European Case Law Identifier: | ECLI:EP:BA:2016:T128614.20160929 | ||||||||
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Datum der Entscheidung: | 29 September 2016 | ||||||||
Aktenzeichen: | T 1286/14 | ||||||||
Anmeldenummer: | 06018570.9 | ||||||||
IPC-Klasse: | H04L 12/10 H04L 12/40 |
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Verfahrenssprache: | DE | ||||||||
Verteilung: | C | ||||||||
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Bezeichnung der Anmeldung: | Anlage mit einer Systemschnittstelle | ||||||||
Name des Anmelders: | Siemens Aktiengesellschaft | ||||||||
Name des Einsprechenden: | WAGO Kontakttechnik GmbH & Co. KG | ||||||||
Kammer: | 3.5.05 | ||||||||
Leitsatz: | - | ||||||||
Relevante Rechtsnormen: |
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Schlagwörter: | Zulassung - Einspruchsgrund nach Artikel 100 c) EPÜ (nein) Zulassung - Hilfsanträge 1a, 1c und 6a (nein) Erfinderische Tätigkeit - Hauptantrag und Hilfsantrag 7 (nein) Klarheit - Hilfsanträge 10, 12 und 13 (nein) Unzulässige Erweiterung - Hilfsantrag 11 (ja) |
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Orientierungssatz: |
Zur beschränkten Ermessensüberprüfung durch eine Beschwerdekammer im Falle eines "neuen Einspruchsgrunds" und fehlendem Einverständnis zu dessen Zulassung durch den Patentinhaber: siehe Punkt 1.2 der Entscheidungsgründe. |
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Angeführte Entscheidungen: |
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Anführungen in anderen Entscheidungen: |
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Sachverhalt und Anträge
I. Die Beschwerde der Einsprechenden richtet sich gegen die Zurückweisung ihres Einspruchs gegen das vorliegende Patent. Mit der Einspruchsschrift machte die Einsprechende den Einspruchsgrund der mangelnden Patentfähigkeit (Artikel 100 a), 54 und 56 EPÜ) geltend. Die Einspruchsabteilung ließ den von der Einsprechenden erstmals mit dem Schreiben vom 11. Februar 2014 geltend gemachten Einspruchsgrund nach Artikel 100 c) in Verbindung mit 123(2) EPÜ nicht ins Einspruchsverfahren zu.
II. Die Einspruchsabteilung hatte in ihrer Entscheidung für die Beurteilung der Neuheit und erfinderischen Tätigkeit folgenden Stand der Technik berücksichtigt:
D1: DE-A-102 06 222;
D4: "Handbuch WAGO I/O System 750, Sicherheits-klemmen PROFIsafe", Version 1.0.0, Januar 2006.
III. Mit der Beschwerdebegründung beantragte die Beschwerdeführerin, die angefochtene Entscheidung aufzuheben und das Patent aufgrund mangelnder Patentfähigkeit (Artikel 100 a) mit Artikel 54 und 56 EPÜ) und unzulässiger Erweiterung (Artikel 100 c) mit 123(2) EPÜ) zu widerrufen.
IV. Mit der Beschwerdeerwiderung vom 1. Dezember 2014 reichte die Beschwerdegegnerin geänderte Ansprüche gemäß der Hilfsanträge 1 bis 13 ein und beantragte, die Beschwerde zurückzuweisen sowie das Patent auf Basis der Ansprüche wie erteilt als Hauptantrag bzw. der Ansprüche gemäß einem der obigen Hilfsanträge aufrechtzuerhalten. Zudem stimmte sie einer Einführung des Einspruchsgrunds nach Artikel 100 c) EPÜ in das Beschwerdeverfahren ausdrücklich nicht zu.
V. Mit der Anlage zur Ladung für eine mündliche Verhandlung gemäß Artikel 15(1) VOBK teilte die Kammer die während der mündlichen Verhandlung zu erörternden Punkte, insbesondere die Zulässigkeit des verspätet vorgebrachten Einspruchsgrunds nach Artikel 100 c) EPÜ bzw. der Hilfsanträge und die Frage der Neuheit und erfinderischen Tätigkeit gegenüber D1 und D4, mit.
VI. Am 29. September 2016 fand eine mündliche Verhandlung statt, in deren Verlauf die Beschwerdegegnerin die zusätzlichen Hilfsanträge 1a, 1c und 6a eingereicht hat. Darüber hinaus hat sie nochmals ausdrücklich erklärt, dass sie der Einführung des Einspruchsgrunds nach Artikel 100 c) EPÜ nicht zustimme.
Auf den Einwand der Beschwerdegegnerin, dass Figur 1 von D1 in derart schlechter Qualität vorliege, dass bestimmte Details nicht erkennbar seien, stellte die Beschwerdeführerin den bedingten Antrag, die Verhandlung zu vertagen, um eine bessere Kopie der Figur 1 z.B. aus einem Archiv beschaffen zu können, falls dieser Mangel für die Beurteilung durch die Kammer entscheidungserheblich sein sollte. Die Beschwerdegegnerin beantragte, diesen Antrag zurückzuweisen, da es für die Beurteilung der Lehre von D1 nur auf die Offenbarung in der veröffentlichten Fassung ankomme.
Nach Beratung teilte die Kammer mit, dass für die Diskussion in der mündlichen Verhandlung die Offenbarung zugrunde gelegt werde, die der Fachmann D1 entnehmen könne. Zudem führte sie an, dass zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht absehbar sei, ob die Wiedergabequalität der Figur 1 eine Beurteilung des Inhalts von D1, die seit Beginn des Einspruchsverfahrens in dieser Qualität vorgelegen hat, beeinträchtigen werde und daher zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht über den bedingten Antrag der Beschwerdeführerin entschieden werden könne. Sie fügte jedoch hinzu, dass dieser Antrag erneut behandelt werden würde, sollte sich in der Diskussion ergeben, dass die Offenbarung von D1 wegen der Qualität der Wiedergabe von Figur 1 nicht abschließend beurteilt werden kann. In der nachfolgenden Diskussion wurde die Frage der Wiedergabequalität der Figur 1 jedoch nicht mehr thematisiert. Der bedingte Antrag auf Vertagung der Verhandlung wurde zudem bei den Schlussanträgen nicht wiederholt.
VII. Schlussanträge
- Die Beschwerdeführerin beantragte, die angefochtene Entscheidung aufzuheben und das Patent zu widerrufen.
- Die Beschwerdegegnerin beantragte, die Beschwerde zurückzuweisen oder das Patent aufrechtzuerhalten auf Basis der Ansprüche eines der Hilfsanträge 1a, 1c, 6, 6a, 7 oder 10 bis 13; die Hilfsanträge 6, 7 und 10 bis 13 eingereicht mit der Beschwerdeerwiderung vom 1. Dezember 2014 und die Hilfsanträge 1a, 1c und 6a eingereicht während der mündlichen Verhandlung vor der Kammer.
VIII. Am Ende der mündlichen Verhandlung wurde die Entscheidung der Kammer verkündet.
X. Anspruch 1 gemäß erteiltem Patent (Hauptantrag) hat folgenden Wortlaut:
"Anlage (1) umfassend mindestens zwei Aktorbaugruppen (3;4;5) und eine Busleitung (12;13;16) zur Verbindung der zwei Aktorbaugruppen, wobei die Busleitung einen Kommunikationskanal und einen Kommunikationsspannungsversorgungskanal aufweist, wobei die mindestens zwei Aktorbaugruppen (3;4;5) jeweils eine Systemschnittstelle (15) aufweisen, welche zum Anschluss der Busleitung (12;13;16) an die Aktorbaugruppen (3;4;5) in einem Steuerungssystem ausgebildet sind, wobei die Systemschnittelle (15) einen K-Anschluss (18) zur Verbindung des Kommunikationskanals, einen K-U-Anschluss (19) zur Verbindung des Kommunikationsspannungsversorgungskanals und einen A-U-Anschluss (17) zur Verbindung eines Aktorspannungsversorgungskanals aufweist,
dadurch gekennzeichnet,
dass die Aktorspannungsversorgung unter Zwischenschaltung einer Not-Aus-Vorrichtung (9;10) in eine der Aktorbaugruppen (3;5) oder in die Busleitung (12) eingespeist wird, wobei die
Not-Aus-Vorrichtung eine Abschaltung der Aktorbaugruppe oder -gruppen bewirkt, wobei eine Betätigung der
Not-Aus-Vorrichtung (9;10) über den Kommunikationskanal übermittelbar ist."
Anspruch 1 gemäß Hilfsantrag 1a hat folgenden Wortlaut (mit von der Kammer hervorgehobenen Änderungen im Vergleich zum Hauptantrag):
"Anlage (1) aus der Automatisierungstechnik umfassend mindestens zwei Aktorbaugruppen (3;4;5) und eine Busleitung (12;13;16) zur Verbindung der zwei Aktorbaugruppen, wobei die Busleitung einen Kommunikationskanal und einen Kommunikationsspannungsversorgungskanal aufweist, wobei die mindestens zwei Aktorbaugruppen (3;4;5) jeweils eine Systemschnittstelle (15) aufweisen, welche zum Anschluss der Busleitung (12;13;16) an die Aktorbaugruppen (3;4;5) in einem Steuerungssystem ausgebildet sind, wobei die Systemschnittelle (15) einen K-Anschluss (18) zur Verbindung des Kommunikationskanals, einen K-U-Anschluss (19) zur Verbindung des Kommunikationsspannungsversorgungskanals und einen A-U-Anschluss (17) zur Verbindung eines Aktorspannungsversorgungskanals aufweist,
dadurch gekennzeichnet,
dass die Aktorspannungsversorgung unter Zwischenschaltung einer Not-Aus-Vorrichtung (9;10) in eine der Aktorbaugruppen (3;5) oder in die Busleitung (12) eingespeist wird, wobei die
Not-Aus-Vorrichtung eine Abschaltung der Aktorbaugruppe oder -gruppen bewirkt, wobei eine Betätigung der
Not-Aus-Vorrichtung (9;10) über den Kommunikationskanal übermittelbar ist, wobei die
Not-Aus-Vorrichtung (9;10) ein Not-Aus-Schalter ist."
Anspruch 1 gemäß Hilfsantrag 1c enthält alle Merkmale von Anspruch 1 gemäß Hilfsantrag 1a - bis auf den Ausdruck "aus der Automatisierungstechnik" - und enthält am Ende zusätzlich das folgende Merkmal:
", und die Busleitung (12,13,16) als Dreidrahtleitung ausgebildet ist."
Anspruch 1 gemäß Hilfsantrag 6 enthält alle Merkmale von Anspruch 1 gemäß Hauptantrag und enthält am Ende zusätzlich das folgende Merkmal:
", wobei die Busleitung (12) eine Aktorspannungsversorgungsleitung (11), eine Kommunikationsleitung und eine Kommunikationsspannungsversorgungsleitung umfasst."
Anspruch 1 gemäß Hilfsantrag 6a hat folgenden Wortlaut (mit von der Kammer markierten Änderungen im Vergleich zum Hauptantrag):
"Anlage (1) umfassend mindestens zwei Aktorbaugruppen (3;4;5) und eine Busleitung (12;13;16) zur Verbindung der zwei Aktorbaugruppen, wobei die Busleitung einen Kommunikationskanal, einen Aktorspannungsversorgungskanal und einen Kommunikationsspannungsversorgungskanal aufweist, wobei die mindestens zwei Aktorbaugruppen (3;4;5) jeweils eine Systemschnittstelle (15) aufweisen, welche zum Anschluss der Busleitung (12;13;16) an die Aktorbaugruppen (3;4;5) in einem Steuerungssystem ausgebildet sind, wobei die Systemschnittelle (15) einen K-Anschluss (18) zur Verbindung des Kommunikationskanals, einen K-U-Anschluss (19) zur Verbindung des Kommunikationsspannungsversorgungskanals und einen A-U-Anschluss (17) zur Verbindung eines Aktorspannungsversorgungskanals aufweist,
dadurch gekennzeichnet,
dass die Aktorspannungsversorgung unter Zwischenschaltung einer Not-Aus-Vorrichtung (9;10) in eine der Aktorbaugruppen (3;5) [deleted: oder in die Busleitung][deleted: ][deleted: (12)] eingespeist wird, wobei die
Not-Aus-Vorrichtung eine Abschaltung der Aktorbaugruppe oder -gruppen bewirkt, wobei eine Betätigung der
Not-Aus-Vorrichtung (9;10) über den Kommunikationskanal übermittelbar ist, wobei die Busleitung (12) eine Aktorspannungsversorgungsleitung (11), eine Kommunikationsleitung und eine Kommunikationsspannungsversorgungsleitung umfasst, wobei die Not-Aus-Vorrichtung (9;10) als Not-Aus-Schalter ausgebildet ist."
Anspruch 1 gemäß Hilfsantrag 7 umfasst alle Merkmale von Anspruch 1 gemäß Hauptantrag und enthält am Ende zusätzlich das folgende Merkmal:
", wobei die Systemschnittstelle (15) als Buchse oder Stecker realisiert ist."
Anspruch 1 gemäß Hilfsantrag 10 umfasst alle Merkmale von Anspruch 1 gemäß Hauptantrag und enthält am Ende zusätzlich das folgende Merkmal:
", wobei die Aktorbaugruppe (3;5) als Motorstarter oder Motorsteuerungsgerät ausgebildet ist."
Anspruch 1 gemäß Hilfsantrag 11 umfasst alle Merkmale von Anspruch 1 gemäß Hauptantrag und enthält am Ende zusätzlich das folgende Merkmal:
", wobei eine Abschaltung der Aktorbaugruppe
oder -gruppen (3;4;5) durch eine Steuerung der Anlage (1) erfolgen kann."
Anspruch 1 gemäß Hilfsantrag 12 enthält alle Merkmale von Anspruch 1 gemäß Hauptantrag und enthält am Ende zusätzlich das folgende Merkmal:
", wobei die Betätigung der Not-Aus-Vorrichtung (9;10) die Aktorspannungsversorgung nicht jedoch die Kommunikationsspannungsversorgung deaktiviert, so dass eine Steuerung ständig in der Lage ist[sic] den aktuellen Zustand der Aktorbaugruppe zu erfragen beziehungsweise die Aktorbaugruppe in der Lage ist, ständig ihren aktuellen Zustand über den Kommunikationskanal an eine Steuerung zu senden."
Anspruch 1 gemäß Hilfsantrag 13 umfasst alle Merkmale von Anspruch 1 gemäß Hauptantrag und enthält am Ende zusätzlich das folgende Merkmal:
", wobei die Aktorbaugruppe (3;4;5) zwei Systemschnittstellen aufweist."
Entscheidungsgründe
1. ANSPRÜCHE WIE ERTEILT (HAUPTANTRAG)
1.1 Der erteilte Anspruch 1 (gemäß der Merkmalsgliederung der Beschwerdeführerin) umfasst die folgenden Merkmale:
a) Anlage umfassend mindestens zwei Aktorbaugruppen und eine Busleitung zur Verbindung der zwei Aktorbaugruppen, wobei
b) die Busleitung einen Kommunikationskanal und einen Kommunikationsspannungsversorgungskanal aufweist;
c) die mindestens zwei Aktorbaugruppen jeweils eine Systemschnittstelle aufweisen, welche zum Anschluss der Busleitung an die Aktorbaugruppen in einem Steuerungssystem ausgebildet sind;
d) die Systemschnittstelle einen K-Anschluss zur Verbindung des Kommunikationskanals, einen K-U-Anschluss zur Verbindung des Kommunikationsspannungsversorgungskanals und einen A-U-Anschluss zur Verbindung eines Aktorspannungsversorgungskanals aufweist;
e) die Aktorspannungsversorgung unter Zwischenschaltung einer Not-Aus-Vorrichtung in eine der Aktorbaugruppen oder in die Busleitung eingespeist wird;
f) die Not-Aus-Vorrichtung eine Abschaltung der Aktorbaugruppen bewirkt;
g) eine Betätigung der Not-Aus-Vorrichtung über den Kommunikationskanal übermittelbar ist.
1.2 Zulassung des Einspruchsgrunds nach Artikel 100 c) EPÜ
1.2.1 Die Beschwerdeführerin trug im schriftlichen wie mündlichen Beschwerdeverfahren vor, dass Anspruch 1 wie erteilt nicht die Erfordernisse des Artikels 123(2) EPÜ erfülle, da das Verwenden des Begriffs "Busleitung" gemäß Merkmale a)a) , b) und c) eine unzulässige Verallgemeinerung der laut ursprünglicher Beschreibung zwischen zwei Aktorbaugruppen mit drei Anschlüssen eingesetzten, als Dreidrahtleitung realisierten "Systembusleitung 12" darstelle. Daher sei dieser Einwand, im Gegensatz zur Feststellung in der angefochtenen Entscheidung, prima facie relevant im Sinne von G 10/91 und müsse von der Kammer in das Beschwerdeverfahren nicht nur zugelassen, sondern auch - nach einer sachlichen Überprüfung - als der Aufrechterhaltung des Streitpatents entgegenstehend betrachtet werden.
1.2.2 Aus der vorliegenden Akte geht hervor, dass die Beschwerdeführerin den obigen Einspruchsgrund nach Artikel 100 c) in Verbindung mit 123(2) EPÜ gegen Anspruch 1 wie erteilt erstmals mit ihrem Schreiben vom 11. Februar 2014 im Einspruchsverfahren erhoben hatte (vgl. Punkt I oben). Somit wurde dieser Einwand nicht rechtzeitig mit der Einspruchsschrift gemäß Artikel 99(1) in Verbindung mit Regel 76(2) c) EPÜ und folglich verspätet im Sinne von Artikel 114(2) EPÜ vorgebracht. Die Einspruchsabteilung hat diesen Einspruchsgrund nicht in das Einspruchsverfahren zugelassen mit der Begründung, dass er verspätet vorgebracht und prima facie nicht relevant sei (vgl. angefochtene Entscheidung, Gründe 14). Dennoch hat die Beschwerdeführerin diesen Einwand in ihrer Beschwerdebegründung nochmals geltend gemacht (vgl. Punkt III oben). Zur Klärung der Frage, ob nun - wie von der Beschwerdeführerin gefordert - eine sachliche Überprüfung der erstinstanzlichen Ermessensentscheidung in der Tat geboten ist, bedarf es nach Auffassung dieser Kammer einer Auslegung der einschlägigen Rechtsprechung der Großen Beschwerdekammer.
1.2.3 Leitsatz 3 der Stellungnahme der Großen Beschwerdekammer im Fall G 10/91 (ABl. EPA 1993, 420), der mit der Sache G 9/91 (ABl. EPA 1993, 408) verbunden wurde, besagt (in der deutschen Übersetzung und mit Hervorhebungen durch diese Kammer):
"Im Beschwerdeverfahren dürfen neue Einspruchsgründe nur mit dem Einverständnis des Patentinhabers geprüft werden."
Darüber hinaus führt G 10/91 (und gleichlautend G 9/91) in den letzten zwei Sätzen von Nummer 18 der Gründe Folgendes aus (Hervorhebungen durch diese Kammer):
"Ergänzend sei darauf hingewiesen, daß die Beschwerdekammer in ihrer Entscheidung sachlich in keiner Weise auf einen neuen Einspruchsgrund eingehen darf, wenn der Patentinhaber seiner Einführung in das Verfahren nicht zugestimmt hat. Zulässig ist dann nur der Hinweis, daß die Frage aufgeworfen worden ist."
Zur Frage der genauen Definition des Begriffs "neuer Einspruchsgrund" gibt ferner die spätere Entscheidung in der Sache G 1/95 (ABl. EPA 1996, 615), die mit dem Fall G 7/95 (ABl. EPA 1996, 626) verbunden wurde, in Nummer 5.3 der Gründe (in der deutschen Übersetzung und mit Hervorhebungen durch diese Kammer) Folgendes an:
"Die Große Beschwerdekammer hat den Begriff 'neuer Einspruchsgrund' in ihrer Stellungnahme G 10/91 erstmals unter Nummer 18 benutzt ... Es liegt auf der Hand, daß damit ein Einspruchsgrund gemeint ist, der weder in der Einspruchsschrift geltend gemacht und substantiiert noch von der Einspruchsabteilung in Anwendung des Artikels 114(1) EPÜ unter Beachtung der in G 10/91 unter Nummer 16 aufgestellten Grundsätze in das Verfahren eingeführt worden ist."
Damit wurde die frühere, z.B. in T 986/93 (ABl. EPA 1996, 215, Gründe 2.3, vierter Absatz) verwendete Definition des Begriffs "neuer Einspruchsgrund" abgelöst. Dort wurde nämlich hierunter noch ein Einspruchsgrund verstanden, der zum allerersten Mal im Beschwerdeverfahren geltend gemacht wurde.
Zu den in G 10/91 (und gleichlautend G 9/91), Nummer 16 für die Anwendung des Artikels 114(1) EPÜ im Zusammenhang mit der damaligen Regel 55 c) EPÜ (jetzt Regel 76(2) c) EPÜ) aufgestellten Grundsätzen wird unter Nummer 16 wiederum Folgendes angeführt (Hervorhebungen durch diese Kammer):
"... Daher kann eine Einspruchsabteilung in Anwendung des Artikels 114(1) EPÜ einen durch
die Erklärung gemäß Regel 55 c) EPÜ nicht abgedeckten Einspruchsgrund von sich aus vorbringen oder einen solchen vom Einsprechenden ... nach
Ablauf der Frist gemäß Artikel 99(1) EPÜ vorgebrachten Grund prüfen. Die Große Beschwerdekammer legt aber zugleich Wert auf die
Feststellung, daß die Einspruchsabteilung nur dann ... über den eigentlichen Inhalt der Erklärung gemäß Regel 55 c) EPÜ hinausgehende Einspruchsgründe prüfen sollte, wenn prima facie
triftige Gründe dafür sprechen, daß diese Einspruchsgründe relevant sind und der Aufrechterhaltung des europäischen Patents ganz oder teilweise entgegenstehen würden. Natürlich sollte dabei auch bedacht werden, daß nach Artikel 114(2) EPÜ die Möglichkeit besteht, verspätet vorgebrachte Tatsachen und Beweismittel zur Stützung neuer Einspruchsgründe unberücksichtigt zu lassen."
1.2.4 Diese Kammer interpretiert die obigen Textstellen von G 10/91 in Verbindung mit G 1/95 nun so, dass im Falle der Nichtzulassung eines wie oben definierten "neuen Einspruchsgrunds" durch die Einspruchsabteilung - bei gleichzeitigem Fehlen des Einverständnisses des Patentinhabers, diesen Grund doch zuzulassen - es einer Beschwerdekammer lediglich obliegt, zu überprüfen, ob die Einspruchsabteilung tatsächlich geprüft hat, dass dieser Grund auch prima facie relevant ist und dies auch in der Sache begründet wurde. Das bedeutet wiederum, dass anstatt - wie in der überholten Entscheidung T 986/93 (vgl. Gründe 2.6) - zu überprüfen, ob die Einspruchsabteilung die Prüfung der prima facie Relevanz des neuen Einspruchsgrunds sachlich "richtig" vorgenommen hat - nach der obigen Interpretation von G 10/91 und G 1/95 nur überprüft werden sollte, ob überhaupt die prima facie Relevanz des neuen Einspruchsgrunds nachweislich überprüft wurde. Mit anderen Worten ist hier eine beschränkte Ermessensüberprüfung von Seiten einer Beschwerdekammer durchzuführen.
1.2.5 Für den vorliegenden Fall stellt diese Kammer indes fest, dass
- der Einspruchsgrund nach Artikel 100 c) EPÜ nicht in der Einspruchsschrift geltend gemacht und substanziiert wurde (vgl. Punkt I oben);
- er nicht von der Einspruchsabteilung in das Einspruchsverfahren eingeführt wurde (vgl. Punkt I oben);
- die Einspruchsabteilung hierbei - gemäß den in Nummer 16 von G 10/91 aufgestellten Grundsätzen - nachweislich geprüft hat, ob (i) prima facie triftige Gründe für dessen Zulassung sprechen, (ii) er relevant ist und (iii) er der Aufrechterhaltung des Streitpatents ganz oder teilweise entgegensteht (vgl. angefochtene Entscheidung, Gründe 14), und zwar unabhängig davon, ob die entsprechende Prüfung auch sachlich richtig war.
1.2.6 Aus dem Obigen folgert die Kammer, dass der mit der Beschwerdebegründung erneut vorgebrachte Einspruchsgrund nach Artikel 100 c) EPÜ als "neuer Einspruchsgrund" im Sinne von G 10/91 mit G 1/95 zu betrachten ist. Da zudem die Patentinhaberin (Beschwerdegegnerin) im Beschwerdeverfahren ausdrücklich ihr Einverständnis zu seiner Einführung in das Beschwerdeverfahren verweigert hat (vgl. Punkte IV und VI oben), darf dieser Einspruchsgrund nicht in das Beschwerdeverfahren zugelassen werden. Mithin geht die Kammer in Anlehnung an G 10/91 (Nummer 18 der Gründe; siehe Punkt 1.2.3 oben) sachlich auch nicht auf den vorgebrachten Einspruchsgrund ein und weist demzufolge lediglich darauf hin, dass diese Frage im vorliegenden Verfahren aufgeworfen wurde.
Im Zusammenhang mit der Prüfung der Zulassung eines "neuen Einspruchsgrunds" bei fehlendem Einverständnis des Patentinhabers im Beschwerdeverfahren folgt sie somit der einer beschränkten Ermessensüberprüfung zuzuordnenden Vorgehensweise in den Fällen T 736/95 vom 9. Oktober 2000 (Gründe 5), T 1519/08 vom 16. Dezember 2011 (Gründe 3.3) bzw. T 1592/09 vom 21. Oktober 2011 (Gründe 2.6) und kann sich nicht der auf einer Ermessensüberprüfung mit detaillierter sachlicher Überprüfung der erstinstanzlichen Ermessensentscheidung fußenden Herangehensweise anschließen, wie sie z.B. in den Fällen T 1053/05 vom 22. Februar 2007 (Gründe 3 bis 17) und T 1142/09 vom 10. Juni 2013 (Gründe 1.5.1), in denen G 1/95 bzw. G 7/95 nicht erwähnt wurde, bzw. in der Sache T 620/08 vom 4. Mai 2011 (Gründe 3.4 bis 3.7), in der sich die Kammer hauptsächlich auf T 986/93 berief, durchgeführt wurde.
1.3 Neuheit und erfinderische Tätigkeit
Nach Beurteilung der Kammer ist der Gegenstand von Anspruch 1 zwar neu (Artikel 54 EPÜ), aber nicht erfinderisch (Artikel 56 EPÜ) gegenüber der Druckschrift D1. Die Gründe hierfür sind wie folgt.
1.3.1 Stand der Technik
Dokument D1 beschäftigt sich, wie das Streitpatent, mit der zuverlässigen Spannungsversorgung in einem Datenbussystem (KFZ-basiertes "CAN-System"), das verschiedene Aktorbaugruppen (Steuergeräte bzw. Knoten Ny, Nz, N1 bis Nn) über verschiedene Busleitungen verbindet (siehe Absätze [0002] und [0003] in Verbindung mit Fig. 1 und Zusammenfassung). Hierbei erfolgt die Spannungsversorgung des vorliegenden Bussystems bzw. der einzelnen Steuergeräte mittels einer schaltbaren Spannungsversorgung über die Klemme "KL15" und einer Dauerspannungsversorgung über die Klemme "KL30" (siehe Fig. 1 zusammen mit der Abbildung der Zusammenfassung). Die Aktorspannungsversorgung über KL15 kann zudem mit Hilfe des KFZ-Zündschlosses ("Zündung") an- und abgeschaltet werden (siehe z.B. Absatz [0003]).
1.3.2 Unterscheidungsmerkmale
Bezüglich Merkmale a) und b) sieht auch D1 eine Busleitung zwischen mindestens zwei Aktorbaugruppen (z.B. Knoten Ny und N1) vor (siehe die in Fig. 1 eingezeichnete Leitung zwischen dem rechten Anschluss von Ny und dem von oben zweiten Anschluss von N1). Über diese Busleitung müssen hier im Falle der Abschaltung der Aktorspannungsversorgung über KL15 ("Abschalten der Zündung") während der durch den Knoten Ny initiierten Nachlaufsteuerung Steuernachrichten ("Steuerzeichen für den Ruhemodus"; "Sleep-Acknowledge") übermittelt werden (siehe z.B. Spalte 4, Zeilen 11-16, 31-37 und 39-43). Daher teilt die Kammer die Auffassung der Beschwerdeführerin, dass über diese Busleitung nicht nur die Kommunikation, sondern auch die Spannungsversorgung jener Kommunikation bereitgestellt werden muss. Andernfalls könnte nämlich eine solche Nachlaufsteuerung im System von D1 nicht stattfinden (siehe z.B. Spalte 2, Zeilen 28-32). Daher ist nach Ansicht der Kammer im System von D1 zwingend davon auszugehen, dass die Kommunikation auf der einen und deren Spannungsversorgung auf der anderen Seite über zwei logisch getrennte Signale (z.B. mittels auf einer Kommunikationsleitung aufmodulierter Signale) erfolgt. Somit können diese funktionell unterschiedlichen Signaleinheiten - insbesondere aufgrund der auf dem Gebiet der Kommunikationstechnik breiten Auslegbarkeit des Begriffs "Kanal" - sehr wohl als "Kanäle" im Sinne von Anspruch 1 aufgefasst werden, was auch von der Beschwerdegegnerin in der mündlichen Verhandlung vor der Kammer nicht bestritten wurde.
Bezüglich Merkmale c) und d) stellt die Kammer zunächst fest, dass - entgegen der Auffassung der Einspruchsabteilung - deren Wortlaut nicht die Interpretation zulässt, dass alle Aktorbaugruppen der beanspruchten Anlage die beschriebene Systemschnittstelle aufweisen müssen (vgl. angefochtene Entscheidung, Gründe 20.1). Es wird hier lediglich auf die zwei Aktorbaugruppen (von den mindestens zwei möglichen Aktorbaugruppen) abgestellt, die auch gemäß Merkmal a) über die eine Busleitung miteinander verbunden sind. Ausgehend von dieser Interpretation ist die Kammer der Ansicht, dass die Knoten Ny und N1 in D1 inhärenterweise auch eine Systemschnittstelle mit Anschlüssen zum Kommunikations- und Kommunikationsspannungsversorgungskanal (rechter Anschluss von Ny; zweiter Anschluss von N1) sowie zu einem Aktorspannungsversorgungskanal (linker Anschluss von Ny zur Klemme KL30; dritter Anschluss von N1 zur Klemme KL15) aufweisen (siehe Fig. 1 zusammen mit der Abbildung der Zusammenfassung).
Bezüglich Merkmale e), f) und g) lehrt D1, dass die Spannungsversorgung über KL15, d.h. die Aktorspannungsversorgung über das entsprechende Zündschloss des Kraftfahrzeugs, an- und abgeschaltet und somit auch alle an dieser Klemme KL15 angeschlossenen Steuergeräte ein- und ausgeschaltet werden können. Darüber hinaus wird in D1 auch offenbart, dass der Knoten Ny nach dem Abschalten der Zündung den entsprechenden Nachlauf (d.h. die Sicherstellung einer für eine bestimmte Nachlaufperiode fortwährende Kommunikation zwischen den Bus-Knoten; siehe z.B. Spalte 1, Zeilen 51-55 und Spalte 2, Zeilen 55-58) steuert und somit (zumindest implizit) die Abschaltung der KL15-Spannungsversorgung ("Abschalten der Zündung") über die Busleitung (z.B. zwischen Ny und N1) mitteilt (siehe Spalte 3, Zeilen 28-37).
Die für die Beurteilung der Neuheit und erfinderischen Tätigkeit sowohl im Einspruchs- als auch im Beschwerdeverfahren zentrale Frage war nun, ob das Zündschloss-System von D1 tatsächlich - wie von der Beschwerdeführerin vorgebracht - mit der
"Not-Aus-Vorrichtung" gemäß Merkmale e) bis f) gleichgesetzt werden kann. In diesem Zusammenhang kam die Kammer in der mündlichen Verhandlung zur Schlussfolgerung, dass unter einer "Not-Aus-Vorrichtung" eine zu einer regulären Vorrichtung zur Spannungsabschaltung zusätzlich verwendbare Vorrichtung zur - manuellen wie auch automatischen - Spannungsabschaltung im Notfall zu verstehen ist. Im Lichte dieser Definition weist D1 zwar eine
"Aus-Vorrichtung" (d.h. Zündschloss- mit schlüssel), aber keine Not-Aus-Vorrichtung auf (in Übereinstimmung mit der angefochtenen Entscheidung, Gründe 20.2). Somit unterscheidet sich der Gegenstand von Anspruch 1 des Hauptantrags von der Offenbarung von D1 dadurch, dass
A) die Betätigung einer zwischengeschalteten, die Abschaltung der Aktorspannungsversorgung der Aktorbaugruppen bewirkenden Not-Aus-Vorrichtung über den Kommunikationskanal übermittelbar ist (Hervorhebung von der Kammer hinzugefügt).
Anspruch 1 wie erteilt ist somit neu gegenüber D1 (Artikel 54 EPÜ).
1.3.3 Objektive technische Aufgabe
Nach dem Aufgabe-Lösungs-Ansatz ist nun die Frage zu klären, welche objektive technische Aufgabe basierend auf dem Unterscheidungsmerkmal A) als gelöst betrachtet werden kann. Die Beschwerdeführerin sah diese in der "Ermöglichung einer zusätzlichen Abschaltung der Hauptbatterie für den Fall, dass das Zündschloss nicht einfach zu bedienen ist", während die Beschwerdegegnerin die "Anpassung des Automobilsystems von D1 an die erhöhten Sicherheitsanforderungen der Automatisierungstechnik" als objektive Aufgabe in der mündlichen Verhandlung vor der Kammer geltend machte.
Die Kammer kann sich indes keiner der obigen Formulierungen anschließen. Die erste ist nämlich zu eng formuliert und die zweite ist zu breit bzw. unzutreffend, da der erteilte Anspruch 1 in keiner Weise auf die ausschließliche Anwendung der Lösung im Automatisierungsbereich mit angeblich anderen, wie auch immer, "höheren" Sicherheitsanforderungen beschränkt ist. Vielmehr ist die Kammer der Auffassung, dass die zu lösende objektive Aufgabe kausal in der "Anpassung des Systems von D1 für den Fall, dass die Aktorspannungsversorgung an verschiedenen Stellen des Bussystems bei Bedarf abgeschaltet werden kann" besteht.
1.3.4 Naheliegen des Gegenstands von Anspruch 1
Der Fachmann auf dem Gebiet der Datenbussysteme würde bei der Lektüre von Dokument D1 zunächst erkennen, dass die Abschaltung der Aktorspannungsversorgung über KL15 in der Anordnung von D1 ausschließlich durch das "Abschalten der Zündung" erfolgt. Er würde der D1 jedoch auch entnehmen, dass es für das Aktivieren des Nachlaufs, d.h. der nachlaufenden Kommunikation zwischen Ny und den angeschlossenen Steuergeräten, in erster Linie darauf ankommt, rechtzeitig zu detektieren, dass die Spannungsversorgung über die Klemme 15 nunmehr abgeschaltet ist (siehe z.B. Spalte 2, Zeilen 29-32: "... da der Nachlauf in den einzelnen Knoten ... nach der Abschaltung von Klemme 15 gewährleistet wird ..."; Spalte 3, Zeilen 45-47: "Um nun einen Nachlauf dieser Geräte auch nach dem Abschalten der Zündung und damit der Spannung an Klemme 15 zu gewährleisten, ..." oder auch Anspruch 3: "... wobei die Zeitgebereinrichtung durch das Abschalten der schaltbaren Stromversorgung (KL15) gestartet wird").
Für den speziellen Fall, dass nun auch andere Spannungsabschaltmechanismen- bzw. quellen gemäß der obigen objektiven Aufgabe vorgesehen sind, würde der Fachmann nach Auffassung der Kammer die Detektion einer abgeschalteten Spannungsversorgung selbstverständlich auf diese neue Abschaltursache - wie z.B. eine
Not-Abschaltung der Spannung bei Betätigung eines Sicherheitsschalters (zur Sicherung des Fahrzeugs gegen unbefugtes Benutzen bzw. als vorbeugende Brandschutzmaßnahme z.B. in Wohnmobilen) oder bei Überschreiten einer bestimmten Stromstärke in einer Schmelzsicherung - abstellen und nicht an der Detektion der "abgeschalteten Zündung" per se festhalten. Die Kammer teilt hierbei die Ansicht der Beschwerdeführerin, dass die Detektion der Aktivierung einer solchen zusätzlichen Vorrichtung lediglich eine einfache und konsistente Anpassung des Bussystems von D1 wäre, zumal zum Einreichdatum der vorliegenden Anmeldung eine mit den nötigen Sensoren ausgestattete Fahrzeug-Elektronik zur Erkennung diverser Fahrzeugbetriebszustände allgemein üblich war. Darüber hinaus gibt auch das Streitpatent selbst keinerlei Details zur Art der Detektion der Betätigung einer anspruchsgemäßen Not-Aus-Vorrichtung an. Somit folgert die Kammer, dass der Fachmann, ausgehend von D1, zur Lösung der obigen Aufgabe die Betätigung eines solchen zusätzlichen Sicherheitsschalters oder die Aktivierung der Schmelzsicherung - statt der Abschaltung der Zündung - als Bedingung für das Starten des Nachlaufs gemäß D1 vorsehen würde, ohne hierbei auf technische Schwierigkeiten zu stoßen.
1.3.5 Die Kammer befindet daher, dass der Gegenstand vom erteilten Anspruch 1 nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit gegenüber D1 und dem allgemeinen Fachwissen des Fachmanns beruht.
1.4 Folglich ist der Hauptantrag nach Artikel 56 EPÜ nicht gewährbar.
2. ANSPRÜCHE DER HILFSANTRÄGE
2.1 Anspruch 1 der vorliegenden Hilfsanträge spezifiziert zusätzlich, dass (Hervorhebungen durch die Kammer)
h) die Anlage aus der Automatisierungstechnik ist (Hilfsantrag 1a);
i) die Not-Aus-Vorrichtung ein Not-Aus-Schalter ist (Hilfsanträge 1a, 1c und 6a);
j) die Busleitung als Dreidrahtleitung ausgebildet ist (Hilfsantrag 1c);
k) die Busleitung eine Aktorspannungsversorgungs-leitung, eine Kommunikationsleitung und eine Kommunikationsspannungsversorgungsleitung umfasst (Hilfsanträge 6 und 6a);
l) die Busleitung einen Aktorspannungsversorgungs-kanal aufweist (Hilfsantrag 6a);
m) die Systemschnittstelle als Buchse oder Stecker realisiert ist (Hilfsantrag 7);
n) die Aktorbaugruppe als Motorstarter oder Motorsteuerungsgerät ausgebildet ist (Hilfsantrag 10);
o) eine Abschaltung der Aktorbaugruppe oder -gruppen durch eine Steuerung der Anlage erfolgen kann (Hilfsantrag 11);
p) die Betätigung der Not-Aus-Vorrichtung die Aktorspannungsversorgung nicht jedoch die Kommunikationsspannungsversorgung deaktiviert, so dass eine Steuerung ständig in der Lage ist, den aktuellen Zustand der Aktorbaugruppe zu erfragen bzw. die Aktorbaugruppe in der Lage ist, ständig ihren aktuellen Zustand über den Kommunikationskanal an eine Steuerung zu senden (Hilfsantrag 12);
q) die Aktorbaugruppe zwei Systemschnittstellen aufweist (Hilfsantrag 13).
2.2 Zulassung der Hilfsanträge ins Beschwerdeverfahren
2.2.1 Die Hilfsanträge 6, 7 und 10 bis 13 wurden mit der Beschwerdeerwiderung, d.h. zum frühestmöglichen Zeitpunkt dieses Beschwerdeverfahrens, vorgebracht (vgl. Punkt IV oben) und entsprechen Hilfsanträgen, die bereits im Einspruchsverfahren eingereicht wurden (siehe die mit dem Schreiben der Patentinhaberin vom 11. Februar 2014 eingereichten Hilfsanträge 2, 6, 7, 8, 11 und 12). Obschon sie nicht durchgehend konvergent in Bezug auf den Hauptantrag und den anderen vorrangigen Hilfsanträgen sind, hat die Kammer sie in das Beschwerdeverfahren zugelassen, da sie als objektiv angemessene Reaktion auf die Beschwerdebegründung bzw. als weitere Abgrenzung des beanspruchten Gegenstands vom zitierten Stand der Technik zu werten sind.
2.2.2 Die Hilfsanträge 1a, 1c und 6a wurden in der mündlichen Verhandlung vor der Kammer, d.h. in einem sehr späten Stadium des Gesamtverfahrens, eingereicht (vgl. Punkt VI oben). Im Beschwerdeverfahren wird die Zulassung des nach Einreichung der Beschwerdebegründung bzw. -erwiderung eingereichten Vorbringens prinzipiell durch Artikel 13(1) VOBK geregelt, wonach bei der Ausübung der diesbezüglichen Ermessensbefugnis der Kammer "die Komplexität des neuen Vorbringens, der Stand des Verfahrens und die gebotene Verfahrensökonomie" zu berücksichtigen sind. Hierbei können auch andere Kriterien wie z.B. die eindeutige Gewährbarkeit oder die Konvergenz des neuen Anspruchsantrags herangezogen werden (siehe z.B. R 1/13, Gründe 16.2; R 5/11, Gründe 2 und 4).
Die Kammer hat in Ausübung ihres Ermessens gemäß Artikel 13(1) VOBK die Hilfsanträge 1a, 1c und 6a nicht in das Beschwerdeverfahren zugelassen, da
- sie keine merkmalsmäßigen Weiterbildungen bzw. weitere Einschränkungen im Vergleich zu den vorrangigen Anspruchssätzen darstellen, d.h. nicht konvergieren;
Merkmal h), das auf eine "Anlage aus der Automatisierungstechnik" abstellt, keine zulässige Stütze in der ursprünglichen Offenbarung findet (Artikel 123(2) EPÜ) und zudem nicht als weitere Einschränkung des beanspruchten Gegenstands interpretiert werden kann, da der Begriff nur einmal im zweiten Absatz auf Seite 1 der ursprünglich eingereichten Anmeldung bei der Darstellung des Standes der Technik, jedoch nicht im Zusammenhang mit der beschriebenen Erfindung verwendet wird;
- Merkmal i), das die Verwendung eines
"Not-Aus-Schalters" beinhaltet, bereits in der Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit betreffend den Hauptantrag berücksichtigt wurde (vgl. Punkt 1.3.4 oben) und somit Anspruch 1 nicht eindeutig gewährbar nach Artikel 56 EPÜ macht;
- Merkmal j) betreffend die Verwendung einer "Dreidrahtleitung" als Busleitung keinen Bezug zu den definierten Kanälen und den Systemschnittstellen herstellt, prima facie zu einer unzulässigen Zwischenverallgemeinerung der ursprünglichen Offenbarung führt (Artikel 123(2) EPÜ) und somit nicht eindeutig gewährbar ist (vgl. Punkt 2.3.1 unten zum Hilfsantrag 6);
- Merkmal l), das auf die Verwendung einer Busleitung mit zusätzlichem "Aktorspannungsversorgungskanal" gerichtet ist, in Verbindung mit dem späteren Ausdruck "eines Aktorspannungsversorgungskanals" den fachkundigen Leser im Unklaren darüber lässt, ob die Busleitung tatsächlich einen oder zwei Aktorspannungsversorgungskanäle umfasst (Artikel 84 EPÜ).
2.3 Klarheit und ursprüngliche Offenbarung (Artikel 84 und 123(2) EPÜ)
2.3.1 Hinsichtlich Merkmal k) von Anspruch 1 des Hilfsantrags 6 schließt sich die Kammer der Beschwerdeführerin an, dass die Aufnahme der einzelnen Leitungen als Bestandteil der beanspruchten Busleitung eine unzulässige Zwischenverallgemeinerung (Artikel 123(2) EPÜ) der ursprünglich offenbarten Lehre darstellt, wonach zwingend über die Aktor- und Kommunikationsspannungsversorgungsleitungen die Spannungen potentialgetrennt geführt werden (vgl. Seite 4, Zeile 37 bis Seite 5, Zeile 6 und Seite 8, Zeilen 26-29 der ursprünglich eingereichten Beschreibung) und dass die Zuordnung zwischen Aktorversorgungsspannungskanal und -leitung unklar ist (Artikel 84 EPÜ).
2.3.2 Bezüglich Merkmal n) von Anspruch 1 der vorliegenden Hilfsanträge 10, 12 und 13 ist es der Kammer nicht klar, welche der mindestens zwei vorhandenen Aktorbaugruppen mit "die Aktorbaugruppe" bzw. "der Aktorbaugruppe" gemeint ist/sind (Artikel 84 EPÜ). Falls hier nur diejenige Aktorbaugruppe gemeint sein sollte, die durch die Betätigung der
Not-Aus-Vorrichtung abgeschaltet wird, wäre dies zudem nicht durch die ursprüngliche Offenbarung gestützt (Artikel 123(2) EPÜ).
2.3.3 Hinsichtlich Merkmal o) von Anspruch 1 des Hilfsantrags 11 teilt die Kammer die Ansicht der Beschwerdeführerin, dass es nicht durch die ursprüngliche Beschreibung (vgl. Seite 4, Zeilen 4-10) gestützt ist, wonach die Abschaltung der jeweiligen Aktorbaugruppe entweder durch die Not-Aus-Vorrichtung oder alternativ durch eine Steuerung erfolgt, jedoch nicht in Kombination (Artikel 123(2) EPÜ).
2.3.4 Zu den obigen Einwänden vermochte die Beschwerdegegnerin in der mündlichen Verhandlung - außer der Feststellung, dass sie hier anderer Auffassung sei - keine weiteren Gegenargumente vorzubringen.
2.4 Neuheit und erfinderische Tätigkeit
Hinsichtlich Merkmal m) von Anspruch 1 des Hilfsantrags 7 ist die Kammer der Auffassung, dass die Ausgestaltung der Systemschnittstelle als Buchse oder Stecker für den Fachmann ein naheliegendes Implementierungsdetail zur Erhöhung der Kompaktheit der Anschlüsse z.B. von Ny und N1 im CAN-Bussystem von D1 darstellt, welches primär mit industriellen Normen (betreffend die Unterstützung von bestimmten herstellerabhängigen Steckern/Buchsen) statt - entgegen der Ansicht der Beschwerdegegnerin - mit technischen Herausforderungen bzw. Schwierigkeiten im Zusammenhang mit CAN-Bussen verknüpft ist. Zudem ist diese Lösung weder mit der Lösungsmaßnahme gemäß Unterscheidungsmerkmal A) noch mit der diesem zugrunde liegenden technischen Aufgabe korreliert, so dass die Unterscheidungsmerkmale A) und m) eine bloße Aneinanderreihung naheliegender Implementierungsdetails darstellen. Folglich beruht auch der vorliegende Anspruch 1 nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit (Artikel 56 EPÜ).
2.5 Zusammenfassend befindet die Kammer, dass die Hilfsanträge 1a, 1c und 6a nicht zulässig sind, während die Hilfsanträge 6, 7 und 10 bis 13 nicht gewährbar nach Artikel 84 oder 123(2) EPÜ bzw. der Hilfsantrag 7 nicht gewährbar nach Artikel 56 EPÜ sind.
3. Da mithin kein Anspruchssatz vorliegt, auf dessen Basis das Streitpatent aufrechterhalten werden kann, ist die Beschwerde in vollem Umfang erfolgreich.
Entscheidungsformel
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.
2. Das Patent wird widerrufen.