European Case Law Identifier: | ECLI:EP:BA:1991:T061190.19910221 | ||||||||
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Datum der Entscheidung: | 21 Februar 1991 | ||||||||
Aktenzeichen: | T 0611/90 | ||||||||
Anmeldenummer: | 83306484.3 | ||||||||
IPC-Klasse: | C08F 210/16 | ||||||||
Verfahrenssprache: | EN | ||||||||
Verteilung: | |||||||||
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Bezeichnung der Anmeldung: | - | ||||||||
Name des Anmelders: | Mitsui | ||||||||
Name des Einsprechenden: | DSM Research | ||||||||
Kammer: | 3.3.03 | ||||||||
Leitsatz: | 1. Nach Artikel 106 (1) EPU können mit der Beschwerde Entscheidungen, nicht aber die Entscheidungsgründe angefochten werden. Eine Beschwerde, die einen völlig anderen Sachverhalt als den der angefochtenen Entscheidung zugrunde liegenden einführt, ist - vorbehaltlich sonstiger Mängel - dann zulässig, wenn sie sich noch auf denselben Einspruchsgrund stützt (Nr. 2 der Entscheidungsgründe). 2. Liegt solch ein völlig neuer Sachverhalt vor, so ist es je nach der sonstigen Sachlage unter Umständen nicht zweckmäßig, wenn die Beschwerdekammer selbst die Frage der Begründetheit klärt. Das Interesse der Öffentlichkeit und der Beteiligten an einer zügigen Verfahrensführung hat dann hinter der Forderung zurückzustehen, daß das Beschwerdeverfahren nicht zu einer bloßen Fortsetzung des erstinstanzlichen Verfahrens werden darf (Nr. 3 der Entscheidungsgründe). 3. Sofern keine triftigen mildernden Umstände für das verspätete Vorbringen dieses neuen Sachverhalts vorliegen, hat die verspätet vorbringende Partei alle hierdurch entstehenden zusätzlichen Kosten zu tragen (Nr. 5 der Entscheidungsgründe). |
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Relevante Rechtsnormen: |
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Schlagwörter: | Zulässigkeit der Beschwerde (bejaht) Gründe stehen nicht im Zusammenhang mit denen der angefochtenen Entscheidung, fallen aber noch unter denselben Einspruchsgrund Zurückverweisung an die erste Instanz (bejaht) Vollkommen neuer, noch nicht geprüfter Sachverhalt Verteilung der Kosten Keine Begründung des Einsprechenden für sein verspätetes Vorbringen |
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Orientierungssatz: |
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Angeführte Entscheidungen: |
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Anführungen in anderen Entscheidungen: |
Sachverhalt und Anträge
I. Die europäische Patentanmeldung Nr. 83 306 484.3 wurde am 25. Oktober 1983 eingereicht. Am 17. Dezember 1986 wurde darauf das Patent Nr. 109 779 erteilt.
Am 17. September 1987 legte DSM Einspruch gegen das Patent ein und beantragte im Hinblick auf verschiedene Vorveröffentlichungen dessen Widerruf wegen mangelnder Neuheit und mangelnder erfinderischer Tätigkeit.
II. Die Einspruchsabteilung hielt das Patent in ihrer Entscheidung vom 29. Mai 1990 sowohl für neu als auch für erfinderisch und wies den Einspruch zurück. Den Entscheidungsgründen zufolge stützte sie sich bei der Beurteilung der Neuheit und der erfinderischen Tätigkeit ausschließlich auf die oben erwähnten Vorveröffentlichungen.
III. Die Einsprechende legte am 27. Juli 1990 gegen diese Entscheidung Beschwerde ein und reichte am 8. Oktober 1990 eine Beschwerdebegründung ein.
IV. In der Beschwerdebegründung wird die Aufhebung der Entscheidung der Einspruchsabteilung beantragt und folgendes vorgebracht: "... Obwohl im Einspruchsverfahren wiederholt festgestellt wurde, daß das vorliegende Copolymer nicht neu ist, hat die Einspruchsabteilung diese Argumente nicht gewürdigt. Durch einen glücklichen Zufall gelangte die Einsprechende in den Besitz einer 1982 hergestellten Polyethylentüte ...". Im Anschluß daran wird in der Beschwerdebegründung tatsächlich eine völlig neue Argumentation in der Frage der mangelnden Neuheit entwickelt, die nicht mehr auf eine - für die Entscheidungsfindung der ersten Instanz allein maßgebliche - Vorveröffentlichung, sondern auf eine öffentliche Vorbenutzung abstellt. Ein Grund für diese späte Änderung der Taktik wird in der Beschwerdebegründung nicht angegeben; es heißt darin lediglich - wie der oben zitierten Passage zu entnehmen ist -, daß die Einsprechende "durch einen glücklichen Zufall" in den Besitz von Material gelangte, das angeblich eine öffentliche Vorbenutzung des Streitpatents darstellt.
Eine mündliche Verhandlung wurde nicht beantragt.
Entscheidungsgründe
1. Als erstes ist über die Zulässigkeit der Beschwerde zu entscheiden. Die Beschwerdeschrift erfüllt die Erfordernisse des Artikels 106 und der Regel 64 EPU, während die Beschwerdebegründung den Erfordernissen der Regel 55 c) EPU Rechnung trägt, die gemäß Regel 66 (1) EPU für den Inhalt des förmlichen Vorbringens im Beschwerdeverfahren maßgeblich ist. Da alle übrigen formalen Verfahrenserfordernisse, insbesondere bezüglich der Fristen, erfüllt sind, hängt die Zulässigkeit der Beschwerde allein von der Frage ab, ob eine Beschwerdebegründung, die einen völlig anderen als den der erstinstanzlichen Entscheidung zugrunde liegenden Sachverhalt einführt, mit Fug und Recht als Beschwerdebegründung zu dieser Entscheidung angesehen werden kann.
2. Nach Artikel 106 (1) EPU können mit der Beschwerde Entscheidungen z. B. der Einspruchsabteilung, nicht aber die Entscheidungsgründe angefochten werden. Entscheidungen der ersten Instanz werden gewöhnlich dadurch angefochten, daß die ihnen zugrunde liegende Begründung in Frage gestellt wird, und zwar in der Regel durch das Vorbringen rechtlicher und/oder faktischer Gründe, mit denen die mangelnde Stichhaltigkeit bzw. die Nichtigkeit der Entscheidungsgründe und somit auch der darauf aufbauenden Entscheidung glaubhaft gemacht werden soll. Der Beschwerdeführer kann zwar rechtliche und faktische Gründe vorbringen, die keinen Zusammenhang mit den Entscheidungsgründen aufweisen, doch führt er damit eindeutig einen neuen Sachverhalt ein und verlangt somit von der Beschwerdekammer, daß sie über einen neuen Einspruch verhandelt, d. h. als erste Instanz tätig wird. Die im vorliegenden Fall geltend gemachten neuen Gründe weisen zwar keinen Zusammenhang mit der Begründung der angefochtenen Entscheidung auf, fallen jedoch nach wie vor unter denselben Einspruchsgrund, nämlich Artikel 100 a) EPU. Die Kammer hält die Beschwerde daher für zulässig, will aber zunächst klären, ob es zweckmäßig ist, daß sie sich selbst mit dem ihr vorgelegten neuen Sachverhalt befaßt.
3. Aus Artikel 21 (1) EPU geht ganz klar hervor, daß die Beschwerdekammern die Aufgabe haben, Beschwerden zu prüfen und nicht Fälle neu zu verhandeln; siehe Entscheidung T 26/88 (ABl. EPA 1991, 30, Nr. 12 der Entscheidungsgründe), wo es heißt: "Nach Auffassung der Kammer liegt der wesentliche Zweck einer Beschwerde im Rahmen des in Teil VI des Ubereinkommens beschriebenen "Beschwerdeverfahrens" darin, zu untersuchen, ob eine von einem erstinstanzlichen Organ erlassene Entscheidung sachlich richtig ist - siehe insbesondere Artikel 106 (1) EPU. Es ist eigentlich nicht die Aufgabe einer Beschwerdekammer, Fragen zu prüfen und zu entscheiden, die erstmals im Beschwerdeverfahren gestellt werden". Der richterliche Vorgang der Entscheidung über die Begründetheit einer Beschwerde stellt also praktisch ein Urteil über die Entscheidung der ersten Instanz dar. Die Kammern verfügen natürlich aufgrund von Artikel 114 (1) EPU noch über weitere Befugnisse; bei deren Ausübung können sie jedoch von dem ihnen in Artikel 114 (2) EPU eingeräumten richterlichen Ermessen Gebrauch machen, erstmals im Beschwerdeverfahren vorgebrachte Tatsachen und Beweismittel unberücksichtigt zu lassen. Ferner sind sie (nach Art. 111 (1) EPU) befugt, die Angelegenheit zur weiteren Entscheidung an die erste Instanz zurückzuverweisen. Bei der Ausübung ihres Ermessens haben die Kammern dem Interesse der Öffentlichkeit und der Beteiligten an einer möglichst zügigen Durchführung des Einspruchsverfahrens Rechnung zu tragen - dies gilt selbstverständlich auch für das Beschwerdeverfahren.
Diesem Interesse wird am besten gedient, wenn der Patentinhaber möglichst frühzeitig über den gesamten Sachvortrag unterrichtet wird, damit sein Patent aufrechterhalten werden kann. Alle diese Forderungen dürften den beim EPA zugelassenen Vertretern mittlerweile bekannt sein, da sie in der Mitteilung "Einspruchsverfahren im EPA" (ABl. EPA 1989, 417) klar dargelegt wurden und im übrigen von den Beschwerdekammern durchweg berücksichtigt werden; siehe Entscheidungen T 326/87 "Polyamidgemische/DU PONT" (ABl. EPA 1992, 522), T 173/89 (unveröffentlicht), T 117/86 "Kosten/FILMTEC" (ABl. EPA 1989, 401) und T 182/89 (ABl. EPA 1991, 391).
Die Beschwerdekammern können verspätet eingereichte Beweismittel, Unterlagen oder sonstiges Material wegen mangelnder Relevanz, d. h. mit der Begründung zurückweisen, daß sie nicht "gewichtiger" oder überzeugender sind als das bereits vorliegende Material. Sie können verspätet eingereichtes Material jedoch auch zulassen (wobei sie in der Regel dem verspätet einreichenden Beteiligten die dadurch entstehenden Kosten aufbürden, s. Art. 104 und Regel 63 (1) EPU), insbesondere dann, wenn sich dadurch der Schwerpunkt der Beschwerdesache gegenüber dem der erstinstanzlichen Sache verlagert. Unter diesen Umständen sollte der im Beschwerdeverfahren vorgebrachte Sachverhalt gemäß Artikel 111 (1) EPU an die erste Instanz zurückverwiesen werden, wenn der Grundsatz der Billigkeit gegenüber den Beteiligten dies erfordert. Es liegt auf der Hand, daß ein im Beschwerdeverfahren eingereichter neuer oder auf einer neuen Kategorie von Beweismitteln beruhender Einspruchsgrund nicht nur den Schwerpunkt des von der ersten Instanz förmlich entschiedenen Falles verändert, sondern per definitionem einen neuen Sachverhalt darstellt.
4. Daraus folgt, daß die Beschwerde in der vorliegenden Sache zwar formal zulässig ist, die Beschwerdebegründung aber - obwohl sie nach wie vor auf mangelnde Neuheit abzielt - einen neuen Sachverhalt (öffentliche Vorbenutzung) einführt. Deshalb weist die Kammer in Ausübung ihres Ermessens die Sache nach Artikel 111 (1) EPU an die Einspruchsabteilung zurück, damit diese über den von der Beschwerdeführerin vorgebrachten neuen Sachverhalt entscheidet. Um die hierdurch zwangsläufig entstehende Verzögerung möglichst gering zu halten, hat die Kammer beschlossen, die Behandlung dieser Sache vorzuziehen, und empfiehlt der Einspruchsabteilung, ebenso zu verfahren.
5. Werden verspätet vorgebrachte Tatsachen und Beweismittel nach Artikel 114 (2) EPU zugelassen, so wird in der Regel eine Verteilung der Kosten vorgenommen (Art. 104 und Regel 63 (1) EPU); liegen keine triftigen mildernden Umstände für das verspätete Vorbringen vor, so hat der verspätet einreichende Beteiligte alle dadurch entstehenden zusätzlichen Kosten zu tragen (vgl. T 326/87, l. c.). In der vorliegenden Sache hat die Einsprechende keinen wie auch immer gearteten Grund für das verspätete Vorbringen angegeben; die Kammer ordnet daher an, daß sie sämtliche Kosten zu tragen hat, die der Patentinhaberin durch die Bearbeitung des neuen, auf öffentliche Vorbenutzung gestützten Sachverhalts entstehen.
ENTSCHEIDUNGSFORMEL
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die Beschwerde ist zulässig.
2. Die Entscheidung der Einspruchsabteilung wird aufgehoben.
3. Die Sache wird zur weiteren Entscheidung an die Einspruchsabteilung zurückverwiesen.
4. Die Kosten des künftigen Verfahrens vor der Einspruchsabteilung und eines etwaigen Beschwerdeverfahrens werden so verteilt, daß die Einsprechende der Patentinhaberin sämtliche im Zusammenhang mit der obigen Zurückverweisung rechtmäßig entstehenden Kosten erstattet.