European Case Law Identifier: | ECLI:EP:BA:2024:T095619.20240228 | ||||||||
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Datum der Entscheidung: | 28 Februar 2024 | ||||||||
Aktenzeichen: | T 0956/19 | ||||||||
Anmeldenummer: | 05738161.8 | ||||||||
IPC-Klasse: | C07K 16/30 C07K 16/28 A61K 31/573 A61K 39/00 A61P 35/00 |
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Verfahrenssprache: | DE | ||||||||
Verteilung: | D | ||||||||
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Bezeichnung der Anmeldung: | Kombination von Antikörpern mit Glukokortikoiden zur Behandlung von Krebs | ||||||||
Name des Anmelders: | Lindis Biotech GmbH | ||||||||
Name des Einsprechenden: | Strawman Limited Amgen Research (Munich) GmbH |
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Kammer: | 3.3.04 | ||||||||
Leitsatz: | - | ||||||||
Relevante Rechtsnormen: |
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Schlagwörter: | Wiederholung einer mündlichen Verhandlung nach Wechsel der Besetzung der Kammer (nein) Bindung der Kammer an eine in anderer Besetzung ergangene Zwischenentscheidung (ja) Res judicata - Umfang Erfinderische Tätigkeit - (nein) |
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Orientierungssatz: |
- |
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Angeführte Entscheidungen: | |||||||||
Anführungen in anderen Entscheidungen: |
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Sachverhalt und Anträge
I. Die Beschwerde der Patentinhaberin (Beschwerdeführerin I), sowie die Beschwerden der Einsprechenden 1 und 2 (Beschwerdeführerinnen II und III) richten sich gegen die Zwischenentscheidung der Einspruchsabteilung betreffend das europäische Patent EP 1 874 821 mit dem Titel "Kombination von Antikörpern mit Glukokortikoiden zur Behandlung von Krebs", wonach das Streitpatent in geänderter Fassung, gemäß dem Hauptantrag, die Erfordernisse des EPÜ erfüllt.
II. Die Einspruchsabteilung befand, dass die Einsprüche zulässig waren. Das Dokument "D35/35a/35b" (siehe Punkt XVI., unten) stelle keinen Stand der Technik nach Artikel 54 (2) EPÜ dar. Weiter befand die Einspruchsabteilung, dass das Patent in geänderter Fassung ("neuer Hauptantrag") und die Erfindung, die es zum Gegenstand hat, den Erfordernissen des EPÜ genügten, insbesondere den Erfordernissen der Regel 80 EPÜ, des Artikels 123 (2) und (3) EPÜ, der Artikel 83 und 84 EPÜ, sowie der Artikel 54 und 56 EPÜ.
III. Anspruch 1 des Patents in geänderter Fassung, wie von der Einspruchsabteilung für gewährbar erachtet, lautet:
"1. Ein oder mehrere Glukokortikoid(e) zur Anwendung in einem Verfahren zur Verminderung der unspezifischen Zytokinfreisetzung bei der Behandlung von Krebserkrankungen und Tumorerkrankungen mit einem oder mehreren immunstimulierenden trifunktionellen, bispezifischen Antikörper(n) (trAK),
wobei der/die immunstimulierenden trifunktionellen, bispezifischen Antikörper jeweils mindestens eine Spezifität gegen Tumorantigen und gegen einen CD-Marker, der ausgewählt ist aus der Gruppe bestehend aus CD2, CD3, CD4, CD5, CD6, CD8, CD28 und CD44, aufweisen und
wobei das Glukokortikoid zeitlich vor oder gleichzeitig zu dem/den Antikörper(n) verabreicht wird."
Dieser Anspruch ist der Anspruch 1 des Hilfsantrags 1 der Zwischenentscheidung T 956/19 vom 17. Februar 2023.
IV. Anspruch 1 von Hilfsantrag 2 (als Hilfsantrag 7 mit der Beschwerdeerwiderung vom 16. Dezember 2019 eingereicht) lautet:
"1. Ein oder mehrere Glukokortikoid(e) zur Anwendung in einem Verfahren zur Verminderung der unspezifischen Zytokinfreisetzung bei der Behandlung von Krebserkrankungen und Tumorerkrankungen mit einem oder mehreren immunstimulierenden trifunktionellen, bispezifischen Antikörper(n) (trAK), wobei der/die immunstimulierenden trifunktionellen, bispezifischen Antikörper jeweils mindestens eine Spezifität gegen Tumorantigen und gegen einen CD-Marker, der ausgewählt ist aus der Gruppe bestehend aus CD2, CD3, CD4, CD5, CD6, CD8, CD28 und CD44, aufweisen und
wobei das Glukokortikoid zeitlich vor oder gleichzeitig zu dem/den Antikörper(n) verabreicht wird und wobei das Glukokortikoid intraperitoneal, intravenös, intraarteriell, intramuskulär, intradermal, subkutan, intratumoral oder selektiv in bzw. über ein definiertes Organ verabreicht wird."
V. Anspruch 1 von Hilfsantrag 3 (als Hilfsantrag 2 mit der Beschwerdeerwiderung vom 16. Dezember 2019 eingereicht) lautet:
"1. Ein Glukokortikoid zur Anwendung in einem Verfahren zur Verminderung der unspezifischen Zytokinfreisetzung bei der Behandlung von Krebserkrankungen und Tumorerkrankungen mit einem immunstimulierenden trifunktionellen, bispezifischen Antikörper (trAK), wobei der immunstimulierende trifunktionelle, bispezifische Antikörper jeweils mindestens eine Spezifität gegen Tumorantigen und gegen einen CD-Marker, der ausgewählt ist aus der Gruppe bestehend aus CD2, CD3, CD4, CD5, CD6, CD8, CD28 und CD44, aufweist und wobei das Glukokortikoid zeitlich vor oder gleichzeitig zu dem Antikörper verabreicht wird."
VI. Anspruch 1 von Hilfsantrag 4 (als Hilfsantrag 3 mit der Beschwerdeerwiderung vom 16. Dezember 2019 eingereicht) lautet:
"1. Ein oder mehrere Glukokortikoid(e) zur Anwendung in einem Verfahren zur Verminderung der unspezifischen Zytokinfreisetzung bei der Behandlung von Krebserkrankungen und Tumorerkrankungen mit einem oder mehreren immunstimulierenden trifunktionellen, bispezifischen Antikörper(n) (trAK), wobei der/die immunstimulierenden trifunktionellen, bispezifischen Antikörper jeweils mindestens eine Spezifität gegen Tumorantigen und gegen einen CD-Marker, der ausgewählt ist aus der Gruppe bestehend aus CD2, CD3, CD4, CD5, CD6, CD8, CD28 und CD44, aufweisen und wobei das Glukokortikoid aus der Gruppe, bestehend aus Prednison, Methylprednisolon, Triamcinolon, Betamethason, Dexamethason, Cortisonacetat, Prednyliden, Deflazacort, Cloprednol, Fluocortolon und Budenosid, ausgewählt ist."
VII. Anspruch 1 von Hilfsantrag 5 (als Hilfsantrag 4 mit der Beschwerdeerwiderung vom 16. Dezember 2019 eingereicht) lautet:
"1. Dexamethason zur Anwendung in einem Verfahren zur Verminderung der unspezifischen Zytokinfreisetzung bei der Behandlung von Krebserkrankungen und Tumorerkrankungen mit einem oder mehreren immunstimulierenden trifunktionellen, bispezifischen Antikörper(n) (trAK),
wobei der/die immunstimulierenden trifunktionellen, bispezifischen Antikörper jeweils mindestens eine Spezifität gegen Tumorantigen und gegen einen CD-Marker, der ausgewählt ist aus der Gruppe bestehend aus CD2, CD3, CD4, CD5, CD6, CD8, CD28 und CD44, aufweisen."
VIII. Anspruch 1 von Hilfsantrag 6 (als Hilfsantrag 5 mit der Beschwerdeerwiderung vom 16. Dezember 2019 eingereicht) lautet:
"1. Ein oder mehrere Glukokortikoid(e) zur Anwendung in einem Verfahren zur Verminderung der unspezifischen Zytokinfreisetzung bei der Behandlung von Krebserkrankungen und Tumorerkrankungen mit einem oder mehreren immunstimulierenden trifunktionellen, bispezifischen Antikörper(n) (trAK), wobei der/die immunstimulierenden trifunktionellen, bispezifischen Antikörper jeweils mindestens eine Spezifität gegen Tumorantigen und gegen einen CD-Marker, der ausgewählt ist aus der Gruppe bestehend aus CD2, CD3, CD4, CD5, CD6, CD8, CD28 und CD44, aufweisen und wobei das Glukokortikoid zeitlich vor oder gleichzeitig zu dem/den Antikörper(n) verabreicht wird und aus der Gruppe, bestehend aus Prednison, Methylprednisolon, Triamcinolon, Betamethason, Dexamethason, Cortisonacetat, Prednyliden, Deflazacort, Cloprednol, Fluocortolon und Budenosid, ausgewählt ist."
IX. Anspruch 1 von Hilfsantrag 7 (als Hilfsantrag 6 mit der Beschwerdeerwiderung vom 16. Dezember 2019 eingereicht) lautet:
"1. Dexamethason zur Anwendung in einem Verfahren zur Verminderung der unspezifischen Zytokinfreisetzung bei der Behandlung von Krebserkrankungen und Tumorerkrankungen mit einem oder mehreren immunstimulierenden trifunktionellen, bispezifischen Antikörper(n) (trAK),
wobei der/die immunstimulierenden trifunktionellen, bispezifischen Antikörper jeweils mindestens eine Spezifität gegen Tumorantigen und gegen einen CD-Marker, der ausgewählt ist aus der Gruppe bestehend aus CD2, CD3, CD4, CD5, CD6, CD8, CD28 und CD44, aufweisen und wobei das Dexamethason zeitlich vor oder gleichzeitig zu dem/den Antikörper(n) verabreicht wird."
X. Anspruch 1 von Hilfsantrag 8 (als Hilfsantrag 8 mit der Beschwerdeerwiderung vom 16. Dezember 2019 eingereicht) lautet:
"1. Ein oder mehrere Glukokortikoid(e) zur Anwendung in einem Verfahren zur Verminderung der unspezifischen Zytokinfreisetzung bei der Behandlung von Krebserkrankungen und Tumorerkrankungen mit einem oder mehreren immunstimulierenden trifunktionellen, bispezifischen Antikörper(n) (trAK),
wobei der/die immunstimulierenden trifunktionellen, bispezifischen Antikörper jeweils mindestens eine Spezifität gegen Tumorantigen und gegen einen CD-Marker, der ausgewählt ist aus der Gruppe bestehend aus CD2, CD3, CD4, CD5, CD6, CD8, CD28 und CD44, aufweisen und wobei das Glukokortikoid zeitlich vor oder gleichzeitig zu dem/den Antikörper(n) verabreicht wird und wobei das Glukokortikoid intravenös oder intraarteriell verabreicht wird."
XI. Anspruch 1 von Hilfsantrag 9 (als Hilfsantrag 9 mit der Beschwerdeerwiderung vom 16. Dezember 2019 eingereicht) lautet:
"1. Ein oder mehrere Glukokortikoid(e) zur Anwendung in einem Verfahren zur Verminderung der unspezifischen Zytokinfreisetzung bei der Behandlung von Krebserkrankungen und Tumorerkrankungen mit einem oder mehreren immunstimulierenden trifunktionellen, bispezifischen Antikörper(n) (trAK),
wobei der/die immunstimulierenden trifunktionellen, bispezifischen Antikörper jeweils mindestens eine Spezifität gegen Tumorantigen und gegen einen CD-Marker, der ausgewählt ist aus der Gruppe bestehend aus CD2, CD3, CD4, CD5, CD6, CD8, CD28 und CD44, aufweisen und wobei das Glukokortikoid zeitlich vor oder gleichzeitig zu dem/den Antikörper(n) verabreicht wird, und wobei das Glukokortikoid intravenös verabreicht wird."
XII. Anspruch 1 von Hilfsantrag 10 (als Hilfsantrag 10 mit der Beschwerdeerwiderung vom 16. Dezember 2019 eingereicht) lautet:
"1. Ein oder mehrere Glukokortikoid(e) zur Anwendung in einem Verfahren zur Verminderung der unspezifischen Zytokinfreisetzung bei der Behandlung von Krebserkrankungen und Tumorerkrankungen mit einem oder mehreren immunstimulierenden trifunktionellen, bispezifischen Antikörper(n) (trAK),
wobei der/die immunstimulierenden trifunktionellen, bispezifischen Antikörper jeweils mindestens eine Spezifität gegen Tumorantigen und gegen einen CD-Marker, der ausgewählt ist aus der Gruppe bestehend aus CD2, CD3, CD4, CD5, CD6, CD8, CD28 und CD44, aufweisen und wobei das Glukokortikoid zeitlich vor oder gleichzeitig zu dem/den Antikörper(n) verabreicht wird und
wobei die gegen das Tumorantigen gerichtete Wirkung des/der immunstimulierenden trifunktionellen, bispezifischen Antikörper(s) nicht beeinträchtigt wird."
XIII. Anspruch 1 von Hilfsantrag 11 (als Hilfsantrag 11 mit der Beschwerdeerwiderung vom 16. Dezember 2019 eingereicht) lautet:
"1. Dexamethason zur Anwendung in einem Verfahren zur Verminderung der unspezifischen Zytokinfreisetzung bei der Behandlung von Krebserkrankungen und Tumorerkrankungen mit einem oder mehreren immunstimulierenden trifunktionellen, bispezifischen Antikörper(n) (trAK),
wobei der/die immunstimulierenden trifunktionellen, bispezifischen Antikörper jeweils mindestens eine Spezifität gegen Tumorantigen und gegen einen CD-Marker, der ausgewählt ist aus der Gruppe bestehend aus CD2, CD3, CD4, CD5, CD6, CD8, CD28 und CD44, aufweisen und
wobei das Dexamethason intravenös und zeitlich vor oder gleichzeitig zu dem/den Antikörper(n) verabreicht wird."
XIV. Anspruch 1 von Hilfsantrag 12 (mit dem Schreiben vom 22. September 2022 eingereicht) lautet:
"1. Dexamethason zur Anwendung in einem Verfahren zur Verminderung der unspezifischen Zytokinfreisetzung bei der Behandlung von Krebserkrankungen und Tumorerkrankungen mit einem oder mehreren immunstimulierenden trifunktionellen, bispezifischen Antikörper(n) (trAK),
wobei der/die immunstimulierenden trifunktionellen, bispezifischen Antikörper jeweils mindestens eine Spezifität gegen Tumorantigen und gegen einen CD-Marker, der ausgewählt ist aus der Gruppe bestehend aus CD2, CD3, CD4, CD5, CD6, CD8, CD28 und CD44, aufweisen und
wobei das Dexamethason intraperitoneal, intravenös, intraarteriell, intramuskulär, intradermal, subkutan, intratumoral oder selektiv in ein definiertes Organ verabreicht wird".
XV. Anspruch 1 von Hilfsantrag 13 (mit dem Schreiben vom 22. September 2022 eingereicht) lautet
"1. Dexamethason zur Anwendung in einem Verfahren zur Verminderung der unspezifischen Zytokinfreisetzung bei der Behandlung von Krebserkrankungen und Tumorerkrankungen mit einem oder mehreren immunstimulierenden trifunktionellen, bispezifischen Antikörper(n) (trAK),
wobei der/die immunstimulierenden trifunktionellen, bispezifischen Antikörper jeweils mindestens eine Spezifität gegen Tumorantigen und gegen einen CD-Marker, der ausgewählt ist aus der Gruppe bestehend aus CD2, CD3, CD4, CD5, CD6, CD8, CD28 und CD44, aufweisen und wobei Glukokortikoid intraperitoneal, intravenös, intraarteriell, intramuskulär, intradermal, subkutan, intratumoral oder selektiv in bzw. über ein definiertes Organ verabreicht wird."
XVI. Auf folgende Dokumente wird in der vorliegenden Entscheidung Bezug genommen:
D35a: "Immunologische Aktivierungsparameter bei Patienten mit nicht-kleinzelligem Lungenkarzinom unter Therapie mit dem bispezifischen Antikörper Removab", Inauguraldissertation zur Erlangung des Doktorgrades der Medizin der Johannes Gutenberg-Universität Mainz dem Fachbereich Medizin vorgelegt von Martin Sebastian (Tag der Promotion 22. Februar 2005), Seiten 1-58
D35: Schmutztitel, sowie Seiten 2 bis 4, 14, 19, 20, 23, 42 bis 49 und 60 der D35a, 17 Seiten
D35b: D35a sowie zusätzlich die "Danksagung" und der Lebenslauf des Herrn Sebastian, 60 Seiten
Im weiteren wird auf das "Dokument D35" oder die "Dissertation" verwiesen, wobei die vollständige Dissertation, wie in D35a oder D35b wiedergegeben, gemeint ist.
XVII. Eine erste mündliche Verhandlung vor der Beschwerdekammer fand am 13. Januar 2023 statt. In dieser Verhandlung entschied die Kammer über Teile der Beschwerde. Die schriftliche Begründung erfolgte in einer auf den 17. Februar 2023 datierten Zwischenentscheidung, T 956/19 (im Folgenden: "Zwischenentscheidung vom 17. Februar 2023"). Die Entscheidungsformel hat folgenden Wortlaut:
"1. Die Beschwerde der Beschwerdeführerin I (Patentinhaberin) ist zulässig.
2. Die Einsprüche der Einsprechenden 1 und 2 (Beschwerdeführerinnen II und III) sind zulässig.
3. Der Hilfsantrag 1 (Aufrechterhaltung des Patents in der von der Einspruchsabteilung gemäß ihrer Zwischenentscheidung als patentfähig erachteten Fassung) ist nicht gewährbar.
4. Das schriftliche Verfahren wird wieder aufgenommen."
XVIII. Daraufhin erließ die Kammer eine neue Ladung zur mündlichen Verhandlung, der eine Mitteilung gemäß Artikel 15 (1) VOBK beigefügt war. In dieser Mitteilung wurden die Parteien darauf hingewiesen, dass sich die Zusammensetzung der Kammer wegen der zwischenzeitlichen Versetzung von Herrn P. de Heij in den Ruhestand geändert habe. In Übereinstimmung mit dem Geschäftsverteilungsplan der Technischen Beschwerdekammern für das Jahr 2023 sei Herr P. de Heij durch Frau M. Blasi als rechtskundiges Mitglied ersetzt worden.
XIX. Mit Schreiben vom 21. Juni 2023 beantragte die Beschwerdeführerin I gemäß Artikel 8 (1), Satz 1, VOBK eine erneute mündliche Verhandlung zum Gegenstand der Zwischenentscheidung vom 17. Februar 2023 vor der Kammer in ihrer seither geänderten Zusammensetzung.
XX. Mit Schreiben vom 7. November 2023 beantragte die Beschwerdeführerin II eine Bestätigung der Kammer, dass diese an ihre am 13. Januar 2023 mündlich getroffenen und in der Zwischenentscheidung vom 17. Februar 2023 wiedergegebenen Entscheidungen gebunden sei (in Übereinstimmung mit Artikel 8 (2) VOBK). Weiter beantragte sie eine weitere vorläufige Stellungnahme der Kammer, in der diese angebe, ob dem Antrag der Beschwerdeführerin I auf eine erneute mündliche Verhandlung zum Gegenstand der Zwischenentscheidung vom 17. Februar 2023 stattgegeben werde oder nicht.
XXI. Die Kammer erließ am 15. November 2023 eine Mitteilung gemäß Artikel 15 (1) VOBK. Zu den im Schreiben vom 7. November 2023 der Beschwerdeführerin II gestellten Anträgen bemerkte die Kammer, dass "[e]ine Vorabentscheidung zu dieser Rechtsfrage in Form der beantragten 'Bestätigung' [...] vorliegend weder im Hinblick auf die Gewährung des rechtlichen Gehörs möglich noch gerechtfertigt [ist]. Es besteht nach Auffassung der Kammer auch kein Anlass für eine zusätzliche mündliche Verhandlung zur Diskussion der Anwendung des Artikels 8 (1) oder (2) VOBK. Die Kammer erachtet die zu klärende Rechtsfrage als nicht komplex...". Weiter führte die Kammer aus, dass "[w]ie bereits aus der Mitteilung der Kammer vom 8. Mai 2023 hervorgeht (siehe die Punkte 1 und 4), ist die Kammer der vorläufigen Auffassung, dass sie in Einklang mit Artikel 8 (2) VOBK in ihrer am 2. März 2023 geänderten Zusammensetzung an die Zwischenentscheidung vom 17. Februar 2023 gebunden ist."
XXII. Die mündliche Verhandlung vor der Kammer fand am 27. Februar 2024 und 28. Februar 2024 wie vorgesehen statt. Während dieser mündlichen Verhandlung reichte die Beschwerdeführerin I zwei separate Einwände nach Regel 106 EPÜ ein, einen am 27. Februar 2024, nachdem die Kammer mitgeteilt hatte, dass sie an die Zwischenentscheidung vom 17. Februar 2023 gebunden sei und die Parteien daher auch nicht zu den darin entschiedenen Punkten hören werde, und einen am 28. Februar 2024. Die Kammer wies beide Einwände zurück.
XXIII. Der am 27. Februar 2024 eingereichte Einwand nach Regel 106 EPÜ lautete wie folgt:
"Wir erheben hiermit eine Rüge gemäß Regel 106 EPÜ als Voraussetzung für einen Antrag auf Überprüfung (Art. 112a(2)(c)/(d) EPÜ) wegen eines schwerwiegenden Verfahrensmangels, insbesondere der Verletzung des rechtlichen Gehörs der Patentinhaberin nach Artikel 113(1) EPÜ.
Insbesondere wurde die Patentinhaberin nicht, wie durch Artikel 8(1) VOBK vorgeschrieben, von der Beschwerdekammer darüber unterrichtet, dass auf Antrag eine erneute mündliche Verhandlung vor der Kammer in ihrer neuen Zusammensetzung stattfindet. Auch unserem expliziten schriftlichen Antrag auf eine de novo mündliche Verhandlung vor der Kammer in ihrer neuen Zusammensetzung vom 21. Juni 2023, wiederholt während der heutigen mündlichen Verhandlung, wurde nicht stattgegeben und diesem schwerwiegenden Verfahrensmangel nicht abgeholfen.
Durch die Zurückweisung unseres Antrages, eine erneute mündliche Verhandlung vor der Beschwerdekammer in ihrer neuen Zusammensetzung durchzuführen, wurde das Recht der Patentinhaberin auf rechtliches Gehör gemäß Artikel 113(1) EPÜ verletzt, da ihr verwehrt wurde, ihr Vorbringen dem neuen Mitglied vorzutragen".
XXIV. Der am 28. Februar 2024 eingereichte Einwand nach Regel 106 EPÜ lautete wie folgt:
"Wir erheben hiermit eine Rüge nach Regel 106 EPÜ, da aufgrund der Zurückweisung unseres Antrags zur Neuheit des Hilfsantrags 2 vortragen zu dürfen, unser Recht auf rechtliches Gehör nach Artikel 113 EPÜ verwehrt wurde".
XXV. Am Ende der mündlichen Verhandlung verkündete die Vorsitzende die Entscheidung der Kammer.
XXVI. Die Argumente der Beschwerdeführerin I können folgendermaßen zusammengefasst werden:
Antrag der Beschwerdeführerin I über eine mündliche Verhandlung de novo
Die Kammer habe gegen Artikel 8 (1) VOBK verstoßen, da sie die Beteiligten nicht unterrichtet habe, dass auf Antrag eine erneute mündliche Verhandlung vor der Kammer in ihrer neuen Zusammensetzung stattfinden würde. Den Entscheidungen T 862/98 und T 1652/08 sei zu entnehmen, dass Artikel 8 (1) VOBK zwingend sei und dem nachfolgenden Absatz vorgehe. Absatz 2 sei im Lichte von Absatz 1 zu lesen und bilde eine Kaskade. Daher gelte eine Beschwerdesache nur dann als entschieden oder endgültig (res judicata), wenn es nach einer Entscheidung nicht zu einer erneuten mündlichen Verhandlung komme. Andernfalls sei eine bereits ergangene Zwischenentscheidung aufzuheben. Das rechtliche Gehör der Beschwerdeführerin I würde verletzt, sollte ihr verwehrt werden, vor der Kammer in ihrer neuen Zusammensetzung zu den Punkten, die Gegenstand der Zwischenentscheidung vom 17. Februar 2023 gewesen seien, vollumfänglich vorzutragen. Es gelte der Grundsatz der Einheitlichkeit der Verhandlung, weshalb die Beschwerdeführerin I einen Anspruch darauf habe, zu allen Punkten vortragen zu dürfen. Der Anspruch auf rechtliches Gehör erfordere eine Endentscheidung, die vom gesamten Spruchkörper getroffen werde.
Einwand gemäß Regel 106 EPÜ vom 27. Februar 2024
Ihrem expliziten schriftlichen Antrag auf eine mündliche Verhandlung de novo vor der Kammer in der geänderten Besetzung sei nicht stattgegeben worden. Ihr sei folglich keine Möglichkeit gegeben worden, zu den in der mündlichen Verhandlung vom 13. Januar 2023 verhandelten Gegenständen vor der Kammer in ihrer geänderten Zusammensetzung vorzutragen. Dies sei eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör nach Artikel 113 (1) EPÜ.
Hilfsantrag 2
Erfinderische Tätigkeit
Der Hilfsantrag 2 wurde in Reaktion auf den Vortrag der Beschwerdeführerinnen II und III zur mangelnden Neuheit von Hilfsantrag 1 (geänderte Fassung des Patents wie von der Einspruchsabteilung für gewährbar erachtet) gegenüber Dokument D35 eingereicht.
Die Ansprüche des Hilfsantrags 2 unterscheiden sich von denjenigen des Hilfsantrags 1 darin, dass das weitere Merkmal "und wobei das Glukokortikoid intraperitoneal, intravenös, intraarteriell, intramuskulär, intradermal, subkutan, intratumoral oder selektiv in bzw. über ein definiertes Organ verabreicht wird" aufgenommen wurde.
Soweit das Dokument D35 als nächstliegender Stand der Technik herangezogen werde, werde darauf hingewiesen, dass das Dokument D35 ausdrücklich auf Seite 48 (letzter Absatz) vermerke, dass "Rückschlüsse auf eine mögliche Anti-Tumor-Aktivität der Substanz sich hieraus jedoch nicht ziehen [lassen]".
Es bleibe also nach der Lehre des Dokuments D35 völlig ungewiss, ob eine solche kombinierte Therapie von Glukokortikoiden und bispezifischen Antikörpern die erwünschte Antitumor-Wirkung zeige. Irgendwelche in vitro oder in vivo Daten mit Resultaten zur Wirkung auf Tumorzellen würden gemäß Dokument D35 überhaupt nicht berichtet. Vielmehr führe der Autor aus, dass bei Prämedikation mit Dexamethason die gewünschte T-Zellaktivierung als Kernmerkmal der Wirksamkeit der Antikörpertherapie nicht zu erfolgen scheine.
Insoweit gebe auch das Dokument D35 keine Hinweise, die den beanspruchten Erfindungsgegenstand nahegelegt haben können. Im Gegenteil scheine Dokument D35 die Befürchtung des Fachmanns zu bestätigen, dass eine verminderte Zytokinausschüttung auch die Wirksamkeit des Antikörpers verringere. Vor diesem Hintergrund hätte Dokument D35 den Fachmann ebenfalls nicht zu der vorliegenden Erfindung führen können.
Res judicata
Der Hinweis der Kammer, dass ihre Schlussfolgerung, wonach es dem Gegenstand des Hilfsantrags 2 an der erfinderischen Tätigkeit mangle, im Wesentlichen durch das Prinzip der res judicata bedingt sei, deute auf eine abwegige Anwendung dieses Prinzips hin. Die Entscheidung T 167/93, Punkt 2.5, Buchstabe d), stelle klar, dass eine Bindungswirkung unter anderem voraussetze, dass aufgrund derselben Tatfragen entschieden worden sei. Dies sei vorliegend nicht gegeben. Die Zwischenentscheidung vom 17. Februar 2023 sei zur Frage der Neuheit und nicht der erfinderischen Tätigkeit ergangen, betreffe den Gegenstand des Hilfsantrags 1 und nicht denjenigen des Hilfsantrags 2, und auch die ratio decidendi beträfe nur die Zulassung von verspätetem Vorbringen und beinhalte keine Entscheidung in der Sache. Verwiesen werde auf die Punkte 52 und 53 der Zwischenentscheidung vom 17. Februar 2023.
Neuheit gegenüber D35 und Einwand gemäß Regel 106 EPÜ vom 28. Februar 2024
Im Verlauf der mündlichen Verhandlung sei ihr keine Gelegenheit gegeben worden, sich zur Neuheit des Gegenstands von Hilfsantrag 2 gegenüber D35 zu äußern. Sie habe sich auch zu den Unterschieden des Gegenstands von Hilfsantrag 2 gegenüber D35 nicht äußern können. Zwecks Wahrung ihres Anspruchs auf rechtliches Gehör habe sie beantragt, dass die Neuheit des Gegenstands des Hilfsantrags 2 gegenüber D35 zu diskutieren sei.
Da dem Antrag auf Diskussion der Neuheit des Gegenstands des Hilfsantrags 2 gegenüber D35 nicht stattgegeben worden sei, habe die Kammer den Anspruch der Beschwerdeführerin I auf rechtliches Gehör verletzt.
Hilfsanträge 3 bis 13
Erfinderische Tätigkeit (Artikel 56 EPÜ)
Die Beschwerdeführerin I hat sich weder im schriftlichen Verfahren noch in der mündlichen Verhandlung gesondert zur erfinderischen Tätigkeit unter Bezugnahme auf technische Merkmale der Ansprüche dieser Hilfsanträge geäußert. Ihr Vorbringen diesbezüglich stützte sie auf ihr Vorbringen in Bezug auf Hilfsantrag 2.
Hilfsantrag 10
Klarheit (Artikel 84 EPÜ)
Auch zur Klarheit des Hilfsantrags 10 machte die Beschwerdeführerin I keine schriftlichen oder mündlichen Äußerungen.
XXVII. Die Argumente der Beschwerdeführerinnen II und III können folgendermaßen zusammengefasst werden:
Antrag der Beschwerdeführerin I über eine mündliche Verhandlung de novo
Artikel 8 (2) VOBK sei Ausdruck der Grundsätze der Bindungswirkung von Entscheidungen bzw. res judicata wie sie in der Rechtsprechung anerkannt seien, unter anderen in den Entscheidungen G 12/91, T 699/99, T 365/09, T 577/11, T 449/15 und T 466/20. Eine ergangene Entscheidung einer Beschwerdekammer sei wirksam und bindend und könne nicht mehr von ihr aufgehoben werden. Diesen Grundsätzen zufolge sei eine neue Verhandlung über Gegenstände der Zwischenentscheidung vom 17. Februar 2023 nicht möglich. Es stelle daher keine Verletzung des rechtlichen Gehörs der Beschwerdeführerin I dar, ihr die Wiederholung des Vortrags zu den bereits entschiedenen Sach- und Rechtsfragen nicht zu erlauben. Der Beschwerdeführerin I sei unbenommen, sich zu den noch nicht entschiedenen und daher zu besprechenden Hilfsanträgen zu äußern. Die von der Beschwerdeführerin I herangezogenen Entscheidungen beträfen eine andere Fallgestaltung. Eine von der Beschwerdeführerin I vorgeschlagene Aufhebung der Zwischenentscheidung vom 17. Februar 2023 wäre im Widerspruch zum res judicata Grundsatz und Artikel 8 (2) VOBK.
Einwand gemäß Regel 106 EPÜ vom 27. Februar 2024
Die Zurückweisung des Antrags auf eine Verhandlung de novo sei aus den gegen diesen Antrag vorgebrachten Gründen keine Verletzung des rechtlichen Gehörs, daher sei der Einwand ebenfalls zurückzuweisen.
Hilfsantrag 2
Erfinderische Tätigkeit - Anspruch 1
Der Gegenstand des Anspruchs 1 dieses Antrags sei identisch mit dem des Anspruchs 1 von Hilfsantrag 1, mit Ausnahme des zusätzlichen Merkmals der Verabreichungswege. Die erfinderische Tätigkeit müsse auf der Grundlage des Unterschieds zwischen dem Gegenstand des Anspruchs 1 von Hilfsantrag 1 und dem des Anspruchs 1 von Hilfsantrag 2 entschieden werden, da ersterer nicht neu sei, wie aus der Zwischenentscheidung der Kammer hervorgehe (res judicata).
Mit den angegebenen Verabreichungswegen sei keine technische Wirkung verbunden, die eine erfinderische Tätigkeit begründen könne. Im Patent selbst heiße es, dass es keinerlei Einschränkungen hinsichtlich des Verabreichungsweges gebe: "Hinsichtlich der Art und Weise der Verabreichung sowohl des immunstimulatorischen Antikörpers als auch des Glukokortikoids bestehen erfindungsgemäß keinerlei Einschränkungen. Daher kann sowohl das Glukokortikoid als auch der Antikörper intraperitoneal, systemisch (intravenös oder intraarteriell), intramuskulär, intradermal, subkutan, intratumoral oder aber auch selektiv in bzw. über ein definiertes Organ verabreicht werden" (Patent, Absatz [0021]).
Hinsichtlich der Art der Verabreichung sowohl des immunstimulierenden Antikörpers als auch des Glukokortikoids gebe es erfindungsgemäß keinerlei Einschränkungen. Da keine technische Wirkung mit diesem Verabreichungswegen verbunden sei, läge die technische Aufgabe in der Bereitstellung eines spezifischen Wegs der Verabreichung des Glukokortikoids in einem Verfahren zur Verminderung der unspezifischen Zytokinfreisetzung bei der Behandlung von Krebserkrankungen und Tumorerkrankungen mit einem oder mehreren immunstimulierenden trifunktionellen, bispezifischen Antikörper(n). In der Tat umfasse die Aufzählung der Verabreichungswege die üblichen und damit naheliegenden Verabreichungswege.
Res judicata
Die Begründung in Punkt 60. der Zwischenentscheidung vom 17. Februar 2023, dass das Dokument D35 die Anwendung mindestens eines anspruchsgemäßen Antikörpers und eines anspruchsgemäßen Glukokortikoids zur Verminderung der unspezifischen Zytokinfreisetzung bei der Behandlung und/oder Prophylaxe von Krebserkrankungen und Tumorerkrankungen offenbare, sei res judicata und bindend.
Neuheit gegenüber Dokument D35 und Einwand gemäß Regel 106 EPÜ vom 28. Februar 2024
Eine von einer Kammer getroffene Entscheidung sei wirksam und für die Kammer bindend. Sie schließe jede erneute Eröffnung der Debatte aus. Die Frage der Neuheit des Gegenstands des Hilfsantrags 1 gegenüber dem Dokument D35 sei entschieden und könne beim Hilfsantrag 2 nicht erneut aufgeworfen und diskutiert werden.
Die Beschwerdeführerinnen II und III hatten zum Einwand gemäß Regel 106 EPÜ vom 28. Februar 2024 keine Bemerkungen.
Hilfsanträge 3 bis 13
Die Hilfsanträge seien nicht zum Verfahren zuzulassen, u.a. weil sie: i) nicht beim Festlegen des Beschwerdegegenstands eingereicht worden seien und ii) weil sie den von der Beschwerdeführerin I selbst festgelegten Beschwerdegegenstand erweiterten.
Keine der in den Hilfsanträgen vorgenommenen Änderungen, weder einzeln noch in Kombination, seien geeignet, die gegen den Hilfsantrag 1 erhobenen Einwände auszuräumen. Sowohl die erteilten Ansprüche als auch die Ansprüche der Hilfsanträge kopierten lediglich auf naheliegende Weise die Lehre der Dissertation D35.
Hilfsantrag 10
Klarheit (Artikel 84 EPÜ)
Anspruch 1 sei unklar, weil das Merkmal, dass "die gegen das Tumorantigen gerichtete Wirkung des/der immunstimulierenden trifunktionellen, bispezifischen Antikörper(s) nicht beeinträchtigt wird", aufgenommen wurde. Die Wirkung des Antikörpers sei, abgesehen von der Bindung an das Tumorantigen, nicht spezifiziert. Natürlich könnte diese Bindung auch zu anderen Wirkungen führen, die sich gegen die Tumorzelle, aber nicht gegen das Tumorantigen als solches richteten. Eine grundlegende Unklarheit ergebe sich aus dem Wortlaut der Änderung.
XXVIII. Die Beschwerdeführerin I beantragte gemäß Artikel 8 (1), Satz 1, VOBK eine erneute mündliche Verhandlung zum Gegenstand der Zwischenentscheidung vom 17. Februar 2023 vor der Kammer in ihrer neuen Zusammensetzung.
Die Beschwerdeführerinnen II und III beantragten die Zurückweisung des Antrags der Beschwerdeführerin I auf eine mündliche Verhandlung de novo.
XXIX. Die in der mündlichen Verhandlung vom 27. und 28. Februar 2024 gestellten Sachanträge der Parteien sind folgende:
Die Beschwerdeführerin I beantragte die Aufrechterhaltung des Patents in geänderter Fassung auf der Grundlage des Hilfsantrags 2, der mit der Beschwerdeerwiderung der Beschwerdeführerin I vom 16. Dezember 2019 als Hilfsantrag 7 eingereicht worden war, oder, hilfsweise, auf der Grundlage eines der Hilfsanträge 3 bis 11, die mit der Beschwerdeerwiderung der Beschwerdeführerin I vom 16. Dezember 2019 als Hilfsanträge 2 bis 6 und 8 bis 11 eingereicht worden waren, oder eines der Hilfsanträge 12 und 13, die mit dem Schreiben vom 22. September 2022 eingereicht worden waren.
Die Beschwerdeführerinnen II und III (Einsprechende 1 und 2) beantragten jeweils, die angefochtene Entscheidung aufzuheben und das Patent in vollem Umfang zu widerrufen.
Im Kontext des Vorbringens zur erfinderischen Tätigkeit des Gegenstands der Ansprüche des Hilfsantrags 2 wurden von sämtlichen Parteien Anträge auf Nichtzulassung bzw. Zulassung bestimmter Argumentationslinien gestellt.
Entscheidungsgründe
Antrag der Beschwerdeführerin I auf Abhaltung einer mündlichen Verhandlung de novo
1. Dem Antrag der Beschwerdeführerin I auf Abhaltung einer mündlichen Verhandlung de novo wurde aus nachfolgenden Gründen nicht stattgegeben.
2. Artikel 8 (2) VOBK bestimmt, dass bei einer Änderung in der Zusammensetzung der Kammer jedes neue Mitglied wie die übrigen Mitglieder an getroffene Zwischenentscheidungen gebunden ist. Zwischenentscheidungen im Sinne dieser Bestimmung sind Entscheidungen über Teile der Beschwerde, aber nicht über die Beschwerdesache als Ganzes. Solche Zwischenentscheidungen schließen das Beschwerdeverfahren nicht ab. Wurde über alle Anträge der Parteien und damit über die Beschwerde als Ganzes entschieden, wird ein verhindertes Mitglied nicht ersetzt (Artikel 8 (3) VOBK). Die Besetzung bleibt in diesem Fall unverändert.
3. Artikel 8 (2) VOBK findet mithin Anwendung, wenn über eine Beschwerde in Teilen entschieden wurde, aber noch keine das Beschwerdeverfahren insgesamt abschließende Entscheidung getroffen wurde, wobei unerheblich ist, ob die Zwischenentscheidungen in einer mündlichen Verhandlung getroffen wurden oder im schriftlichen Verfahren ergingen. Aus dem systematischen Zusammenhang innerhalb von Artikel 8 VOBK geht somit hervor, dass nach dessen Absatz 2 eine erneute mündliche Verhandlung vor einer Kammer wegen einer Änderung in ihrer Zusammensetzung nach einer ersten mündlichen Verhandlung nur zu Vorbringen möglich und geboten ist, über das noch nicht entschieden wurde. Soweit in bzw. nach einer ersten mündlichen Verhandlung über den Gegenstand einer Beschwerdesache bereits entschieden wurde, ist die Kammer in ihrer danach geänderten Zusammensetzung an die zuvor ergangenen Zwischenentscheidungen gebunden. Über einen solchen Gegenstand kann nicht erneut verhandelt werden. Artikel 8 (2) VOBK ist insofern Ausdruck der allgemein anerkannten Verfahrensprinzipien der Selbstbindung und res judicata.
4. Die Selbstbindung besagt, dass eine Kammer an eine von ihr mündlich verkündete oder schriftlich erlassene Entscheidung gebunden ist. Sie kann diese nicht von sich aus ändern oder aufheben (vgl. G 12/91, ABl. EPA 1994, 285, Nr. 2 der Gründe). Dies gilt auch für Teilentscheidungen (T 694/01, ABl. EPA 2003, 250, Nr. 2.10 der Gründe) und zwar nicht nur nach einer Zurückweisung an das Organ, dessen Entscheidung mit der Beschwerde angefochten wurde (diesbezüglich grundlegend T 79/89, ABl. EPA 1992, 283, Nr. 3 der Gründe; T 21/89, Nr. 3.1 der Gründe), sondern bei jeder späteren Befassung der Kammer mit derselben Angelegenheit zur weiteren Entscheidung, insbesondere auch nach Zwischenentscheidungen, die in einem ersten Verhandlungstermin getroffen wurden (siehe beispielsweise hier T 152/95 vom 3. Juli 1996 und vom 20. März 1997; siehe weiter auch T 83/05 vom 8. Juli 2013, Nr. 6 der Gründe; T 1242/06 vom 8. Dezember 2015, Nr. 6 der Gründe; T 2643/16, Nr. 9 der Gründe; T 699/99, Nr. 3 der Gründe).
5. Eine Entscheidung einer Kammer wird formell rechtskräftig, sobald sie ergangen ist, da kein Rechtsmittel gegen die Entscheidung gegeben ist; das gilt auch für Zwischenentscheidungen (G 1/97, ABl. EPA 2000, 322, Nr. 2 a) der Gründe; T 694/01, ABl. EPA 2003, 250, Nr. 2.10 der Gründe). Mit der formellen Rechtskraft wird der Inhalt der Entscheidung auch für die Verfahrensbeteiligten bindend (materielle Rechtskraft). Der Umstand, dass die Rechtskraft mit einem Überprüfungsantrag (Artikel 112a EPÜ) beseitigt werden könnte, stellt die Endgültigkeit einer Entscheidung einer Beschwerdekammer nicht in Frage, solange keine Wiederaufnahme des Verfahrens gemäß Artikel 112a (5), Satz 2 EPÜ von der Großen Beschwerdekammer infolge Gutheißung eines solchen Antrags angeordnet wird (R 1/08, Nr. 2.1 der Gründe; T 584/09 vom 1. März 2013, Nr. 14 und 15 der Gründe).
6. Die Selbstbindung und res judicata tritt nach der Rechtsprechung der Großen Beschwerdekammer bei einer mündlich getroffenen Entscheidung mit ihrer Verkündung in der mündlichen Verhandlung ein, und bei einer im schriftlichen Verfahren erlassenen Entscheidung mit der Zustellung (G 12/91, ABl EPA 1994, 285, Nr. 2 der Gründe). Nach diesem Zeitpunkt ist eine Kammer an eine von ihr getroffene Entscheidung gebunden und kann sie selbst nicht aufheben. Es besteht dann nur noch die Möglichkeit, offensichtliche Unrichtigkeiten zu berichtigen (Regel 140 EPÜ). Ob über die Beschwerdesache insgesamt oder nur teilweise entschieden wurde, ist für den Eintritt der Bindungswirkung und res judicata unerheblich.
7. Vorliegend fand eine erste mündliche Verhandlung am 13. Januar 2023 statt. Im Verlauf dieser Verhandlung teilte die Vorsitzende den Verfahrensbeteiligten die Entscheidungen der Kammer zu den erörterten Anträgen mit (siehe zusammenfassend die Niederschrift über die mündliche Verhandlung am 13. Januar 2023 vor der Kammer, Seite 8 unten). Die mündlich getroffenen Entscheidungen waren ab diesem Datum bindend und nicht abänderbar. Die schriftliche Fassung der Zwischenentscheidungen samt Begründung (vgl. Regel 102 und 111 (1) EPÜ) wurde am 17. Februar 2023 der internen Poststelle zum Zwecke der Zustellung übergeben bzw. in vorhandene Mailboxen eingestellt. Die Entscheidungsbegründung wurde von den an der mündlichen Verhandlung teilnehmenden Kammermitgliedern abgefasst und von der Vorsitzenden und der zuständigen Geschäftsstellenbeamtin authentifiziert. An dieser Zwischenentscheidung vom 17. Februar 2023 war noch Herr P. de Heij, rechtskundiges Mitglied, beteiligt. Er war noch bis einschließlich 28. Februar 2023 in dieser Funktion Bediensteter des Europäischen Patentamts. Folglich wurde auch die schriftliche Begründung der mündlich getroffenen Zwischenentscheidungen von der Kammer in ihrer ursprünglichen Zusammensetzung abgefasst. Artikel 8 (3) VOBK kam nicht zum Tragen.
Am 2. März 2023 verfügte die Vorsitzende dann die Änderung der Zusammensetzung der Kammer nach Maßgabe des Geschäftsverteilungsplans. In dieser geänderten Zusammensetzung vom 2. März 2023 war die Kammer gemäß Artikel 8 (2) VOBK an die zuvor ergangenen Zwischenentscheidungen (im Folgenden "Zwischenentscheidung vom 17. Februar 2023") gebunden.
8. Die Argumente der Beschwerdeführerin I bezüglich der Abhaltung einer mündlichen Verhandlung de novo überzeugen die Kammer nicht. Der behauptete Vorrang des ersten Absatzes von Artikel 8 VOBK gegenüber dessen zweiten Absatz führt zu keinem sinnvollen Ergebnis und läuft den oben dargelegten allgemeinen Verfahrensgrundsätzen der Bindungswirkung und res judicata zuwider.
9. Die Beschwerdeführerin I begründete den Vorrang von Artikel 8 (1) VOBK damit, dass eine Entscheidung einer Beschwerdekammer zur Aufrechterhaltung oder Widerruf eines Patents, gegen das ein Einspruch eingelegt worden ist, eine einzige und somit eine einheitliche Entscheidung sei. Diese Entscheidung könne nicht als Summe von Teilentscheidungen betrachtet werden. Daher sei es geboten, die Entscheidung der Kammer in der Besetzung zu treffen, die sich in einer mündlichen Verhandlung auch tatsächlich mit allen Aspekten des Beschwerdeverfahrens befasst habe. Es sei nicht zulässig, die nur unterbrochene mündliche Verhandlung in anderer Besetzung über weitere Aspekte des Beschwerdeverfahrens entscheiden zu lassen, während die Aspekte des ersten Teils der mündlichen Verhandlung im Januar 2023 für diesen neuen Spruchkörper als res judicata hinzunehmen seien. Es gelte, den rechtsstaatlichen Grundsatz der Einheitlichkeit der mündlichen Verhandlung und des über den Verfahrensgegenstand in toto zu entscheidenden Spruchkörpers zu wahren.
10. Die Beschwerdeführerin I stellte nach dem Verständnis der Kammer bei ihrer Argumentation auf die Einheitlichkeit und Unmittelbarkeit der mündlichen Verhandlung ab. Diese Grundsätze besagen, dass mehrere Verhandlungstermine eine einzige mündliche Verhandlung bilden und ein Spruchkörper seiner Entscheidung nur das Vorbringen zugrunde legen darf, von dem die Mitglieder des Spruchkörpers in der mündlichen Verhandlung aufgrund eigener Wahrnehmung Kenntnis erhalten haben. Aus diesen Grundsätzen folgt, dass alle Mitglieder des Spruchkörpers, die die Entscheidung treffen, auch an der (als Einheit verstandenen) mündlichen Verhandlung teilgenommen haben.
11. Weder Artikel 116 EPÜ noch Regel 115 ff. EPÜ statuieren eine wie von der Beschwerdeführerin I verstandene Unmittelbarkeit und Einheitlichkeit mündlicher Verhandlungen vor dem EPA. Aus der Zusammenschau der Artikel 12, 13 und 15 VOBK ergibt sich, dass dem schriftlichen Verfahren ein hoher Stellenwert zukommt und eine mündliche Verhandlung dem Abschluss des Verfahrens dient. Die Beschwerdebegründung und die Erwiderung müssen das vollständige Beschwerdevorbringen eines Beteiligten enthalten. Eine danach erfolgte Änderung des Vorbringens bedarf der Zulassung zum Verfahren, um berücksichtigt zu werden. Nach Zustellung einer Mitteilung nach Artikel 15 (1) VOBK zur Vorbereitung der mündlichen Verhandlung bleibt geändertes Vorbringen grundsätzlich unberücksichtigt. Die mündliche Verhandlung schafft also nicht erst die tatsächliche und rechtliche Grundlage für eine Entscheidung, sondern dient dazu, einen Fall auf der Grundlage von Anträgen, Tatsachen, Beweisen und Argumenten zu entscheiden, die im schriftlichen Verfahren vorgebracht und mündlich erläutert und gegebenenfalls ergänzt wurden. Die Auffassung der Beschwerdeführerin I (siehe Punkt XXVI. und Punkt 9.) ist mit Artikel 8 (1) und (2) VOBK nicht vereinbar: Artikel 8 (1) VOBK wegen des Antragserfordernisses, Artikel 8 (2) VOBK wegen der Bindung des neuen Mitglieds an die am ersten Verhandlungstermin getroffenen Zwischenentscheidungen unabhängig von einer Teilnahme des neuen Mitglieds an der ersten mündlichen Verhandlung als designiertes "Ersatzmitglied", d.h. für den Fall, dass ein Mitglied der Kammerbesetzung zu ersetzen wäre.
12. Die Einheitlichkeit des Einspruchsverfahrens besagt, dass mehrere Einsprüche gegen dasselbe Patent in einem einzigen Verfahren behandelt werden und nicht Gegenstand paralleler oder hintereinander geschalteter Verfahren sind. Die Einheitlichkeit des Einspruchsverfahrens ergibt sich aus Artikel 99(3) EPÜ; für das Beschwerdeverfahren folgt die Einheitlichkeit aus Artikel 107 EPÜ (siehe T 73/88, ABl. EPA 1992, 557, Nr. 1.2 der Gründe; T 678/90 vom 23. November 1994, Nr. 3 der Gründe; T 270/94, Nr. 2 der Gründe). Entgegen der Auffassung der Beschwerdeführerin I schließt die Einheitlichkeit des Einspruchs- und Beschwerdeverfahrens Teilentscheidungen nicht aus. Dies ergibt sich beispielsweise aus Entscheidungen, in denen die Beschwerdesache zur Fortsetzung des Verfahrens gestützt auf Artikel 111(1) EPÜ an die Einspruchsabteilung zurückverwiesen wurde (siehe etwa T 27/94, Nr. 2.2 der Gründe; T 609/94, Nr. 2.1 der Gründe).
13. Der Auffassung der Beschwerdeführerin I zum Vorrang von Artikel 8 (1) VOBK ist auch deswegen nicht zu folgen, weil dann für Artikel 8 (2) VOBK kein vernünftiger Anwendungsbereich verbliebe. Die Bindung eines Ersatzmitglieds an die ohne seine Beteiligung getroffene Zwischenentscheidungen wäre nämlich bedeutungslos, wenn solche Zwischenentscheidungen von einem (in Teilen erfolglosen) Verfahrensbeteiligten mit einem Antrag auf eine erneute mündliche Verhandlung hinfällig gemacht werden könnten. Der behauptete Vorrang von Artikel 8 (1) VOBK würde daher ein Vorgehen nach Artikel 8 (2) VOBK unmöglich machen, weil der Ersatz eines Mitglieds faktisch eine Neuverhandlung bedingen würde. Soweit die in einer mündlichen Verhandlung getroffenen Entscheidungen das Beschwerdeverfahren abschließen steht Artikel 8 (3) VOBK ohnehin dem Ersatz eines an den Zwischenentscheidungen beteiligten, aber danach verhinderten Kammermitglieds entgegen. Folglich ergibt Artikel 8 (2) VOBK neben Artikel 8 (1) und (3) VOBK nur dann Sinn, wenn in einer mündlichen Verhandlung (im Sinne eines Verhandlungstermins) Entscheidungen ergehen, die das Beschwerdeverfahren nicht abschließen, so dass dieses fortgesetzt und gegebenenfalls eine weitere mündliche Verhandlung (im Sinne eines weiteren Verhandlungstermins) erforderlich wird. Ist ein Kammermitglied nach einer mündlichen Verhandlung an der Teilnahme im weiteren Verfahren verhindert, ermöglicht Artikel 8 (2) VOBK, das Verfahren mit einem neuen Mitglied fortzusetzen, ohne dass die mündliche Verhandlung wiederholt werden muss, sofern und soweit in der mündlichen Verhandlung über Teile der Beschwerde in Form von Zwischenentscheidungen entschieden wurde. Dies ist im Interesse der Prozessökonomie und des Rechtsfriedens.
14. Auch das Vorbringen der Beschwerdeführerin I, die Kammer hätte in ihrer neuen Besetzung die getroffenen Zwischenentscheidungen aufheben sollen, verfängt nicht. Ein solches Vorgehen würde die oben dargelegten Verfahrensgrundsätze der Bindungswirkung und res judicata verletzen. Diese verbieten den Kammern, mündlich oder schriftlich ergangene Zwischenentscheidungen abzuändern. Selbst bei Vorliegen eines schwerwiegenden Verfahrensmangels im Sinne von Artikel 112a (2) und Regel 104 EPÜ, tritt die Bindungswirkung und res judicata ein (siehe R 3/10, Nr. 1.4.1 der Gründe). Die Rechtskraft und Bindungswirkung sind nur auf dem Wege einer Überprüfung zu beseitigen. Gleiches gilt für Zwischenentscheidungen. Der Gesetzgeber kann dies nicht auf untergeordneter Stufe der Normenhierarchie abändern. Daher kann Artikel 8 (1) VOBK nicht Vorrang gegenüber dem zweiten Absatz beanspruchen.
15. Die von der Beschwerdeführerin I herangezogenen Entscheidungen T 862/98 und T 1652/08 stützen ihre Auffassung nicht.
16. Der Entscheidung T 862/98 liegt folgender Sachverhalt zugrunde: In einer mündlichen Verhandlung erklärte die Einspruchsabteilung ihre Absicht, das Patent in geänderter Form auf der Grundlage des während der mündlichen Verhandlung mehrfach geänderten Anspruchssatzes des Hilfsantrags aufrechtzuerhalten. Sie forderte den Patentinhaber zur Anpassung der Beschreibung an die geänderten Ansprüche des Hilfsantrags auf und setzte hierzu eine Frist. Der Patentinhaber reichte eine angepasste Beschreibung ein, erklärte im Begleitschreiben allerdings, die von der Einspruchsabteilung in der mündlichen Verhandlung verlangte Klarstellung des Begriffs "receptacle" (Behältnis) als "mixing cell" (Mischzelle) nicht vorgenommen zu haben. Der Einsprechende widersprach der geänderten Beschreibung und erhob Einwände gemäß Artikel 84 EPÜ. In einer Mitteilung forderte die Einspruchsabteilung den Patentinhaber auf, innerhalb einer Frist von zwei Monaten weitere Änderungen an der Beschreibung vorzunehmen, da das Patent andernfalls widerrufen würde. Da der Patentinhaber auf diese Mitteilung nicht reagierte, wurde das Patent schließlich widerrufen. Der Widerruf wurde damit begründet, dass die geänderten Ansprüche des Hilfsantrags und die daran angepasste Beschreibung inkonsistent seien und daher zu einer Unklarheit über den Schutzbereich führen würden. Nach der mündlichen Verhandlung wurde allerdings das zweite Mitglied der Einspruchsabteilung ersetzt. Das neue Mitglied unterzeichnete dann die schriftlich begründete Entscheidung über den Widerruf.
17. Die Beschwerdeführerin I stützte sich auf die Nr. 2.1.3, 2.3.1 sowie 2.3.2 der Gründe der Entscheidung T 862/98, aus denen ihrer Auffassung nach hervorgeht, dass für den Fall einer mündlich verkündeten Zwischenentscheidung entschieden worden sei, dass eine danach vorgenommene Änderung in der Besetzung prinzipiell einen wesentlichen Verfahrensfehler darstelle, der zur Ungültigkeit der Entscheidung führe. Dies sei in der Entscheidung T 862/98 in Bestätigung der Entscheidung T 243/87 damit begründet, dass nicht garantiert sei, dass die später verfasste begründete Entscheidung die Ansichten aller drei Mitglieder, die an der mündlichen Verhandlung teilgenommen haben, korrekt wiedergebe. Ein Wechsel in der Zusammensetzung berge im Gegenteil ein erhebliches Risiko der Beeinflussung der endgültigen schriftlichen Entscheidung durch das neue Mitglied, obschon dieses keine Kenntnis habe, was in der mündlichen Verhandlung vorgetragen worden sei. Im zweiten Absatz von Nr. 2.3.2 würden sodann die Grundsätze der Einheitlichkeit und Unmittelbarkeit der mündlichen Verhandlung anerkannt und eine Änderung in der Zusammensetzung generell als Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör gesehen.
18. Wie die Beschwerdeführerinnen II und III zutreffend ausgeführt haben, liegt der Entscheidung T 862/98 eine gänzlich andere Sachlage zugrunde als im vorliegenden Beschwerdeverfahren. Denn schon im Ausgangspunkt war nicht klar, ob die Einspruchsabteilung in der mündlichen Verhandlung lediglich den Hauptantrag für nicht gewährbar einschätzte und ihre Absicht zum Ausdruck brachte, das Patent auf der Grundlage des geänderten Hilfsantrags aufrechtzuerhalten, sobald eine an die Ansprüche angepasste Beschreibung vorliegt (Nr. 2.1.3, "Verfahrensvariante (i)"), oder ob die Einspruchsabteilung bereits eine mündliche Entscheidung zur Zurückweisung des Hauptantrags und zur Aufrechterhaltung des Patents auf der Grundlage der geänderten Ansprüche gemäß dem Hilfsantrag getroffen hatte, ohne dass eine geänderte Beschreibung vorlag (Nr. 2.1.3, "Verfahrensvariante (ii)"). Jedenfalls wurde das Einspruchsverfahren in geänderter Besetzung fortgeführt und endete mit dem Widerruf des Patents. Die schriftliche Entscheidung enthielt dann nur eine Begründung für den Hilfsantrag und war von einem an der mündlichen Verhandlung nicht beteiligten Ersatzmitglied unterzeichnet.
19. Die Entscheidung T 862/98 setzte sich zunächst damit auseinander, wie eine Einspruchsabteilung vorzugehen hatte, um die Zustimmung der Beteiligten zur Fassung, in der ein Patent in geändertem Umfang im Einspruchsverfahren aufrechterhalten werden soll, gemäß Regel 58 (4) und (5) EPÜ 1973 (nunmehr Regel 82 (1) und (2) EPÜ) einzuholen. Die Entscheidung T 862/98 schloss sich hier der Entscheidung T 390/86 (ABl. EPA 1989, 30, Nr. 4 der Gründe) an: Als Alternative zur bloßen Ankündigung einer Entscheidung über die Aufrechterhaltung in geändertem Umfang (Verfahrensvariante (i)), hat eine Einspruchsabteilung die Befugnis, diesbezüglich sogleich eine Entscheidung zu treffen und in der mündlichen Verhandlung zu verkünden, d.h. bevor sie eine Mitteilung nach Regel 58 (4) EPÜ 1973 versendet (Verfahrensvariante (ii)). Die Einspruchsabteilung ist im Falle einer solchen mündlich verkündeten Sachentscheidung nicht befugt, die Prüfung des Einspruchs in Bezug auf Fragen fortzusetzen, die Gegenstand der mündlichen verkündeten Entscheidung sind, auch nicht im Rahmen des Verfahrens gemäß Regel 58(4) EPÜ 1973 (siehe T 862/98 Nr. 2.1.4 der Gründe). Aus diesen Erwägungen geht unzweideutig hervor, dass eine Entscheidung der Einspruchsabteilung über Ansprüche, auf deren Grundlage ein Patent in geändertem Umfang aufrechterhalten werden kann, das Einspruchsverfahren in der Sache abschließt. Wiewohl eine solche Sachentscheidung als "Zwischenentscheidung" ergeht (siehe T 862/98, Nr. 2.2.1 der Gründe), handelt es sich nicht um eine Zwischenentscheidung im Sinn von Artikel 8 (2) VOBK. Dies ist für das weitere Verständnis der Diskussion der Verfahrensvarianten (i) und (ii) in der T 862/98 zentral.
20. Was den Ersatz eines Mitglieds der Einspruchsabteilung nach Verkündung einer Entscheidung in der mündlichen Verhandlung und die Beteiligung des Ersatzmitglieds an der schriftlichen Entscheidung anbelangt (d.h. betreffend die Verfahrensvariante (ii)), bestätigt die Entscheidung T 862/98 zunächst die in den Entscheidungen T 390/86 (ABl. EPA 1989, 30, Leitsätze 4a) und 4b)) und T 243/87 (Nr. 3 der Gründe) entwickelten Grundsätze (siehe T 862/98 Nr. 2.3.1 der Gründe): Die schriftliche Begründung einer in einer mündlichen Verhandlung verkündeten Entscheidung kann nur von den Mitgliedern des Spruchkörpers unterzeichnet sein, die an der mündlichen Verhandlung teilgenommen haben. Hat die Einspruchsabteilung in der mündlichen Verhandlung eine Entscheidung getroffen, und ist die spätere schriftliche Begründung dieser mündlichen Entscheidung von Personen unterzeichnet, die nicht zur Besetzung der Einspruchsabteilung in der mündlichen Verhandlung gehörten, so stellt dies einen wesentlichen Verfahrensfehler dar. Dies gilt selbst dann, wenn nur ein Mitglied des Spruchkörpers nach der mündlichen Verhandlung ersetzt wurde, und das neue Mitglied die schriftliche Begründung der getroffenen Entscheidung unterzeichnet. Diese Rechtsprechung steht mit Artikel 8 (3) VOBK im Einklang. Eine solche Sachlage steht aber vorliegend gerade nicht zur Entscheidung (siehe oben Nr. 7.).
21. Die Entscheidung T 862/98 (Nr. 2.3.2 der Gründe) befasst sich sodann mit der Verfahrensvariante (i), falls also in der mündlichen Verhandlung noch keine Entscheidung getroffen, sondern eine solche nur in Aussicht gestellt und das Verfahren ohne Verkündung einer Entscheidung fortgesetzt wurde. Die Entscheidung T 862/98 verweist in diesem Zusammenhang darauf, dass eine mündliche Verhandlung eine wesentliche Ausprägung des Anspruchs auf rechtliches Gehör nach Artikel 113 (1) EPÜ darstellt, und kommt zum Schluss, dass auch bei der Verfahrensvariante (i) alle für die abschließende Entscheidung relevanten Feststellungen in der mündlichen Verhandlung in Anwesenheit und unter Beteiligung der Mitglieder getroffen werden sollen, welche die Entscheidung erlassen. Die Beschwerdeführerin I scheint dies als Bestätigung des Grundsatzes der Unmittelbarkeit und Einheitlichkeit mündlicher Verhandlungen vor dem EPA zu verstehen. Dies auch in Zusammenschau mit dem Leitsatz der Entscheidung T 862/98. Wie oben dargelegt, befasst sich die Entscheidung T 862/98 aber nicht mit Zwischenentscheidungen im Sinne von Artikel 8 (2) VOBK, sondern mit Verfahrenssituationen, die denjenigen von Artikel 8 (1) und (3) VOBK entsprechen, d.h. mit dem Ersatz eines Mitglieds der Einspruchsabteilung nach einer mündlichen Verhandlung, in der aber noch keine Entscheidung getroffen wurde (Verfahrenssituation (i)), oder nach Verkündung einer Entscheidung in der mündlichen Verhandlung, aber vor der schriftlichen Begründung dieser Entscheidung (Verfahrenssituation (ii)). Für das Verständnis der T 862/98 ist wie erwähnt wesentlich, dass die Entscheidung bei beiden Verfahrensvarianten (i) und (ii) eine abschließende Sachentscheidung ist, die schriftlich von denjenigen Mitgliedern begründet werden muss, die an der mündlichen Verhandlung teilgenommen haben, die zur Entscheidung geführt hat. Die Entscheidung T 862/98 hatte also nicht eine Situation zum Gegenstand, in der in einer mündlichen Verhandlung eine Entscheidung über bestimmte Gegenstände getroffen und verkündet wurde, über andere hingegen nicht. Die in den Nr. 2.3.1 und 2.3.2 dargelegte Rechtsauffassung der Entscheidung T 862/98 kann daher nicht losgelöst von dem beurteilten Sachverhalt interpretiert und als Ausschluss von Teilentscheidungen in jeweils unterschiedlicher Besetzung gelesen werden, wie dies die Beschwerdeführerin I tut. Dies gilt auch für den Leitsatz. Soweit eine Parallele zu den in Artikel 8 (1) und (3) VOBK behandelten Verfahrenssituationen besteht, kann die Kammer der Entscheidung T 862/98 nichts entnehmen, was ihrer Auslegung von Artikel 8 (2) VOBK widersprechen würde.
22. Die Entscheidung T 1652/08 befasst sich mit einer Änderung der Besetzung der Einspruchsabteilung vor Durchführung einer mündlichen Verhandlung (aber nach Versand der vorläufigen Meinung zum Einspruch) und erörtert dabei auch die Entscheidung T 862/98. Die Beschwerdeführerin I sieht darin nicht nur eine Bestätigung der Entscheidung T 862/98, sondern auch ihrer Interpretation dieser Entscheidung dahingehend, dass die Entscheidung T 862/98 einen Wechsel in der Besetzung eines Spruchkörpers nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung generell und uneingeschränkt ausschließen würde. Die Kammer kann dem aus den zur Entscheidung T 862/98 gegebenen Gründen nicht folgen. Die Kammer verkennt nicht, dass die Entscheidung T 1652/08 feststellt, dass kein Risiko einer Beeinflussung der Entscheidung durch ein, an der mündlichen Verhandlung nicht beteiligtes Mitglied bestehe, wenn die Besetzung der Einspruchsabteilung zwischen der mündlichen Verhandlung und dem Abschluss des Verfahrens nicht geändert würde. Doch hebt die Entscheidung T 1652/08 den Unterschied zu der in der Entscheidung T 862/98 beurteilten Sachlage hervor, die abschließende Sachentscheidungen unter Beteiligung eines nach der mündlichen Verhandlung eingesetzten Ersatzmitglieds betrifft. Für die Anwendung von Artikel 8 (2) VOBK lässt sich diesen Entscheidungen nichts entnehmen.
23. Aus vorstehend genannten Gründen gelangte die Kammer zur Auffassung, dass sie an die Zwischenentscheidung vom 17. Februar 2023 gebunden war und die Parteien auch nicht zu den darin entschiedenen Punkten hören würde, da sie diese Punkte nicht erneut anderweitig entscheiden konnte. Demzufolge gab sie nach Anhörung der Parteien zum Einwand gemäß Regel 106 EPÜ dem Antrag der Beschwerdeführerin I auf vollumfängliche Neuverhandlung vor der Kammer in ihrer neuen Zusammensetzung nicht statt.
Einwand gemäß Regel 106 EPÜ vom 27. Februar 2024
24. In ihrem Einwand gemäß Regel 106 EPÜ machte die Beschwerdeführerin I eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör geltend. Die Kammer habe es unterlassen, die Parteien gemäß Artikel 8 (1) VOBK darüber zu unterrichten, dass auf Antrag eine erneute mündliche Verhandlung vor der Kammer in ihrer neuen Zusammensetzung stattfinde. Auch dem expliziten schriftlichen Antrag auf eine mündliche Verhandlung de novo vor der Kammer in der geänderten Besetzung sei nicht stattgegeben worden. Der Beschwerdeführerin I sei damit keine Möglichkeit gegeben worden, zu den während der mündlichen Verhandlung vom 13. Januar 2023 verhandelten Gegenständen vor der Kammer in ihrer geänderten Zusammensetzung vorzutragen. Dies sei eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör nach Artikel 113 (1) EPÜ.
25. Der auf Artikel 112a (2) c) EPÜ gestützte Einwand gemäß Regel 106 EPÜ ist unbegründet. Die Argumentation der Beschwerdeführerin I setzt die Unmittelbarkeit und Einheitlichkeit mündlicher Verhandlungen vor dem EPA in einer Art und Weise voraus, die weder das EPÜ noch die VOBK, namentlich auch nicht deren Artikel 8 (1), statuieren. Wie oben dargelegt wurde, ergeben sich solche Grundsätze auch nicht aus der Rechtsprechung. Vielmehr gestattet Artikel 8 (2) VOBK den Kammern im Falle einer Änderung der Zusammensetzung einer Kammer nach einer mündlichen Verhandlung und nach bereits getroffenen Zwischenentscheidungen über Teile der Beschwerde, über verbleibende Gegenstände der Beschwerde in einem weiteren Verhandlungstermin in geänderter Besetzung zu entscheiden. Dies ist allerdings nur insoweit statthaft, als an den jeweiligen Zwischenentscheidungen und ihrer schriftlichen Begründung nur diejenigen Mitglieder beteiligt sind, die an der mündlichen Verhandlung, in der die jeweils entschiedenen Gegenstände erörtert wurden, teilgenommen haben (vgl. T 699/99; siehe auch T 152/95 vom 3. Juli 1996 und vom 20. März 1997). Im Falle bereits getroffener Zwischenentscheidungen wäre es irreführend, und mit Blick auf die in Artikel 8 (2) VOBK anerkannte Bindungswirkung einer getroffenen Zwischenentscheidung auch eine Verfahrensverletzung, die Parteien nach Artikel 8 (1) VOBK davon zu unterrichten, dass auf Antrag eine erneute mündliche Verhandlung vor der Kammer in ihrer neuen Zusammensetzung stattfinde. Denn die Kammer in ihrer geänderten Besetzung kann die zuvor in anderer Besetzung getroffenen Zwischenentscheidungen nicht aufheben. Davon abgesehen wurden die Parteien im vorliegenden Fall in einer Mitteilung vom 8. Mai 2023 auf den Wechsel der Zusammensetzung der Kammer aufmerksam gemacht, so dass es der Beschwerdeführerin I möglich war, mit Eingabe vom 21. Juni 2023 einen Antrag auf eine Verhandlung de novo zu stellen.
26. Die Beschwerdeführerin I hat im Übrigen nicht geltend gemacht, dass die in der Zwischenentscheidung vom 17. Februar 2023 begründeten Entscheidungen über Sach- und Rechtsfragen nicht in der mündlichen Verhandlung am 13. Januar 2023 erörtert und entschieden wurden. Sie hat auch nicht behauptet, zu den entschiedenen Gegenständen am 13. Januar 2023 nicht gehört worden zu sein. Es ist weiterhin von der Beschwerdeführerin I nie in Frage gestellt worden, dass die an der mündlichen Verhandlung vom 13. Januar 2023 und an der Zwischenentscheidung vom 17. Februar 2023 beteiligten Mitglieder dieselben sind. Daher war das rechtliche Gehör der Beschwerdeführerin I in Bezug auf die in der Zwischenentscheidung vom 17. Februar 2023 entschiedenen und schriftlich begründeten Gegenstände gewahrt.
27. Aus den vorstehenden Gründen konnte die Kammer keine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör erkennen und wies den Einwand nach Regel 106 EPÜ zurück.
Hilfsantrag 2
Berücksichtigung im Beschwerdeverfahren - Artikel 12 (4) VOBK 2007
28. Die Beschwerdeführerinnen II und III beantragten die Nichtzulassung des Hilfsantrags 2, der mit der Beschwerdeerwiderung als Hilfsantrag 7 eingereicht worden war. Nach Diskussion und Beratung über diesen Antrag auf Nichtzulassung, entschied die Kammer in der mündlichen Verhandlung, diesen Hilfsantrag im Beschwerdeverfahren gemäß Artikel 12 (4) VOBK 2007 zu berücksichtigen. In Anbetracht des Ausgangs des Verfahrens erübrigt sich aber eine Begründung dieser Zulassungsentscheidung.
Erfinderische Tätigkeit (Artikel 56 EPÜ) - Anspruch 1
29. In ihrer Zwischenentscheidung T 956/19 vom 17. Februar 2023 (siehe Punkte 60. und 61.) befand die Kammer, dass der Gegenstand des Anspruchs 1 des Hilfsantrags 1 gegenüber dem Dokument D35 nicht neu sei, weil es die gleichzeitige, getrennte oder zeitlich abgestufte Anwendung mindestens eines anspruchsgemäßen immunstimulatorischen bzw. immuntherapeutischen Antikörpers (1. Bestandteil) und mindestens eines anspruchsgemäßen Glukokortikoids (2. Bestandteil, als Prämedikation), zur Verminderung der unspezifischen Zytokinfreisetzung bei der Behandlung und/oder Prophylaxe von Krebserkrankungen und Tumorerkrankungen offenbart.
30. Anspruch 1 des 2. Hilfsantrags ist ein zweckgebundener Stoffanspruch gemäß Artikel 54 (5) EPÜ und ist auf eine zweite oder weitere medizinische Verwendung gerichtet (siehe auch Rechtsprechung der Beschwerdekammern des Europäischen Patentamts, 10. Auflage 2022, I.C.7.2.1). Der Stoff ist repräsentiert durch "ein oder mehrere Glukokortikoid(e)" und die medizinische Verwendung durch "Verminderung der unspezifischen Zytokinfreisetzung bei der Behandlung von Krebserkrankungen und Tumorerkrankungen mit einem oder mehreren immunstimulierenden trifunktionellen, bispezifischen Antikörper(n) (trAK)". Die Spezifität des trAK ist im Anspruch weiter definiert.
31. In Punkten 60. und 61. der
Zwischenentscheidung vom 17. Februar 2023 wurde ents
chieden, dass das Dokument D35 einen Gegenstand offenbart, der den Gegenstand des Hilfsantrags 1 neuheitsschädlich vorwegnimmt und folglich alle Merkmale dieses Gegenstands aufweist (siehe Punkt
XVII.
oben
).
32. Zusammengefasst offenbart das Dokument D35
die gleichzeitige, getrennte oder zeitlich abgestufte Anwendung von mindestens einem anspruchsgemäßen Glukokortikoid (Dexamethason) als Prämedikation (siehe Seiten 46 und 48 von D35; Beschwerdebegründung der Beschwerdeführerin II, Punkt 8.2.3, sowie Beschwerdebegründung der Beschwerdeführerin III, Punkt 8.4), zur Verminderung der unspezifischen Zytokinfreisetzung bei der Behandlung und/oder Prophylaxe von Krebserkrankungen und Tumorerkrankungen mit einem immunstimulatorischen bzw. immuntherapeutischen Antikörpers (Removab
, bispezifisch für EpCAM und CD3 und mit einem Fc-Rezeptor, siehe Seite 43 von D35)
33. In Dokument D35 wird zwar von einer
Prämedikation
mit 40 mg
Dexamethason
berichtet (siehe Seite 46, letzter Absatz), der Verabreichungsweg wird allerdings nicht näher präzisiert, obwohl es für den Fachmann eindeutig und unzweifelhaft ist, dass irgendein Weg genutzt werden musste.
34. Der beanspruchte Gegenstand unterscheidet sich somit von dem in Dokument D35 offenbarten (sowie von dem des Anspruchs 1 des 1. Hilfsantrags, siehe Punkt 29.) in der konkreten Definition des Verabreichungsweges ("und wobei das Glukokortikoid intraperitoneal, intravenös, intraarteriell, intramuskulär, intradermal, subkutan, intratumoral oder selektiv in bzw. über ein definiertes Organ verabreicht wird").
35. Die Beschwerdeführerin I hat weder schriftlich noch in der mündlichen Verhandlung vor der Kammer zur erfinderischen Tätigkeit in Bezug auf die spezifischen Unterschiede zwischen dem Gegenstand von Anspruch 1 des Hilfsantrags 2 und dem in Dokument D35 offenbarten Gegenstand vorgetragen. Das heißt, sie hat sich insbesondere nicht dazu geäußert, warum der Verabreichungsweg, der den Unterschied zwischen dem in D35 offenbarten Gegenstand, wie er in der Zwischenentscheidung der Kammer über die Neuheit im vorliegenden Fall dargelegt wurde, und dem Gegenstand von Anspruch 1 des Hilfsantrags 2 darstellt, als erfinderisch anzusehen sei. In der mündlichen Verhandlung vor der Kammer beschränkte sich das Vorbringen der Beschwerdeführerin I zu dieser Frage einzig auf Ausführungen, die voraussetzten, dass der Gegenstand des Dokuments D35 den des Anspruchs 1 des Hilfsantrags 1 nicht vorwegnimmt.
36. Unter Berücksichtigung der Unterschiede zwischen der Offenbarung in Dokument D35 und dem beanspruchten Gegenstand kann die durch den beanspruchten Gegenstand gelöste objektive technische Aufgabe als Bereitstellung eines spezifischen Wegs der Verabreichung des Glukokortikoids in einem Verfahren zur Verminderung der unspezifischen Zytokinfreisetzung bei der Behandlung von Krebserkrankungen und Tumorerkrankungen mit einem oder mehreren immunstimulierenden trifunktionellen, bispezifischen Antikörper(n) formuliert werden.
37. Bei der Beurteilung des Naheliegens ist daher zu entscheiden, ob der Fachmann ausgehend von der Offenbarung in Dokument D35 und konfrontiert mit dieser objektiven technischen Aufgabe einen der im Anspruch definierten Verabreichungswege gewählt hätte.
38. Dies ist zu bejahen. In Paragraph [0021] des Patents heißt es: "Hinsichtlich der Art und Weise der Verabreichung sowohl des immunstimulatorischen Antikörpers als auch des Glukokortikoids bestehen erfindungsgemäß keinerlei Einschränkungen. Daher kann sowohl das Glukokortikoid als auch der Antikörper intraperitoneal, systemisch (intravenös oder intraarteriell), intramuskulär, intradermal, subkutan, intratumoral oder aber auch selektiv in bzw. über ein definiertes Organ verabreicht werden. Selbstverständlich kann das Glukokortikoid insbesondere auch oral oder, in Form einer Salbe, eines Gels oder einer anderen geeigneten Darreichungsform auch auf die Haut aufgetragen werden. Als Beispiel einer selektiven Applikation in ein oder über ein Organ kann die Verabreichung über das Knochenmark (als immunologisches Organ) oder über einen superselektiven Katheter in eine das jeweilige Organ versorgendes Gefäß (Arterie) genannt werden". Daraus ist ersichtlich, dass die definierten Verabreichungswege, die im Grunde alle gängigen Verabreichungswege repräsentieren, nichts anderes sind als die, die der Fachmann routinemäßig verwendet hätte.
39. Aus diesen Erwägungen kommt die Kammer zu dem Schluss, dass der beanspruchte Gegenstand für den Fachmann zum maßgeblichen Zeitpunkt naheliegend gewesen wäre. Der Gegenstand des Anspruchs 1 des Hilfsantrags 2 beruht daher nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit im Sinne von Artikel 56 EPÜ.
40. Eine Entscheidung über die Zulassung bestimmter Argumentationslinien, siehe Niederschrift der mündlichen Verhandlung vor der Kammer vom 27. Februar und 28. Februar 2024, Seiten 9 bis 11, erübrigt sich, da diese Argumentationslinien in der vorgebrachten Form nicht entscheidungsrelevant sind.
Res judicata
41. Die Beschwerdeführerin I vertrat unter Hinweis auf die Entscheidung T 167/93 (ABl EPA 1997, 229, Nr. 2.5 d) der Gründe) die Ansicht, dass das Prinzip der Bindungswirkung bzw. der res judicata gleiche Tatsachen voraussetze und daher auf die Feststellungen in der Zwischenentscheidung vom 17. Februar 2023 begrenzt sei. Diese beträfen konkret die Neuheit und nicht die erfinderische Tätigkeit, sowie den Gegenstand des Hilfsantrags 1 und nicht denjenigen des Hilfsantrags 2. Die ratio decidendi erstrecke sich nur auf die Zulassung von verspätetem Vorbringen und beinhalte keine Entscheidung in der Sache. Die Beschwerdeführerin I verwies diesbezüglich auf die Punkte 52 und 53 der Zwischenentscheidung vom 17. Februar 2023. Die Kammer wende daher das Prinzip der res judicata falsch an, wenn sie sich bei der Beurteilung des Hilfsantrags 2 an Feststellungen der Zwischenentscheidung vom 17. Februar 2023 zum Hilfsantrag 1 gebunden sehe.
42. Die Kammer folgt der Ansicht der Beschwerdeführerin I zum Umfang der Bindungswirkung nicht. Eine Bindung besteht nämlich nicht lediglich in Bezug auf das Ergebnis der Beurteilung einzelner Anträge, sondern auch in Bezug auf alle Tatsachenfeststellungen, die zu dieser Entscheidung geführt haben (vgl. auch T 843/91, ABl. EPA 1994, 832, Leitsatz und Nr. 3.4.1 und 3.4.2 der Gründe; T 1063/92, Nr. 2.5 der Gründe; T 153/93, Nr. 2 und 3 der Gründe). Neue Tatsachen, Beweismittel oder Argumente, die darauf abzielen, festgestellte Sachverhalte in Frage zu stellen, können nicht berücksichtigt werden (vgl. auch T 308/14, Nr. 1.2 und 1.3 der Gründe). Die Bindungswirkung erstreckt sich darüber hinaus auch auf die ratio decidendi (vgl. auch T 817/00, Nr. 3.2 der Gründe).
43. Die Zwischenentscheidung vom 17. Februar 2023 enthält in Punkt 60 und 61 folgende Entscheidung zur Frage der Neuheit:
"60. In der Mitteilung gemäß Artikel 15(1) VOBK wurde angeführt, dass Dokument D35 die gleichzeitige, getrennte oder zeitlich abgestufte Anwendung mindestens eines anspruchsgemäßen immunstimulatorischen bzw. immuntherapeutischen Antikörpers (1. Bestandteil) und mindestens eines anspruchsgemäßen Glukokortikoid (Prednisolon) (2. Bestandteil, als Prämedikation), zur Verminderung der unspezifischen Zytokinfreisetzung bei der Behandlung und/oder Prophylaxe von Krebserkrankungen und Tumorerkrankungen offenbart. Dies blieb im schriftlichen Verfahren unwidersprochen. Das verspätete Vorbringen der Beschwerdeführerin I kann nicht berücksichtigt werde, siehe Punkt 58. Daher gibt es keine Gründe für die Kammer zu einem anderen Ergebnis als in der Mittelung gemäß Artikel 15(1) VOBK vom 24. August 2022 zu kommen.
61. Folglich ist der Gegenstand des Anspruchs 1 des Hilfsantrags 1 nicht neu im Sinne von Artikel 54 EPÜ. Dementsprechend kann das Patent nicht auf Grund des von der Einspruchsabteilung als gewährbar erachteten Antrags aufrechterhalten werden."
44. Entgegen der Auffassung der Beschwerdeführerin I wurde in Bezug auf den Hilfsantrag 1 nicht bloß eine verfahrensrechtliche Entscheidung über die Zulassung geänderten Vorbringens der Beschwerdeführerin I getroffen. Vielmehr erging auch eine Sachentscheidung zum Einwand der mangelnden Neuheit gegenüber dem Dokument D35, die auch die tatsächliche Feststellung beinhaltet, dass das Dokument D35 einen Gegenstand offenbart, der den Gegenstand des Anspruchs 1 des Hilfsantrags 1 neuheitsschädlich vorwegnimmt und folglich alle Merkmale dieses Gegenstands aufweist. Diese Feststellung, dass das Dokument D35 einen Gegenstand offenbart, der mit dem Gegenstand des Anspruch 1 des Hilfsantrags 1 übereinstimmt, also alle beanspruchten Merkmale offenbart, ist unabänderbar und kann bei der Beurteilung der Hilfsanträge 2 bis 13 nicht mehr in Frage gestellt werden. Argumente und Beweismittel, die darauf abzielen, diesen Sachverhalt durch die Kammer in ihrer geänderten Besetzung erneut beurteilen zu lassen, können infolge der Bindungswirkung, die gemäß Artikel 8 (2) VOBK auch für das Ersatzmitglied gilt, nicht berücksichtigt werden.
Neuheit gegenüber D35 - Einwand gemäß Regel 106 EPÜ vom 28. Februar 2024
45. Die Beschwerdeführerin I stellte sich auf den Standpunkt, keine Gelegenheit erhalten zu haben, sich zur Neuheit des Gegenstands von Hilfsantrag 2 gegenüber D35 zu äußern. Die Beschwerdeführerin I habe sich auch zu den Unterschieden des Gegenstands von Hilfsantrag 2 gegenüber D35 nicht äußern können. Zwecks Wahrung ihres Anspruchs auf rechtliches Gehör beantragte die Beschwerdeführerin I in der mündlichen Verhandlung, dass die Neuheit des Gegenstands des Hilfsantrags 2 gegenüber D35 zu diskutieren sei.
46. Die Darstellung des Verfahrensablaufs der Beschwerdeführerin I entspricht nach Ansicht der Kammer nicht dem Verlauf der mündlichen Verhandlung und das Vorbringen ist für die Kammer nicht nachvollziehbar. Den Parteien wurde Gelegenheit gegeben, zum Einwand der mangelnden erfinderischen Tätigkeit ausgehend von Dokument D35 Stellung zu nehmen. Die Vorsitzende hatte die Erörterung der erfinderischen Tätigkeit in Anbetracht des auf das Dokument D35 gestützten Neuheitseinwands der Beschwerdeführerin II mit der Prämisse eingeleitet, dass zumindest die Verabreichungsart ein Unterscheidungsmerkmal sei. Damit wurde die Neuheit des Gegenstands des Hilfsantrags 2 gegenüber der Offenbarung des Dokuments D35, mithin also dahingehend, dass jedenfalls dieses Merkmal einen Unterschied zu begründen vermöge, zugunsten der Beschwerdeführerin I anerkannt. Die Möglichkeit eines Vortrags zu den Unterscheidungsmerkmalen, insbesondere zu etwaigen weiteren Unterschieden, wurde seitens der Kammer in keiner Weise eingeschränkt. Die Beschwerdeführerin I hatte daher die Gelegenheit und mit Blick auf die Obliegenheit zum vollständigen Sachvortrag zudem die Veranlassung, ohne ausdrückliche Aufforderung der Kammer, die aus ihrer Sicht bestehenden Unterscheidungsmerkmale zu diesem Zeitpunkt im Verfahren namhaft zu machen und dazu vorzutragen. Ein etwaiges Säumnis in dieser Hinsicht hätte die Beschwerdeführerin I daher selbst zu verantworten. Allerdings machte sie von der Möglichkeit, zu Unterscheidungsmerkmalen vorzutragen, zu diesem Zeitpunkt des Verfahrens auch Gebrauch, indem sie den therapeutischen Effekt als Unterscheidungsmerkmal gegenüber dem Dokument D35 im Rahmen der erfinderischen Tätigkeit geltend machte. Insbesondere trug sie u.a. vor, dass Dokument D35 wie auch der gesamte Stand der Technik keinen Unterschied zwischen gewünschter spezifischer und unerwünschter unspezifischer Zytokinausschüttung mache. Auch eine Antitumor-Aktivität durch Removab bei Prämedikation mit Dexamethason habe in D35 nicht nachgewiesen werden können (vgl. Seite 8 bis 11 der Niederschrift über die mündliche Verhandlung am 27. und 28. Februar 2024 vor der Kammer).
47. Die Ansicht der Beschwerdeführerin I, keine Gelegenheit zur Äußerung zu den Unterscheidungsmerkmalen gegenüber der D35 gehabt zu haben, ist mit den Fakten nicht vereinbar. Eine gesonderte Diskussion der Neuheit gegenüber der Offenbarung des Dokuments D35 war nicht zielführend, da seitens der Kammer bereits zumindest ein Unterscheidungsmerkmal des beanspruchten Gegenstands gegenüber dem Stand der Technik, der für die Diskussion der erfinderischen Tätigkeit heranzuziehen war, anerkannt worden war. Das Insistieren auf eine solche Diskussion seitens der Beschwerdeführerin I war daher mit einer getreuen Verfahrensführung unvereinbar.
48. Aus vorstehenden Gründen lehnte die Kammer den Antrag der Beschwerdeführerin I, zur Neuheit des Gegenstands des Hilfsantrags 2 gegenüber Dokument D35 gehört zu werden, ab.
Hilfsanträge 3-9 und 11-13
49. Die Beschwerdeführerin I hat sich weder im schriftlichen Verfahren noch in der mündlichen Verhandlung gesondert zur erfinderischen Tätigkeit unter Bezugnahme auf technische Merkmale der Ansprüche dieser Hilfsanträge geäußert. Vielmehr stützte sie sich auf ihr Vorbringen in Bezug auf Hilfsantrag 2. Die Kammer konnte dies nur dahingehend verstehen, dass die Beschwerdeführerin I der Ansicht war, dass der Gegenstand jedes dieser Hilfsanträge aus denselben Gründen wie Hilfsantrag 2 auf einer erfinderischen Tätigkeit beruhe.
50. Daraus folgt, dass die in Bezug auf Hilfsantrag 2 getroffene Feststellung des Fehlens einer erfinderischen Tätigkeit für den Gegenstand des Anspruchs 1 jedes der Hilfsanträge 3-9 und 11-13 gleichermaßen gilt.
51. In der mündlichen Verhandlung gab die Kammer ihre Auffassung bekannt, dass die Hilfsanträge 3 bis 7 aus denselben Gründen wie der in der Zwischenentscheidung vom 17. Februar 2023 behandelte Hilfsantrag 1 keine Neuheit gegenüber der Offenbarung des Dokuments D35 aufweisen (siehe Seite 11 der Niederschrift über die mündliche Verhandlung am 27. und 28. Februar 2024 vor der Kammer). In Anbetracht der Entscheidung der Kammer über die erfinderische Tätigkeit des Gegenstands des Anspruchs 1 der Hilfsanträge 3 bis 11 bedarf es hier keiner gesonderten Begründung zur Neuheit des Gegenstands der Hilfsanträge 3 bis 7.
Hilfsantrag 10 - Anspruch 1
Klarheit (Artikel 84 EPÜ)
52. Anspruch 1 wurde u. a. durch Hinzufügung des Merkmals "wobei die gegen das Tumorantigen gerichtete Wirkung des/der immunstimulierenden trifunktionellen, bispezifischen Antikörper(s) nicht beeinträchtigt wird" geändert, das in den erteilten Ansprüchen nicht vorhanden war. Gegen den geänderten Anspruch wurde seitens der Beschwerdeführerinnen II und III u.a. ein Einwand wegen mangelnder Klarheit erhoben.
53. Der Anspruch kann wegen mangelnder Klarheit nach Artikel 84 EPÜ beanstandet werden, obwohl Klarheit kein Einspruchsgrund ist, da dieses Merkmal in den erteilten Ansprüchen nicht enthalten war.
54. Die Kammer stimmt mit der Beschwerdeführerin II darin überein, dass die oben zitierte Formulierung nicht eindeutig ist, da die im geänderten Anspruch erwähnte "Wirkung" nicht definiert ist und die möglichen Wirkungen vielfältig sind. Der Wortlaut des Anspruchs versetzt den Fachmann somit nicht in die Lage, den Gegenstand zu erkennen, für den Schutz begehrt wird.
55. Hilfsantrag 10 ist somit nicht gewährbar.
56. In Anbetracht der obigen Erwägungen ist kein Antrag gewährbar.
Entscheidungsformel
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.
2. Das Patent wird widerrufen.