European Case Law Identifier: | ECLI:EP:BA:1986:T027384.19860321 | ||||||||
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Datum der Entscheidung: | 21 März 1986 | ||||||||
Aktenzeichen: | T 0273/84 | ||||||||
Anmeldenummer: | 79400119.8 | ||||||||
IPC-Klasse: | C01B | ||||||||
Verfahrenssprache: | FR | ||||||||
Verteilung: | |||||||||
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Bezeichnung der Anmeldung: | - | ||||||||
Name des Anmelders: | Rhone-Poulenc | ||||||||
Name des Einsprechenden: | - | ||||||||
Kammer: | 3.3.01 | ||||||||
Leitsatz: | Erstmals im Einspruchsbeschwerdeverfahren vorgelegte Dokumente müssen berücksichtigt werden, wenn es der Grundsatz der Amtsermittlung erfordert. Sind sie zu berücksichtigen, so kann es angezeigt sein, die Sache an die Einspruchsabteilung zurückzuverweisen, um die Prüfung der neuen Dokumente in zwei Instanzen zu ermöglichen (Vermeidung von Instanzverlust). | ||||||||
Relevante Rechtsnormen: |
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Schlagwörter: | Prüfung von Amts wegen Neue Druckschriften im Einspruchsbeschwerdeverfahren Einspruchsbeschwerdeverfahren/neue Druckschriften |
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Orientierungssatz: |
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Angeführte Entscheidungen: |
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Anführungen in anderen Entscheidungen: |
Sachverhalt und Anträge
I. Auf die am 27. Februar 1979 eingereichte europäische Patentanmeldung Nr. 79 400 119.8, für die die Priorität einer französischen Voranmeldung vom 2. März 1978 in Anspruch genommen wurde, wurde am 14. Juli 1982 das europäische Patent Nr. 0 004 225 auf der Grundlage der folgenden vier Ansprüche erteilt:
1. Verfahren zur Herstellung von Alkalisilicoaluminaten des Typs 4A durch Mischen einer SiO2- und einer Al203-liefernden Verbindung in der Wärme mit Alkalihydroxid und Wasser, wobei minde stens eine dieser Substanzen in fester Form zugegeben wird, unter zumindest teilweiser Kristallisation gleichzeitig mit dem Mischen, dadurch gekennzeichnet, daß man die Komponenten in solchen Mengenanteilen mischt, daß im Ausgangsgemisch das Molverhältnis
SiO2 : Al2O3 1,5 bis 2,5
Na2O : SiO2 0,8 bis 1,2
H20 : Na2O 7 bis 15
beträgt und dieses Gemisch ein festes Aussehen annimmt, und daß man das Gemisch sich entwickeln läßt, bis es sich in Form einer Silicoaluminat-Suspension redispergiert, diese Suspension filtriert, den Filterkuchen wäscht und trocknet.
2. Verfahren nach Anspruch 1, dadurch gekennzeichnet, daß man unter solchen Bedingungen arbeitet, daß man den Zustand des festen Gemisches in 1 bis 30 min erhält.
3. Verfahren nach Anspruch 1 oder 2, dadurch gekennzeichnet, daß man einen Reaktionsteilnehmer während des Mischens und der Kristallisation zusetzt.
4. Verfahren zur Herstellung eines Silicoaluminats des Typs Na-P durch Mischen mindestens einer SiO2- und einer Al2O3-liefernden Substanz mit einem Alkalihydroxid und Wasser in der Wärme, wobei zumindest eine dieser Komponenten in fester Form zugeführt wird, dadurch gekennzeichnet, daß man die Komponenten in solchen Mengen einsetzt, daß im Ausgangsgemisch das Molverhältnis
SiO2 : Al2O3 2,5 bis 5
Na2O : SiO2 0,6 bis 1
H2O : Na2O 12 bis 30
beträgt und dieses Ausgangsgemisch ein festes Aussehen annimmt und gleichzeitig mit dem Mischen eine zumindest teilweise Kristallisation stattfindet, und daß man das Gemisch in der Wärme sich entwickeln läßt, bis es sich in Form einer Silicoalumininat-Suspension redispergiert, diese Suspension filtriert, den Filterkuchen wäscht und trocknet.
II. Die Beschwerdeführerin (Einsprechende) legte mit Fernschreiben vom 13. April 1983, das durch ein am 15. April 1983 eingegangenes Schreiben bestätigt wurde, Einspruch gegen das europäische Patent ein und beantragte seinen Widerruf wegen mangelnder erfinderischer Tätigkeit.
Die Einspruchsbegründung stützte sich auf die Druckschrift DE-C-1 038 017 (1) und richtete sich ausschließlich gegen den Anspruch 1 des angefochtenen Patents.
III. Mit Entscheidung vom 24. September 1984 wies die Einspruchsabteilung den Einspruch mit der Begründung zurück, daß das Verfahren, das Gegenstand des Anspruchs 1 des angefochtenen Patents sei, sich von diesem Stand der Technik wesentlich unterscheide, erstens weil die Molverhältnisse in einem sehr engen Bereich innerhalb der in der Druckschrift 1 angegebenen Bereiche lägen und zweitens weil wenigstens einer der Reaktanten in fester Form direkt in den Reaktor eingebracht werde.
Da somit der Fachmann die in dem angefochtenen Patent beanspruchten Arbeitsbedingungen der Lehre der Druckschrift 1 nicht entnehmen könne, sei die Einspruchsabteilung zu der Auffassung gelangt, daß der Gegenstand des Anspruchs 1 die Bedingungen der Neuheit und der erfinderischen Tätigkeit erfülle.
IV. Die Beschwerdeführerin (Einsprechende) legte gegen diese Entscheidung unter Zahlung der vorgeschriebenen Gebühr Beschwerde ein. Die Beschwerdeschrift mit der Beschwerdebegründung ging am 20. November 1984 ein.
V. In der Beschwerdebegründung beantragt die Beschwerdeführerin (Einsprechende) den Widerruf des angefochtenen Patents wegen mangeln der Neuheit und erfinderischer Tätigkeit sowohl der Patentansprüche 1 bis 3 als auch des unabhängigen Anspruchs 4. Sie führt in diesem Zusammenhang vier neue Druckschriften an. Die erste entspricht jedoch der Druckschrift FR-E 83 942, die bereits im Prüfungsverfahren berücksichtigt worden war.
Es handelt sich dabei um folgende Druckschriften:
(2) DE-A 1 467 051
(3) DE-B 2 725 496
(4) FR-A 1 213 628
(5) US-A 3 008 803
VI. In ihrer Erwiderung auf die Beschwerdeschrift, die am 11. März 1985 einging, widerspricht die Beschwerdegegnerin (Patentinhaberin) den Argumenten der Beschwerdeführerin und weist auf die charakteristischen Merkmale des beanspruchten Verfahrens hin, nämlich daß das Gemisch fest aussehe, daß ein Reaktant in fester Form zugeführt werde und daß die Molverhältnisse eng begrenzt seien.
Die Beschwerdegegnerin beantragt die Zurückweisung der Beschwerde in vollem Umfang und damit die Aufrechterhaltung des Patents in unveränderter Form.
Entscheidungsgründe
1. Die Beschwerde entspricht den Artikeln 106 bis 108 sowie Regel 64 EPÜ; sie ist somit zulässig.
2. Gemäß Regel 66 (1) EPÜ wenden die Beschwerdekammern, soweit nichts anderes bestimmt ist, bei der Prüfung der Beschwerde die Vorschriften für das Verfahren vor der Stelle an, die die mit der Beschwerde angefochtene Entscheidung erlassen hat.
Nach Regel 55 c) EPÜ muß die Einspruchsschrift eine Erklärung darüber, in welchem Umfang gegen das europäische Patent Einspruch eingelegt und auf welche Einspruchsgründe der Einspruch gestützt wird, sowie die Angabe der zur Begründung vorgebrachten Tatsachen und Beweismittel enthalten. Die Einspruchsfrist beträgt neun Monate (Art. 99 (1) EPÜ).
Die Beschwerdeführerin hat jedoch nach Ablauf der Einspruchsfrist, nämlich zusammen mit der Begründung der Beschwerde gegen die Entscheidung der Einspruchsabteilung, vier neue Entgegenhaltungen angeführt, auf die sie ihre Begründung stützt.
Somit stellt sich die Frage, ob die Kammer in einem an ein Einspruchsverfahren anschließenden Beschwerdeverfahren neue Entgegenhaltungen zulassen kann oder ob sie sich an die in Artikel 99 EPÜ vorgeschriebene Einspruchsfrist halten muß. Artikel 114 (2) EPÜ sieht vor, daß das Europäische Patentamt Tatsachen und Beweismittel, die von den Beteiligten verspätet vorgebracht werden, nicht zu berücksichtigen braucht. Es handelt sich hier jedoch um eine Kannvorschrift, und der darin enthaltene Ermessensspielraum ist offensichtlich zu dem Zwecke eingeräumt worden, einen normalen Verfahrensablauf zu ermöglichen und taktische Mißbräuche auszuschalten. In den Richtlinien für die Prüfung im EPA wird freilich verlangt, daß die Beweismittel rasch beigebracht und die vorgeschriebenen Fristen eingehalten werden (Richtl. D-IV, 1.2.2.1 f, letzter Absatz, D-V, 2, E-VI, 2 und ABl. EPA 1985, 272, 277, 278).
Andererseits wird in Artikel 114 (1) EPÜ ein Grundsatz ausgesprochen, der von den zuständigen Stellen des EPA in allen vor ihnen stattfindenden Verfahren zu beachten ist, nämlich die Ermittlung von Amts wegen: "In den Verfahren vor dem Europäischen Patentamt ermittelt das Europäische Patentamt den Sachverhalt von Amts wegen; es ist dabei weder auf das Vorbringen noch auf die Anträge der Beteiligten beschränkt." Aus diesem Artikel geht hervor, daß die Amtsermittlung zwar nicht auf das Vorbringen der Beteiligten beschränkt ist, es aber in jedem Falle einschließt.
Außerdem ist die Ermittlung von Amts wegen in allen Verfahren Pflicht. Im vorliegenden Fall kann die Druckschrift 3 keinesfalls außer acht gelassen werden. Sie stellt bereits die Neuheit des Patentgegenstands in Frage und damit auch die Gültigkeit der angefochtenen Entscheidung. Ob auch die anderen drei neuen Druckschriften zugelassen werden sollen, liegt im Ermessen der ersten Instanz.
3. Gegenstand des angefochtenen Patents ist ein Verfahren zur Herstellung von Alkalisilicoaluminaten, bei dem mindestens eine SiO2- und eine Al2O3-liefernde Verbindung in der Wärme mit Alkalihydroxid und Wasser gemischt werden, wobei mindestens eine dieser Substanzen in fester Form zugegeben wird, und man dieses Gemisch sich entwickeln läßt, bis man eine Silicoaluminat-Suspension erhält, die dann filtriert, gewaschen und getrocknet wird. Je nach den Mengenanteilen der Reaktanten im Gemisch erhält man Silicoaluminat des Typs 4A oder des Typs Na-P. Im ersten Fall (Anspruch 1) muß das Ausgangsgemisch folgende Zusammensetzung, ausgedrückt in Molverhältnissen, aufweisen:
SiO2 : Al2O3 1,5 bis 2,5
Na2O : SiO2 0,8 bis 1,2
H2O : Na2O 7 bis 15
Im zweiten Fall (Anspruch 4) muß das Ausgangsgemisch folgende Zusammensetzung aufweisen:
SiO2 : Al2O3 2,5 bis 5
Na2O : SiO2 0,6 bis 1
H2O : Na2O 12 bis 30
4. Von den von der Beschwerdeführerin (Einsprechenden) angegebenen Druckschriften hält die Kammer die Entgegenhaltung 3 für den nächstliegenden Stand der Technik. Dort wird ein Verfahren zur Herstellung von Zeolith A in einer einzigen Verfahrensstufe beschrieben, bei dem Metakaolin in einem Mischer Soda und Wasser in der Weise zugesetzt wird, daß das Molverhältnis H2O : Na2O 15 bis 100 beträgt. In den Ausführungsbeispielen 1 bis 13 der Entgegenhaltung 3 wird sämtlich Metakaolin verwendet, was konstante Molverhältnisse Na2O : SiO2 und SiO2 : Al2O3 innerhalb der in dem angefochtenen Patent beanspruchten Bereiche voraussetzt. Das Ganze wird bei hoher Temperatur (85° C) gemischt und anschließend filtriert; das Filtrat wird dann gewaschen und getrocknet. Entsprechend der Entgegenhaltung läßt sich Zeolith A mit einer Reinheit von 90 % oder gar 95 % herstellen (s. einzigen Patentanspruch; Spalte 1, Zeilen 44 - 47 und 62 - 68; Spalte 2, Zeilen 4 - 9 und 31 - 35; Beispiel 1 und Tabelle in den Spalten 3 und 4).
5. In ihrer Erwiderung auf die Beschwerdeschrift erkennt die Beschwerdegegnerin (Patentinhaberin) die Offenbarung des Molverhältnisses H2O : Na2O = 15 an, vertritt jedoch gleichzeitig die Auffassung, daß das in der Entgegenhaltung 3 beschriebene Verfahren im Widerspruch zur Lehre des angefochtenen Patents stehe, bei dem das Mischen in festem Zustand erfolge, so daß der Anspruch 1 neu sei.
Dies ist zweifelhaft. Anspruch 1 des angefochtenen Patents gibt nämlich nur an, daß mindestens einer der Reaktanten in fester Form zugeführt wird. Dies ist aber auch bei der Entgegenhaltung 3 der Fall (s. Beispiel 1).
Außerdem würde eine Abgrenzung gegenüber der Entgegenhaltung 3, die anhand eines Grenzwertes des Molverhältnisses H2O : Na2O ohne weiteres möglich erscheint, die Zweifel an der erfinderischen Tätigkeit des Gegenstandes dieses Anspruchs nicht ausräumen.
6. Auch ohne noch weitergehende Ermittlungen ergibt sich, daß die angefochtene Entscheidung der ersten Instanz angesichts dieses neuen nächstliegenden Stands der Technik keinen Bestand haben kann. Die Prüfung auf Patentierbarkeit muß auf neuer Grundlage wiederaufgenommen werden, da die der Erfindung zugrunde liegende technische Aufgabe anhand einer neuen Entgegenhaltung zu ermitteln ist. Dazu ist in erster Linie die erste Instanz berufen. Eine Prüfung, die die Kammer aufgrund dieser neuen Gesichtspunkte und unter Berücksichtigung des neuen Stands der Technik von sich aus durchführen würde, hätte zwangsläufig einen Instanzverlust zur Folge, der mit dem von der Kammer verfolgten Grundsatz der Billigkeit nicht vereinbar wäre.
Die auf diese Weise geübte Nachsicht bezüglich der Zulassung von Entgegenhaltungen nach Ablauf der Einspruchsfrist könnte allerdings zu Mißbräuchen führen, die nur schwer zu kontrollieren sind.
Die Kammer räumt ein, daß die Zulassung derartiger Schriftstücke das Verfahren zwangsläufig erheblich verzögert, so daß hier Grenzen gesteckt werden müssen. Diese Grenzen sind jedoch nach Ansicht der Kammer im vorliegenden Fall aus den obengenannten Gründen (Nr. 2, 4 und 5 der Entscheidungsgründe) nicht überschritten worden. Der sich aus der Verfahrensverzögerung ergebende Nachteil ist hier gegen die Verpflichtung zur Ermittlung von Amts wegen abzuwägen, die in Artikel 114 (1) EPÜ niedergelegt ist und für alle Instanzen des Europäischen Patentamts gilt.
Die Kammer muß daher die erstinstanzliche Entscheidung aufheben, ohne die Stichhaltigkeit ihrer Begründung zu prüfen. Sie macht somit von der ihr in Artikel 111 (1) EPÜ eingeräumten Befugnis Gebrauch und verweist die Angelegenheit zur erneuten Prüfung auf Neuheit und erfinderische Tätigkeit der Gegenstände der Patentansprüche 1 bis 4 an die Einspruchsabteilung zurück.
ENTSCHEIDUNGSFORMEL
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.
2. Die Angelegenheit wird an die Einspruchsabteilung mit der Maßgabe zurückverwiesen, die Einspruchsprüfung unter besonderer Berücksichtigung der neuen Druckschrift 3 wiederaufzunehmen, die mit der am 20. November 1984 eingegangenen Beschwerdeschrift eingereicht worden ist.