European Case Law Identifier: | ECLI:EP:BA:1987:T000786.19870916 | ||||||||
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Datum der Entscheidung: | 16 September 1987 | ||||||||
Aktenzeichen: | T 0007/86 | ||||||||
Anmeldenummer: | 79850091.4 | ||||||||
IPC-Klasse: | H61K 31/52 | ||||||||
Verfahrenssprache: | EN | ||||||||
Verteilung: | |||||||||
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Bezeichnung der Anmeldung: | - | ||||||||
Name des Anmelders: | DRACO | ||||||||
Name des Einsprechenden: | - | ||||||||
Kammer: | 3.3.01 | ||||||||
Leitsatz: | Eine Klasse chemischer Verbindungen, die nur durch eine allgemeine Strukturformel mit mindestens zwei variablen Gruppen definiert ist, offenbart nicht jede einzelne Verbindung, die sich aus der Kombination aller möglichen Varianten innerhalb dieser Gruppe ergeben kann (im Anschluss an die Entscheidungen T 12/81, ABl. EPA 1982, 296 und T 181/82, ABl. EPA 1984, 401 Punkt 7 der Gründe). | ||||||||
Relevante Rechtsnormen: |
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Schlagwörter: | Neuheit einer einzelnen Verbindung aus einer allgemeinen Formel Erste medizinische Indikation Erfinderische Tätigkeit - Auswahl aus einer Vielzahl von Möglichkeiten |
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Orientierungssatz: |
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Angeführte Entscheidungen: |
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Anführungen in anderen Entscheidungen: |
Sachverhalt und Anträge
I. Das europäische Patent Nr. 11 609 mit 4 Ansprüchen wurde der Beschwerdegegnerin am 13. April 1983 auf die am 28. September 1979 eingereichte europäische Patentanmeldung Nr. 79 850 091.4 erteilt, die eine Priorität vom 21. Oktober 1978 (SE 7 810 946) in Anspruch nahm.
II. Die Beschwerdeführerin legte gegen die Erteilung am 9. Januar 1984 anhand von neuen Dokumenten Einspruch ein und beantragte den Widerruf des Patents in vollem Umfang wegen mangelnder Neuheit und mangelnder erfinderischer Tätigkeit.
III. Die Einspruchsabteilung hielt das Patent mit Zwischenentscheidung vom 21. Oktober 1985 in geändertem Umfang mit zwei Ansprüchen aufrecht. Die unabhängigen Ansprüche 1 und 2 lauteten wie folgt:
"1. Pharmazeutisches Präparat zur Verwendung bei der Behandlung von chronischen obstruktiven Atemwegs- oder von Herzerkrankungen, das als Wirkstoff eine wirksame Menge einer Verbindung der Formel
(FORMEL)
oder eines ihrer therapeutisch brauchbaren Salze in Verbindung mit einem pharmazeutisch brauchbaren Träger enthält
2. Verbindung der Formel
(FORMEL)
oder eines ihrer therapeutisch brauchbaren Salze zur Verwendung bei der Behandlung von chronischen obstruktiven Atemwegs- oder von Herzerkrankungen"
IV. Der Entscheidung zur Aufrechterhaltung des Patents in geändertem Umfang lag die Feststellung zugrunde, daß der Gegenstand beider Ansprüche gegenüber den Entgegenhaltungen neu sei. So sei zwar insbesondere 3-Propylxanthin in Bull. Chem. Soc. Jap., 1973, Bd. 46, S. 506 - 509 (im Patent erwähnte Druckschrift) offenbart, dessen pharmakologische Daten oder Verwendungsmöglichkeiten seien jedoch nicht angegeben. Ferner wurde die Auffassung vertreten, daß gegenüber dem aus den Entgegenhaltungen 12 und 13 hervorgehenden nächstliegenden Stand der Technik (siehe Liste unter Nr. VII), der 3-Methylxanthin offenbare, eine erfinderische Tätigkeit insbesondere deshalb gegeben sei, weil 3-Propylxanthin (Enprofyllin) erheblich weniger Nebenwirkungen als 1,3-Dimethylxanthin (Theophyllin) aufweise.
V. Die Beschwerdeführerin legte gegen diese Entscheidung am 17. Dezember 1985 Beschwerde ein und entrichtete die entsprechende Gebühr. Die Beschwerdebegründung wurde am 15. Februar 1986 nachgereicht.
Die Beschwerdeführerin bringt im wesentlichen folgendes vor: Der Gegenstand des angefochtenen Patents sei naheliegend, da der Fachmann erwarten könne, daß Enprofyllin qualitativ dieselbe Wirkung aufweise, wie sie von 3-Methylxanthin bekannt sei; es sei deshalb naheliegend, Enprofyllin in Betracht zu ziehen.
Außerdem
(i) stehe nicht eindeutig fest, ob 3-Methylxanthin ähnliche Nebenwirkungen wie Theophyllin habe, und
(ii) es sei fraglich, ob Enprofyllin weniger Nebenwirkungen als Theophyllin aufweise; beide Verbindungen hätten wohl eher verschiedene Nebenwirkungsbilder.
Außerdem sei der Gegenstand des angefochtenen Patents nicht neu, weil die Entgegenhaltung 20 die diuretische Verwendung von Enprofyllin offenbare.
VI. Die Beschwerdegegnerin machte in ihrer Erwiderung auf die Begründung der Beschwerdeführerin geltend, daß der Erfindung nicht nur die Aufgabe zugrunde liege, eine Verbindung bereitzustellen, die im Vergleich zu Theophyllin eine vorteilhafte bronchodilatorische und herzstärkende Wirkung aufweise, sondern eine Verbindung, die diese vorteilhaften Wirkungen ohne die Nachteile von Theophyllin in sich vereine. Sie behauptete, es sei nicht naheliegend gewesen, Enprofyllin für diese Aufgabe auszuwählen, da die strukturell nächstliegende Verbindung, nämlich 3-Butylxanthin, als starkes Diuretikum bekannt sei (s. Entgegenhaltung 9, S. 4, Tabelle I und S. 6, Tabelle II).
Entscheidungsgründe
(...)
3. Nach Ansicht der Kammer geht der nächstliegende Stand der Technik aus der Entgegenhaltung 12 hervor. Darin wird offenbart, daß 1,3-Dimethylxanthin (Theophyllin) und sein Metabolit 3-Methylxanthin für ihre bronchodilatorische Wirkung bekannt sind und daß die erstere Verbindung zur Behandlung obstruktiver Atemwegserkrankungen verbreitet eingesetzt wird (s. S. 534, letzter Absatz). Entgegenhaltung 12 offenbart ferner, daß Theophyllin wirksamer als 3-Methylxanthin ist (s. S. 531, Tabelle 1; S. 533, Absatz 2 und S. 535).
In Anbetracht dieser Entgegenhaltung und der Tatsache, daß 3-Methylxanthin darin eigentlich nicht als Medikament zur Behandlung chronischer obstruktiver Atemwegserkrankungen vorgeschlagen worden ist, ist es wohl kaum sinnvoll, diese Entgegenhaltung - wie die Beschwerdeführerin dies tut - als Ausgangspunkt für einen Angriff auf die erfinderische Tätigkeit zu verwenden. Diese Auffassung wird unabhängig auch von den Verfassern der Entgegenhaltung 18 vertreten, die die pharmakologische Wirkung von Enprofyllin an Theophyllin messen. In dieser Entgegenhaltung wird jedoch auch erwähnt, daß Theophyllin einige schwerwiegende Nebenwirkungen, insbesondere Anfälle oder Konvulsionen, hervorruft, die zum Tode führen können (s. Beschreibung, S. 2, Zeile 11), und eine Wirkung auf das zentrale Nervensystem aufweist, die zu Unruhe und Tremor führt, was bei der Behandlung chronischer obstruktiver Atemwegserkrankungen als Nachteil angesehen werden muß.
4. Der Erfindung liegt deshalb gegenüber Entgegenhaltung 12 die technische Aufgabe zugrunde, ein pharmazeutisches Präparat zur Verwendung bei der Behandlung chronischer obstruktiver Atemwegserkrankungen bereitzustellen, das mindestens so wirksam wie Theophyllin ist, aber die oben genannten nachteiligen Nebenwirkungen nicht aufweist.
Zur Lösung dieser technischen Aufgabe schlägt die Patentinhaberin 3-Propylxanthin (Enprofyllin) zur Verwendung bei der Behandlung von chronischen obstruktiven Atemwegs- oder von Herzerkrankungen vor.
4.1. Die Kammer ist der Überzeugung, daß diese technische Aufgabe gelöst worden ist. Die Entgegenhaltungen 7, S. 337, letzte drei Zeilen, 8, Zusammenfassung und 17, S. 400, rechte Spalte, Zeilen 24 bis 28, die alle nach dem Anmeldetag veröffentlicht worden sind, beweisen, daß Enprofyllin als Bronchodilator vier- bis fünfmal wirksamer als Theophyllin ist. Weitere später veröffentlichte Dokumente (siehe unten) enthalten Hinweise darauf, daß Enprofyllin nicht nur die oben genannten schwerwiegenden Nachteile nicht aufweist, sondern auch erheblich weniger Nebenwirkungen, zum Beispiel diuretischer, gastro-sekretorischer und tremorgener Art, aufweist.
5. Eine Prüfung der aufgeführten Vorveröffentlichungen hat ergeben, daß diese technische Lehre dort nicht offenbart ist. Somit ist der Gegenstand des Anspruchs 1 des angefochtenen Patents gegenüber dem Stand der Technik neu.
5.1. Die Beschwerdeführerin behauptet, die Entgegenhaltung 20 beschreibe die Verwendung unter anderem von 3-Propylxanthin als Diuretikum; dies sei eine Vorbeschreibung der Verwendung von 3-Propylxanthin in einem therapeutischen Verfahren zur Behandlung des menschlichen oder tierischen Körpers und somit im Hinblick auf Artikel 54 (5) EPÜ neuheitsschädlich für die Ansprüche 1 und 2. Die Entgegenhaltung 20 ist vor der Einspruchsabteilung nicht angezogen worden, wird jedoch von der Beschwerdekammer aufgrund von Artikel 114 (1) EPÜ berücksichtigt werden. Der maßgebende Teil der Offenbarung der Entgegenhaltung 20 lautet wie folgt: "Die Xanthine I (R = Me, Et, Pr, Bu, Niederalkyl, R1 = H, Niederalkyl), die gute Diuretika sind, wurden durch ... hergestellt."
Die Entgegenhaltung 20 offenbart tatsächlich disubstituierte Xanthine, bei denen die Substituenten aus zwei verschiedenen Listen auszuwählen sind. Diese Listen umfassen H und Niederalkyl für die 8-Stellung und Me, Et, Pr, Bu und Niederalkyl für die 3-Stellung.
In ihrer Entscheidung T 12/81 (Diastereomere, ABl. EPA 1982, 296) stellte die Kammer obiter dictum folgendes fest: Sind zur Herstellung der Endprodukte zweierlei Klassen von Ausgangsstoffen notwendig und sind hierfür Beispiele für Einzelindividuen jeweils in einer Auflistung gewissen Umfangs zusammengestellt, so kann gleichwohl ein Stoff, der durch Umsetzung eines speziellen Paares aus beiden Listen zustandekommt, als neu angesehen werden (s. insbesondere Nr. 13).
Nach Auffassung der Kammer gilt dieser Grundsatz eindeutig nicht nur für Ausgangsstoffe chemischer Umsetzungen, sondern auch für polysubstituierte chemische Stoffe, bei denen die einzelnen Substituenten wie im vorliegenden Fall aus zwei oder mehr Listen gewissen Umfangs ausgewählt werden müssen. Auf dieser Grundlage kann also die Entgegenhaltung 20 nicht als spezifische Offenbarung von 3-Propylxanthin und damit auch nicht als Offenbarung einer pharmakologischen Verwendung dieser Verbindung (als Diuretikum) angesehen werden. Daher gilt sie nach Ansicht der Kammer nicht als neuheitsschädlich für den Gegenstand der Ansprüche.
Bei Anwendung dieses Grundsatzes in einem früheren Fall hat es die Kammer abgelehnt, die Verbindungen, die aus der Umsetzung einer aus einem bereichsmäßig definierten Stoffkollektiv willkürlich ausgewählten Verbindung mit einem einzigen Reaktionspartner hervorgehen, als vorbeschrieben anzusehen. Damit galt N-Propyl-2,2,4,4-tetramethyl-7-oxa-3,20-diaza-21-oxo- dispiro-[5,1,11,2]-heneicosan als neu, da diese Verbindung (im Gegensatz zu der N-Methylverbindung) nicht allein schon durch die Beschreibung der Umsetzung von 2,2,4,4-Tetramethyl-7-oxa-3,20- diaza-21-oxo-dispiro [5,1,11,2]-heneicosan mit einem der Stoffkollektive, den C1-C4-Alkylbromiden, als offenbart angesehen wurde (vgl. T 181/82, ABl. EPA 1984, 401, 410). Wenn aber eine strukturell (durch eine chemische Umsetzung) genau definierte Klasse chemischer Verbindungen mit nur einem bereichsmäßig definierten Substituenten keine Vorbeschreibung aller durch willkürliche Auswahl einer Substituentendefinition theoretisch möglichen Verbindungen darstellt, so gilt dies um so mehr für eine Gruppe chemischer Stoffe, deren allgemeine Formel zwei variable Gruppen umfaßt. Deshalb offenbart im vorliegenden Fall eine Klasse chemischer Verbindungen, die nur durch eine allgemeine Strukturformel mit mindestens zwei variablen Gruppen definiert ist, nicht alle Einzelindividuen, die sich aus der Kombination aller möglichen Varianten innerhalb dieser Gruppen ergeben können.
6.7. Aus diesen Gründen ist die Kammer in Anbetracht der dem beanspruchten Verfahren zugrunde liegenden Aufgabe der Auffassung, daß weder der genannte Stand der Technik noch das allgemeine Fachwissen einen Hinweis dafür liefern, daß die Auswahl von Enprofyllin aus der Vielzahl vorhandener Xanthine die Lösung der der Erfindung zugrunde liegenden technischen Aufgabe bringt. Somit beruht der in den Ansprüchen 1 und 2 definierte Gegenstand des angefochtenen Patents auf einer erfinderischen Tätigkeit.
ENTSCHEIDUNGSFORMEL
Aus diesen Gründen wird entschieden:
Die Beschwerde wird zurückgewiesen.