T 0229/92 () of 23.8.1994

European Case Law Identifier: ECLI:EP:BA:1994:T022992.19940823
Datum der Entscheidung: 23 August 1994
Aktenzeichen: T 0229/92
Anmeldenummer: 86117856.4
IPC-Klasse: F03B 15/00
Verfahrenssprache: DE
Verteilung: C
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Bibliografische Daten verfügbar in: DE
Fassungen: Unpublished
Bezeichnung der Anmeldung: Wassergetriebener Maschinensatz mit wirkungsgradoptimaler Vorgabe des Drehzahlsollwertes
Name des Anmelders: Siemens Aktiengesellschaft
Name des Einsprechenden: J. M. Voith GmbH
Kammer: 3.2.04
Leitsatz: -
Relevante Rechtsnormen:
European Patent Convention 1973 Art 106
European Patent Convention 1973 Art 107
European Patent Convention 1973 Art 108
European Patent Convention 1973 Art 110
European Patent Convention 1973 Art 111
European Patent Convention 1973 Art 114
European Patent Convention 1973 R 64
Schlagwörter: Prüfung der Beschwerde - Zulässigkeit der Beschwerde (bejaht)
Verspätet vorgebrachte Tatsachen und Beweismittel-Zulässigkeit des Dokuments (bejaht)
Entscheidung über die Beschwerde-Zurückverweisung (bejaht)
Admissibility of appeal - form and content of appeal
Admissibility of appeal - statement of grounds of appeal
Late filed submissions - documents
Decision re appeals - remittal
Orientierungssatz:

-

Angeführte Entscheidungen:
T 0156/84
T 0326/87
T 0525/88
T 0611/90
T 0653/90
T 0166/91
Anführungen in anderen Entscheidungen:
T 0333/01

Sachverhalt und Anträge

I. Die Beschwerdeführerin (Einsprechende) hat gegen die am 22. Januar 1992 zur Post gegebene Entscheidung der Einspruchsabteilung über die Zurückweisung des Einspruchs gegen das Patent Nr. 0 230 636 die am 17. März 1992 eingegangene Beschwerde eingelegt und gleichzeitig die Beschwerdegebühr entrichtet. Die Beschwerdebegründung ist am 19. Mai 1992 eingegangen.

Mit dem Einspruch war das gesamte Patent im Hinblick auf Artikel 100 a) EPÜ angegriffen worden.

Zum Stand der Technik hat die Einsprechende folgende Druckschriften genannt:

(D1) Voith Forschung und Konstruktion, Heft 28 (1982), Aufsatz 9, Sonderdruck t 2495;

(D2) "Elektro-hydraulische Regler für Wasserturbinen", Voith Druckschrift t 2361, 1.84.

Die Einspruchsabteilung war der Auffassung, daß der in Artikel 100 a) EPÜ genannte Einspruchsgrund der Aufrechterhaltung des Patents in unveränderter Form nicht entgegenstünde. Der Inhalt der von der Einsprechenden genannten Druckschriften D1 und D2 gingen am Wesen der Erfindung vorbei. Der nächstkommende Stand der Technik sei in der Druckschrift DE-A-3 005 375 (D3) offenbart.

II. Der gültige, erteilte Anspruch 1 lautet wie folgt:

"Maschinensatz (1) aus einer über eine elektrische Drehzahlregulierung regelbaren Wasserturbine (11) und einem fest an die Wasserturbine angekuppelten Generator (12), der über einen frequenzregelbaren Umrichter (2) ein elektrisches Netz konstanter Frequenz (3) speist, mit Mitteln (4), welche in Abhängigkeit der aktuellen Fallhöhe (H) und zweier Turbinenkenngrößen, der Öffnungen der Leit- und Laufradschaufelgruppe ( , ) bzw. bei Peltonturbinen der Öffnungen der Düsen und der Laufradschaufelgruppe, und mittels einem das Betriebsverhalten der Turbine charakterisierenden Kennlinienfeld einen Drehzahlsollwert (n*) für den Maschinensatz vorgeben, bei dem bei maximalem Wirkungsgrad optimale Wirkleistung (Pw) an das elektrische Netz abgegeben wird."

Die Ansprüche 2 bis 5 beziehen sich auf Anspruch 1.

III. In ihrer Beschwerdebegründung nennt die Beschwerdeführerin erstmals die Druckschrift

(D4) EP-A-0 141 372

und stützt ihre Argumente ausschließlich auf diese neu genannte Druckschrift D4. Sie weist zudem noch auf Schriften aus dem Schriftverkehr mit dem Deutschen Patentamt (D5) hin, die das Prüfungsverfahren der deutschen Anmeldung aus der Patentfamilie des vorliegenden Patentes betreffen. Sie geht sachlich auf diese Schriften D5 jedoch nicht ein.

Die Beschwerdegegnerin vertrat die Ansicht, daß die Beschwerde unzulässig sei, da im Beschwerdeschriftsatz der Name der Einsprechenden als Beschwerdeführerin zunächst nicht genannt und zudem das Vorbringen der Beschwerdeführerin nur auf erstmals in der Beschwerdebegründung angeführte Beweismittel und Tatsachen gestützt sei.

In einem ersten Bescheid teilte die Beschwerdekammer den Beteiligten mit, daß sie die Beschwerde für zulässig hält. In einem weiteren Bescheid wies die Beschwerdekammer zur Klärung des Sachverhaltes und zur Ergänzung des vorgebrachten Standes der Technik noch auf folgende Druckschriften hin:

(D6) DE-A-2 845 930

(D7) Kröners Taschenbuch der Maschinentechnik, zweiter Band-Teil II, Seiten 52 - 57 und 77.

Sie brachte in diesem weiteren Bescheid zum Ausdruck, daß unter Beachtung des aus den Druckschriften D3 und D6 bekannten Standes der Technik und des allgemeinen Fachwissens (Druckschrift D7) die erfinderische Tätigkeit bei dem Gegenstand des Anspruches 1 in Frage gestellt ist. Zudem wies sie im Hinblick auf den Wortlaut des Anspruches 1 auf die besondere Relevanz der Druckschrift D6 hin.

In einem Antwortschreiben stimmte die Beschwerdeführerin den Ausführungen der Beschwerdekammer zu, und die Beschwerdegegnerin beantragte unter Hinweis auf die Entscheidung T 611/90, die Sache an die Einspruchsabteilung zurückzuverweisen, da sowohl von der Beschwerdeführerin als auch von der Beschwerdekammer neue Entgegenhaltungen in das Beschwerdeverfahren eingebracht wurden.

IV. Anträge

Die Beschwerdeführerin beantragt, die angefochtene Entscheidung aufzuheben und das Patent zu widerrufen.

Die Beschwerdegegnerin beantragt, die Sache (auf der Basis der erteilten Unterlagen) an die Einspruchsabteilung zurückzuverweisen. Hilfsweise wird eine weitere Gelegenheit zur Stellungnahme und eine mündliche Verhandlung beantragt.

Entscheidungsgründe

1. Zulässigkeit der Beschwerde

1.1. Die nach Artikel 108 EPÜ erforderlichen Fristen wurden eingehalten.

1.2. Die Beschwerdegegnerin bemängelte in ihrer Eingabe vom 8. Oktober 1992, daß in der Beschwerdeschrift ein Hinweis darauf, in wessen Namen und Auftrag die Beschwerde eingelegt ist, nicht zu finden sei.

1.3. Der Name der Beschwerdeführerin ist in den Beschwerdeschriften vom 16. März 1992 (eingegangen am 17. März 1992) und 18. Mai 1992 (eingegangen am 19. Mai 1992) zwar nicht genannt, aus dem Namen des Patentanwaltes, der die Einsprechende, Fa. J. M. Voith, bereits während des ganzen Einspruchsverfahrens vertrat und aus seiner Vertreternummer, war jedoch eindeutig zu entnehmen, daß die Beschwerde im Namen der Einsprechenden, Fa. J. M. Voith, eingelegt wurde. Dies wurde auch mit dem Schreiben vom 6. Januar 1993 bestätigt.

1.4. Die Beschwerdegegnerin bemängelte in ihrer Eingabe vom 8. Oktober 1992 weiter, daß sich die Beschwerdeführerin in ihrer Beschwerdebegründung nicht mit Gründen auseinandersetze, die zur Entscheidung der Vorinstanz geführt hätten. Daraus könne gefolgert werden, daß die Entscheidung der Einspruchsabteilung im Hinblick auf die dieser Entscheidung zugrundeliegenden Tatsachen und Beweismittel zu Recht ergangen sei. Die Beschwerde stütze sich somit nur auf neue Beweismittel. Das nur auf erstmals in der Beschwerdebegründung genannte Beweismittel und Tatsachen gestützte Vorbringen der Beschwerdeführerin entspräche im Kern dem Versuch, ein neues Einspruchsverfahren zu beginnen, das mit dem in der Vorinstanz geführten Verfahren praktisch keine Berührungspunkte habe.

1.5. Für eine ausreichende Begründung im Sinne von Artikel 108 EPÜ ist es nicht notwendig, daß sich die Beschwerdebegründung mit den Argumenten der angefochtenen Entscheidung auseinandersetzt, sondern es ist nur erforderlich, daß die Beschwerdebegründung rechtliche und tatsächliche Gründe angibt, die unter dieselben Einspruchsgründe fallen, mit denen sich die Entscheidung befaßt und aus denen sich die Unrichtigkeit der angefochtenen Entscheidung ergeben soll (vgl. T 611/90, ABl. EPA 1993, 50; T 525/88), d. h. die Beschwerdebegründung muß die Entscheidung anfechten und nicht die Gründe, die zur Entscheidung führten.

Im vorliegenden Fall geht die Beschwerdeführerin von der neu genannten Druckschrift D4 aus, um mangelnde Neuheit und mangelnde erfinderische Tätigkeit nach den Artikeln 54 und 56 EPÜ geltend zu machen. Die Beschwerdeführerin versucht damit, dem in der Entscheidung der Einspruchsabteilung angegebenen Einwand, die Druckschriften D1 und D2 gingen am Wesen der Erfindung vorbei, durch ihre Argumente auf der Basis eines relevanteren Standes der Technik entgegenzutreten.

1.6. Die Druckschrift D4 ist im Hinblick auf die im Artikel 99 (1) EPÜ genannte Frist verspätet eingegangen und bräuchte daher gemäß Artikel 114 (2) EPÜ nicht berücksichtigt werden.

Wie aus dem Wortlaut des Artikels 114 (2) EPÜ hervorgeht ("... braucht ... nicht zu berücksichtigen"), liegt die Berücksichtigung der verspätet vorgebrachten Tatsachen und Beweismittel im Ermessen des Europäischen Patentamtes. Nach der bisherigen Rechtsprechung (vgl. T 156/84 ABl. EPA 1988, 372; T 166/91, Abschnitt 4; T 653/90, Abschnitt 3) sind Druckschriften zum Stand der Technik, die dazu führen können, daß die Aufrechterhaltung des angefochtenen Patents in der beanspruchten Form in Frage gestellt wird, zu beachten.

Dies gilt somit auch für die hier maßgebliche Druckschrift D4.

1.7. Deshalb entspricht die Beschwerde den Artikeln 106 bis 108 sowie Regel 64 EPÜ.

Die Beschwerde ist daher zulässig.

2. Stand der Technik

2.1. Die Überprüfung des von der Beschwerdeführerin genannten Standes der Technik führte die Beschwerdekammer zur Druckschrift D6, die sie für die Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit des Maschinensatzes des Streitpatentes in Verbindung mit der Druckschrift D3 als einschlägig ansieht.

2.2. Die Druckschrift D3, die bereits in der Patentschrift als Stand der Technik genannt ist, offenbart einen Maschinensatz aus einer über eine elektrische Drehzahlregulierung regelbaren Wasserturbine (3) und einem fest an die Wasserturbine angekuppelten Generator (11), der über einen frequenzregelbaren Umrichter (13) ein elektrisches Netz konstanter Frequenz speist, wobei Mittel vorgesehen sind, mit denen bei jeder Belastung ein optimaler Drehzahlwert eingestellt werden kann (vgl. Seite 4, Nummer in Handschrift, letzter Absatz), wodurch jeweils ein guter Wirkungsgrad erzielt wird.

2.3. Bei dem aus der Druckschrift D6 bekannten Maschinensatz wird das Ausgangssignal der Geschwindigkeits-Meßeinrichtung (27) des Antriebsmediums (Wasser) sowohl im Wirkleistungsregler (14) als auch im Drehzahlregler (19) der Turbine verarbeitet. Durch den Wirkleistungsregler (14) arbeitet die Turbine im Optimum des jeweiligen Geschwindigkeitsbereiches des Antriebsmediums (Kennlinie 23 in Figur 2). Der Bauteil im Wirkleistungsregler (14) kann ein Kurvenzugrechner sein. Damit kann die Turbine im gesamten Betriebsbereich stets mit maximal möglichem Wirkungsgrad, d. h. mit höchster Energieausbeute betrieben werden (vgl. Seite 4, zweiter Absatz; Seite 7, Zeilen 16 bis 31; Figuren 1 und 2).

Wenn die Wasserturbine unter Berücksichtigung der Geschwindigkeit des Antriebsmediums (Wasser) stets mit maximal möglichem Wirkungsgrad betrieben werden soll, so ist es erforderlich, bei der Drehzahlfestlegung sowohl die aktuelle Fallhöhe als auch die Öffnung der Leitschaufelgruppe (vgl. Druckschrift D7, Seite 77, "Leitrad"), die die Wassermenge einregelt, zu beachten. Dies scheint jedoch nur möglich zu sein, wenn in einem Regler entsprechende Werte, die den maximalen Wirkungsgrad erlauben vorgegeben sind (vgl. Kurvenzugrechner bei der Vorrichtung nach der Druckschrift D6 und die für Wasserturbinen allgemein bekannten Kennlinien, insbesondere Muschelkurven, vgl. Druckschrift D7, Seiten 55 bis 57). Selbstverständlich hängen die Werte von der Laufradausbildung und Bemessung (Öffnung der Laufradschaufelgruppe) ab.

2.4. Sowohl bei dem Maschinensatz nach der Druckschrift D6, als auch bei dem Maschinensatz nach der Druckschrift D3, wird die optimale Drehzahl infolge der Möglichkeit, die Drehzahl des Maschinensatzes unabhängig von der Netzfrequenz zu verändern, eingestellt.

2.5. Im Hinblick auf die Druckschrift D6 ist überdies zu beachten, daß bei dem dort beschriebenen Generator bei Drehzahlen über der synchronen Drehzahl (vgl. Anspruch 1 der Druckschrift D6) die Läuferleistung über den Umrichter ins Netz geliefert wird (vgl. Wortlaut des Anspruches 1 des angefochtenen Patents).

3. Zurückverweisung an die Vorinstanz

3.1. Die Beschwerdegegnerin hat zu der von der Beschwerdekammer genannten Druckschrift D6, die bei der Überprüfung der von der Beschwerdeführerin genannten Druckschrift D4 ermittelt wurde, nicht Stellung genommen, sondern beantragt, die Sache an die Einspruchsabteilung zurückzuverweisen.

3.2. Durch die Einführung der neuen Druckschriften in das Verfahren sind grundlegend neue Argumente im Hinblick auf den Einspruchsgrund nach Artikel 100 a) EPÜ aufgetreten, die die Aufrechterhaltung des Patentes in vorliegender Form in Frage stellen können und die von der Vorinstanz noch nicht geprüft worden sind. Eine Entscheidung der Beschwerdekammer im Sinne eines Widerrufes des Patents, basierend auf den neu vorgebrachten Druckschriften, würde im vorliegenden Fall einen Instanzverlust bedeuten. Die unterlegene Partei hätte keine Möglichkeit mehr, die Entscheidung anzufechten. Die Kammer hält es daher für erforderlich, die Sache an die Vorinstanz unter Anwendung des Artikels 111 (1) EPÜ zurückzuverweisen. Dies entspricht auch der allgemeinen Rechtsprechung (vgl. T 611/90, T 166/91 und T 326/87).

3.3. Der Antrag der Beschwerdegegnerin auf Zurückverweisung der Sache an die Einspruchsabteilung läßt erkennen, daß die Beschwerdegegnerin dem neuen Stand der Technik ebenfalls eine hohe Relevanz zumißt.

ENTSCHEIDUNGSFORMEL

Aus diesen Gründen wird entschieden:

1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.

2. Die Angelegenheit wird an die erste Instanz zur weiteren Entscheidung zurückverwiesen, wobei die zum Stand der Technik genannten Druckschriften EP-A-0 141 372 (D4), DE-A-2 845 930 (D6) und das allgemeine Fachwissen (D7) mit zu berücksichtigen sind.

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