G 0001/84 (Einspruch des Patentinhabers) of 24.7.1985

European Case Law Identifier: ECLI:EP:BA:1985:G000184.19850724
Datum der Entscheidung: 24 Juli 1985
Aktenzeichen: G 0001/84
Vorlageentscheidung: T 0130/84
Anmeldenummer: 79301343.4
IPC-Klasse: C07C
Verfahrenssprache: EN
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Fassungen: OJ
Bezeichnung der Anmeldung: -
Name des Anmelders: Mobil Oil
Name des Einsprechenden: -
Kammer: EBA
Leitsatz: Ein Einspruch gegen ein europäisches Patent ist nicht allein deshalb unzulässig, weil er vom Inhaber des Patents eingelegt worden ist.
Relevante Rechtsnormen:
European Patent Convention 1973 Art 99(1)
European Patent Convention 1973 Art 115(1)
Schlagwörter: Einspruch des Patentinhabers
Orientierungssatz:

-

Angeführte Entscheidungen:
T 0010/82
Anführungen in anderen Entscheidungen:
G 0009/93
G 0003/97
G 0004/97
G 0002/06
G 0003/14
J 0014/95
J 0015/95
J 0016/95
J 0017/95
J 0024/95
J 0025/95
T 0279/88
T 0049/89
T 0065/89
T 0324/89
T 0457/89
T 0556/89
T 0788/90
T 0025/91
T 0126/91
T 0220/91
T 0506/91
T 0548/91
T 0716/91
T 0925/91
T 0617/92
T 0649/92
T 0234/93
T 0590/93
T 0798/93
T 0233/94
T 0977/94
T 0301/95
T 0610/95
T 0792/95
T 0064/97
T 0223/97
T 1149/97
T 0417/98
T 0564/99
T 0724/99
T 0500/00
T 0339/01
T 0181/02
T 1108/02
T 1138/02
T 0482/05
T 1118/05
T 1459/05
T 0079/07
T 0993/07
T 1259/09
T 2542/10
T 0293/11
T 0488/12
T 1272/12
T 1505/13
T 2063/15
T 2172/17
T 1137/18
T 2360/19

Zusammenfassung des Verfahrens

I. Bei der Prüfung einer Beschwerde gegen eine Entscheidung der Einspruchsabteilung (Formalprüfungsstelle), die einen vom Inhaber des betreffenden Patents eingelegten Einspruch aufgrund der Regel 56 (1) EPÜ für nicht zulässig befunden hatte, hat die Technische Beschwerdekammer für Chemie mit ihrer Entscheidung vom 3. September 1984 der Grossen Beschwerdekammer gemäss Artikel 112 EPÜ folgende Rechtsfrage vorgelegt: Darf der Inhaber eines europäischen Patents Einspruch gegen sein eigenes Patent einlegen?

II. Auf eine Nachfrage der Grossen Besschwerdekammer erklärte der Vertreter der Beschwerdeführerin, er wünsche, dass die von ihm in der Beschwerdebegründung vom 26. Juli 1984 vor der Technischen Beschwerdekammer dargelegten Argumente auch von der Grossen Beschwerdekammer in Betracht gezogen werden. Diesem wunsch wurde entsprochen. Die Kammer gelangte nach eingehender Prüfung der Sachlage zu der Schlussfolgerung, dass es nicht erforderlich sei, den Vertreter der Beschwerdedeführerin um weitere Ausführungen zu ersuchen.

Entscheidungsgründe

Allgemeiner Hintergrund zur vorgelegten Rechtsfrage

1. Die Kammer hat zunächst eingehend gesprüft, in welchem Zusammenhang sich die ihr vorgelegte Rechtsfrage stellen kann, ohne dabei auf die besonderen Umstände des Falles einzugehen, die zur Befassung der Kammer geführt haben.

Nach Ansicht der Kammer ist festzustellen: Der europäische Patentanmelder har zwar mehrfach Gelegenheit, die Prüfungsabteilung zu bitten, einer Änderung seiner Anmeldung zuzustimmen, wenn diese die Rechtsgültigkeit beinträchtigende Mängel aufweist, die ihm erst in einem fortgeschrittenen Stadium des Prüfungsverfahrens zur Kenntnis gelangen; von einem bestimmten Zeitpunkt an sind jedoch keine weiteren Änderungen mehr möglich, damit das Erteilungsverfahren zum Abschluss gebracht werden kann. Stellt der Patentinhaber nach Ergehen der Entscheidung über die Erteilung des Patents, aber noch vor deren Wirksamwerden oder innerhalb der neunmonatigen Einspruchsfrist erstmalig fest, dass Mängel vorliegen, die die Rechtsgültigkeit des Patents in Frage stellen und eine umgehende Änderung des Patents erforderlich machen, so befindet er sich in einer schwierigen Lage.

Führt ein Dritter durch Einlegen eines zulässigen Einspruchs die Mängel in das Einspruchsverfahren ein, so kann der Patentinhaber eine Änderung seines Patent im Einspruchsverfahren beantragen. Liegen dem Einspruch andere Einwände zugrunde, so kann die Einspruchsabteilung oder eine Technische Beschwerdekammerdie Mängel im Verlauf des Einspruchsverfahrens von sich aus beanstanden. Es ist aber keinewegs sicher, dass sich überhaupt eine Gelegenheitzur Änderung ergibt, es sei denn, der Patentinhaber kann einen Dritten zur Einlegung eines zulässigen Einspruchs bewegen oder legt diesen Einspruch selbst ein.

2. Ein Patentinhaber, der selbst nicht Einspruch einlegen darf,dürfte wohl kaum bereit sein, einen Dritten zum Einlegen eines Einspruchs zu veranlassen, wenn ihn mit diesem nicht eine enge, zuverlässige Freundschaft verbindet. Ihm bleibe als Ausweg praktisch nur der uralte juristiche Kunstgriff, als Einsprechenden einen "Strohmann" vorzuschieben. Damit aber würde das Verfahren zur Farce, denn der "Strohmann" wäre in diesem Fall kein echter Dritter, sondern nur eine Marionette des Patentinhabers. Wenn das Europäische Patentamt und die Öffentlichkeit die wahre Beziehung zwischen dem Patentinhaber und seinem strohmann nicht erkennen, besteht die Möglichkeit einer Irreführung und eines Missbrauch des Einspruchsverfahrens zu anderen Zwecken, z.B. der Erwirkung eines Verfahrensaufschubs vor einem anderen Gericht.

Im vorliegenden Fall braucht die Kammer nicht auf die Frage einzugehen, ob ein von einem "Strohmann" eingelegter Einspruch überhaupt zulässig ist. Es sei nur soviel gesagt, dass die Kammer keine Veranlassung sieht, die Richtigkeit der Entscheidung in der Sache T 10/82 "Einspruch; Zulässigkeit/BAYER" (ABI. EPA 10/1983, 407) anzuzweifeln, in der festgestellt worden ist, dass ein zugelassener Vertreter nicht berechtigt ist, sich selbst als Einsprechenden auszugeben, wenn er für einen Auftraggeber handelt.

3. Das Problem stellt sich in Fällen wie dem vorliegenden aus folgenden Gründen:

1) Anders als das noch nicht in Kraft getretene Übereinkommen über das europäische Patent für den Gemeinsammen Markt (GPÜ) (vgl. Art. 52 GPÜ) enthält das EPÜ keine Bestimmung, die es dem Inhaber eines europäischen Patents erlaubt, eine Beschränkung seines Patents in Form einer Änderung der Patentansprüche, der Beschreibung oder der Zeichnungen beim Europäischen Patentamt schriftlich zu beantragen.

2) Wenn nur aber eine Beschränkung auch im Einspruchsverfahren nicht möglich ist, bleibt der Inhaber eines europäischen Patents auf die Beschränkungsmöglichkeiten augewiesen, die ihm das nationale Recht in den benannten Staaten bietet, sei es in eigens dazubestimmten Verfahren oder auch in nationalen Nichtigkeits- oder Verletzungsverfahren. Die unvermeidlichen Folgen wären Rechtsunsicherheit, Zeitverlust und zusätzliche Kosten.

3) Auch beim Gemeinschaftspatent müsste das Beschränkungsverfahren für die dauer das Nichtigkeitsverfahrens ausgesetz werden (Art. 52 (5) GPÜ).

Die Rechtsfrage

1. Die Beantwortung der Rechtsfrage hängt im wesentlichen von der Auslegung des Artikels 99 (1) EPÜ in seinem Zusammenhang ab, wobei gegebenenfalls die Grundsätze der Vertragsauslegung anzuwerden sind, die die Kammer bereits in sieben Fällen, unter anderem in den Fällen Gr 01/83, Gr 05/83 und Gr 06/83 (zweite medizinische Indikation") vom 5. Dezember 1984, ABI. EPA 1985, 60-70, anerkannt hat.

2. Entsprechend Artikel 99 (1) EPÜ kann gegen die Aufrechterhaltung eines erteilten europäischen Patents innerhalb von neun Monaten nach der Bekanntmachung des Hinweises auf die Erteilung des Patents von "jedermann" Einspruch eingelegt werden. Dieser Ausdruck erfährt in dem Artikel selbst keinerlei Einschränkung. Die Einspruchsabteilung (Formalprüfungsstelle) hat aber die Auffassung vertreten, dass man hier sinngemäss die Worte "ausser dem Patentinhaber" hinzusetzen müsse, wenn man die vorebereitenden Dokumente zum EPÜ dahingehend verstehe, dass das Einspruchsverfahren nur Dritten offenstehen solle. Zur Stützung dieser Behauptung wurden jedoch keine einschlägigen textstellen aus diesen Dokumenten genannt, und die Kammer konnte auch nichts derartiges finden.

Entsprechend den Auslegungsgrundsätzen, die nach Ausfassung der Kammer angewandt werden sollten (siehe oben) ist der Wortlaut des Artikels 99 (1) EPÜ zunächst im Gesamtzusammenhang des EPÜ (einschliesslich der Präambel und der Ausführungsordnung) zu betrachten; die vorbereitenden Unterlagen und die Umstände beim Anscluss des Übereinkommens können in Betracht gezogen werden,

- um eine Bedeutung zu bestätigen, wie sie sich unter Anwendung der wichtigsten Auslegungsregeln ergibt, oder

- um eine Bedeutung zu bestimmen, wenn bei der Anwendung der Grundsätze die Bedeutung entweder mehrdeutig oder unklar bleibt oder zu einem offensichtlich sinnwidrigen oder unvernünftigen Ergebnis führt.

3. Setzt man an der richtigen Stelle an, so zeigt sich sofort, dass die ausführlichen Bestimmungen des EPÜ über die sachprüfung und den Einspruch sicherstellen sollen, dass - soweit dies in der Macht des Europäischen Patentamts steht - nur rechtsgültige europäische Patente erteilt und aufrechterhalten werden.Dieses Grundprinzip wird dadurch erhärtet, dass der Begriff "jedermann" ("any person") in Artikel 99 (1) EPÜ keinerlei Einschränkung erfährt. Daraus lässt sich schliessen, dass die Öffentlichkeit ausser bei offensichtlichen Verfahrensmiss- bräuchen ein überaus starkes Interesse daran hat, dass jeder Einspruch sachlich geprüft wird. Die Beweggründe des Einsprechenden sind dabei grundsätzlich unerheblich (andernfalls hätte man zweifelsohne anstelle des Wortes "jedermann" die Worte "jeder Betroffene" gesetz), und seine Identität hat in erster Linie verfahrenstechnische Bedeutung.

4. Auch wenn das Einspruchsverfahren der Öffentlichkeit die Möglichkeit gibt, dem Verfahren als Partei beizutreten, die die Rechtsgültigkeit des erteilten europäischen Patents anficht, wäre es falsch, das Einspruchsverfahrens im wesentlichen als Streit zwischen gegnerischen Parteien zu betrachten, bei dem der Spruchkörper eine neutrale Haltung einnimmt, wie es im Nichtigkeitsverfahren vor einem nationalen Gericht der Fall ist. Das Einspruchsverfahren vor dem Europäischen Patentamt beruht, wie die Beschwerdeführerin ausführt, auf dem Untersuchungsgrundsatz(Einsprüche werden "geprüft"; Art. 101 EPÜ); hat der Einsprechenden erst einmal einen zulässige Einspruch eingelegt, so kann er sich völlig passiv verhalten und sich sogar aus dem Verfahren zurückziehen, ohne dass es dadurch zu einer Beendigung des Vefahrens kommt (R. 60 (2) EPÜ). Selbstverständlich müssen die Verfahrensregeln der Ausführungsordnung in den Fällen, in denen das Verfahren nach einer Zürucknahme des Einspruchs fortgesetzt wird, in abgewandelter Form angewandt werden, was in der Praxis auch geschieht. Demnach kann sich die Einspruchsabteilung (Formalprüfungsstelle) nicht darauf stützen dass das Einspruchsverfahren von Amts wegen weitergeführt wird, nicht ausdrücklich regelt.

5. Zu der Bemerkung in der Entscheidung der Einspruchsabteilung (Formalprüfungsstelle), dass sich bei der Anwendung des Artikels 107 EPÜ (Beschwerdeden) Schwierigkeiten ergäben, wenn ein Patentinhaber gegen sein eigenes Patent Einspruch einlegen dürfe, möchte die Kammer feststellen, dass sie keine derartigen Schwierigkeiten sieht, da das Einspruchsverfahren ja von Amts wegen durchgeführt wird.

6. Die Beschwerdeführerin hat darauf hingewiesen, dass der Ausdruck "any person" in der englischen Fassung des Artikels 115 (1) EPÜ in einem anderen Sinne als in Artikel 99 (1) EPÜ gebraucht werde. Er hat dort tatsächlich eine andere Bedeutung, was sich schon aus den Worten "jeder Dritte" und "tout tiers" in der deutschen und der französichen Fassung sowie aus der Überschrift des Artikels 115 EPÜ in allen drei Sprachen ergibt,wo ausdrücklich von Dritten die Rede ist. Die Verwendung der Worte "any person" in der englischen Fassung des Artikels 115 EPÜ berechtigt jedoch nicht dazu, diese Worte auch in Artikel 99 (1) EPÜ nur im Sinne von "any third party" zu verstehen. Es ist anzunehmen, dass der Gesetzgeber in den Fällen, in denen er zwischen "any person" und "any third person" unterschieden wollte, dies auch getan hat.

7. Was nun die Bemerkung der Einspruchsabteilung (Formalprüfungsstelle) angeht, die Beschwerdeführerin habe in ihrer Eigenschaft als Einsprechende nicht nachgewiesen, dass auch das nationale Recht der Vertragsstaaten dem Patentinhaber das Recht einräume, gegen sein eigenes Patent Einspruch einzulegen, hat die Kammer die Rechtslage untersucht und in keinem Vertragsstaat eine Gerichtsentscheidung finden können, die es dem Patentanmelder oder -inhaber untersagen würde, gegen seine eigene Anmeldung bzw. sein eigenes Patent Einspruch einzulegen. Hierzu sei bemerkt, dass früher in den meisten Vertragsstaaten ein Einspruch nur vor der Erteilung möglich war und dass die nationalen Behörden für den gewerblichen Rechtsschutz in diesem Stadium eine Änderung der Anmeldung zulassen oder verlangen konnten, um so nachträglich festgestellte Mängel zu beseitigen, die die Rechtsgültigkeitdes Patents hätten in Frage stellen können.

8. Die Kammer ist der Auffassung, dass die genannten Gründe ausreichen, um die ihr vorgelegte Rechtsfrage uu bejahen. Es sei darauf hingewiesen, dass eine Bejahung dieser Frage insofern zu grösserer Rechtssicherheit führt, als jede Änderung, die im Einspruchsverfahren vorgenommen wird, als von Anfang an eingetreten gilt (vgl. Art. 68 EPÜ).

9. Gleichzeitig möchte die Kammer hinzufügen, dass das Einspruchsverfahren nicht als Erweiterung des Prüfungsverfahrens gedacht ist und nicht als solche missbraucht werden darf.

10. Die Kammer hält es weder für notwendig noch für zweckmässig, zu den anderen von der Einspruchsabteilung (Formalprüfungsstelle) und der Beschwerdeführerin erwähnten Punkten Stellung zu nehmen.

ENTSCHEIDUNGSFORMEL

Aus diesen Gründen wird entscheiden,

dass die der Grossen Beschwerdekammer vorgelegte Rechtsfrage wie folgt zu beantworten ist:

Ein Einspruch gegen ein europäisches Patent ist nicht allein deshalb unzulässig, weil er vom Inhaber des Patents eingelegt worden ist.

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