA und seinen Benutzern gilt (cf. z. B. T 0160/92, ABl. EPA 1995, 035). Vielmehr muß eine Anmelderin, die eine Zurückweisung ihrer Anmeldung aufgrund eines Antrags vermeiden will, dies durch die Stellung geeigneter Hilfsanträge sicherstellen. Andernfalls geht sie ein Risiko ein, da ein weiterer Bescheid im Ermessen der Prüfungsabteilung liegt (Artikel 96 (2) EPÜ: "... so fordert die Prüfungsabteilung den Anmelder ... so oft wie erforderlich auf ..."), welche gemäß den "Richtlinien für die Prüfung" Teil C, VI, 2.5 gehalten ist, eine endgültige Entscheidung (Erteilung oder Zurückweisung) in möglichst wenig Arbeitsgängen zu erreichen.

5. Nach Vorliegen einer bezüglich Artikel 123 (2) EPÜ zulässigen Anspruchsfassung ist es notwendig, die Sachprüfung fortzuführen, wobei u. a. die noch ungeklärte Lage gegenüber der EP-A-0 242 235 zu berücksichtigen sein wird (siehe Bescheide der Prüfungsabteilung vom 24. Februar 1994, Punkte 2 und 3, und vom 16. Januar 1995, Punkt 2; sowie Schriftsatz der damaligen Anmelderin vom 17. Mai 1995, Seiten 1 und 2). Unter Ausübung des Ermessens nach Artikel 111 (1) EPÜ weist die Kammer die Sache zu diesem Zweck an die Prüfungsabteilung zurück.

ENTSCHEIDUNGSFORMEL

Aus diesen Gründen wird entschieden:

1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.

2. Die Angelegenheit wird an die Prüfungsabteilung mit der Anordnung zurückverwiesen, das Prüfungsverfahren auf der Basis der am 9. November 1998 eingereichten Ansprüche 1 bis 3 fortzusetzen.

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