European Case Law Identifier: | ECLI:EP:BA:2021:T011618.20211011 | ||||||||
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Datum der Entscheidung: | 11 October 2021 | ||||||||
Aktenzeichen: | T 0116/18 | ||||||||
Anmeldenummer: | 12002626.5 | ||||||||
IPC-Klasse: | A01N 43/56 A01N 51/00 |
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Verfahrenssprache: | EN | ||||||||
Verteilung: | A | ||||||||
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Bezeichnung der Anmeldung: | - | ||||||||
Name des Anmelders: | Sumitomo Chemical Company, Limited | ||||||||
Name des Einsprechenden: | SYNGENTA LIMITED | ||||||||
Kammer: | 3.3.02 | ||||||||
Leitsatz: | - | ||||||||
Relevante Rechtsnormen: |
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Schlagwörter: | Einspruchsgründe - unzureichende Offenbarung Neuheit Erfinderische Tätigkeit Befassung der Großen Beschwerdekammer Verspätet vorgebrachte Beweismittel - mit der Beschwerdebegründung eingereicht Verspätet vorgebrachte Beweismittel - kurz vor der mündlichen Verhandlung vorgelegt |
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Orientierungssatz: |
Der Großen Beschwerdekammer werden folgende Rechtsfragen zur Entscheidung vorgelegt: Wenn sich der Patentinhaber für die Anerkennung erfinderischer Tätigkeit auf eine technische Wirkung beruft und Beweismittel, z. B. Versuchsdaten, zum Nachweis dieser Wirkung vorgelegt hat, die vor dem Anmeldetag des Streitpatents nicht öffentlich zugänglich waren und erst nach diesem Tag eingereicht wurden (nachveröffentlichte Beweismittel): 1. Ist dann eine Ausnahme vom Grundsatz der freien Beweiswürdigung (siehe z. B. G 3/97, Nr. 5 der Entscheidungsgründe und G 1/12, Nr. 31 der Entscheidungsgründe) dahin gehend zuzulassen, dass nachveröffentlichte Beweismittel unberücksichtigt bleiben müssen, weil der Nachweis für die Wirkung ausschließlich auf diesen beruht? 2. Falls Frage 1 bejaht wird (und die nachveröffentlichten Beweismittel unberücksichtigt bleiben müssen, wenn der Nachweis für die Wirkung ausschließlich auf diesen beruht), können die nachveröffentlichten Beweismittel dann berücksichtigt werden, wenn der Fachmann am Anmeldetag der strittigen Patentanmeldung ausgehend von den darin enthaltenen Angaben oder vom allgemeinen Fachwissen die Wirkung für plausibel erachtet hätte (Ab-initio-Plausibilität)? 3. Falls Frage 1 bejaht wird (und die nachveröffentlichten Beweismittel unberücksichtigt bleiben müssen, wenn der Nachweis für die Wirkung ausschließlich auf diesen beruht), können die nachveröffentlichten Beweismittel dann berücksichtigt werden, wenn der Fachmann am Anmeldetag der strittigen Patentanmeldung ausgehend von den darin enthaltenen Angaben oder vom allgemeinen Fachwissen keinen Grund gesehen hätte, die Wirkung für unplausibel zu erachten (Ab-initio-Unplausibilität)? |
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Angeführte Entscheidungen: | |||||||||
Anführungen in anderen Entscheidungen: |
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Sachverhalt und Anträge
I. Die Entscheidung betrifft die von der Einsprechenden (Beschwerdeführerin) eingelegte Beschwerde gegen die Entscheidung der Einspruchsabteilung (angefochtene Entscheidung), den Einspruch gegen das europäisches Patent Nr. 2 484 209 (Streitpatent) zurückzuweisen.
Das Streitpatent geht auf die europäische Patentanmeldung Nr. 12002626.5 zurück, eine Teilanmeldung zu der europäischen Patentanmeldung Nr. 05719327.8.
II. Angefochten wurde das Streitpatent nach
Artikel 100 a) EPÜ wegen mangelnder Neuheit (Artikel 54 EPÜ) und mangelnder erfinderischer Tätigkeit (Artikel 56 EPÜ), Artikel 100 b) EPÜ wegen unzureichender Offenbarung (Artikel 83 EPÜ) und Artikel 100 c) EPÜ wegen Erweiterung des Gegenstands (Artikel 123 (2) und 76 (1) EPÜ).
III. Folgende im Einspruchsverfahren vorgelegte Dokumente sind für die vorliegende Entscheidung relevant:
D4 WO 03/015519 A1
D8 WO 2005/048711 A1
D8P1 DE 103 53 278.1 (erste Prioritätsanmeldung von D8)
D8P2 DE 10 2004 006 075.4 (zweite Prioritätsanmeldung von D8)
D9 Versuchsbericht - Feldversuche (18 Seiten, eingereicht mit der Einspruchsschrift)
D10 Versuchsbericht (2 Seiten, eingereicht mit der Einspruchsschrift)
D21 Zusätzliche Versuchsdaten (6 Seiten, eingereicht von der Patentinhaberin (Beschwerdegegnerin) mit Schreiben vom 26. Oktober 2016)
D22 Zusätzliche Versuchsdaten (21 Seiten, eingereicht von der Beschwerdegegnerin mit Schreiben vom 11. September 2017)
IV. Die Entscheidung der Einspruchsabteilung lässt sich wie folgt zusammenfassen:
- Die Einspruchsgründe nach Artikel 100 c) EPÜ (Artikel 123 (2) und 76 (1) EPÜ) standen der Aufrechterhaltung des Streitpatents in der erteilten Fassung nicht entgegen.
- Die Frage nach den Voraussetzungen, unter denen eine Synergie erzielt wird, war für die ausreichende Offenbarung ohne Belang, da diese Wirkung in den Ansprüchen nicht genannt war. Diese Wirkung war Teil der zu lösenden Aufgabe und somit im Rahmen der erfinderischen Tätigkeit zu behandeln. Mithin stand der Einspruchsgrund nach Artikel 100 b) EPÜ der Aufrechterhaltung des Streitpatents in der erteilten Fassung nicht entgegen.
- Die auf D4 und D8 gestützten Neuheitseinwände (Dokumente des Stands der Technik nach Artikel 54 (2) bzw. (3) EPÜ) waren nicht überzeugend, weil aus den beiden Offenbarungen mindestens zwei Mal eine Auswahl getroffen werden muss, um zum Gegenstand von Anspruch 1 des Streitpatents in der erteilten Fassung zu gelangen.
- D21 und D22 wurden zum Verfahren zugelassen. Die Ergebnisse in diesen Dokumenten sowie in Versuchsbeispiel 2 des Streitpatents belegen eine synergistische Wirkung der Kombination von Thiamethoxam mit Verbindungen der in Anspruch 1 genannten Formel I a. Die Daten in D9 und D10 wurden nicht berücksichtigt, unter anderem weil die dort beschriebenen Versuche nicht reproduzierbar waren. In Anbetracht von D4 als nächstliegendem Stand der Technik bestand die objektive technische Aufgabe in der "Bereitstellung von Insektizidzusammensetzungen umfassend Anthranilamide aus der in D4 offenbarten Gruppe und einen insektizid wirkenden Mischungspartner, die eine vorteilhafte, verbesserte Wirksamkeit aufweisen" (s. angefochtene Entscheidung, S. 23, vorletzter Absatz). Die Lösung dieser Aufgabe war nicht naheliegend, da die Synergien per se unvorhersehbar sind.
Somit stand der Einspruchsgrund nach Artikel 100 a) EPÜ der Aufrechterhaltung des Streitpatents in der erteilten Fassung nicht entgegen.
V. Mit ihrer Beschwerdebegründung reichte die Beschwerdeführerin das folgende Dokument ein:
D23 Versuchsbericht (8 Seiten)
Die letzten zwei Seiten der Beschwerdebegründung sind mit "Annex 1" (Anlage 1) überschrieben und enthalten eine Berechnung der Zahl der unter die Formel I a des Anspruchs 1 fallenden Verbindungen.
VI. Die Beteiligten wurden, wie beantragt, zu einer mündlichen Verhandlung geladen. Bei deren Vorbereitung erließ die Kammer eine Mitteilung nach Artikel 15 (1) VOBK 2020, in der sie ihre vorläufige Auffassung zu bestimmten, für die zu treffende Entscheidung relevanten Fragen darlegte. In Bezug auf das strittige Erfordernis der Plausibilität deutete sie an, dass eine Befassung der Großen Beschwerdekammer notwendig sein könnte.
VII. Mit Schreiben vom 19. April 2021 nahm die Beschwerdeführerin ihren früheren Antrag auf Rückzahlung der Beschwerdegebühr zurück.
VIII. Mit Schreiben vom 22. April 2021 reichte die Beschwerdeführerin die Abschrift einer Korrespondenz zwischen dem epi und dem Präsidenten des Europäischen Patentamts ein.
IX. Mit Schreiben vom 22. Juni 2021 reichte die Beschwerdegegnerin unter anderem einen zweiten und einen dritten Hilfsantrag mit Anspruchssätzen sowie das folgende Dokument ein:
D24 Selby, T. S.; Lahm, G. P.; Stevenson, T. M.: "A retrospective look at anthranilic diamide insecticides: discovery and lead optimization to chlorantraniliprole and cyantraniliprole", Pest Manag. Sci. 2017, Bd. 73, S. 658 - 665
X. Die mündliche Verhandlung vor der Kammer fand am 22. Juli 2021 in Form einer Videokonferenz statt.
In der Verhandlung beantragte die Beschwerdeführerin anfänglich:
- die angefochtene Entscheidung aufzuheben und das Streitpatent in vollem Umfang zu widerrufen,
- D21 und D22 für den Nachweis der behaupteten Synergie unberücksichtigt zu lassen,
- D24 nicht zum Verfahren zuzulassen,
- die anhängigen Hilfsanträge der Beschwerdegegnerin nicht zum Verfahren zuzulassen.
Die folgenden früher gestellten Anträge erhielt sie nicht aufrecht:
- dass die Kammer die Beschwerdegegnerin anweisen solle, den Originaldatensatz vorzulegen, der den im Streitpatent präsentierten Ergebnissen zugrunde liegt,
- dass die Kammer die Einvernehmung von Zeugen anordnen solle, die zur Vollständigkeit und Richtigkeit der im Streitpatent präsentierten Daten aussagen könnten.
Die Beschwerdegegnerin beantragte anfänglich:
- die Beschwerde zurückzuweisen und folglich das Streitpatent in der erteilten Fassung aufrechtzuerhalten (Hauptantrag),
- hilfsweise das Streitpatent in geändertem Umfang auf der Grundlage des mit Schreiben vom 26. Oktober 2016 eingereichten ersten Hilfsantrags oder des mit Schreiben vom 22. Juni 2021 eingereichten zweiten oder dritten Hilfsantrags aufrechtzuerhalten,
- falls dem Hauptantrag nicht stattgegeben werde, die Sache zur weiteren Entscheidung an die Einspruchsabteilung zurückzuverweisen,
- die Abbildungen 1 und 2 der Beschwerdebegründung sowie die zugehörigen Erläuterungen nicht zum Verfahren zuzulassen,
- D21 und D22 für den Nachweis der behaupteten Synergie zu berücksichtigen,
- D23 nicht zum Verfahren zuzulassen,
- D24 zum Verfahren zuzulassen.
Außerdem beantragten die beiden Beteiligten in der mündlichen Verhandlung jeweils, die Große Beschwerdekammer mit Fragen bezüglich des strittigen Erfordernisses der Plausibilität zu befassen.
In der mündlichen Verhandlung entschied die Kammer:
- D23 zum Verfahren zuzulassen,
- die Abbildungen 1 und 2 der Beschwerdebegründung sowie die zugehörigen Erläuterungen zum Verfahren zuzulassen,
- D24 nicht zum Verfahren zuzulassen.
Am Ende der mündlichen Verhandlung bekräftigten die Beteiligten ihre anfänglichen Anträge und außerdem ihren jeweiligen späteren Antrag auf Befassung der Großen Beschwerdekammer. Die Kammer entschied, das Verfahren schriftlich fortzusetzen.
XI. Am 6. Oktober 2021 ging eine Einwendung eines Dritten ein. Da sich diese darauf bezog, wie die Vorlagefragen zu beantworten seien, hat die Kammer sie für die vorliegende Entscheidung nicht berücksichtigt.
XII. Das Vorbringen der Beschwerdeführerin lässt sich, soweit es für die vorliegende Entscheidung relevant ist, wie folgt zusammenfassen:
Zulassung von D23
- D23 sei angesichts der überraschenden Entwicklung im Einspruchsverfahren, d. h. der geänderten Einschätzung der Relevanz von D9 und D10, sowie als Reaktion auf die Dokumente D21 und D22 der Beschwerdegegnerin eingereicht worden. Nach der vorläufigen Auffassung der Einspruchsabteilung, die zu ihren Gunsten ausgefallen sei, habe die Beschwerdegegnerin erst etwa zwei Monate vor der mündlichen Verhandlung D22 eingereicht und Kritik geäußert. In Anbetracht der Komplexität der Versuche sei der verbleibende Zeitraum für die Vorlage weiterer experimenteller Nachweise zu kurz gewesen. Mit D22 sollten unter anderem ihre mit D9 und D10 vorgelegten Ergebnisse angefochten werden. Sie sollte Gelegenheit erhalten, auf die verspätete Vorlage von D22 zu reagieren. Daher solle D23 zum Verfahren zugelassen werden.
Zulassung der Abbildungen 1 und 2 der Beschwerdebegründung sowie der zugehörigen Erläuterungen
- Bei den Abbildungen 1 und 2 der Beschwerdebegründung handle es sich lediglich um eine grafische Darstellung der in D9 enthaltenen Daten. Weder in diesen Abbildungen noch in den zugehörigen Erläuterungen seien neue Informationen hinzugefügt worden. Auch die Beschwerdegegnerin habe darin keine neuen Informationen ausmachen können.
Zulassung von D24
- Die Rechtfertigung der Beschwerdegegnerin dafür, dass sie D24 erst einen Monat vor der mündlichen Verhandlung vor der Kammer vorgelegt habe, sei nicht überzeugend. Die in Artikel 13 (2) VOBK 2020 geforderten durch stichhaltige Gründe belegten außergewöhnlichen Umstände lägen hier nicht vor. Daher solle D24 nicht zum Verfahren zugelassen werden.
Ausreichende Offenbarung
- Das Streitpatent enthalte keine Angaben, die es dem Fachmann erlaubten festzustellen, welche der etlichen beanspruchten Kombinationen in welchen Verhältnissen bei welchem Getreide und gegen welche Schädlinge eine synergistische Wirkung zeigen könnten. Die Ermittlung der geeigneten Voraussetzungen sei für den Fachmann mit einem unzumutbaren Aufwand verbunden. Daher sei die Erfindung in den Ansprüchen des Streitpatents in der erteilten Fassung nicht ausreichend offenbart.
Neuheit
- Der Gegenstand des Anspruchs 1 sei nicht neu gegenüber D8, und die Gegenstände der Ansprüche 1 bis 3 nicht neu gegenüber D4. Neuheit könne auch deswegen nicht zuerkannt werden, weil es sich bei den Auswahlen, so es sie überhaupt gebe, nicht um gezielte Auswahlen handle.
Erfinderische Tätigkeit
- D4 sei der nächstliegende Stand der Technik. Von den im Streitpatent enthaltenen Beispielen bezögen sich lediglich die Versuchsbeispiele 2 und 5 auf Insektizidzusammensetzungen gemäß Anspruch 1. Die Daten der Beschwerdeführerin in D23 belegten, dass die Kombination von Thiamethoxam mit Chlorantraniliprol bei bestimmten Gewichtsverhältnissen nicht synergistisch gegen die im Streitpatent genannte und eine sehr ähnliche Insektenart wirkten. Die Daten in D23 seien verlässlich und sollten Berücksichtigung finden. Die Kammer habe die Einlassung der Beschwerdegegnerin, dass die Daten in D23 nicht verlässlich seien, weil ähnliche Insektizidkonzentrationen zu sehr unterschiedlichen Sterberaten führten, korrekterweise für nicht überzeugend befunden. Die zusätzliche unbehandelte Nahrung sei nur deswegen hinzugegeben worden, um einen vorzeitigen Hungertod der Insekten zu vermeiden. Die Nichtzugabe zusätzlicher unbehandelter Nahrung hätte die Ergebnisse verfälscht. Ebenso wenig könne ihr entgegengehalten werden, dass sie in D23 ein anderes Benetzungsmittel als im Streitpatent verwendet habe, denn Anspruch 1 enthalte keine diesbezüglichen Beschränkungen. Zudem enthalte das Streitpatent mit den Versuchsbeispielen 2 und 5 lediglich zwei isolierte Datenpunkte, die die synergistische Wirkung nicht über den gesamten Schutzbereich von Anspruch 1 glaubhaft machen könnten. Nach der ständigen Rechtsprechung der Beschwerdekammern dürften die nachveröffentlichten Beweismittel D21 und D22 somit nicht berücksichtigt werden. Selbst wenn D21 und die dort unter Nummer 4 präsentierten Ergebnisse zur Wirkung gegen Chilo suppressalis berücksichtigt würden, könne ein solcher Einzelversuch eine synergistische Wirkung gegen diese Insektenart nicht über den gesamten Schutzbereich von Anspruch 1 glaubhaft machen, denn die Formel I a schließe über zehn Millionen Verbindungen ein. Die objektive technische Aufgabe könne nur in der Bereitstellung einer alternativen Insektizidzusammensetzung gesehen werden. Die Lösung dieser Aufgabe ergebe sich in naheliegender Weise aus D4, wo die Kombination von Thiamethoxam mit Verbindungen der Formel I a vorgeschlagen wird.
XIII. Das Vorbringen der Beschwerdegegnerin lässt sich, soweit es für die vorliegende Entscheidung relevant ist, wie folgt zusammenfassen:
Zulassung von D23
- Die Mangelhaftigkeit von D9 und D10 hätte der Beschwerdeführerin bei der Einreichung dieser Dokumente klar sein müssen. Die Beschwerdeführerin habe die Daten in D9 und D10 auf jeden Fall mit Schreiben vom 11. September 2017 kritisiert, und es gebe keinen Grund, warum D23 nicht eher hätte eingereicht werden können und müssen. Die Einspruchsabteilung hätte die erfinderische Tätigkeit auch ohne D22 anerkannt. Daher könne die Einreichung von D23 nicht als Reaktion auf die Einreichung von D22 angesehen werden. Auch in Anbetracht der Begründung von T 101/87 sollte D23 nicht zum Verfahren zugelassen werden.
Zulassung der Abbildungen 1 und 2 der Beschwerdebegründung sowie der zugehörigen Erläuterungen
- Die Abbildungen 1 und 2 der Beschwerdebegründung sowie die zugehörigen Erläuterungen hätten im Einspruchsverfahren eingereicht werden können und müssen. Sie enthielten bis dahin nicht in der Akte befindliche neue Informationen und sollten nicht zum Verfahren zugelassen werden.
Zulassung von D24
- D24 sei eingereicht worden, weil die Kammer in ihrer vorläufigen Auffassung zum ersten Mal im Verfahren Fragen zur erfinderischen Tätigkeit aufgeworfen habe, die bis dahin lediglich im Abschnitt "Background to the present appeal" (Hintergrund der vorliegenden Beschwerde) der Beschwerdebegründung erwähnt waren. Der Beschwerdegegnerin erschließe sich der Zweck dieses Abschnitts zum Hintergrund der Beschwerde nicht. Daher solle D24 zum Verfahren zugelassen werden.
Ausreichende Offenbarung
- Die Einspruchsabteilung sei richtigerweise zu dem Ergebnis gelangt, dass die in den Ansprüchen des Streitpatents in der erteilten Fassung dargelegte Erfindung ausreichend offenbart sei.
Neuheit
- Die Einspruchsabteilung habe richtigerweise die Neuheit des im Streitpatent in der erteilten Fassung beanspruchten Gegenstands gegenüber D8 und D4 anerkannt.
Erfinderische Tätigkeit
- Der Gegenstand von Anspruch 1 des Streitpatents in der erteilten Fassung unterscheide sich vom nächstliegenden Stand der Technik D4 dadurch, dass mindestens zwei Mal eine Auswahl getroffen werden müsse, um zu diesem Gegenstand zu gelangen. Die mit diesen Unterscheidungsmerkmalen verbundene Wirkung bestehe in der synergistischen Interaktion von Thiamethoxam und den Verbindungen der Formel I a. Dies erschließe sich aus den Versuchsbeispielen 2 und 5 des Streitpatents. Es gebe keinen wissenschaftlichen Grund, diese Wirkung zu bezweifeln. Somit obliege es der Beschwerdeführerin nachzuweisen, dass diese Wirkung nicht über den gesamten Schutzbereich des Anspruchs erzielt werde. Die Dokumente D9, D10 und D23 der Beschwerdeführerin seien kein ausreichender Beleg dafür. Insbesondere seien die von der Beschwerdeführerin mit D23 vorgelegten Daten nicht verlässlich und sollten keine Berücksichtigung finden. Das im Streitpatent beschriebene Verfahren sei in D23 dahin gehend modifiziert worden, dass während des Versuchszeitraums zusätzliche unbehandelte Nahrung hinzugegeben worden sei. Außerdem sei D23 zu entnehmen, dass ähnliche Insektizidkonzentrationen zu sehr unterschiedlichen Sterberaten führten. Überdies werde in D23 ein anderes Benetzungsmittel als im Streitpatent verwendet.
- Das von der Beschwerdeführerin herangezogene Konzept der "Plausibilität" entbehre einer rechtlichen Grundlage. Selbst wenn ein Kriterium der Ab-initio-Unplausibilität angewendet werde, seien die nachveröffentlichten Dokumente D21 und D22 zu berücksichtigen, weil die Versuchsdaten im Streitpatent die synergistische Wirkung glaubhaft machten. Die Daten in D21 und D22 zeigten, dass diese über den gesamten Schutzbereich des Anspruchs 1 erzielt werde.
- D21 zeige insbesondere, dass Thiamethoxam und eine Verbindung der Formel I a synergistisch gegen Chilo suppressalis wirkten. Die Beschwerdeführerin habe dieses Ergebnis weder bestritten noch geeignete Gegenbeweise geliefert. Es gebe keinen wissenschaftlichen Grund, warum diese synergistische Wirkung nicht auch mit anderen unter den Anspruch 1 fallenden Insektizidzusammensetzungen erzielt werden sollte. Schließlich fielen unter die Formel I a nur Verbindungen, die einander in chemischer Hinsicht sehr ähnlich seien.
- Die objektive technische Aufgabe müsse also zumindest in der Bereitstellung einer Insektizidzusammensetzung gesehen werden, deren Insektizide synergistisch gegen Chilo suppressalis wirkten. Die Lösung dieser Aufgabe sei nicht naheliegend, da Synergien per se unvorhersehbar seien.
- Selbst wenn die objektive technische Aufgabe in der Bereitstellung einer Alternative bestünde, sei die Lösung im Streitpatent nicht naheliegend.
Entscheidungsgründe
Erfindung
1. Beanspruchter Gegenstand
1.1 Das Streitpatent umfasst in der erteilten Fassung zwei Anspruchssätze für verschiedene Vertragsstaaten, und zwar
- einen Anspruchssatz für die Vertragsstaaten IS und LT,
- einen Anspruchssatz für die Vertragsstaaten AT, BE, CH, DE, DK, ES, FR, GB, GR, IT, LI, LU, MC, NL und SE.
1.2 Anspruch 1 des Anspruchssatzes für die Vertragsstaaten IS und LT lautet:
"Insektizidzusammensetzung, aufweisend Thiamethoxam und eine oder nicht weniger als zwei Arten an Verbindungen, die ausgewählt sind aus einer Verbindung mit der folgenden Formel [l a]:
FORMULA/TABLE/GRAPHIC
in welcher R1 ein Halogenatom oder eine C1-6-Haloalkylgruppe ist, R2 ein Halogenatom, R3 und R5 jeweils eine C1-6-Alkylgruppe, R4 ein Wasserstoff- oder Halogenatom und X N bedeutet, oder ein Salz davon."
1.3 Anspruch 1 des Anspruchssatzes für die Vertragsstaaten AT, BE, CH, DE, DK, ES, FR, GB, GR, IT, LI, LU, MC, NL und SE hat denselben Wortlaut wie der vorstehende Anspruch 1 und enthält außerdem die folgende Bedingung:
"unter der Voraussetzung, dass die folgenden Verbindungen ausgeschlossen sind:
FORMULA/TABLE/GRAPHIC
und
FORMULA/TABLE/GRAPHIC"
1.4 Anspruch 1 der beiden Anspruchssätze unterscheidet sich also nur dadurch, dass er für die Vertragsstaaten AT, BE, CH, DE, DK, ES, FR, GB, GR, IT, LI, LU, MC, NL und SE zusätzlich einen Disclaimer enthält. Durch diesen werden Zusammensetzungen ausgeschlossen, die Thiamethoxam und mindestens eine der drei konkret genannten Verbindungen umfassen, die unter die allgemeine Definition der Formel I a fallen.
Nachfolgend wird "Anspruchssatz" oder z. B. "Anspruch 1" verwendet, wenn sich die betreffenden Ausführungen gleichermaßen auf beide Anspruchssätze bzw. auf Anspruch 1 beider Anspruchssätze beziehen.
2. Hintergrund der Erfindung
2.1 Im Streitpatent (Absätze [0002] bis [0004]) wird mit Verweis auf vorveröffentlichte Patentdokumente anerkannt, dass sowohl Thiamethoxam als auch die Verbindungen der Formel I a vor dem Prioritätstag des Streitpatents für ihre insektizide Wirkung bekannt waren. Laut dem Streitpatent (Absatz [0008]) haben die Erfinder festgestellt, dass Mischungen von Thiamethoxam und Verbindungen der Formel I a eine stärkere insektizide Wirksamkeit entfalten können, als ausgehend von der jeweiligen Wirksamkeit der Einzelkomponenten zu erwarten wäre. Dies bedeutet, dass laut dem Streitpatent eine Insektizidzusammensetzung gemäß Anspruch 1 mehr als eine additive, nämlich eine synergistische Wirkung erzielen kann.
2.2 Zur Klarstellung, ob eine bestimmte Kombination von Insektiziden synergistisch wirkt, werden im Streitpatent zunächst die Wirksamkeiten der einzelnen Insektizide in Form der Sterberate bestimmt, d. h. in Form des prozentualen Anteils toter Insekten, der zu beobachten ist, wenn eine bestimmte Zahl von Insekten über einen bestimmten Zeitraum einer bestimmten Menge von Insektizid ausgesetzt wird. Aus diesen einzelnen Wirksamkeiten wird dann anhand der Colby-Formel eine für den gemeinsamen Einsatz beider Insektizide zu erwartende Wirksamkeit errechnet. Der Wert dieser zu erwartenden Wirksamkeit entspricht einer rein additiven Wirkung beider Insektizide. Liegt die tatsächlich festgestellte Wirksamkeit der Kombination beider Insektizide über diesem zu erwartenden Wert, so wirken die Insektizide synergistisch zusammen. Liegt sie unter diesem Wert, so wirken die Insektizide der Kombination antagonistisch. Diese Herangehensweise bei der Ermittlung des Vorhandenseins/der Abwesenheit von Synergien war unter den Beteiligten unstrittig.
2.3 Das Streitpatent (Absatz [0058]) umfasst eine Liste von Beispielen für Schädlingsinsekten, die sich mittels der vorgenannten Zusammensetzungen bekämpfen lassen. Unter den genannten Schädlingsinsekten sind Spodoptera litura, Plutella xylostella und Chilo suppressalis (Näheres s. nachstehenden Abschnitt zur erfinderischen Tätigkeit).
Zulassung von D23
3. D23 war von der Beschwerdeführerin zusammen mit ihrer Beschwerdebegründung eingereicht worden, um zu zeigen, dass Thiamethoxam und Chlorantraniliprol, d. h. eine der Verbindungen der Formel I a aus Anspruch 1 (R**(1) = Br, R**(2) = Cl, R**(3) = Me, R**(4) = Cl, R**(5) = Me), bei bestimmten Gewichtsverhältnissen nicht synergistisch gegen Spodoptera littoralis und Plutella xylostella wirken. Die Beschwerdegegnerin beantragte, D23 nicht zum Verfahren zuzulassen.
4. Bei der Entscheidung über die Zulassung von D23 ist die Vorgeschichte des Falls zu berücksichtigen.
4.1 Mit ihrer Einspruchsschrift hatte die Beschwerdeführerin die Dokumente D9 und D10 eingereicht. Diese beiden Versuchsberichte sollten zeigen, dass die Kombination von Thiamethoxam und Chlorantraniliprol nicht oder zumindest nicht immer synergistisch wirkt. D9 ist ein Bericht über Feldversuche, bei dem sich unter den untersuchten Insekten auch die zwei im Streitpatent untersuchten befanden, nämlich Spodoptera litura und Plutella xylostella.
Die Beschwerdegegnerin kritisierte in ihrer Erwiderung auf die Einspruchsbegründung die Daten in D9 und brachte vor, dass die Daten der Beschwerdeführerin nicht verlässlich seien.
In der Anlage zu ihrer Ladung zur mündlichen Verhandlung machte sich die Einspruchsabteilung sodann die auf D9 und D10 beruhende Argumentationslinie der Beschwerdeführerin zu eigen und kam zu dem Schluss, dass "die Versuchsdaten in den Berichten D9 und D10 zeigen, dass die technische (synergistische) Wirkung nicht über den gesamten Schutzbereich des Anspruchs 1 erzielt wird" (S. 17, vorletzter Absatz).
Die Beschwerdegegnerin kritisierte in ihren anschließenden Eingaben vom 11. und 27. September 2017 den Inhalt von D9 und D10 erneut und reichte mit Ersterer als Dokument D22 einen Satz von Versuchsdaten ein. Diese sollten unter anderem zeigen, dass Thiamethoxam mit Chlorantraniliprol synergistisch zusammenwirkt, und die Feststellungen der Beschwerdeführerin in D9 und D10 infrage stellen.
Die Einspruchsabteilung ließ D22 in der mündlichen Verhandlung zum Verfahren zu und erkannte unter dessen Berücksichtigung die Synergien als technische Wirkung der beanspruchten Insektizidkombinationen an.
4.2 Gewiss hatte die Beschwerdegegnerin, wie sie vor der Kammer ausführte, in ihren Eingaben vom 11. und 27. September 2017 den Inhalt sowohl von D9 als auch von D10 kritisiert, doch erschließt sich der Kammer nicht, warum dies die Beschwerdeführerin - insbesondere angesichts der zu ihren Gunsten ausgefallenen vorläufigen Stellungnahme der Einspruchsabteilung - zwangsläufig dazu veranlasst haben sollte, einen neuen Satz von Versuchsdaten einzureichen.
Die Kammer pflichtet der Beschwerdeführerin bei, dass für den vorliegenden Kontext geeignete Versuche eine gewisse Zeit in Anspruch nehmen. Sie müssen an lebenden Insekten durchgeführt und aus statistischen Gründen einige Male wiederholt werden und erfordern eine gewisse Vorlaufzeit, was sie insgesamt komplexer macht. Selbst wenn also nach der Kritik der Beschwerdegegnerin, die sie auf die vorläufige Stellungnahme der Einspruchsabteilung hin eingereicht hatte, die behauptete Mangelhaftigkeit der von der Beschwerdeführerin mit D9 und D10 vorgelegten Daten sofort offenkundig gewesen wäre, wäre es unverhältnismäßig gewesen, von der Beschwerdeführerin die Vorlage eines neuen Versuchsdatensatzes zu erwarten, denn nach den Eingaben der Beschwerdegegnerin vom 11. und 27. September 2017 verblieben nur noch etwa zwei Monate bis zur mündlichen Einspruchsverhandlung am 28. November 2017.
Überdies legte die Beschwerdegegnerin in ihrer Eingabe vom 11. September 2017 mit D22 neue Versuchsdaten vor. Unter anderem in Anbetracht dieser verspätet eingereichten zusätzlichen Versuchsdaten rückte die Einspruchsabteilung von ihrer in der vorläufigen Stellungnahme vertretenen Auffassung ab, wie aus dem ersten Absatz des Abschnitts "Technical effect" (Technische Wirkung) auf Seite 23 ihrer Entscheidung hervorgeht: "Das Ergebnis des Versuchsbeispiels 2 des Streitpatents sowie die in den Dokumenten D21 und D22 beschriebenen Ergebnisse belegen die synergistische Wirkung einer Kombination von Thiamethoxam mit Verbindungen der Formel [I a] aus Anspruch 1."
4.3 In Anbetracht des Vorstehenden ist die Einreichung des Dokuments D23 durch die Beschwerdeführerin, das sich mit denselben Insektizidkombinationen befasst wie die früher von ihr vorgelegten Dokumente D9 und D10, als eine gerechtfertigte und rechtzeitige Reaktion anzusehen auf:
- die Neubewertung von D9 und D10 durch die Einspruchsabteilung in der mündlichen Verhandlung und in ihrer Entscheidung im Vergleich zu ihrer vorläufigen Stellungnahme,
- die Einreichung von D22 durch die Beschwerdegegnerin kurz vor der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung.
5. Die Beschwerdegegnerin argumentierte, dass D23 in Anbetracht der Begründung von T 101/87 nicht zum Verfahren zugelassen werden sollte. In dem dieser Entscheidung zugrunde liegenden Fall hatte sich die Beschwerdeführerin jedoch ausschließlich auf erstmalig mit der Beschwerdebegründung vorgelegte Dokumente und einen darauf basierenden Vorbenutzungseinwand gestützt. Die betreffenden Dokumente hatten nur wenig mit den ursprünglich im Einspruchsverfahren vorgelegten zu tun (T 101/87, Nr. IV des Sachverhalts und der Anträge, Nrn. 2 und 6 der Entscheidungsgründe). Nach Auffassung der Kammer bezieht sich diese Entscheidung auf eine vollkommen andere Situation und ist somit für den vorliegenden Fall nicht relevant.
6. Aus den vorstehenden Gründen hat die Kammer D23 nach Artikel 12 (4) VOBK 2007 (der nach Artikel 25 (1) und (2) VOBK 2020 hier anwendbar ist) zum Beschwerdeverfahren zugelassen.
Zulassung der Abbildungen 1 und 2 der Beschwerdebegründung sowie der zugehörigen Erläuterungen
7. Wie erwähnt, bezieht sich der Versuchsbericht D9 auf Feldversuche und wurde von der Beschwerdeführerin zusammen mit ihrer Einspruchsschrift eingereicht. D9 enthält eine Tabelle mit Kombinationen von Thiamethoxam und Chlorantraniliprol in unterschiedlichen Mengen und mit Ergebnissen ihrer Anwendung bei verschiedenen Insektenarten. Zusätzlich zu den jeweiligen Wirksamkeiten von Thiamethoxam und Chlorantraniliprol sind in der Tabelle auch die anhand der Colby-Formel errechneten zu erwartenden Wirksamkeiten dieser Kombinationen sowie ihre bei der tatsächlichen Anwendung festgestellten Wirksamkeiten aufgeführt.
In den Abbildungen 1 und 2 der Beschwerdebegründung ist die beobachtete Wirksamkeit der in D9 untersuchten Kombinationen von Thiamethoxam und Chlorantraniliprol jeweils gegen die zu erwartende Wirksamkeit aufgetragen. Die Beschwerdegegnerin beantragte, diese Abbildungen und die zugehörige Erläuterung nicht zum Verfahren zuzulassen, da sie bereits im Einspruchsverfahren hätten vorgelegt werden können und bislang nicht in der Akte befindliche neue Informationen enthielten.
In ihrer Mitteilung nach Artikel 15 (1) VOBK 2020 hat die Kammer erklärt, dass sie das Vorbringen der Beschwerdegegnerin nicht überzeugend findet, weil es sich bei den beiden Abbildungen nur um eine grafische Darstellung der in D9 präsentierten Daten handelt und die beiden Abbildungen sowie die zugehörigen Erläuterungen - anders als von der Beschwerdegegnerin behauptet - keine neuen Informationen zu enthalten oder einzuführen scheinen. In der mündlichen Verhandlung vor der Kammer um eine Stellungnahme gebeten, verwies die Beschwerdeführerin lediglich auf ihr schriftliches Vorbringen. Daher sieht die Kammer keinen Grund, von ihrer vorläufigen Einschätzung abzuweichen, und lässt die Abbildungen 1 und 2 der Beschwerdebegründung sowie die zugehörigen Erläuterungen nach Artikel 12 (4) VOBK 2007 (der nach Artikel 25 (1) und (2) VOBK 2020 hier anwendbar ist) zum Beschwerdeverfahren zu.
Zulassung von D24
8. D24 ist ein nach dem Prioritäts- und Anmeldetag des Streitpatents veröffentlichtes Dokument, in dem die Entdeckung der Insektizidklasse der Anthranildiamide (also einer Klasse, der die Insektizide der Formel I a aus Anspruch 1 angehören) und die Entwicklung zweier verschiedener Mitglieder dieser Klasse (Chlorantraniliprol und Cyantraniliprol) beschrieben sind. Die Beschwerdeführerin beantragte, D24 nicht zum Verfahren zuzulassen.
8.1 Die Beschwerdegegnerin argumentierte, sie habe D24 in Erwiderung auf die Mitteilung der Kammer nach Artikel 15 (1) VOBK 2020 eingereicht. In D24 wird die Frage, ob die technische Wirkung über den gesamten Schutzbereich der Ansprüche des Streitpatents in der erteilten Fassung erzielt werde, als möglicherweise im Zusammenhang mit der erfinderischen Tätigkeit zu erörternde Thematik identifiziert. Nach Ansicht der Beschwerdegegnerin sei diese Frage erstmals in der Mitteilung der Kammer aufgeworfen worden, und als Reaktion darauf habe sie D24 eingereicht. Daran ändere auch die Tatsache nichts, dass diese Thematik bereits in der Beschwerdebegründung erwähnt sei. Dort werde sie nämlich lediglich im Abschnitt über den Hintergrund der Beschwerde behandelt, ohne einen konkreten Zusammenhang zu den tatsächlichen Beschwerdegründen herzustellen. Insofern konnte von ihr nicht erwartet werden, potenzielle Fragestellungen zu identifizieren, die ausschließlich in diesem Hintergrundabschnitt erwähnt seien. Daher solle D24 zum Verfahren zugelassen werden.
8.2 Die Beschwerdegegnerin hat D24 am 22. Juni 2021 eingereicht, d. h. nach Zustellung der Ladung zur mündlichen Verhandlung (deren Erhalt sie mit Fax vom 29. September 2020 bestätigt hatte). Die mündliche Verhandlung fand nach dem Inkrafttreten der neuen Verfahrensordnung der Beschwerdekammern statt. Gemäß Artikel 13 (2) VOBK 2020 (der nach Artikel 25 (1) und (3) VOBK 2020 hier anwendbar ist) bleiben "Änderungen des Beschwerdevorbringens eines Beteiligten [...] grundsätzlich unberücksichtigt, es sei denn, der betreffende Beteiligte hat stichhaltige Gründe dafür aufgezeigt, dass außergewöhnliche Umstände vorliegen." Die Einreichung eines vollkommen neuen Dokuments wie D24 kommt einer Änderung des Beschwerdevorbringens der Beschwerdegegnerin gleich. Wie nachstehend erläutert, sind die von der Beschwerdegegnerin angeführten Gründe, warum sie D24 erst mit Schreiben vom 22. Juni 2021 eingereicht hat, nicht überzeugend und können schon deswegen nicht als "stichhaltige Gründe dafür [...], dass außergewöhnliche Umstände vorliegen" angesehen werden, wie in Artikel 13 (2) VOBK 2020 gefordert.
D24 wurde, wie oben erwähnt, zur Klärung der Frage eingereicht, ob die technische Wirkung über den gesamten Schutzbereich der Ansprüche des Streitpatents in der erteilten Fassung erzielt wird. Wie von der Beschwerdegegnerin richtig festgestellt, wurde der Schutzbereich der Ansprüche des Streitpatents in der Beschwerdebegründung lediglich im Abschnitt zum Hintergrund der Beschwerde thematisiert. Dort wird beispielsweise unter Nummer 9 auf die breite Markush-Formel I a Bezug genommen und mit Verweis auf Anlage 1 erklärt, dass diese mindestens zehn Millionen Verbindungen umfasse. Allerdings wird die Breite dieser Markush-Formel in den nachfolgenden Abschnitten der Beschwerdebegründung erneut thematisiert. So wird z. B. unter Nummer 60 erklärt, dass die synergistische Wirkung aufgrund der Zahl der durch den Markush-Anspruch abgedeckten Kombinationen nicht für alle beanspruchten Insektizidkombinationen plausibel ist. Entgegen der Behauptung der Beschwerdegegnerin besteht also eine eindeutige Verbindung zwischen dem Abschnitt zum Hintergrund der Beschwerde und den nachfolgenden Abschnitten der Beschwerdebegründung, und es kann kein Zweifel daran bestehen, dass die Beschwerdeführerin diese Frage eindeutig thematisiert hat. Somit handelt es sich beim Wiederaufgreifen dieser Frage in der Mitteilung der Kammer nicht um einen außergewöhnlichen Umstand im Sinne von Artikel 13 (2) VOBK 2020.
8.3 Daher lässt die Kammer D24 nicht zum Verfahren zu.
Hauptantrag (Streitpatent in der erteilten Fassung)
9. Ausreichende Offenbarung (Artikel 100 b) EPÜ)
Die Beschwerdeführerin brachte im Wesentlichen vor, dass das Streitpatent keine Angaben enthalte, die es dem Fachmann erlaubten festzustellen, welche der etlichen beanspruchten Kombinationen von Verbindungen in welchen Verhältnissen bei welchem Getreide und gegen welche Schädlinge eine synergistische Wirkung zeigen könnten. Folglich müsse der Fachmann Zufallsversuche im Ungewissen durchführen und ein ums andere Mal verschiedene Kombinationen bekannter Bestandteile testen und nochmals testen, bis er bei bestimmten Bestandteilen auf ein Verhältnis stoße, das eine synergistische Wirkung zeige. Ein solches Forschungsprojekt sei zweifelsohne mit einem unzumutbaren Aufwand verbunden.
Diese Argumentation ist nicht überzeugend. Wie in der angefochtenen Entscheidung korrekt dargelegt, ist die synergistische Wirkung kein Merkmal der Ansprüche des Streitpatents. Ob diese also über den gesamten Schutzbereich der Ansprüche erzielt wird, ist nicht nach Artikel 100 b) EPÜ zu beurteilen, sondern nach Artikel 56 EPÜ (G 1/03, ABl. 2004, 413, Nr. 2.5.2 der Entscheidungsgründe).
10. Neuheit (Artikel 54 EPÜ)
Die Beschwerdeführerin erhielt ihre bereits im Einspruchsverfahren erhobenen Neuheitseinwände auf der Grundlage von D8 (gegen Anspruch 1) und D4 (gegen die Ansprüche 1 bis 3) aufrecht.
10.1 Auf D8 gestützter Neuheitseinwand
10.1.1 D8 wurde am 2. Juni 2005 veröffentlicht und somit nach dem Anmeldetag des Streitpatents (21. Februar 2005). Gegenüber der aus D8 hervorgegangenen europäischen Patentanmeldung bzw. dem daraus hervorgegangenen europäischen Patent (veröffentlicht als EP 1 686 857) sind im Streitpatent zusätzlich Island und Litauen benannt. Daher ist D8
- kein Stand der Technik für den Anspruchssatz für die Vertragsstaaten IS und LT (s. Artikel 1 Nummer 1 des Beschlusses des Verwaltungsrats vom 28. Juni 2001 über die Übergangsbestimmungen nach Artikel 7 der Akte zur Revision des EPÜ vom 29. November 2000 in Verbindung mit Artikel 54 (4), Artikel 158 (1) und (2) und Regel 107 (1) d) EPÜ 1973)
- Stand der Technik nach Artikel 54 (3) EPÜ für den Anspruchssatz für die Vertragsstaaten AT, BE, CH, DE, DK, ES, FR, GB, GR, IT, LI, LU, MC, NL und SE (s. jedoch nachstehende Nr. 10.1.4)
10.1.2 In D8 (Ansprüche 1 und 4) ist ein Mittel enthaltend eine synergistisch wirksame Wirkstoffkombination aus Verbindungen der Formeln I und II-1 offenbart. D8 (Seite 9, Zeilen 5 und 6) offenbart außerdem sechs konkrete besonders bevorzugte Verbindungen der Formel I. Dazu zählt als Verbindung I g auch das in Anspruch 1 des Streitpatents genannte Thiamethoxam.
Die Beschwerdeführerin argumentierte, dass es zwischen der Formel II-1 aus D8 und der Formel I a aus Anspruch 1 des Streitpatents eine sehr erhebliche Überschneidung gebe und außerdem Thiamethoxam zu der sehr kleinen Gruppe von lediglich sechs Verbindungen gehöre, die bevorzugt mit den Verbindungen der Formel II-1 zu verwenden seien. Der Gegenstand von Anspruch 1 des Streitpatents sei daher nicht neu gegenüber D8.
10.1.3 Diese Argumentation ist nicht überzeugend. Was Thiamethoxam betrifft, so muss zunächst eine Auswahl aus einer Liste von sechs Verbindungen getroffen werden, um zu Anspruch 1 des Streitpatents zu gelangen. Die Formel II-1 ist in D8 außerdem in Anspruch 4 und von Seite 13, Zeile 35 bis Seite 14, Zeile 31 definiert. Doch selbst in ihrer bevorzugtesten und engsten Definition (Seite 14, Zeilen 24 bis 31) überschneidet sich die Formel II-1 nur teilweise mit der Formel I a aus Anspruch 1 des Streitpatents, sodass Teile der Formel II-1 nicht unter die Definition der Formel I a fallen. Denn nach Formel II-1 kann
- R**(2)/R**(3) beispielsweise CH3 bzw. ein C1-4-Alkyl,
- R**(4) beispielsweise CF3, OCF3, F, Cl, Br oder I,
- R**(5) beispielsweise CF3 oder OCF3 und
- R**(9) beispielsweise OCF2H oder OCH2CF3 sein.
Diese Optionen bietet die Formel I a nicht (s. Definitionen von NHR**(5), R**(3), R**(4) bzw. R**(1)). Somit muss eine weitere (zweite) Auswahl getroffen werden, um zu Anspruch 1 des Streitpatents zu gelangen.
Nach der ständigen Rechtsprechung der Beschwerdekammern entsteht durch eine solche doppelte Auswahl aus einem Dokument des Stands der Technik ein neuer Gegenstand, es sei denn, das betreffende Dokument des Stands der Technik enthält einen Hinweis für die doppelte Auswahl. Dieser fehlt im vorliegenden Fall. D8 offenbart nicht, dass von den sechs genannten Verbindungen (Seite 9, Zeilen 5 und 6) Thiamethoxam zu bevorzugen ist. Auch enthält D8 keinen Hinweis, dass der Überschneidungsbereich der Formeln II-1 und I a (oder ein noch kleinerer Teil dieses Überschneidungsbereichs) im Allgemeinen zu bevorzugen wäre.
Entgegen dem Vorbringen der Beschwerdeführerin steht die Begründung der Entscheidung T 12/90 nicht im Widerspruch zu dieser Schlussfolgerung, da diese Entscheidung nur sich überschneidende Markush-Formeln betrifft. Im vorliegenden Fall geht es jedoch nicht nur um die einander überschneidenden Markush-Formeln II-1 und I a, sondern auch um die zusätzliche Liste von sechs Verbindungen, unter denen eine ausgewählt werden muss.
10.1.4 Außerdem liegt der Anmeldetag von D8 nach dem Prioritätstag des Streitpatents. Die Wirksamkeit des Prioritätsanspruchs des Streitpatents wurde von der Beschwerdeführerin nicht bestritten, und die Kammer sieht keinen Grund, warum er nicht wirksam sein sollte. Das bedeutet, dass der in D8 offenbarte Gegenstand nur dann neuheitsschädlich sein kann, wenn er auch in einer der beiden zugehörigen Prioritätsanmeldungen D8P1 oder D8P2 enthalten ist (was für die vorstehend erörterten Passagen von D8 zugunsten der Beschwerdeführerin angenommen wurde).
D8 enthält auf den Seiten 15 bis 17 auch eine Liste von bevorzugten Verbindungen der Formel II-1. Von diesen sind jedoch nur II-1-1 bis II-1-16 in D8P1 und D8P2 (jeweils in der Tabelle auf S. 16 und 17) offenbart, und lediglich sechs davon (II-1-1, II-1-3, II-1-4, II-1-9, II-1-11 und II-1-12) fallen unter die Formel I a aus Anspruch 1 des Streitpatents, was erneut belegt, dass kein Hinweis für die (zweite) Auswahl vorhanden ist. In D8 (S. 21 bis 27) sind ferner bevorzugte Kombinationen von Verbindungen der Formeln I und II-1 offenbart. Doch nur sehr wenige davon sind Kombinationen von Thiamethoxam und einer Verbindung der Formel I a aus dem Streitpatent. Lediglich drei dieser sehr wenigen Kombinationen sind in D8P1 und D8P2 (jeweils auf Seite 17, Zeile 8 bis Seite 18, Zeile 28) offenbart, nämlich:
I g und II-1-9,
I g und II-1-11,
I g und II-1-12.
Diese Verbindungen sind jedoch für die Vertragsstaaten AT, BE, CH, DE, DK, ES, FR, GB, GR, IT, LI, LU, MC, NL und SE durch einen Disclaimer aus dem Gegenstand von Anspruch 1 ausgeklammert. Für die übrigen beiden Vertragsstaaten IS und LT ist D8, wie unter vorstehender Nummer 10.1.1 dargelegt, kein Stand der Technik.
10.2 Auf D4 gestützter Neuheitseinwand (Stand der Technik nach Artikel 54 (2) EPÜ)
10.2.1 Die auf D4 gestützte Argumentation der Beschwerdeführerin war der auf D8 gestützten sehr ähnlich.
Die Beschwerdeführerin brachte vor, dass in D4 (Anspruch 1) eine breite Markush-Formel 1 offenbart sei, die sich weitgehend mit der Formel I a aus Anspruch 1 des Streitpatents überschneide. D4 offenbare Zusammensetzungen, die eine Verbindung der Formel 1 und ebenfalls eine weitere biologisch wirksame Verbindung wie z. B. Thiamethoxam (Seite 59, Zeilen 9 bis 27) umfassten. D4 sei daher neuheitsschädlich für den Gegenstand der Ansprüche 1 bis 3 des Streitpatents.
10.2.2 Wie im Falle von D8 ist auch diese Argumentation nicht überzeugend. Thiamethoxam ist in D4 lediglich als eine Möglichkeit in einer langen Liste zusätzlicher biologisch wirksamer Verbindungen offenbart (Seite 59, Zeilen 12 ff., insb. Zeile 27 und Anspruch 12), nicht jedoch als bevorzugte Verbindung. Die Formel 1 ist in D4 in Anspruch 1 definiert. Wie im Falle von D8 überschneidet sich auch die Formel 1 aus D4 nur teilweise mit der Formel I a aus Anspruch 1 des Streitpatents, sodass Teile der Formel 1 nicht unter die Definition der Formel I a fallen. Denn nach Formel 1 kann
- R**(1) beispielsweise F, Cl oder Br,
- R**(2) beispielsweise CF3,
- R**(3) beispielsweise OCH2CF3,
- R**(4a)/R**(4b) beispielsweise CH3 bzw. ein C1-4-Alkyl sein.
Diese Optionen bietet die Formel I a nicht (s. Definitionen von R3, R4, R1 bzw. NHR5). Auch enthält D4 keinen Hinweis, dass der Überschneidungsbereich der Formeln 1 und I a (oder ein noch kleinerer Teil dieses Überschneidungsbereichs) im Allgemeinen zu bevorzugen wäre. Von den in Tabelle 1 (Seiten 37 ff.) und Tabelle A (Seiten 63 ff.) aufgelisteten Zusammensetzungen der Formel 1 fällt nur ein kleiner Teil unter die Definition der Formel I a. In D4 sind außerdem begrenztere Listen von 16 bevorzugten Verbindungen der Formel 1 offenbart (Seite 4, Zeile 30 bis Seite 5, Zeile 26 und Anspruch 8). Doch fallen die letzten vier Verbindungen dieser beiden Listen nicht unter die Definition der Formel I a. Somit muss auch hier eine zweite Auswahl getroffen werden, um zu Anspruch 1 des Streitpatents zu gelangen.
10.3 In ihrem Schreiben von 19. April 2021 brachte die Beschwerdeführerin ferner vor, dass die jeweiligen Auswahlen aus D8 bzw. D4, sofern sie überhaupt erforderlich seien, für die Zuerkennung der Neuheit gezielte Auswahlen sein müssten. Sie verwies darauf, dass das dritte Kriterium des dreiteiligen Tests zur Beurteilung der Neuheit eines aus einem größeren Zahlenbereich ausgewählten Teilbereichs von den meisten Kammern nicht mehr angewendet werde. Dies sei ihrer Auffassung nach jedoch falsch. Diesbezüglich reichte sie mit ihrem folgenden Schreiben vom 22. April 2021 die Abschrift einer Korrespondenz zwischen dem epi und dem Präsidenten des Europäischen Patentamts ein.
Wie von der Beschwerdeführerin richtig angemerkt, ist das Kriterium der "gezielten Auswahl" für den Fall entwickelt worden, dass aus einem größeren Zahlenbereich ein engerer Teilbereich ausgewählt wird. Daher ist die Rechtsprechung auf den vorliegenden Fall nicht anwendbar, der keine Zahlenbereiche betrifft und in dem überdies eine doppelte Auswahl getroffen werden muss, nämlich i) aus einer längeren Liste von Verbindungen und ii) aus einer Reihe von durch eine Markush-Formel definierten Verbindungen. Somit ist die Argumentation der Beschwerdeführerin nicht überzeugend.
10.4 Der Gegenstand des Anspruchs 1 ist somit neu gegenüber D8 und - einschließlich der abhängigen Ansprüche 2 und 3 - auch gegenüber D4. Diesbezüglich bestätigt die Kammer daher die angefochtene Entscheidung.
11. Vorlage - Einführung
11.1 Nachdem die ausreichende Offenbarung und die Neuheit festgestellt sind, ist als Nächstes die erfinderische Tätigkeit zu beurteilen. Bei dieser Beurteilung hat sich herausgestellt, dass die Große Beschwerdekammer mit der Rechtsfrage befasst werden muss, ob Beweismittel, die vor dem Anmeldetag des Streitpatents nicht öffentlich zugänglich waren und erst nach diesem Tag eingereicht wurden ("nachveröffentlichte Beweismittel") angesichts der Rechtsprechung der Kammern zur Plausibilität berücksichtigt werden können.
11.2 Für die Zulässigkeit einer Vorlage ist es im Allgemeinen erforderlich, dass die Beantwortung der Vorlagefragen für den Ausgang des Falls entscheidend ist.
Wie vorstehend dargelegt, sind die von der Beschwerdeführerin erhobenen Einwände der unzureichenden Offenbarung und der mangelnden Neuheit nicht erfolgreich. Ob eine erfinderische Tätigkeit zuerkannt werden kann, ist daher für den Ausgang des vorliegenden Falls entscheidend.
Die Beschwerdegegnerin berief sich diesbezüglich unter anderem auf das nachveröffentlichte Beweismittel D21, das eine synergistische Wirkung stütze. Da die beiden Beteiligten in Bezug auf die Anwendbarkeit der Rechtsprechung zur Plausibilität unterschiedliche Standpunkte vertraten, formulierten sie entsprechend gegensätzliche Anträge dazu, ob das nachveröffentlichte Beweismittel D21 berücksichtigt werden sollte.
11.3 Die Kammer hat beurteilt, ob D21 für die erfinderische Tätigkeit relevant ist, denn nur in diesem Fall ist eine Beantwortung der Frage, ob nachveröffentlichte Beweismittel wie D21 Berücksichtigung finden können, für die erfinderische Tätigkeit und somit für die Entscheidung der vorliegenden Sache von Belang.
An dieser Stelle merkt die Kammer an, dass im Zusammenhang mit der erfinderischen Tätigkeit auch die Beschwerdeführerin ein nachveröffentlichtes Beweismittel angeführt hat, nämlich D23.
Nachdem die Kammer D23 aus verfahrenstechnischen Gründen (s. oben) zum Verfahren zugelassen hat, hat die Beschwerdegegnerin dessen Berücksichtigung nicht hinterfragt. Folglich hat die Kammer D23 bei der Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit berücksichtigt. Sie ist sich jedoch bewusst und hat in der mündlichen Verhandlung darauf hingewiesen, dass D23 ein nachveröffentlichtes Beweismittel ist und nicht ausgeschlossen werden kann, dass die Frage seiner Berücksichtigung nach der Entscheidung der Großen Beschwerdekammer möglicherweise anders zu bewerten ist.
12. Relevanz des nachveröffentlichten Beweismittels D21 für die erfinderische Tätigkeit
12.1 Wie vorstehend ausgeführt, hat die Kammer geprüft, ob das nachveröffentlichte Beweismittel D21 für die erfinderische Tätigkeit relevant ist. Dazu hat sie den Aufgabe-Lösungs-Ansatz sowohl ohne D21 (s. Nr. 12.4) als auch mit D21 (s. Nr. 12.5) angewendet.
12.2 Beide Beteiligten stimmten darin überein, dass D4 der nächstliegende Stand der Technik ist. Die Kammer sieht keine Veranlassung, von dieser übereinstimmenden Einschätzung abzuweichen.
12.3 Ausgehend von der obigen Feststellung der Neuheit gegenüber D4 und im Einklang mit der angefochtenen Entscheidung unterscheidet sich der Gegenstand von Anspruch 1 des Streitpatents gegenüber D4 dadurch, dass sowohl Thiamethoxam als auch die Verbindungen der Formel I a aus den jeweiligen breiteren Lehren von D4 ausgewählt werden müssen.
12.4 Aufgabe-Lösungs-Ansatz ohne D21
Als aus den Unterscheidungsmerkmalen resultierende technische Wirkung hat die Beschwerdegegnerin eine synergistische Wirkung angeführt, die sich aus der beanspruchten Kombination von Verbindungen ergibt, und hat auf die Versuchsbeispiele 2 und 5 des Streitpatents verwiesen.
12.4.1 Die Versuchsbeispiele 2 und 5 des Streitpatents sind die einzigen, in denen die Insektizidzusammensetzungen nach Anspruch 1 an verschiedenen Insektenarten getestet wurden. Das Versuchsbeispiel 2 zeigt, dass die Kombination von Thiamethoxam mit der Verbindung I-1 (Formel I a mit R**(1) = CF3, R**(2) = Cl, R**(3) = Me, R**(4) = H, R**(5) = i-Pr) synergistisch gegen Spodoptera litura wirkt, wenn beide Insektizide in einem Gewichtsverhältnis von 1:1 verwendet werden. In derselben Weise zeigt das Versuchsbeispiel 5, dass die Kombination von Thiamethoxam mit der Verbindung I-4 (Formel I a mit R**(1) = Cl, R**(2) = Cl, R**(3) = Me, R**(4) = Cl, R**(5) = i- Pr) synergistisch gegen Plutella ylostella wirkt, wenn beide Insektizide in einem Gewichtsverhältnis von 1:1 verwendet werden.
12.4.2 Zu beantworten ist also die Frage, ob die Versuchsbeispiele 2 und 5 des Streitpatents einen stichhaltigen Beweis liefern, dass der beanspruchte Gegenstand zumindest gegen Spodoptera litura und Plutella xylostella eine synergistische Wirkung erzeugt. Ist diese Frage zu bejahen, so ließe sich die zu lösende objektive technische Aufgabe formulieren als die Bereitstellung einer Insektizidzusammensetzung, die synergistisch gegen Spodoptera litura und Plutella xylostella wirkt.
12.4.3 Diese Ergebnisse aus dem Streitpatent hat die Beschwerdeführerin nicht angefochten. Sie hat jedoch auf ihre in D23 beschriebenen Versuche verwiesen. Wie vorstehend ausgeführt, soll D23 zeigen, dass die Kombination von Thiamethoxam mit Chlorantraniliprol, d. h. mit einer unter die Formel I a aus Anspruch 1 fallenden Verbindung, aber einer anderen Verbindung als der in den Versuchsbeispielen 2 und 5 des Streitpatents verwendeten, bei bestimmten Gewichtsverhältnissen nicht synergistisch gegen Spodoptera litura und Plutella xylostella wirkt.
12.4.4 Die Beschwerdegegnerin hat argumentiert, dass die Ergebnisse aus D23 aufgrund der Unterschiede zwischen diesem Dokument und den Versuchsbeispielen des Streitpatents keinen Einfluss auf die Relevanz Letzterer hätten. Dem stimmt die Kammer nicht zu.
Die beiden relevanten Beispiele in D23 sind die Beispiele 5 und 6. Die in Beispiel 6 von D23 verwendete Art Plutella xylostella ist dieselbe wie die in Versuchsbeispiel 5 des Streitpatents verwendete. Die in Beispiel 5 von D23 verwendete Art Spodoptera littoralis ist zwar eine andere als die in Versuchsbeispiel 2 des Streitpatents verwendete Spodoptera litura, doch hat die Beschwerdeführerin erklärt, dass Spodoptera littoralis eng mit Spodoptera litura verwandt sei und daher bei einem Einsatz der Insektizidkombination aus Beispiel 5 von D23 gegen Spodoptera litura dieselben Ergebnisse zu erwarten seien. Dies hat die Beschwerdegegnerin nicht bestritten, und die Kammer sieht keinen Grund, die Erklärung der Beschwerdeführerin infrage zu stellen.
Zudem entsprach das grundsätzliche Vorgehen in D23 laut Aussage der Beschwerdeführerin im Wesentlichen dem im Streitpatent beschriebenen. Die Insekten seien mit Pflanzenteilen in Kontakt gebracht worden, die mit einem Insektizid oder einer Insektizidkombination behandelt waren. Nach einer bestimmten Expositionszeit sei die Wirksamkeit des Insektizids bzw. der Insektizide (d. h. die Sterberate) ermittelt worden.
Diese Vorgehensweise habe man in den Versuchen mit Spodoptera littoralis dahin gehend modifizieren müssen, dass zusätzlich unbehandelte Pflanzenteile hinzugegeben worden seien, nachdem die Insekten die behandelten Pflanzenteile vollständig verzehrt hätten. Dies habe jedoch nur dazu gedient, einen vorzeitigen Hungertod der Insekten und eine Verfälschung der Ergebnisse zu vermeiden, weil die Insekten anderenfalls nicht durch die Insektizide, sondern auch aufgrund des Nahrungsmangels gestorben wären.
Außerdem hat die Beschwerdeführerin in den Versuchszusammensetzungen aus D23 ein anderes Benetzungsmittel eingesetzt als das in den Versuchsbeispielen 2 und 5 des Streitpatents verwendete. Diesbezüglich enthält Anspruch 1 jedoch keine Beschränkungen, sodass die Zusammensetzungen grundsätzlich jedes beliebige Benetzungsmittel enthalten können.
Entgegen der Auffassung der Beschwerdegegnerin können daher die von der Beschwerdeführerin vorgenommenen Modifikationen gegenüber der Vorgehensweise im Streitpatent die Validität der in D23 beschriebenen Versuche nicht infrage stellen.
12.4.5 In D23 wurden zunächst Dosis-Wirkungs-Versuche durchgeführt, um geeignete Konzentrationsbereiche von Thiamethoxam und Chlorantraniliprol für die eigentlichen Synergieversuche zu ermitteln. Wie erwähnt, sind die eigentlichen Synergieversuche in den Beispielen 5 und 6 von D23 beschrieben. Auch in diesen Synergieversuchen wurde die Wirksamkeit der beiden Insektizide Thiamethoxam und Chlorantraniliprol zunächst einzeln bestimmt. Dabei können sich die in den Beispielen 5 und 6 ermittelten Wirksamkeiten, wie von der Beschwerdegegnerin vorgebracht, durchaus von denen unterscheiden, die in den Dosis-Wirkungs-Versuchen für die einzelnen Insektizide ermittelt wurden. Dies beeinträchtigt jedoch nach Auffassung der Kammer nicht die Validität der in den Beispielen 5 und 6 beschriebenen Ergebnisse, denn i) Versuche an lebenden Organismen unterliegen von Natur aus gewissen Schwankungen, weswegen Abweichungen zwischen einzelnen Versuchsreihen nichts Ungewöhnliches sind, und ii) die in den Beispielen 5 und 6 für die einzelnen Insektizide angegebenen Wirksamkeiten lassen einen eindeutigen Trend hin zu einer geringeren Wirksamkeit bei niedrigerer Insektizidmenge erkennen. Das Vorbringen der Beschwerdegegnerin in Bezug auf die unzureichende Verlässlichkeit ist also nicht überzeugend, sodass in der mündlichen Verhandlung nicht über den Antrag der Beschwerdeführerin entschieden werden musste, D23 nicht zum Verfahren zuzulassen. Alles in allem hält die Kammer die in den Beispielen 5 und 6 beschriebenen Ergebnisse für valide.
12.4.6 In Beispiel 5 von D23 wurde die Wirkung der Kombination von Thiamethoxam und Chlorantraniliprol gegen Spodoptera littoralis bei 25 verschiedenen Gewichtsverhältnissen von 3 840:1 bis 15:1 (Thiamethoxam zu Chlorantraniliprol) bestimmt. In Beispiel 6 wurde die Wirkung derselben Kombination gegen Plutella xylostella bei 25 verschiedenen Gewichtsverhältnissen von 16 000:1 bis 62,5:1 bestimmt.
Wie aus den Tabellen in den Beispielen 5 und 6 von D23 ersichtlich ist, wirken Thiamethoxam und Chlorantraniliprol in beiden Fällen nicht bei allen Gewichtsverhältnissen synergistisch; sie wirken bei einigen Gewichtsverhältnissen sogar eindeutig antagonistisch. So lag z. B. in Versuch 6 bei einem Gewichtsverhältnis von 100:0,0125 (Thiamethoxam zu Chlorantraniliprol) die erwartete Sterberate bei 62 %, die tatsächlich beobachtete jedoch nur bei 14 %. Für die zwei genannten Arten lässt sich bei den getesteten Gewichtsverhältnissen keine eindeutige Tendenz zu einer Synergie erkennen.
Da Anspruch 1 nicht auf die in den Versuchsbeispielen 2 und 5 verwendeten Verbindungen I-1 und I-4 und/oder deren Gewichtsverhältnisse zu Thiamethoxam beschränkt ist, fallen auch die in D23 getesteten Insektizidkombinationen und die dortigen Gewichtsverhältnisse in seinen Schutzbereich.
Dies lässt den Schluss zu, dass die im Streitpatent für Plutella xylostella und Spodoptera litura beschriebene synergistische Wirkung nicht über den gesamten Schutzbereich des Anspruchs 1 erzielt wird.
12.4.7 Allein auf der Grundlage der Versuchsdaten im Streitpatent und in Anbetracht von D23 müsste die objektive technische Aufgabe also weniger ehrgeizig formuliert werden als die Bereitstellung einer alternativen Insektizidzusammensetzung.
12.4.8 In D4 ist die insektizide Wirksamkeit sowohl von Thiamethoxam als auch von Verbindungen der Formel I a aus Anspruch 1 offenbart. Auch im Streitpatent selbst wird eingeräumt, dass deren insektizide Wirksamkeit bereits vor dem Prioritätstag des Streitpatents bekannt war (s. oben). Eine willkürliche Kombination von Verbindungen mit bekannter insektizider Wirksamkeit, um zu einer alternativen Insektizidzusammensetzung zu gelangen, erfordert jedoch keine erfinderische Tätigkeit.
12.4.9 Daher wäre der Hauptantrag ohne D21, d. h. ausgehend nur von den Versuchsdaten im Streitpatent und in Anbetracht von D23, nicht gewährbar.
12.5 Aufgabe-Lösungs-Ansatz mit D21
Ob sich diese Schlussfolgerung bei Berücksichtigung von D21 ändert, wird nachstehend geprüft.
12.5.1 Die Beschwerdegegnerin verwies auf Beispiel 4 aus D21, das sich mit einer anderen als den in den Versuchsbeispielen 2 und 5 des Streitpatents oder in D23 verwendeten Arten befasst. Beispiel 4 zeigt, dass eine Kombination von Thiamethoxam mit der Verbindung I-1, d. h. einer Verbindung der Formel I a aus Anspruch 1 des Streitpatents, in einem Gewichtsverhältnis von 1:8 synergistisch gegen die Insektenart Chilo suppressalis wirkt. Zwischen den Beteiligten war strittig, ob angesichts dessen die objektive technische Aufgabe formuliert werden könne als die Bereitstellung einer Insektizidzusammensetzung, die synergistisch gegen Chilo suppressalis wirkt.
Das Ergebnis des Beispiels 4 aus D21 als solches hat die Beschwerdeführerin nicht angefochten, doch sei dieses auch kein Gegenbeweis für die Ergebnisse, die mit derselben Art in D9, D10 oder D23 erzielt worden seien, und stelle dies nicht infrage.
Sie argumentierte allerdings, dass dieses isolierte Beispiel aus D21 kein stichhaltiger Beweis für eine synergistische Wirkung aller unter Anspruch 1 fallenden Insektizidzusammensetzungen gegen Chilo suppressalis sei, denn nach ihren konservativen Berechnungen in Anlage 1 der Beschwerdebegründung schließe die Formel I-a über zehn Millionen Verbindungen ein.
Dem stimmt die Kammer nicht zu. In Anbetracht der Daten in D21 und mangels eines Gegenbeweises der Beschwerdeführerin sieht die Kammer keinen Grund, diese synergistische Wirkung gegen Chilo suppressalis nicht auch für andere unter Anspruch 1 fallende Insektizidzusammensetzungen anzuerkennen, d. h. für Insektizidzusammensetzungen, die Thiamethoxam und eine andere Verbindung der Formel I a als die Verbindung I-1 umfassen.
Gestützt wird dies durch die Tatsache, dass die Variabilität der Formel I a chemisch recht begrenzt ist. Sämtliche Verbindungen basieren auf derselben charakteristischen Kernstruktur, nämlich einem mit einer (Pyridin-2-yl)-1H- Pyrazol-5-Carbonsäure alkylierten Teil eines Anthranilsäureamids. Die Gruppen R1 bis R5 lassen verschiedene Substituenten zu, insbesondere Alkyl- und Haloalkyl-Gruppen. Gerade wegen dieser Alkyl- und Haloalkyl-Gruppen ist - laut den Berechnungen der Beschwerdeführerin in Anlage 1 der Beschwerdebegründung - die Zahl der unter die Formel I a fallenden Verbindungen sehr hoch. Doch sind - zumindest nach Auffassung der Kammer - die Verbindungen der Formel I a und insbesondere die Verbindungen der Formel I a mit unterschiedlichen Alkyl- und Haloalkyl-Gruppen chemisch nicht so verschieden, dass in Kombination mit Thiamethoxam zwangsläufig ein unterschiedliches Verhalten zu erwarten wäre.
Folglich kann - sofern D21 berücksichtigt werden darf - davon ausgegangen werden, dass die in Beispiel 4 von D21 beobachtete synergistische Wirkung gegen die Insektenart Chilo suppressalis über den gesamten Schutzbereich des Anspruchs 1 erzielt wird.
12.5.2 Angesichts der nachveröffentlichten Daten in D21 wäre die objektive technische Aufgabe im Einklang mit dem Vorbringen der Beschwerdegegnerin als die Bereitstellung einer Insektizidzusammensetzung zu formulieren, bei der die Insektizide synergistisch gegen Chilo suppressalis wirken. Wie in der mündlichen Verhandlung erläutert, hat die Kammer nichts gegen die Formulierung einer solchen spezifischeren, auf eine spezielle Insektenart abstellenden objektiven technischen Aufgabe einzuwenden. Es wäre nämlich technisch unsinnig, eine synergistische Wirkung gegen jede einzelne Insektenart zu fordern (ähnlich wurde dies in T 1326/08, Nr. 4.2.2 der Entscheidungsgründe gesehen, wenn auch im Hinblick auf die ausreichende Offenbarung). Auch die Beschwerdegegnerin hatte nichts gegen diese Formulierung der objektiven technischen Aufgabe einzuwenden.
12.5.3 Die Beschwerdeführerin hat stets nur vorgebracht, dass die objektive technische Aufgabe in der Bereitstellung einer alternativen Insektizidzusammensetzung bestehe. Das Naheliegen ausgehend von der obigen, ehrgeizigeren objektiven technischen Aufgabe hat sie nie thematisiert. Tatsächlich hätte der mit dieser ehrgeizigeren technischen Aufgabe konfrontierte Fachmann im Stand der Technik keinen Hinweis gefunden, wie er zu dem beanspruchten Gegenstand gelangen könnte. Schon aus diesem Grund wäre, wenn D21 berücksichtigt werden dürfte, eine erfinderische Tätigkeit zuzuerkennen.
12.6 Zusammenfassend ist festzuhalten, dass der Hauptantrag nicht gewährbar wäre, wenn nur die Daten aus dem Streitpatent und D23 berücksichtigt werden dürften. Dürften hingegen auch die nachveröffentlichten Daten aus D21 berücksichtigt werden, so wäre er gewährbar. Insofern hängt die Gewährbarkeit des Hauptantrags maßgeblich von der Frage ab, ob die nachveröffentlichten Daten aus D21, die als Einzige die synergistische Wirkung gegen Chilo suppressalis belegen, berücksichtigt werden können.
13. Notwendigkeit der Vorlage
13.1 Wie nachstehend erläutert, handelt es sich bei der Frage, ob nachveröffentlichte Beweismittel wie D21 Berücksichtigung finden können, um eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung, zu der es divergierende Rechtsprechung gibt.
13.2 Zur Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit wird von den Spruchkörpern des EPA regelmäßig der Aufgabe-Lösungs-Ansatz angewendet (s. Rechtsprechung der Beschwerdekammern des EPA, 9. Auflage, 2019, I.D.2). Dieser erfordert unter anderem
- die Ermittlung des nächstliegenden Stands der Technik (der nicht unbedingt der im Streitpatent genannte oder vom Patentinhaber angeführte sein muss),
- den Vergleich des strittigen Anspruchsgegenstands mit der Offenbarung des nächstliegenden Stands der Technik und die Bestimmung des Unterschieds/der Unterschiede zwischen beiden,
- die Ermittlung der technischen Wirkung/en dieses Unterschieds/dieser Unterschiede,
- die Formulierung der objektiven technischen Aufgabe, d. h. der Aufgabe, die vor dem Hintergrund des nächstliegenden Stands der Technik als tatsächlich gelöst gelten kann.
Bei dieser Analyse müssen häufig - wie auch im vorliegenden Fall - nachveröffentlichte Beweismittel (d. h. Beweismittel, die vor dem Anmeldetag des Streitpatents nicht öffentlich zugänglich waren und erst nach diesem Tag eingereicht wurden) als Nachweis dafür herangezogen werden, dass die Aufgabe gelöst (d. h. die behauptete technische Wirkung tatsächlich erzielt) wurde. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn die objektive technische Aufgabe z. B. in Anbetracht eines Dokuments des nächstliegenden Stands der Technik, das dem Patentinhaber bis dahin nicht bekannt war, umformuliert werden muss.
Für Fälle, in denen der Nachweis, dass eine Aufgabe gelöst worden ist (im vorliegenden Fall die Bereitstellung einer Insektizidzusammensetzung, bei der die Insektizide synergistisch gegen Chilo suppressalis wirken), auf solchen nachveröffentlichten Beweismitteln (im vorliegenden Fall D21) beruht, haben sich nach Auffassung der Kammer drei voneinander abweichende Rechtsprechungslinien bezüglich der Voraussetzungen entwickelt, unter denen diese Beweismittel berücksichtigt bzw. nicht berücksichtigt werden können. Diese sind nachstehend dargestellt.
13.3 Zunächst möchte die Kammer jedoch folgende Anmerkungen machen.
13.3.1 Die Frage, ob D21 Berücksichtigung finden kann, stellte sich im vorliegenden Fall im Zusammenhang mit der erfinderischen Tätigkeit, weil die synergistische Wirkung Teil der zu lösenden Aufgabe ist. In anderen Fällen hat sich dieselbe Frage, d. h. ob nachveröffentlichte Beweismittel berücksichtigt werden können, im Zusammenhang mit der ausreichenden Offenbarung gestellt, weil die Wirkung im strittigen Anspruch definiert war. Zwar ist die Tatsache, ob eine Wirkung Teil der zu lösenden Aufgabe oder im strittigen Anspruch definiert ist, entscheidend dafür, welche Vorschrift des EPÜ Anwendung findet (G 1/03, ABl. EPA 2004, 413, Nr. 2.5.2 der Entscheidungsgründe), doch hat sie - zumindest nach Auffassung der Kammer - keine Auswirkung auf die Überlegungen in der obigen Frage. Daher sind nachstehend nicht nur Entscheidungen angeführt, die sich im Rahmen von Artikel 100 a) und/oder 56 EPÜ mit dieser Frage befassen, sondern auch solche, die sich im Rahmen von Artikel 100 b) und/oder 83 EPÜ damit befassen.
13.3.2 Die folgenden Ausführungen beziehen sich auf die Frage, ob nachveröffentlichte Beweismittel aus materiellrechtlichen Gründen Berücksichtigung finden können, je nachdem wie plausibel die technische Wirkung ausgehend von den als Nachweis vorgelegten Beweismitteln ist. Diese Frage ist nicht zu verwechseln mit der, ob nachveröffentlichte Beweismittel aus verfahrensrechtlichen Gründen, insbesondere nach Artikel 12 und 13 VOBK, Berücksichtigung finden können. Die Kammer geht bei den nachstehenden Ausführungen von der Prämisse aus, dass die betreffenden nachveröffentlichten Beweismittel Teil des Beschwerdeverfahrens sind.
13.4 Ab-initio-Plausibilität
Nach einer ersten Rechtsprechungslinie dürfen nachveröffentlichte Beweismittel nur dann berücksichtigt werden, wenn der Fachmann angesichts der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung und vor dem Hintergrund des allgemeinen Fachwissens am Anmeldetag Grund zu der Annahme gehabt hätte, dass die behauptete Wirkung erzielt wird. Gründe, die diese Annahme rechtfertigen, sind nach dieser Rechtsprechungslinie zumeist Versuchsdaten oder eine wissenschaftliche Erklärung in der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung. Der bei dieser Rechtsprechungslinie angewendete Maßstab wird nachstehend als "Maßstab der Ab-initio-Plausibilität" bezeichnet und die betreffende Rechtsprechung als "Rechtsprechungslinie der Ab-initio-Plausibilität".
13.4.1 Die T 1329/04 zugrunde liegende Anmeldung beispielsweise bezog sich in der ursprünglich eingereichte Fassung auf ein neues (als Wachstumsdifferenzierungsfaktor 9 bzw. GDF-9 bezeichnetes) Polypeptid, das angeblich ein neues Mitglied der Superfamilie des transformierenden Wachstumsfaktors beta (TGF-beta) war. Eine Alternative in dem strittigen Anspruch betraf GDF-9. In Anbetracht des nächstliegenden Stands der Technik bestand die zu lösende Aufgabe darin, ein weiteres Mitglied der TGF-beta-Superfamilie zu isolieren. Die Kammer befand, dass GDF-9 nicht die im Allgemeinen mit Mitgliedern der TGF-beta-Superfamilie assoziierten Strukturmerkmale aufwies und die Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung keine Beweise dafür enthielt, dass die Wirkweise von GDF-9 seine Zuordnung zur TGF-beta-Superfamilie gestatte. Obwohl also die Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung GDF-9 ausdrücklich als Mitglied der TGF-beta-Superfamilie auswies, entschied die Kammer (Nr. 11 der Entscheidungsgründe; Hervorhebung durch die Kammer im vorliegenden Fall),
"dass die Anmeldung diesen Faktor nicht in ausreichendem Maße als Mitglied der betreffenden Familie identifiziert, d. h. keine ausreichenden Beweise enthält, um zumindest glaubhaft zu machen, dass für die angeblich gelöste Aufgabe auch tatsächlich eine Lösung gefunden wurde."
Nachveröffentlichte Beweismittel, dass GDF-9 tatsächlich ein Wachstumsdifferenzierungsfaktor ist, wurden nicht berücksichtigt und die erfinderische Tätigkeit letztlich verneint. Ihre Entscheidung stützte die Kammer auf folgende Überlegung, die in mehreren späteren Entscheidungen aufgegriffen wurde, die ebenfalls den Maßstab der Ab-initio-Plausibilität anwandten (Nr. 10 der Entscheidungsgründe; Hervorhebung und Anmerkung in eckigen Klammern durch die Kammer im vorliegenden Fall):
"Daher ist es [in einem Erstanmeldersystem] besonders wichtig, dass die Anmeldung erkennen lässt, dass die Erfindung am Anmeldetag nicht nur vorgestellt, sondern auch gemacht wurde, d. h. tatsächlich eine Aufgabe gelöst wurde. Hier stellt sich also eher die Frage, wie viel Gewicht im Rahmen der Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit [...] etwaigen in der Anmeldung enthaltenen Spekulationen beigemessen werden kann."
Für die Kammer in T 1329/04 (und die nachfolgenden Entscheidungen, in denen der Maßstab der Ab-initio-Plausibilität angewendet wurde) war es also offenbar entscheidend, sichergehen zu können, dass der Patentanmelder am Anmeldetag tatsächlich in Besitz der Erfindung war, um ihre rein spekulative Beanspruchung zu verhindern und so ein Gleichgewicht zwischen dem tatsächlichen technischen Beitrag und dem in den Ansprüchen definierten patentrechtlichen Monopol zu gewährleisten.
13.4.2 Diese Entscheidung stand in Einklang mit der früheren Entscheidung T 609/02, in der die Kammer im Zusammenhang mit der unzureichenden Offenbarung Folgendes ausführte (Nrn. 5 bis 9 der Entscheidungsgründe; Hervorhebung durch die Kammer im vorliegenden Fall):
"Die Patentschrift liefert keinerlei Nachweis für die Erfindung in Anspruch 6 [...]. Der Anmelder lieferte nachveröffentlichte Beweismittel, die belegten, dass Steroidhormone, wie sie für die Verwendung in dem Verfahren nach Anspruch 6 benötigt werden, später strukturell identifiziert wurden und tatsächlich eine Wirkung auf die AP-1-stimulierte Transkription haben. [...] Ausgehend vom Offenbarungsgehalt dieser nachveröffentlichten Dokumente argumentierte die Beschwerdeführerin, dass man durch die Ausführung der beanspruchten Erfindung zwangsläufig pharmazeutische Zusammensetzungen erhalte, denn die nachveröffentlichten Ergebnisse seien durch Nacharbeiten der Lehren des Streitpatents gewonnen worden. Ihrer Auffassung nach müsse die Offenbarung daher als ausreichend anerkannt werden. Dem kann sich die Kammer nicht anschließen. Das Erfordernis der ausreichenden Offenbarung muss zu dem für das Patent maßgeblichen Stichtag erfüllt sein, d. h. auf der Grundlage der in der Patentanmeldung enthaltenen Informationen in Verbindung mit dem zu diesem Zeitpunkt verfügbaren allgemeinen Fachwissen bzw. auf der Grundlage dieses Fachwissens. Eine Offenbarung auf der Grundlage von erst nach diesem Tag veröffentlichten relevanten technischen Informationen als ausreichend anzuerkennen, würde zur Erteilung eines Patents für eine technische Lehre führen, die erst nach dem für das Patent maßgeblichen Stichtag verwirklicht wurde und somit für eine erst nach diesem maßgeblichen Stichtag gemachte Erfindung. Es gilt, den allgemeinen Grundsatz zu beachten, wonach der Umfang des durch ein Patent verliehenen Monopolrechts dem technischen Beitrag zum Stand der Technik entsprechen und durch diesen begründet sein soll. [...] Das Patent muss gewisse Informationen, etwa in Form experimenteller Untersuchungen, enthalten, aus denen hervorgeht, dass sich die beanspruchte Verbindung unmittelbar auf einen Stoffwechselvorgang auswirkt, der speziell an der betreffenden Krankheit beteiligt ist, wobei dieser Vorgang entweder aus dem Stand der Technik bekannt ist oder in der Anmeldung an sich dargestellt wird. [...] Ist dieser Nachweis der Patentanmeldung zu entnehmen, so kann ein nachträglich veröffentlichtes (sogenanntes) Sachverständigengutachten (falls ein solches vorliegt) berücksichtigt werden, allerdings nur, um die Ergebnisse in der Patentanmeldung hinsichtlich der Verwendung des Stoffs als Arzneimittel zu untermauern, und nicht, um die ausreichende Offenbarung an sich nachzuweisen."
13.4.3 Der Maßstab der Ab-initio-Plausibilität wurde auch in T 488/16 angewendet, wo es heißt (Nrn. 4.2, 4.5 und 4.19 der Entscheidungsgründe; Hervorhebung durch die Kammer im vorliegenden Fall):
"Nach ständiger Rechtsprechung der Beschwerdekammern ist die erfinderische Tätigkeit zu dem für das Patent maßgebenden Stichtag anhand der im Patent enthaltenen Informationen in Verbindung mit dem zu diesem Zeitpunkt verfügbaren allgemeinen Fachwissen zu beurteilen. Nachveröffentlichte Beweismittel dafür, dass der beanspruchte Gegenstand die im Streitpatent angeblich gelöste technische Aufgabe löst, können berücksichtigt werden, wenn es anhand der im Patent enthaltenen Offenbarung bereits glaubhaft erscheint, dass die Aufgabe tatsächlich gelöst wird (s. Rechtsprechung der Beschwerdekammern des EPA, 8. Auflage, I.D.4.6; T 1329/04, Nr. 12 der Entscheidungsgründe; T 1043/10, Nr. 12 oder [sic] Entscheidungsgründe). Damit nachveröffentlichte Beweismittel berücksichtigt werden können, ist zu klären, ob die behauptete Wirkung für Dasatinib zu dem für das Streitpatent maßgebenden Stichtag ausreichend glaubhaft gemacht wurde. Grundlage dafür ist die Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung und das allgemeine Fachwissen am Anmeldetag. [...]"
"Nach Auffassung der Kammer genügt eine bloße Aussage, dass "sich die Verbindungen als wirksam erwiesen haben", ohne nachprüfbare technische Beweise nicht, um glaubhaft zu machen, dass die technische Aufgabe, deren Lösung die Anmeldung in Anspruch nimmt, nämlich die Bereitstellung von PTK-Hemmern zur Behandlung von mit diesen assoziierten Erkrankungen oder Störungen, tatsächlich gelöst wurde. [...]"
"[...] stimmt die Kammer mit der Einspruchsabteilung und den Beschwerdegegnerinnen darin überein, dass die nachveröffentlichten Dokumente (9) und (10) die ersten Offenbarungen sind, die belegen, dass die angebliche technische Aufgabe [...] tatsächlich gelöst worden ist. Sie wird diese also im Einklang mit der ständigen Rechtsprechung bei der Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit nicht berücksichtigen."
13.4.4 Weitere Fälle, in denen ähnlich entschieden wurde wie in den drei vorstehenden Entscheidungen, sind T 415/11 (Nrn. 45 bis 55 der Entscheidungsgründe), T 1791/11 (Nrn. 3.2.5 bis 3.2.7 der Entscheidungsgründe) und T 895/13 (Nrn. 15 bis 17 der Entscheidungsgründe). In den unter Nummer 13.4 aufgeführten Entscheidungen, in denen durchweg der Maßstab der Ab-initio-Plausibilität angewendet wurde, wurde die Plausibilität letztlich verneint.
13.5 Ab-initio-Unplausibilität
Nach einer zweiten Rechtsprechungslinie dürfen nachveröffentlichte Beweismittel nur dann unberücksichtigt bleiben, wenn der Fachmann berechtigte Gründe gehabt hätte zu bezweifeln, dass sich die behauptete technische Wirkung am Anmeldetag des Streitpatents erzielen ließ. Solche Zweifel können z. B. aufkommen, wenn die Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung oder das allgemeine Fachwissen am Anmeldetag des Streitpatents einen Hinweis enthält, dass sich die behauptete technische Wirkung tatsächlich nicht erzielen lässt. Mit anderen Worten sind die nachveröffentlichten Beweismittel stets zu berücksichtigen, wenn die angebliche technische Wirkung nicht unplausibel ist. Der bei dieser Rechtsprechungslinie angewendete Maßstab wird nachstehend als "Maßstab der Ab-initio-Unplausibilität" bezeichnet, und die betreffende Rechtsprechung als "Rechtsprechungslinie der Ab-initio-Unplausibilität".
13.5.1 Ein Beispiel für eine Entscheidung, in der der Maßstab der Ab-initio-Unplausibilität angewendet wurde, ist T 919/15, in der es um die Verwendung von Herbizid-Kombinationen mit einem wirksamen Gehalt zweier verschiedener Herbizide (A) und (B) zur Bekämpfung von Schadpflanzen ("Unkraut") in Sojakulturen ging. Während die Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung experimentelle Nachweise für eine synergistische Wechselwirkung bestimmter Kombinationen von unter die Definitionen (A) und (B) fallenden Herbiziden enthielt, wurden entsprechende Nachweise für andere Kombinationen erst nach dem Anmeldetag vorgelegt. Eine Einsprechende hatte argumentiert, dass eine synergistische Interaktion von Herbiziden per se nicht vorhersagbar sei und folglich die Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung für diejenigen Kombinationen die synergistische Wirkung nicht glaubhaft mache, für die lediglich nachveröffentlichte Beweismittel vorgelegt worden seien. Daher müssten die nachveröffentlichten Daten bei der Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit unberücksichtigt bleiben.
Dem stimmte die Kammer nicht zu. Sie führte Folgendes aus (Nr. 5.6 der Entscheidungsgründe; Hervorhebung durch die Kammer im vorliegenden Fall):
"Somit kann ohne gegenteilige Anhaltspunkte im allgemeinen Fachwissen für das Herbizid (A) enthaltende Herbizidkombinationen gerade nicht davon ausgegangen werden, dass ein Synergismus zwischen den in der ursprünglichen Anmeldung nicht getesteten Kombinationen per se unplausibel wäre. Diese Schlussfolgerung steht im Einklang mit der Entscheidung T 863/12. So wurde auch in dieser Entscheidung bei der Bejahung der Plausibilität eines Effekts unter anderem darauf abgestellt, dass das allgemeine Fachwissen keine Anhaltspunkte enthielt, die diese Plausibilität in Frage stellten [...]."
13.5.2 Ein weiteres beachtenswertes Beispiel in diesem Zusammenhang ist die Entscheidung T 578/06. Anspruch 1 des Hauptantrags lautete wie folgt (Hervorhebung durch die Kammer im vorliegenden Fall):
"Verwendung von Somatostatin [...] zur Herstellung einer pharmazeutischen Formulierung oder Zubereitung für die Behandlung eines menschlichen Patienten, dem isolierte pankreatische Inselzellen transplantiert wurden, wobei die pharmazeutische Zusammensetzung verabreicht wird [...] und dadurch das funktionelle Überleben der transplantierten isolierten pankreatischen Inselzellen gegenüber unbehandelten transplantierten isolierten pankreatischen Inselzellen verlängert wird."
In der angefochtenen Entscheidung war die Prüfungsabteilung zu dem Schluss gekommen, dass es nicht plausibel sei, dass sich durch den Anspruchsgegenstand die Wirkung der Verlängerung des funktionellen Überlebens der transplantierten pankreatischen Inselzellen erzielen lasse. Diese Entscheidung hob die Kammer auf, weil sie die Wirkung für plausibel erachtete, was sie wie folgt begründete (Nrn. 13 und 15 der Entscheidungsgründe; Hervorhebung durch die Kammer im vorliegenden Fall):
"Die Kammer weist darauf hin, dass das EPÜ keinen experimentellen Nachweis der Patentierbarkeit verlangt; eine Offenbarung von Versuchsdaten oder -ergebnissen in der eingereichten Anmeldung und/oder in nachveröffentlichten Beweismitteln ist nicht immer erforderlich, damit als gesichert gilt, dass der beanspruchte Gegenstand die objektive technische Aufgabe löst. Dies gilt insbesondere dann, wenn keine begründeten Zweifel geäußert werden."
"Die Kammer betont jedoch noch einmal, dass es nach dieser Rechtsprechung im Rahmen der Prüfung der erfinderischen Tätigkeit nur dann auf eine Glaubhaftmachung ankommt, wenn im betreffenden Fall begründete Zweifel daran bestehen können, dass die beanspruchte Erfindung geeignet ist, die gestellte technische Aufgabe zu lösen, und es daher keineswegs offensichtlich ist, dass die beanspruchte Erfindung die gestellte Aufgabe löst."
Nachdem sie die Plausibilität anerkannt hatte, berücksichtigte die Kammer die nachveröffentlichten Beweismittel (Nr. 17 der Entscheidungsgründe).
13.5.3 Weitere, mit den beiden vorstehenden Entscheidungen in Einklang stehende Fälle sind T 536/07 (Nr. 11 der Entscheidungsgründe), T 1437/07 (Nr. 38.1 der Entscheidungsgründe), T 266/10 (Nr. 37 der Entscheidungsgründe), T 863/12 (Nr. 7.3.3 der Entscheidungsgründe), T 184/16 (Nrn. 2.4 bis 2.7 der Entscheidungsgründe) und T 2015/20 (Nr. 2.7 der Entscheidungsgründe). In den vorstehend unter Nummer 13.5 aufgeführten Entscheidungen, in denen durchweg der Maßstab der Ab-initio-Unplausibilität angewendet wurde, wurde die Plausibilität letztlich zuerkannt.
13.5.4 Die Kammer räumt ein, dass einige der vorstehend erörterten, den Maßstab der Ab-initio-Unplausibilität stützenden Entscheidungen Aussagen enthalten, denen zufolge sie nicht im Widerspruch zu der Entscheidung T 1329/04 stehen, also einer Entscheidung, in der nach Auffassung der Kammer der Maßstab der Ab-initio-Plausibilität angewendet wurde. Dies könnte so interpretiert werden, dass es keine Divergenz zwischen der Rechtsprechungslinie der Ab-initio-Plausibilität und derjenigen der Ab-initio-Unplausibilität gibt. Bei genauer Lektüre wird jedoch deutlich, dass es die betreffenden Entscheidungen ungeachtet dieser Aussagen für ausschlaggebend erachteten, dass es am Anmeldetag des Streitpatents keinerlei Zweifel oder Hinweise auf eine Unplausibilität gab (Maßstab der Ab-initio-Unplausibilität).
Unabhängig davon, ob darin eine Divergenz zu sehen ist oder nicht, ist - zumindest nach Auffassung dieser Kammer - die Frage, ob der Maßstab der Ab-initio-Plausibilität oder der der Ab-initio-Unplausibilität anzulegen ist, eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung.
13.5.5 Der Unterschied zwischen den beiden vorgenannten Rechtsprechungslinien lässt sich nicht besser illustrieren als durch das Urteil des Obersten Gerichtshofs des Vereinigten Königreichs vom 14. November 2018 in der Sache Generics (UK) (Firmenname Mylan) vs. Warner-Lambert Company Ltd (nachstehend "Urteil des UK Supreme Court") und der nachfolgenden Abhandlung über dieses Urteil von C. Floyd "Plausibility: where from and where to", GRUR, 2021, 185. In der dem Urteil des UK Supreme Court zugrunde liegenden Sache bezog sich der strittige Anspruch 3 auf die Verwendung von Pregabalin zur Herstellung einer pharmazeutischen Zubereitung für die Behandlung neuropathischer Schmerzen. Zu beantworten war unter anderem die zentrale Frage, ob es am Prioritätstag plausibel war, dass sich die therapeutische Wirkung der Behandlung neuropathischer Schmerzen erzielen ließ, und ob in Anbetracht dessen die nachveröffentlichten Beweismittel Berücksichtigung finden konnten.
Eine Mehrheit der Richter verneinte dies. Die Versuchsdaten in der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung sprachen nach Auffassung des Gerichts zwar für eine Wirksamkeit bei der Behandlung von Entzündungsschmerz, doch war der ursprünglich eingereichten Anmeldung nicht zu entnehmen, dass die vorgelegten Versuchsdaten auch eine Wirksamkeit von Pregabalin bei der Behandlung jeder Art von neuropathischen Schmerzen glaubhaft machten (Nr. 42 des Urteils). Unter Nummer 52 des Urteils erklärte das Gericht:
"[...] genügt es [...] zur Rechtfertigung eines Monopolrechts nicht, dass es mutmaßlich "möglich" ist, dass ein gegen Entzündungsschmerz wirkendes Arzneimittel auch gegen neuropathische Schmerzen wirken könnte, wenn nichts dafür spricht, dass diese Möglichkeit irgendeine wissenschaftliche Grundlage hat oder mehr als nur rein spekulativ ist. Alles ist möglich, was nicht unmöglich ist, aber "nicht unmöglich" ist sehr weit davon entfernt, ein annehmbarer Test für ausreichende Offenbarung zu sein. Plausibilität mag leicht zu belegen sein, doch es braucht mehr als das."
Im Urteil des UK Supreme Court plädierte also eine Mehrheit der Richter für eine Anwendung dessen, was die Kammer im vorliegenden Fall als Maßstab der Ab-initio-Plausibilität bezeichnet hat.
Eine Minderheit der Richter war der Meinung, dass die obige Frage zu bejahen sei. Ihrer Auffassung nach müsse der Patentinhaber nicht innerhalb seines Patents einen Prima-facie-Beweis für die therapeutische Wirksamkeit erbringen (Nr. 180 des Urteils). Außerdem sei laut Nummer 181 des Urteils (Hervorhebung durch die Kammer)
"[...] nicht verlangt, dass im Patent experimentelle Nachweise offenbart werden, die die Plausibilität belegen, es sei denn, es gibt ein ? durch ausreichende Beweismittel gestütztes - Vorbringen, dass die Erfindung nicht funktioniert, [...]."
Weiter heißt es unter Nr. 195 des Urteils (Hervorhebung durch die Kammer im vorliegenden Fall):
"Nur wenn ein Fachmann erhebliche Zweifel an der Ausführbarkeit der Erfindung hätte, würde sie in einem solchen Fall das Erfordernis der ausreichenden Offenbarung nicht erfüllen."
Im Urteil des UK Supreme Court plädierte also eine Minderheit der Richter für eine Anwendung dessen, was die Kammer im vorliegenden Fall als Maßstab der Ab-initio-Unplausibilität bezeichnet hat.
13.6 Ablehnung der Plausibilität
Eine dritte Rechtsprechungslinie scheint das Konzept der Plausibilität gänzlich abzulehnen. Der bei dieser Rechtsprechungslinie angewendete Maßstab wird nachstehend als "Maßstab der Plausibilitätsablehnung" bezeichnet, und die betreffende Rechtsprechung als "Plausibilität ablehnende Rechtsprechungslinie".
13.6.1 In der Sache T 31/18 bezog sich die zugrunde liegende Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung auf pharmazeutische Tabletten, die Imatinib oder ein pharmazeutisch akzeptables Salz davon enthielten. Der strittige Anspruch betraf im Wesentlichen eine Tablette, die Imatinib und ein vernetztes Polyvinylpyrrolidon in bestimmten Mengen umfasste. Angesichts des nächstliegenden Stands der Technik hatte die Patentinhaberin die im Wesentlichen zu lösende Aufgabe als Bereitstellung von Imatinib-Tabletten mit einer Desintegrationszeit von 20 Minuten oder kürzer formuliert und hatte experimentelle Nachweise dafür vorgelegt, dass diese Aufgabe gelöst wird. Eine der Einsprechenden hatte beantragt, die experimentellen Nachweise nicht zu berücksichtigen, weil sie eine Wirkung beträfen, die in der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung für die beanspruchten Tabletten nicht glaubhaft gemacht worden sei. Die Kammer entschied wie folgt (Nr. 2.5.2 der Entscheidungsgründe):
"Diese Argumentation scheint unvereinbar mit der Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit nach dem Aufgabe-Lösungs-Ansatz [...] Von einem Patentanmelder kann nämlich nicht erwartet werden, dass er eine Vielzahl experimenteller Nachweise für alle technischen Merkmale beifügt, die möglicherweise in der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung beansprucht sein und in der Zukunft zu einem Unterscheidungsmerkmal gegenüber dem nächstliegenden Stand der Technik werden könnten, weil dieser nächstliegende Stand der Technik und seine technische Offenbarung dem Patentanmelder am Anmeldetag vielleicht noch gar nicht bekannt sind."
Die Kammer berücksichtigte die experimentellen Nachweise, vertrat aber die Auffassung, dass diese die behauptete Wirkung einer gegenüber dem nächstliegenden Stand der Technik kurzen Desintegrationszeit nicht belegen konnten.
13.6.2 Eine ähnliche Entscheidung wurde in T 2371/13 getroffen. Der strittige Anspruch betraf im Wesentlichen die Verwendung einer Kombination von zwei bestimmten kationischen Farbstoffen für die Direktfärbung. Angesichts des nächstliegenden Stands der Technik hatte die Patentinhaberin die im Wesentlichen zu lösende Aufgabe als Bereitstellung von Farbstoffzusammensetzungen mit einer verbesserten Farbhomogenität formuliert. Auch hatte sie experimentelle Nachweise dafür vorgelegt, dass diese Wirkung für alle untersuchten Kombinationen erzielt wird. Eine der Einsprechenden hatte beanstandet, dass die Wirkung der verbesserten Homogenität in der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung nicht glaubhaft gemacht worden sei, weil diese keine diesbezüglichen Versuchsdaten enthalte. Die Wirkung sei spekulativ, und am Anmeldetag sei keine Erfindung gemacht worden. Die Kammer entschied wie folgt (Nr. 6.1.2 der Entscheidungsgründe und Orientierungssatz):
"Diese Argumentation ist nicht mit der Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit nach dem Aufgabe-Lösungs-Ansatz vereinbar, bei dem als Erstes der der Erfindung am nächsten kommende Stand der Technik ermittelt und eine technische Aufgabe gegenüber diesem Stand der Technik definiert werden muss, die durch den Anspruchsgegenstand gelöst wird. Dabei ist es durchaus üblich, zum Nachweis der erfinderischen Tätigkeit eine technische Wirkung geltend zu machen, die in der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung nicht ausdrücklich genannt ist."
"Die mangelnde Glaubhaftigkeit einer Wirkung aufgrund des Fehlens entsprechender Nachweise in der Patentanmeldung ist kein hinreichender Grund dafür, später zum Nachweis dieser Wirkung vorgelegte Vergleichsversuche unberücksichtigt zu lassen. Würde man die Versuche aus diesem Grund nicht berücksichtigen, widerspräche dies dem Aufgabe-Lösungs-Ansatz, dem zufolge eine technische Aufgabe ausgehend vom nächstliegenden Stand der Technik zu definieren ist, der nicht unbedingt der in der Patentanmeldung genannte sein muss. Siehe Nr. 6.1 der Entscheidungsgründe."
Die Kammer berücksichtigte die von der Patentinhaberin vorgelegten nachveröffentlichten Daten, befand aber, dass sie die Wirkung nicht über den gesamten Schutzbereich des strittigen Anspruchs glaubhaft machen konnten.
13.7 Weitere Erwägungen
13.7.1 Die drei vorstehend erörterten Rechtsprechungslinien umfassen zwei Extrempositionen: die strikte Anwendung des Maßstabs der Ab-initio-Plausibilität einerseits und die Ablehnung der Plausibilität andererseits. Diese beiden Extreme verdeutlichen, dass das Ergebnis unterschiedlich ausfällt, je nachdem welcher Plausibilitätsmaßstab angewendet wird. Auf der einen Seite würde die strikte Anwendung des Maßstabs der Ab-initio-Plausibilität letztlich dazu führen, dass Patente nur für diejenigen Ausführungsformen erteilt würden, die durch in der ursprünglich eingereichten Fassung der Anmeldung enthaltene Versuchsdaten oder andere Belege substanziiert sind, die für diese Ausführungsformen die Wirkung glaubhaft machen, die ihnen erfinderischen Charakter verleiht. Jede Erweiterung des Schutzbereichs über das hinaus, was in der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung durch Versuche oder auf anderem Wege substanziiert wurde, hätte die Zurückweisung der Anmeldung zur Folge. Würde auf der anderen Seite überhaupt kein Plausibilitätsmaßstab angelegt, so könnte ein Patentanmelder alles beanspruchen, was seiner Meinung nach irgendwann nachweislich die behauptete technische Wirkung erzielt. Dies würde das ermöglichen, was in der Rechtsprechung häufig als "spekulative Patentierung" bzw. "Reißbretterfindung" oder "Schreibtischerfindung" ("Armchair Invention") bezeichnet wird, bei der einem Patentanmelder ein Monopolrecht für eine reine Spekulation, nicht für eine echte Erfindung verliehen wird. Der Maßstab der Ab-initio-Unplausibilität scheint, was die Ergebnisse seiner Anwendung angeht, irgendwo zwischen diesen beiden extremen Rechtsprechungslinien zu liegen.
13.7.2 Die Berücksichtigung nachveröffentlichter Beweismittel andererseits daran zu knüpfen, dass etwas plausibel oder zumindest nicht unplausibel ist, kann besonders dann problematisch werden, wenn eine Wirkung gegenüber einem Dokument des Stands der Technik nachgewiesen werden muss, das der Anmelder bzw. Patentinhaber nicht in Betracht gezogen hat oder möglicherweise nicht in Betracht ziehen konnte. Sieht sich ein Patentinhaber beispielsweise mit einem neuen nächstliegenden Stand der Technik konfrontiert, der eine Umformulierung der objektiven technischen Aufgabe erforderlich macht, dürfte er - insbesondere nach der Rechtsprechungslinie der Ab-initio-Plausibilität - keine Beweismittel zur Stützung der umformulierten technischen Aufgabe vorlegen. Dies wäre, wenn ein Einsprechender im Einspruchsverfahren einen neuen nächstliegenden Stand der Technik anführt, eine grundsätzlich unüberwindbare Patentierbarkeitshürde. Außerdem stünde ein solcher Ansatz im Widerspruch zu jahrzehntelanger Rechtsprechung, die in Anbetracht eines neuen nächstliegenden Stands der Technik die Umformulierung der technischen Aufgabe und das Einbringen nachveröffentlichter Beweismittel zur Stützung der umformulierten technischen Aufgabe zugelassen hat. Die einzige Hürde in dieser Rechtsprechung war das Erfordernis, dass die umformulierte technische Aufgabe dem Wesen der ursprünglich offenbarten Erfindung entsprechen musste. Als Beispiel sei hier T 1397/08 angeführt, deren Orientierungssatz lautet (Hervorhebung durch die Kammer im vorliegenden Fall; s. auch T 184/82, Nr. 5 der Entscheidungsgründe):
"Nach dem Aufgabe-Lösungs-Ansatz zur Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit auf dem Gebiet der Chemie kann die technische Aufgabe abgewandelt werden und muss sie unter bestimmten Umständen auch abgewandelt werden, weil für die objektive Bestimmung der Aufgabe nur das Ergebnis zählt, das gegenüber dem nächstliegenden Stand der Technik tatsächlich erzielt wird. Es gibt also keinen Hinderungsgrund, selbst im Beschwerdeverfahren nicht, die ursprünglich gestellte Aufgabe zu ändern, es ist lediglich der ursprüngliche Offenbarungsgehalt der Erfindung zu berücksichtigen [...]."
Dasselbe geht auch aus der Entscheidung T 1422/12 hervor, wo eine bestimmte Verbindung, nämlich kristallines Tigecyclin beansprucht war. Die geltend gemachte Wirkung beruhte auf einer verbesserten Stabilität gegenüber der Epimerisierung. Doch war diese Wirkung in der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung noch nicht einmal erwähnt. Die Kammer erklärte mit Verweis auf die ständige Rechtsprechung (Nr. 2.3.2 der Entscheidungsgründe):
"Dabei dürfen sämtliche Wirkungen berücksichtigt werden, solange sie denselben Anwendungsbereich betreffen und das Wesen der Erfindung nicht verändern."
Auf dieser Grundlage berücksichtigte die Kammer die nachveröffentlichten Beweismittel, befand die Wirkung der verbesserten Stabilität für glaubhaft und erkannte die erfinderische Tätigkeit an.
13.7.3 Ein weiteres Spannungsfeld besteht zwischen den Maßstäben der Ab-initio-Plausibilität und der Ab-initio-Unplausibilität auf der einen Seite und dem Grundsatz der freien Beweiswürdigung auf der anderen (s. G 3/97, ABl. EPA 1999, 245, Nr. 5 der Entscheidungsgründe und G 1/12, ABl. EPA 2014, A114, Nr. 31 der Entscheidungsgründe). Es ist nicht sofort ersichtlich, auf welcher Rechtsgrundlage der Patentinhaber daran gehindert werden dürfte, eine für den Verfahrensausgang relevante Tatsache durch eine bestimmte Art von Beweismittel zu belegen. Ebenso wenig ist ersichtlich, was es einer Kammer verbieten könnte, Beweismittel zu berücksichtigen, die sie für überzeugend und maßgeblich erachtet.
13.7.4 Diesbezüglich ist zu betonen, dass eine Erfindung nach Artikel 56 EPÜ als auf einer erfinderischen Tätigkeit beruhend gilt, wenn sie sich für den Fachmann nicht in naheliegender Weise aus dem Stand der Technik ergibt. Es kann somit kein Zweifel daran bestehen, dass die erfinderische Tätigkeit nur unter Bezugnahme auf den Stand der Technik beurteilt werden kann. Die in der "Rechtsprechungslinie der Ab-initio-Plausibilität" entwickelte Konstruktion ist jedoch die, dass die Erfindung nicht am Anmeldetag gemacht wurde. Diese Feststellung wird ohne Berücksichtigung irgendeines Stands der Technik getroffen, und kann auch nur ohne dessen Berücksichtigung getroffen werden. Insofern ist fraglich, ob Artikel 56 EPÜ die richtige Rechtsgrundlage für die Plausibilität ist, und tatsächlich wurde die Rechtsgrundlage für die Plausibilität auch schon anderweitig hinterfragt. Diesbezüglich verweist die Kammer auf das Urteil des UK Supreme Court, wo der Standpunkt vertreten wurde, dass Plausibilität "eine von Gerichten erfundene Voraussetzung für die Validität ist" (Nr. 192 des Urteils). In R. Jacob, "Plausibility and Policy", Bio-Science Law Review 17 (6), S. 223, erster Absatz unter "The Statutory Language" geht der Autor sogar noch einen Schritt weiter und erklärt Folgendes:
"Schaut sich ein Purist tatsächlich die Worte des EPÜ an, würde er sagen, dass deren Bedeutung bis über die Zerreißgrenze hinaus strapaziert wird, um ihnen irgendwie die Plausibilität abzuringen - eindeutig irrational. Ich glaube, dass deswegen keine juristische Argumentation, die das Plausibilitätskonzept entweder aus der Definition der erfinderischen Tätigkeit (des Naheliegens) oder der ausreichenden Offenbarung ableiten will, viel bzw. überhaupt etwas mit dem tatsächlichen Wortlaut des Übereinkommens zu tun hat. Nicht nur kommt das Wort "Plausibilität" im Übereinkommen gar nicht vor, sondern es steht auch in keinem einzigen Patentgesetz und stand nie in einem."
Auch in A. Slade, "Plausibility: a conditio sine qua non of patent law?", I.P.Q. 2020, 3, S. 180 - 203 hält die Autorin Artikel 56 und 83 EPÜ nicht für die richtige Rechtsgrundlage für die Anwendung irgendeines Plausibilitätsmaßstabs. Sie spricht sich für Artikel 52 (1) EPÜ als Rechtsgrundlage aus, denn die spekulative Verwendung einer bekannten Verbindung erfüllt das erste Erfordernis dieses Absatzes nicht, dass es sich um eine Erfindung handeln muss. Ihrer Auffassung nach können erst, wenn dieses Erfordernis des Artikel 52 (1) EPÜ erfüllt ist, sekundäre Erfordernisse wie die erfinderische Tätigkeit geprüft werden.
14. Schlussfolgerung
Aus dem Vorstehenden ergibt sich eindeutig, dass eine Befassung der Großen Beschwerdekammer erforderlich ist, und zwar zum einen, um eine einheitliche Rechtsanwendung zu sichern, und zum anderen, weil sich Rechtsfragen von grundsätzlicher Bedeutung stellen. Die drei Vorlagefragen in der Entscheidungsformel beziehen sich auf die drei vorstehend erläuterten Rechtsprechungslinien, genauer gesagt darauf, ob überhaupt ein Plausibilitätsmaßstab anzuwenden ist (erste Vorlagefrage) und falls ja, ob dann der Maßstab der Ab-initio-Plausibilität (zweite Vorlagefrage) oder der der Ab-initio-Unplausibilität (dritte Vorlagefrage) anzuwenden ist. Die Beantwortung der Fragen ist für den vorliegenden Fall entscheidend, weil davon abhängt, ob das nachveröffentlichte Beweismittel D21 berücksichtigt werden kann, und weil D21, sollte es berücksichtigt werden, wie vorstehend dargelegt, für die abschließende Entscheidung über die erfinderische Tätigkeit relevant ist.
15. In der mündlichen Verhandlung hat die Kammer drei vorläufige Vorlagefragen vorgestellt (Einzelheiten s. Niederschrift der mündlichen Verhandlung), zu denen sich die Beteiligten wie folgt geäußert haben.
Die Beschwerdeführerin schlug vor, dass die Vorlagefragen das wirksame Datum genauer definieren sollten. So sollte z. B. für den Fall der Inanspruchnahme einer Priorität angegeben werden, ob der Prioritäts- oder der Anmeldetag maßgeblich ist.
Sie argumentierte ferner, dass klargestellt werden müsse, dass die von der Beschwerdegegnerin angezogene Wirkung den gesamten Schutzbereich des Anspruchs betreffe.
Die Beschwerdegegnerin schlug vor, dass eine zusätzliche Frage die Beweislast für die (Nicht-)Erzielung der technischen Wirkung adressieren solle.
Auf den ersten Vorschlag der Beschwerdeführerin hin hat die Kammer in den Vorlagefragen den Begriff "wirksames Datum" (was sowohl der Prioritäts- als auch der Anmeldetag sein kann) durch "Anmeldetag" ersetzt. Im vorliegenden Fall wurde D21 nach dem Anmeldetag des Streitpatents vorgelegt. Folglich stellt sich die Frage nicht, ob Beweismittel berücksichtigt werden können, die der Patentinhaber nach dem Prioritätstag, aber vor dem Anmeldetag einreicht.
Was die zweite Äußerung der Beschwerdeführerin betrifft, so erachtet die Kammer eine Klarstellung, dass die Wirkung den gesamten Schutzbereich des Anspruchs betrifft, für nicht notwendig. Ihrer Auffassung nach ist klar, dass sich die Beschwerdegegnerin nicht erfolgreich auf eine Wirkung berufen kann, die nur in einem Teil des Anspruchsbereichs erzielt wird (s. z. B. T 939/92, Nrn. 2.4 bis 2.6 der Entscheidungsgründe).
Die von der Beschwerdegegnerin aufgeworfene Frage der Beweislast für die (Nicht-)Erzielung der technischen Wirkung ist wichtig, aber bereits in den Vorlagefragen enthalten. Nach der Rechtsprechungslinie der Ab-initio-Plausibilität, auf die die zweite Vorlagefrage abstellt, muss der Patentinhaber die Plausibilität nachweisen, während nach der Rechtsprechungslinie der Ab-initio-Unplausibilität, auf die die dritte Vorlagefrage abstellt, der Einsprechende die Unplausibilität nachweisen muss.
Entscheidungsformel
Aus diesen Gründen wird entschieden:
Der Großen Beschwerdekammer werden die folgenden Rechtsfragen zur Entscheidung vorgelegt:
Wenn sich der Patentinhaber für die Anerkennung erfinderischer Tätigkeit auf eine technische Wirkung beruft und Beweismittel, z. B. Versuchsdaten, zum Nachweis dieser Wirkung vorgelegt hat, die vor dem Anmeldetag des Streitpatents nicht öffentlich zugänglich waren und erst nach diesem Tag eingereicht wurden (nachveröffentlichte Beweismittel):
1. Ist dann eine Ausnahme vom Grundsatz der freien Beweiswürdigung (siehe z. B. G 3/97, Nr. 5 der Entscheidungsgründe und G 1/12, Nr. 31 der Entscheidungsgründe) dahin gehend zuzulassen, dass nachveröffentlichte Beweismittel unberücksichtigt bleiben müssen, weil der Nachweis für die Wirkung ausschließlich auf diesen beruht?
2. Falls Frage 1 bejaht wird (und die nachveröffentlichten Beweismittel unberücksichtigt bleiben müssen, wenn der Nachweis für die Wirkung ausschließlich auf diesen beruht), können die nachveröffentlichten Beweismittel dann berücksichtigt werden, wenn der Fachmann am Anmeldetag der strittigen Patentanmeldung ausgehend von den darin enthaltenen Angaben oder vom allgemeinen Fachwissen die Wirkung für plausibel erachtet hätte (Ab-initio-Plausibilität)?
3. Falls Frage 1 bejaht wird (und die nachveröffentlichten Beweismittel unberücksichtigt bleiben müssen, wenn der Nachweis für die Wirkung ausschließlich auf diesen beruht), können die nachveröffentlichten Beweismittel dann berücksichtigt werden, wenn der Fachmann am Anmeldetag der strittigen Patentanmeldung ausgehend von den darin enthaltenen Angaben oder vom allgemeinen Fachwissen keinen Grund gesehen hätte, die Wirkung für unplausibel zu erachten (Ab-initio-Unplausibilität)?