T 2080/18 (Streichung von Ansprüchen - Zulassung in das Verfahren) of 21.7.2022

European Case Law Identifier: ECLI:EP:BA:2022:T208018.20220721
Datum der Entscheidung: 21 Juli 2022
Aktenzeichen: T 2080/18
Anmeldenummer: 12799210.5
IPC-Klasse: F16D 51/18
Verfahrenssprache: DE
Verteilung: C
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Bibliografische Daten verfügbar in: DE
Fassungen: Unpublished
Bezeichnung der Anmeldung: BREMSSYSTEM EINER TROMMELBREMSE
Name des Anmelders: SAF-HOLLAND GmbH
Name des Einsprechenden: Knott GmbH
BPW Bergische Achsen KG
Kammer: 3.2.08
Leitsatz: -
Relevante Rechtsnormen:
European Patent Convention Art 52(1)
European Patent Convention Art 54
European Patent Convention Art 56
European Patent Convention Art 83
European Patent Convention Art 84
Rules of procedure of the Boards of Appeal 2020 Art 013(2)
Schlagwörter: Hauptantrag - Neuheit (ja) - Erfinderische Tätigkeit (Nein)
Hilfsantrag 2 - Erfinderische Tätigkeit (nein)
Hilfsantrag 5 - Klarheit (nein)
Hilfsantrag 5A - Erfinderische Tätigkeit (nein)
Hilfsantrag 6A - Zulassung in der mündlichen Verhandlung (ja) - Erfinderische Tätigkeit (ja) - Ausreichende Offenbarung (ja)
Orientierungssatz:

siehe Punkt 5.1

Angeführte Entscheidungen:
G 0003/14
T 0494/18
T 2091/18
T 1857/19
T 2201/19
T 2295/19
T 0247/20
T 0424/21
Anführungen in anderen Entscheidungen:
T 2604/18
T 2082/19
T 0489/20
T 1048/20
T 1292/21

Sachverhalt und Anträge

I. Die Einsprechenden 1 und 2 legten Beschwerde gegen die Zwischenentscheidung der Einspruchsabteilung ein, mit der das Patent in der Fassung des damaligen Hilfsantrags 2 aufrechterhalten wurde.

II. Am 20. Juli 2022 fand eine mündliche Verhandlung vor der Kammer in Form einer Videokonferenz statt, an der die Einsprechende 2 wie angekündigt nicht teilnahm.

III. Am Ende der Verhandlung lauteten die Anträge der Parteien wie folgt.

Die Beschwerdeführerinnen 1 und 2 (Einsprechende 1 und 2; im Folgenden zusammenfassend als "die Beschwerdeführerinnen" bezeichnet) beantragten die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und den Widerruf des europäischen Patents.

Die Beschwerdegegnerin (Patentinhaberin) beantragte, die Beschwerde zurückzuweisen (Hauptantrag) sowie hilfsweise die Aufrechterhaltung des Patents auf der Grundlage eines der Hilfsanträge 2 oder 5, erstmals eingereicht mit der Beschwerdeerwiderung vom 27. März 2019, oder eines der Hilfsanträge 5A oder 6A, eingereicht in der mündlichen Verhandlung vor der Kammer.

IV. Die folgenden Entgegenhaltungen wurden verwendet:

D5: GB 1 418 630 A

D7: US 4 621 713 A

D8: US 3 322 241 A

V. Anspruch 1 gemäß Hauptantrag lautet (mit hinzugefügter Merkmalsgliederung):

"[#1] Bremssystem einer Trommelbremse,

[#2] umfassend eine Trägereinheit (8) und

[#3] einen Bremszylinder (2),

[#4] wobei ein Anschlusselement (3) vorgesehen ist,

[#5] das einen ersten Anschlussabschnitt (31) zur Festlegung des Bremszylinders (2) aufweist und

[#6] in einem zweiten Anschlussabschnitt (32) an der Trägereinheit (8) festgelegt ist,

[#7] wobei der erste Anschlussabschnitt (31) parallel zu einer Radachse (R) versetzt zum zweiten Anschlussabschnitt (32) angeordnet ist,

[#8] wobei der erste Anschlussabschnitt (31) unmittelbar am Bremszylinder (2) festlegbar ist, um den Abstand zwischen dem Schwerpunkt (S) des Bremszylinders (2) und dem ersten Anschlussabschnitt (31) gering zu halten,

dadurch gekennzeichnet, dass

[#9] der Abstand des Schwerpunkts (S) des Bremszylinders (2) zum ersten Anschlussabschnitt (31) in einem Verhältnis von 0,3 bis 0,7 zum Abstand des Schwerpunkts (S) des Bremszylinders (2) vom zweiten Anschlussabschnitt (32) steht."

Anspruch 4 von Hilfsantrag 2 unterscheidet sich von Anspruch 1 des Hauptantrags durch folgende zusätzliche Merkmale:

"wobei das Anschlusselement (3) zumindest bereichsweise hohlkörperförmig ausgebildet ist, um ein Übertragungselement (4) aufzunehmen,

und wobei die Aussparung des Anschlusselements (3) sich im Wesentlichen längs einer Übertragungsachse (U) erstreckt, wobei die Übertragungsachse (U) zur Radachse (R) um einen Winkel (a) geneigt ist, und wobei der Winkel (a) Werte im Bereich von 1° bis 45° annimmt".

Anspruch 1 von Hilfsantrag 5 unterscheidet sich von Anspruch 1 des Hauptantrags durch folgende zusätzliche Merkmale:

"wobei das Anschlusselement (3) einstückig mit der Trägereinheit (8) ausgebildet ist,

wobei der zweite Anschlussabschnitt (32) als der Bereich des Anschlusselements (3) definiert ist, in welchem das Anschlusselement (3) in die Trägereinheit (8) übergeht,

wobei der zweite Anschlussabschnitt (32) eine antiklastisch gekrümmte Außenkontur aufweist".

Hilfsantrag 5A unterscheidet sich von Hilfsantrag 5 nur dadurch, dass dessen Ansprüche 1-3 gestrichen und die verbleibenden Ansprüche umnummeriert wurden. Anspruch 1 von Hilfsantrag 5A entspricht daher dem unabhängigen Anspruch 4 von Hilfsantrag 5 und unterscheidet sich von Anspruch 4 des Hilfsantrags 2 durch die weitere Einschränkung des Winkelbereichs auf 7° bis 15°.

Hilfsantrag 6A unterscheidet sich von dem mit der Beschwerdeerwiderung eingereichten Hilfsantrag 6 nur dadurch, dass dessen Ansprüche 1 und 2 gestrichen und die verbleibenden Ansprüche umnummeriert wurden. Anspruch 1 des Hilfsantrags 6A entspricht daher dem unabhängigen Anspruch 3 von Hilfsantrag 6 und unterscheidet sich von Anspruch 1 des Hilfsantrags 5A durch das zusätzliche Merkmal: "wobei der zweite Anschlussabschnitt (32) eine antiklastisch gekrümmte Außenkontur aufweist".

VI. Die Argumente der Beschwerdeführerinnen können wie folgt zusammengefasst werden.

Hauptantrag - Neuheit gegenüber D5 - Zulassung des neuen Vorbringens zu Merkmal #6

Während des schriftlichen Verfahrens sei unstreitig gewesen, dass D5 die Merkmale #1 bis #8 von Anspruch 1 offenbare. Das erst in der mündlichen Verhandlung geänderte Vorbringen der Beschwerdegegnerin zu Merkmal #6 sei nicht zuzulassen. Das Abstandsverhältnis von Merkmal #9 könne man aus Figur 4A ablesen. Daher sei der Gegenstand von Anspruch 1 nicht neu.

Hauptantrag - Erfinderische Tätigkeit

In jeden Fall aber beruhe das Abstandsverhältnis von Merkmal #9 auf fachüblichen Überlegungen. Diese hätten den Fachmann auf naheliegende Weise in den beanspruchten Bereich geführt, so dass der Gegenstand von Anspruch 1 ausgehend von D5 in Verbindung mit dem allgemeinen Fachwissen nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit beruhe.

Hilfsantrag 2 - Erfinderische Tätigkeit

Der Gegenstand von Anspruch 4 des Hilfsantrags 2 beruhe nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit, weil D5 dessen zusätzliche Merkmale offenbare und sich Anspruch 4 hiervon nur durch das naheliegende Merkmal #9 unterscheide.

Hilfsantrag 5 - Artikel 84 EPÜ

Anspruch 1 des Hilfsantrags 5 definiere den zweiten Anschlussabschnitt als den Bereich, in welchem das Anschlusselement in die Trägereinheit übergehe, verlange aber zugleich, dass beide einstückig ausgeführt seien. Daher sei nicht deutlich, wo der Übergang zwischen dem Anschlusselement und der Trägereinheit liege. Dies führe auch zur Unklarheit von Merkmal #9.

Hilfsantrag 5A - Erfinderische Tätigkeit

Anspruch 1 beschränke den Neigungswinkelbereich der Übertragungsachse auf 7° bis 15°, was jedoch eine naheliegende Maßnahme sei. Daher beruhe auch der Gegenstand von Anspruch 1 des Hilfsantrags 5A nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit.

Hilfsantrag 6A - Zulassung

Der erst in der mündlichen Verhandlung vorgelegte Hilfsantrag 6A stelle eine Änderung des Beschwerdevorbringens dar, die nach Artikel 13 (2) VOBK 2020 nicht zuzulassen sei.

Hilfsantrag 6A - Erfinderische Tätigkeit

Eine antiklastisch gekrümmte Außenkontur des zweiten Anschlussabschnitts sei bereits aus D5 bekannt. Es handele sich zudem um eine fachübliche Maßnahme zur Abmilderung von Kerbwirkungen. Schließlich offenbarten auch D7 und D8 zu diesem Zweck antiklastisch gekrümmte Außenkonturen an den Anschlussabschnitten. Daher beruhe der Gegenstand von Anspruch 1 des Hilfsantrags 6A ausgehend von D5 in Verbindung mit dem allgemeinen Fachwissen oder D7 oder D8 nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit.

Hilfsantrag 6A - Ausführbarkeit

Anspruch 1 umfasse Ausführungsformen, bei denen das Anschlusselement einstückig mit der Trägereinheit ausgebildet sei (vgl. Anspruch 2). Bei einer solchen Ausführungsform sei nicht zu erkennen, wo der zweite Anschlussabschnitt liege. Daher könne der Fachmann auch das Abstandsverhältnis von Merkmal #9 nicht sicherstellen. Auch die Kombination der Ansprüche 1 und 4 sei nicht ausführbar, weil Merkmal #8 im Widerspruch zu Anspruch 4 stehe.

VII. Die Argumente der Beschwerdegegnerin waren im Wesentlichen wie folgt.

Hauptantrag - Neuheit gegenüber D5 - Zulassung des neuen Vorbringens zu Merkmal #6

Das Abstandsverhältnis von Merkmal #9 sei der schematischen Figur 4A der D5 nicht unmittelbar und eindeutig zu entnehmen. Zudem offenbare D5 auch das Merkmal #6 nicht, da das Anschlusselement nicht unmittelbar an der Trägereinheit festgelegt sei. Die Zulassung dieses erst in der mündlichen Verhandlung geänderten Vorbringens sei ins Ermessen der Kammer gestellt. Insgesamt sei der Gegenstand von Anspruch 1 neu gegenüber D5.

Hauptantrag - Erfinderische Tätigkeit

Weder im Stand der Technik noch im allgemeinen Fachwissen finde der Fachmann die Anregung, ein Bremssystem zu verwirklichen, bei dem das Abstandsverhältnis d1/d2 gerade in dem beanspruchten Bereich des Unterscheidungsmerkmals #9 liege. Daher beruhe der Gegenstand von Anspruch 1 des Hauptantrags auf einer erfinderischen Tätigkeit.

Hilfsantrag 2 - Erfinderische Tätigkeit

Der schematischen Figur 4A der D5 lasse sich kein konkreter Neigungswinkel der Übertragungsachse entnehmen. Der Gegenstand von Anspruch 4 des Hilfsantrags 2 beruhe auf einer erfinderischen Tätigkeit.

Hilfsantrag 5 - Artikel 84 EPÜ

Die Definition des zweiten Anschlussabschnitts in Anspruch 1 des Hilfsantrags 5 sei zwar breit, aber nicht unklar.

Hilfsantrag 5A - Erfinderische Tätigkeit

Die Kombination des beanspruchten Bereichs des Neigungswinkels der Übertragungsachse mit Merkmal #9 sei nicht naheliegend, so dass der Gegenstand von Anspruch 1 des Hilfsantrags 5A auf einer erfinderischen Tätigkeit beruhe.

Hilfsanträge 6A - Zulassung

Hilfsantrag 6A stelle keine Änderung des Beschwerdevorbringens, sondern nur einen Verzicht auf die Gegenstände der gestrichenen Ansprüche dar. Die Beschwerdegegnerin berief sich zur Stützung dieser Auffassung auf die Entscheidungen T 1480/16, T 995/18 und T 1597/16. Der Gegenstand der verbleibenden unabhängigen Ansprüche sei im Verfahren bereits diskutiert worden. Der Hilfsantrag 6A sei daher zuzulassen.

Hilfsantrag 6A - Erfinderische Tätigkeit

Der zweite Anschlussabschnitt entspreche gemäß Merkmal #6 dem Bereich, in dem das Anschlusselement an der Trägereinheit festgelegt sei. In D5 finde die Kraftübertragung zur Trägereinheit an der Innenseite des "open end" 50 des Anschlusselements 49 statt. Dort befinde sich jedoch keine antiklastisch gekrümmte Außenkontur. Es sei auch nicht naheliegend gewesen, dort eine antiklastisch gekrümmte Außenkontur vorzusehen. Daher beruhe der Gegenstand von Anspruch 1 des Hilfsantrags 6A auf einer erfinderischen Tätigkeit.

Hilfsantrag 6A - Ausführbarkeit

Auch bei einer einstückigen Ausführungsform sei stets erkennbar, wo der Übergangsbereich zwischen Anschlusselement und Trägereinheit liege. Ein eventuell dabei resultierender Mangel an Deutlichkeit des Anspruchsgegenstands sei gemäß G 3/14 nicht zu beanstanden. Das Streitpatent offenbare ausreichend, wo der Fachmann den zweiten Anschlussabschnitt vorsehen könne, und damit sei auch Merkmal #9 ohne Schwierigkeiten ausführbar. Zwischen den Ansprüchen 1 und 4 sei kein Widerspruch zu erkennen, so dass auch diese Kombination ausführbar sei.

Entscheidungsgründe

1. Hauptantrag

1.1 Neuheit gegenüber D5

1.1.1 Merkmale #1 bis #5, #7 und #8

Es ist unstreitig, dass D5 in Figur 4A (Seite 4, Zeilen 42 bis 61) ein Bremssystem einer Trommelbremse mit den Merkmalen #1 bis #5, #7 und #8 offenbart:

[#1] Bremssystem einer Trommelbremse ("drum brake"),

[#2] umfassend eine Trägereinheit ("backplate" 10) und

[#3] einen Bremszylinder ("spring brake actuator" 39 mit "cylindrical housing" 40 und "piston" 41; Seite 3, Zeilen 17 bis 33),

[#4] wobei ein Anschlusselement ("hollow casing" 49) vorgesehen ist,

[#5] das einen ersten Anschlussabschnitt (Stirnfläche der "larger diameter end portion" 53) zur Festlegung des Bremszylinders aufweist und

[#7] wobei der erste Anschlussabschnitt parallel zu einer Radachse versetzt zu [einem] zweiten Anschlussabschnitt [des Anschlusselements] angeordnet ist,

[#8] wobei der erste Anschlussabschnitt unmittelbar am Bremszylinder festlegbar ist, um den Abstand zwischen dem Schwerpunkt des Bremszylinders und dem ersten Anschlussabschnitt gering zu halten.

1.1.2 Merkmal #6

Während des schriftlichen Verfahrens war außerdem unstreitig, dass D5 auch offenbart, dass das Anschlusselement "in einem zweiten Anschlussabschnitt ("open end" 50 der "smaller diameter end portion" 52) an der Trägereinheit festgelegt ist" (Merkmal #6).

In der mündlichen Verhandlung trug die Beschwerdegegnerin erstmals vor, dass das Anschlusselement in D5 nur mittelbar, über den "cylinder body" 15A, an der Trägereinheit ("backplate" 10) festgelegt sei, und daher das Merkmal #6 nicht offenbart sei.

Die Beschwerdeführerinnen beantragten, dieses geänderte Vorbringen zur Neuheit von Merkmal #6 nicht zuzulassen.

Die Beschwerdegegnerin bestritt nicht, dass es sich um eine Änderung ihres Beschwerdevorbringens nach Zustellung der Ladung zur mündlichen Verhandlung handele, und machte keine außergewöhnlichen Umstände für das verspätete Vorbringen geltend.

Daher entschied die Kammer, den geänderten Vortrag zu Merkmal #6 gemäß Artikel 13 (2) VOBK 2020 unberücksichtigt zu lassen und Merkmal #6 ebenfalls als von D5 offenbart anzusehen.

1.1.3 Merkmal #9

Merkmal #9 verlangt, dass der Abstand (d1) des Schwerpunkts des Bremszylinders zum ersten Anschlussabschnitt in einem Verhältnis von 0,3 bis 0,7 zum Abstand (d2) des Schwerpunkts des Bremszylinders vom zweiten Anschlussabschnitt steht.

Die Beschwerdeführerinnen argumentierten, Figur 4A der D5 stelle eine maßstäbliche Konstruktionszeichnung dar, wie sich aus den vielen dargestellten Details und der Bezeichnung als "practical form" (Seite 4, Zeilen 42 bis 45) ergebe. Anhand der in der Zeichnung erkennbaren Stirnflächen des Anschlusselements und einer Abschätzung der Position des Schwerpunkts des Bremszylinders könne man aus der Zeichnung Werte für das Abstandsverhältnis d1/d2 ablesen, die in den beanspruchten Bereich von Merkmal #9 fielen.

Die Figuren einer Patentschrift sind üblicherweise als schematische Zeichnungen anzusehen, wenn dies nicht ausdrücklich anders offenbart ist (vgl. Rechtsprechung der Beschwerdekammern des EPA, 10. Auflage 2022, I.C.4.6). Auch wenn Figur 4A einen großen Detailreichtum aufweist und gemäß Seite 4, Zeilen 42 bis 45, eine praxisnahe Ausführung ("practical form") des Bremssystems zeigt, bedeutet dies noch nicht, dass es sich um eine vollständige, maßstäbliche Konstruktionszeichnung handelt.

Zudem ist die Position des Schwerpunkts des Bremszylinders in Figur 4A nicht eingezeichnet. Die von den Beschwerdeführerinnen vorgeschlagenen möglichen Positionen des Schwerpunkts beruhen auf Annahmen bzw. Abmessungen, die nicht allein aus der schematischen Figur 4A zu entnehmen sind. Dies gilt insbesondere deswegen, weil es sich bei dem Bremszylinder um einen komplexen dreidimensionalen Körper handelt.

Daher kann aus Figur 4A nicht unmittelbar und eindeutig das in Merkmal #9 beanspruchte Abstandsverhältnis abgelesen werden. Folglich offenbart D5 nicht das Merkmal #9.

1.1.4 Der Gegenstand von Anspruch 1 des Hauptantrags ist daher neu gegenüber D5.

1.2 Erfinderische Tätigkeit

1.2.1 Der Gegenstand von Anspruch 1 unterscheidet sich vom Bremssystem der D5 durch das Merkmal #9.

1.2.2 Die Beschwerdegegnerin trug vor, die Aufgabe der Erfindung liege gemäß Absatz [0004] des Streitpatents in der Optimierung der Anbindung des Bremszylinders an die Trägereinheit. Im Hinblick auf Spalte 2, Zeilen 43ff, und Spalte 1, Zeilen 18 bis 25, bestehe die objektive technische Aufgabe darin, die Anbindung des Bremszylinders insbesondere gegen Schwingungen und Stöße zu optimieren, also Resonanzen zu vermeiden und die Standfestigkeit zu erhöhen.

1.2.3 Die objektive technische Aufgabe muss sich auf das konkrete Unterscheidungsmerkmal beziehen. Die bereits in der ursprünglichen Anmeldung genannte Aufgabe der Erfindung gemäß Absatz [0004] bezog sich, ebenso wie die übrigen genannten Stellen, jedoch auf einen Anspruch ohne das Merkmal #9.

1.2.4 Erst Absatz [0008] beschäftigt sich mit Unterscheidungsmerkmal #9. Dabei geht es insbesondere gemäß Spalte 4, Zeilen 2 bis 7, um den "richtigen Kompromiss zwischen dem optimalen Biegemomentverhältnis an den Anschlussabschnitten und der optimalen Einbauposition des Bremszylinders im Bereich der Radaufhängung".

In Spalte 4, Zeilen 10 bis 17, wird zwar auch erwähnt, dass die (optimierte) Einbauposition des Bremszylinders sicherstelle, dass bei Schwingungen des Bremssystems Resonanzen sehr unwahrscheinlich seien. Das Auftreten von Resonanzen hängt allerdings noch von vielen weiteren Faktoren ab, die nicht von dem Abstandsverhältnis gemäß Merkmal #9 beeinflusst werden, beispielsweise von der Steifigkeit, Dämpfung und Masse der verwendeten Materialien und Geometrien. Und ebenso vom Anregungsspektrum, das sich aus den Fahrbahnunebenheiten, der Geschwindigkeit und der Dämpfung durch Reifen und Fahrgestell ergibt. Daher kann dem Abstandsverhältnis von Merkmal #9 allein nicht, wie von der Beschwerdegegnerin vertreten, die Wirkung zugeschrieben werden, das Schwingungsverhalten des Bremssystems zu optimieren und Resonanzen zu vermeiden.

Die Wirkung des Unterscheidungsmerkmals #9 beschränkt sich demgemäß, wie von den Beschwerdeführerinnen vorgetragen, darauf, die Anbindung des Bremszylinders (Abstimmung der Abstände zur Trägereinheit und zum Anschlusselement) so festzulegen, dass ein guter Kompromiss zwischen möglichst geringen Biegemomenten und einem für die Vermeidung von Kollisionen des Bremszylinders mit rotierenden Teilen notwendigen Mindestabstand (also einer optimalen Einbauposition) erreicht wird.

1.2.5 Somit besteht die durch das Unterscheidungsmerkmal #9 zu lösende objektive technische Aufgabe darin, die Anbindung des Bremszylinders so festzulegen, dass möglichst geringe Biegemomente auftreten und Kollisionen mit rotierenden Teilen vermieden werden.

1.2.6 Die Beschwerdegegnerin argumentierte, dass es im Stand der Technik keinen Hinweis gebe, ein Abstandsverhältnis gerade im besonders bevorzugten, beanspruchten Bereich zwischen 0,3 und 0,7 zu wählen, in dem die Aufgabe besonders gut gelöst werde.

Der Wertebereich von 0,3 bis 0,7 wird im Streitpatent jedoch nur einmal zu Beginn von Absatz [0008] sowie im erteilten Anspruch 3 als "insbesondere bevorzugt" genannt. Eine besondere Wirkung im Bereich zwischen 0,3 und 0,7 gegenüber der "bevorzugten Ausführungsform", bei der das Abstandsverhältnis in dem breiteren Bereich zwischen 0,05 und 0,9 liegt, wird im Streitpatent nicht offenbart und wurde von der Beschwerdegegnerin auch nicht anderweitig belegt.

1.2.7 Dem Fachmann war der Zusammenhang zwischen Hebelarm und Biegemoment bekannt. Daher war es für ihn naheliegend, den Abstand des Schwerpunkts des Bremszylinders zu den Anschlussabschnitten des Anschlusselements möglichst kurz zu halten. Dabei war es ebenso naheliegend, auch gewisse Mindestabstände zu berücksichtigen, damit keine Kollision mit rotierenden Teilen stattfindet.

Diese beiden Anforderungen sind einander entgegengesetzt und erfordern daher einen Kompromiss bei der Wahl des Abstands des Schwerpunkts des Bremszylinders zu den Anschlussabschnitten.

1.2.8 Bei seinem Bemühen, den Abstand des Schwerpunkts des Bremszylinders zu den Anschlussabschnitten durch Versuch und Irrtum unter den gegebenen Randbedingungen festzulegen, wäre der Fachmann auf naheliegende Weise zu Ergebnissen gelangt, die ein Abstandsverhältnis d1/d2 aufweisen, das in den beanspruchten Wertebereich von 0,3 bis 0,7 fällt.

1.3 Somit wäre der Fachmann ausgehend von D5 und der gestellten Aufgabe auf naheliegende Weise zum Gegenstand von Anspruch 1 gelangt, der folglich nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit beruht.

2. Hilfsantrag 2

2.1 Erfinderische Tätigkeit

2.1.1 Anspruch 4 von Hilfsantrag 2 verlangt gegenüber Anspruch 1 des Hauptantrags zusätzlich, dass "das Anschlusselement zumindest bereichsweise hohlkörperförmig ausgebildet ist, um ein Übertragungselement aufzunehmen, und wobei die Aussparung des Anschlusselements sich im Wesentlichen längs einer Übertragungsachse erstreckt, wobei die Übertragungsachse zur Radachse um einen Winkel geneigt ist, und wobei der Winkel Werte im Bereich von 1° bis 45° annimmt."

2.1.2 Auch in D5 ist das Anschlusselement ("cylindrical hollow casing" 49, Seite 4, Zeilen 48 bis 49; Figur 4A) hohlkörperförmig ausgebildet um in seiner Aussparung ("bore" 48) ein Übertragungselement (unter anderem "wedge" 26A und "fourth piston" 47, Seite 4, Zeilen 61 bis 66) aufzunehmen. Die Aussparung erstreckt sich im Wesentlichen längs einer Übertragungsachse, die zur Radachse um einen gewissen Winkel geneigt ist (Figur 4A).

2.1.3 Ein konkreter Winkelwert ist zwar weder in der Beschreibung noch in Figur 4A offenbart. Es lässt sich der Zeichnung jedoch trotz ihres schematischen Charakters unmittelbar und eindeutig entnehmen, dass der Winkel in dem weit gefassten Bereich zwischen 1° und 45° liegt.

2.1.4 Somit offenbart D5 alle zusätzlichen Merkmale von Anspruch 4 des Hilfsantrags 2. Dessen Gegenstand unterscheidet sich daher von D5 - wie Anspruch 1 des Hauptantrags - nur durch das Merkmal #9.

2.1.5 Der Gegenstand von Anspruch 4 des Hilfsantrags 2 beruht folglich - aus denselben Gründen wie Anspruch 1 des Hauptantrags - nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit beruht.

3. Hilfsantrag 5

3.1 Artikel 84 EPÜ

3.1.1 Anspruch 1 von Hilfsantrag 5 fordert im kennzeichnenden Teil, dass das Anschlusselement einstückig mit der Trägereinheit ausgebildet ist und dass der zweite Anschlussabschnitt als der Bereich des Anschlusselements definiert ist, in welchem das Anschlusselement in die Trägereinheit übergeht.

3.1.2 Die Beschwerdeführerinnen trugen vor, bei einem einstückig mit der Trägereinheit ausgebildeten Anschlusselement sei nicht klar, wo sich der Übergang vom Anschlusselement in die Trägereinheit befinde. Daher sei die Position des zweiten Anschlussabschnitts - und folglich auch das Abstandsverhältnis von Merkmal #9 - nicht deutlich bestimmt.

3.1.3 Die Beschwerdegegnerin trug vor, die Trägereinheit und das Anschlusselement seien auch in einstückiger Form anhand ihrer unterschiedlichen Funktionen voneinander unterscheidbar. Daher könne ein Übergangsbereich bestimmt werden. Wo dieser liege, sei zudem auch in Figur 1 und Spalte 2, Zeilen 22 bis 33, des Streitpatents offenbart. Zwar sei die Lage des zweiten Anschlussabschnitts dadurch breit definiert. Die Breite eines Anspruchs stelle aber gemäß der etablierten Rechtsprechung der Beschwerdekammern noch keinen Mangel an Klarheit dar.

3.1.4 Es stimmt zwar, dass auch bei einer einstückigen Ausbildung die Trägereinheit und das Anschlusselement noch unterscheidbar bleiben. Bei einem einstückigen Bauteil ist es jedoch nicht möglich, scharfe Grenzen des Bereichs zu bestimmten, in dem das Anschlusselement "in die Trägereinheit übergeht". Daher ist die Definition des zweiten Anschlussabschnitts nicht nur breit, sondern auch nicht klar abgegrenzt. Dadurch wird auch der Wert des Abstandsverhältnisses im kennzeichnenden Teil des Anspruchs so unscharf, dass der Gegenstand, für den Schutz begehrt wird, nicht deutlich abgegrenzt ist.

Dies unterscheidet den vorliegenden Fall von der zitierten Rechtsprechung (vgl. Rechtsprechung der Beschwerdekammern des EPA, 10. Auflage 2022, II.A.3.3), in der der Anspruchsgegenstand, weil er verschiedene Alternativen oder Interpretationsmöglichkeiten umfasste, zwar als breit anzusehen war, aber für den Fachmann dennoch eine deutliche, abgrenzbare Bedeutung hatte.

3.1.5 Daher erfüllt Anspruch 1 des Hilfsantrags 5 nicht die Erfordernisse von Artikel 84 EPÜ.

4. Hilfsantrag 5A

4.1 Erfinderische Tätigkeit

4.1.1 Anspruch 1 von Hilfsantrag 5A unterscheidet sich von Anspruch 4 des Hilfsantrags 2 durch die weitere Einschränkung des Winkelbereichs der Neigung der Übertragungsachse gegenüber der Radachse auf 7° bis 15°.

4.1.2 Während ein Winkel im Bereich von 1° bis 45° aus Figur 4A der D5 bekannt ist, lässt sich ein Winkel im engeren Bereich zwischen 7° und 15° aus der schematischen Zeichnung nicht unmittelbar und eindeutig entnehmen.

4.1.3 Der Gegenstand von Anspruch 1 unterscheidet sich daher vom Bremssystem der D5 durch Merkmal #9 sowie zusätzlich durch einen Neigungswinkel der Übertragungsachse gegenüber der Radachse im Bereich zwischen 7° und 15°.

4.1.4 Da D5 zwar eine geneigte Übertragungsachse, aber keinen konkreten Neigungswinkel offenbart, war der Fachmann bereits bei der Umsetzung der Lehre der D5 vor die Aufgabe gestellt, einen konkreten Wert für den Neigungswinkel festzulegen.

4.1.5 Im Streitpatent (Spalte 5, Zeilen 5 bis 10) wird der beanspruchte Winkelbereich zwischen 7° und 15° als "besonders vorteilhaft und platzsparend" bezeichnet, wobei "die Gefahr von Kollisionen des Bremszylinders mit rotierenden Teilen des Fahrwerks gering ist".

Der Neigungswinkel hat, wie die Beschwerdegegnerin argumentierte, zudem auch einen Einfluss auf die Höhe der auftretenden Biegemomente.

Somit haben sowohl das Abstandsverhältnis d1/d2 von Merkmal #9 als auch der Neigungswinkel der Übertragungsachse einen Einfluss auf die auftretenden Biegemomente und den zur Vermeidung von Kollisionen mit rotierenden Teilen nötigen Mindestabstand. Also müssen die beiden Unterscheidungsmerkmale bei der Aufgabenstellung gemeinsam betrachtet werden.

4.1.6 Die Beschwerdegegnerin konnte jedoch keine synergetische Wirkung der beiden Merkmale nachweisen. Darüber hinaus hat sie anerkannt, dass die Vorteile des beanspruchten Winkelbereichs und des von Merkmal #9 verlangten Abstandsverhältnisses d1/d2 im Streitpatent ausschließlich getrennt voneinander dargestellt werden.

4.1.7 Die durch die beiden Unterscheidungsmerkmale zu lösende Aufgabe besteht somit darin, die Anbindung des Bremszylinders unter Berücksichtigung des Neigungswinkels der Übertragungsachse so festzulegen, dass sie möglichst platzsparend ist, möglichst geringe Biegemomente auftreten und die Gefahr von Kollisionen mit rotierenden Teilen gering ist.

4.1.8 Wie bereits zum Hauptantrag dargelegt, waren dem Fachmann der Zusammenhang zwischen Hebelarmen und Biegemomenten sowie die Notwendigkeit eines gewissen Mindestabstands bewusst, um unter anderem Kollisionen mit rotierenden Teilen zu vermeiden.

Ebenso war es dem Fachmann bekannt, dass ein größerer Neigungswinkel der Übertragungsachse die Biegemomente reduziert und den Bremszylinder aus dem kollisionsgefährdeten Bereich um die Radachse herausbewegt, dafür aber einen höheren Platzbedarf im knapp bemessenen Bauraum oberhalb der Räder aufweist.

Zur Lösung der gestellten Aufgabe hätte der Fachmann daher unter den gegebenen Randbedingungen nach einem geeigneten Kompromiss zwischen dem Neigungswinkel, der Länge des Anschlusselements und dem Abstand des Bremszylinderschwerpunkts zu den Anschlussabschnitten gesucht. Dabei wäre er durch Versuch und Irrtum - auch ohne konkreten Hinweis - auf naheliegende Weise zu Ergebnissen in den beanspruchten Wertebereichen gelangt. Zumal die Beschwerdegegnerin nicht belegen konnte, dass durch die spezielle Wahl dieser Werte eine besondere Wirkung erzielt wird.

4.1.9 Daher beruht der Gegenstand von Anspruch 1 des Hilfsantrags 5A nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit.

5. Hilfsantrag 6A

5.1 Zulassung

5.1.1 Hilfsantrag 6A wurde in der mündlichen Verhandlung vor der Kammer eingereicht. Die Beschwerdeführerin 1 sieht in diesem Antrag eine verspätete Änderung des Beschwerdevorbringens der Beschwerdegegnerin und beantragt, diesen nicht in das Verfahren zuzulassen.

Für die Frage der Zulassung des Hilfsantrags 6A ist Artikel 13 (2) VOBK 2020 anzuwenden. Demnach bleiben "Änderungen des Beschwerdevorbringens" eines Beteiligten nach Zustellung der Ladung zur mündlichen Verhandlung "grundsätzlich unberücksichtigt, es sei denn, der betreffende Beteiligte hat stichhaltige Gründe dafür aufgezeigt, dass außergewöhnliche Umstände vorliegen".

5.1.2 Hilfsantrag 6A beruht auf dem - zulässigen - Hilfsantrag 6 und unterscheidet sich von diesem nur durch Streichung der Ansprüche 1 und 2.

5.1.3 Der in Hilfsantrag 6A verbliebene Gegenstand war von den Parteien im schriftlichen Verfahren bereits ausreichend erörtert worden, so dass kein Vortrag weiterer, neuer oder geänderter Begründungselemente erforderlich war. Durch die späte Einreichung dieses Antrags ergibt sich folglich keine geänderte Sachlage bzw. Neugewichtung des Verfahrensgegenstands. Wenngleich der Antrag früher hätte gestellt werden können, läuft seine Zulassung somit weder dem Grundsatz der Verfahrensökonomie oder dem Konvergenzansatz der Verfahrensordnung zuwider, noch stellt sie eine unzumutbare prozessuale Situation für die Beschwerdeführerinnen dar.

5.1.4 In einer solchen Konstellation haben einige Beschwerdekammern entschieden, dass keine Änderung des Beschwerdevorbringens im Sinne von Artikel 13 (2) VOBK 2020 vorliegt (vgl. z.B. T 2201/19, Nr. 5.3 und 5.5 der Gründe). Auf diese Linie der Rechtsprechung berief sich die Beschwerdegegnerin mit entsprechenden Zitaten.

5.1.5 Nach Auffassung anderer Kammern ist die Streichung von Ansprüchen oder Alternativen stets als eine Änderung des Beschwerdevorbringens anzusehen, selbst wenn sich hierdurch keine geänderte Sachlage oder Neugewichtung des Verfahrensgegenstands ergibt (z.B. T 2091/18, Nr. 4.1 der Gründe; T494/18, Nr. 1.3.1 and 1.3.2 der Gründe).

Für einige Kammern, die dieser Rechtsprechungslinie folgen, ist der Ausnahmetatbestand "außergewöhnlicher Umstände" von Artikel 13 (2) VOBK jedoch nicht auf rechtfertigende Gründe für die Verspätung beschränkt (vgl. T 2295/19, Nr. 3.4.12 der Gründe). Es wird vielmehr auch berücksichtigt, ob die Änderung zu einer geänderten Sachlage bzw. einer Neugewichtung des Verfahrensgegenstands führt, und ob ihre Zulassung demnach mit den Grundsätzen der Verfahrensökonomie und des fairen Verfahrens vereinbar ist (T 2295/19, Nr. 3.4.9 bis 3.4.14 der Gründe; vgl. auch T 2091/18, Nr. 4.1 der Gründe; T494/18, Nr. 1.3.2 der Gründe; T 1857/19, Nr. 1.1 der Gründe und T 424/21, Nr. 21 und 22 der Gründe).

5.1.6 Die beiden Linien der Rechtsprechung berücksichtigen somit dieselben Erwägungen. Sie ordnen diese aber an verschiedenen Stellen der zweistufigen Prüfung (vgl. T 247/20, Nr. 1.3 der Gründe) von Artikel 13 (2) VOBK 2020 ein. In einer Konstellation wie im vorliegenden Fall gelangen sie dabei zum selben Ergebnis, nämlich, dass ein solcher Hilfsantrag zuzulassen ist.

Es kann daher dahingestellt bleiben, ob der Hilfsantrag 6A aufgrund der beschriebenen Umstände nicht als Änderung des Beschwerdevorbringens anzusehen ist, oder ob außergewöhnliche Umstände im Sinne von Artikel 13 (2) VOBK 2020 seine Berücksichtigung rechtfertigen.

5.1.7 Dementsprechend entschied die Kammer, Hilfsantrag 6A zuzulassen.

5.2 Erfinderische Tätigkeit

5.2.1 Anspruch 1 von Hilfsantrag 6A unterscheidet sich von Anspruch 1 des Hilfsantrags 5A durch das zusätzliche Merkmal, wonach "der zweite Anschlussabschnitt (32) eine antiklastisch gekrümmte Außenkontur aufweist".

5.2.2 Die Beschwerdeführerinnen trugen vor, D5 offenbare in Figur 4A (die in der folgenden Abbildung reproduziert ist), ein rohrförmiges Anschlusselement 49, das in einen Flanschbereich (grau hinterlegt) übergehe, der den zweiten Anschlussabschnitt darstelle, wobei die Außenkontur in diesem Bereich eine antiklastisch, also sattelförmig, gekrümmte Außenkontur aufweise (graue Pfeile).

FORMEL/TABELLE/GRAPHIK

Daher offenbare D5 das zusätzliche Merkmal von Anspruch 1 des Hilfsantrags 6A in gleicher Weise wie in Figur 2 des Streitpatents, die ebenfalls einen antiklastisch gekrümmten Übergang vom Rohr zum Flansch aufweise (grauer Pfeil in der folgenden Abbildung):

FORMEL/TABELLE/GRAPHIK

Selbst wenn die in Figur 4A mit Pfeilen markierten Bereiche nicht als antiklastisch gekrümmte Außenkontur des zweiten Anschlussabschnitts betrachtet würden, hätten D7 und D8 eine antiklastisch gekrümmte Außenkontur nahegelegt, um auftretende Kerbwirkungen zu reduzieren.

5.2.3 Die Beschwerdegegnerin trug vor, der zweite Anschlussabschnitt sei gemäß Merkmal #6 der Bereich, in dem das Anschlusselement an der Trägereinheit festgelegt sei. Dies sei in Figur 2 des Streitpatents der dünne Kontaktbereich (in der Reproduktion oben als schwarze Linie hervorgehoben), auf den das Referenzzeichen 32 zeige. Die antiklastisch gekrümmte Außenkontur sei in Figur 2 des Streitpatents daher nicht an der von den Beschwerdeführerinnen vorgetragenen Stelle (auf die der graue Pfeil deutet), sondern im Bereich der Kontaktfläche (bei dem schwarzen Pfeil) zu erkennen.

In Figur 4A der D5 entspreche also der zweite Anschlussabschnitt dem dünnen Kontaktbereich, in dem das Anschlusselement an der Trägereinheit festgelegt sei (schwarz hinterlegt). Dort offenbare die Figur 4A jedoch keine antiklastisch gekrümmte Außenkontur, so dass das hinzugefügte Merkmal nicht in D5 offenbart sei.

Ferner hätte der Fachmann keinen Anlass dazu gehabt, in diesem Kontaktbereich eine antiklastisch gekrümmte Außenkontur vorzusehen, weil dort keine Kerbwirkungen aufträten.

5.2.4 Wie von der Beschwerdegegnerin vorgetragen, ist der zweite Anschlussabschnitt als der unmittelbare Kontaktbereich zu verstehen, in dem das Anschlusselement an der Trägereinheit festgelegt ist.

Dies ergibt sich aus Merkmal #6 und steht zudem im Einklang mit Figur 2 des Streitpatents, in der das Referenzzeichen 32 auf die Kontaktfläche, nicht auf den gesamten Flansch, weist.

Der zweite Anschlussabschnitt gemäß Anspruch 1 ist daher auf den Bereich der Kontaktfläche des Anschlusselements begrenzt, mit welcher das Anschlusselement an der Trägereinheit festgelegt ist, wenngleich der Anschlussabschnitt zur Definition einer Außenkontur eine gewisse räumliche Ausdehnung aufweisen muss.

5.2.5 Das Anschlusselement 49 ist in Figur 4A der D5 mit seinem "open end" 50 am "cylinder body" 15A der Trägereinheit festgelegt (Seite 4, Zeilen 49 bis 55). Daher bildet der nach innen gewandte unmittelbare Kontaktbereich bei dem Referenzzeichen 50 den "zweiten Anschlussabschnitt" des Anschlusselements (in der Reproduktion von Figur 4A oben mit einer schwarzen Linie hinterlegt).

5.2.6 Da der zweite Anschlussabschnitt in Figur 4A der D5 auf den nach innen gerichteten unmittelbaren Kontaktbereich um das "open end" begrenzt ist, gehört der Bereich, auf den die grauen Pfeile weisen, nicht mehr zu seiner Außenkontur. Selbst wenn als Außenkontur der Bereich des Anschlusselements betrachtet wird, der sich radial außerhalb von dem "open end" 50 befindet, ist das Anschlusselement dort zylindrisch ausgebildet und weist keine antiklastisch gekrümmte Oberfläche auf.

5.2.7 Folglich stellt das zusätzliche Merkmal von Anspruch 1 des Hilfsantrags 6A gegenüber dem Bremssystem der D5 ein weiteres Unterscheidungsmerkmal dar.

5.2.8 Die antiklastisch gekrümmte Außenkontur des zweiten Anschlussabschnitts löst die Aufgabe, die bei Belastung des zweiten Anschlussabschnitts auftretende Kerbwirkung zu vermindern (Absatz [0014] des Streitpatents).

5.2.9 In Figur 4A der D5 findet die Kraftübertragung vom Anschlusselement 49 auf den "cylinder body" 15A an der Innenseite des Anschlusselements statt, die den zweiten Anschlussabschnitt darstellt. Auf der Mantelfläche des Anschlusselements, wo die Außenkontur des zweiten Anschlussabschnitts gesehen werden kann, treten hingegen keine Kerbspannungen auf. Es wäre daher nicht sinnvoll, dort Maßnahmen gegen eine Kerbwirkung vorzusehen.

5.2.10 Die Tatsache, dass D7 und D8 antiklastisch gekrümmte Außenkonturen zur Reduzierung von Kerbspannungen offenbaren, ändert nichts daran, dass der Fachmann keinen Anlass gehabt hätte, solche Maßnahmen an der Außenkontur des Anschlusselements in D5 vorzusehen.

5.2.11 Der Gegenstand von Anspruch 1 des Hilfsantrags 6A beruht daher auf einer erfinderischen Tätigkeit.

5.3 Ausführbarkeit

5.3.1 Anspruch 1 des Hilfsantrags 6A umfasst Ausführungsbeispiele, bei denen das Anschlusselement einstückig mit der Trägereinheit ausgebildet ist (vgl. Anspruch 2).

5.3.2 In diesem Fall, so argumentierten die Beschwerdeführerinnen, sei nicht erkennbar, wo der zweite Anschlussabschnitt liege. Daher sei bei der Umsetzung des Anspruchsgegenstands der Abstand des Schwerpunkts des Bremszylinders vom zweiten Anschlussabschnitt nicht definiert. Der Fachmann könne das Bremssystem daher nicht so verwirklichen, dass das Abstandsverhältnis gemäß Merkmal #9 gewährleistet sei.

5.3.3 In der Tat führt eine Umsetzung des Anspruchsgegenstands mit einer einstückig mit dem Anschlusselement ausgebildeten Trägereinheit dazu, dass nicht unbedingt erkennbar ist, wo genau der zweite Anschlussabschnitt liegt, in dem das Anschlusselement "an der Trägereinheit festgelegt ist" (Merkmal #6). Das Streitpatent gibt zwar in Spalte 2, Zeilen 22 bis 33, und Figur 1 Anhaltspunkte, wo der zweite Anschlussabschnitt bevorzugt vorgesehen sein kann. Diese Angaben sind jedoch ebenfalls so breit, dass sie es nicht ermöglichen, an einem gegebenen Bremssystem die Lage des zweiten Anschlussabschnitts so deutlich und präzise zu bestimmen, wie es zur Überprüfung der Bedingung von Merkmal #9 erforderlich wäre.

5.3.4 Daraus könnte man zwar folgern, dass der Anspruchsgegenstand bei einem mit dem Trägerelement einteilig ausgebildeten Anschlusselement unklar ist. Für die Ausführbarkeit gemäß Artikel 83 EPÜ kommt es jedoch darauf an, ob das Streitpatent die beanspruchte Erfindung so deutlich und vollständig offenbart, dass ein Fachmann sie ausführen kann.

Bei der Realisierung eines Bremssystems gemäß Anspruch 1, bei dem das Anschlusselement einstückig mit der Trägereinheit ausgebildet ist, wie in Anspruch 2, geht der Fachmann nicht von einem fertigen einstückigen Bauteil aus, bei der er nicht mehr erkennen kann, wo der zweite Anschlussabschnitt liegt. Er verwirklicht vielmehr selbst ein solches Bauteil und gibt dabei vor, wo sich der zweite Anschlussabschnitt befindet. Für diese Vorgabe erhält er aus der oben angegebenen Offenbarungsstellen im Streitpatent ausreichend Anleitung. Mit der Kenntnis der Position des zweiten Anschlussabschnitts kann der Fachmann auch das Merkmal #9 ohne Schwierigkeiten realisieren.

Daher ist der Gegenstand der Ansprüche 1 und 2 ausführbar im Sinne von Artikel 83 EPÜ.

5.3.5 Die Beschwerdeführerinnen trugen darüber hinaus vor, es bestehe ein Widerspruch zwischen Merkmal #8 von Anspruch 1, wonach der erste Anschlussabschnitt unmittelbar am Bremszylinder festlegbar sein solle, und Anspruch 4, wonach zwischen dem ersten Anschlussabschnitt und dem Bremszylinder ein Dämpferelement vorgesehen sei. Die Kombination dieser beiden Ansprüche sie daher nicht ausführbar.

Da Merkmal #8 jedoch nicht fordert, dass der erste Anschlussabschnitt unmittelbar am Bremszylinder festgelegt, sondern nur festlegbar sein soll, ist kein Widerspruch zu erkennen. Der Fachmann kann nämlich ohne Weiteres die Möglichkeit zum unmittelbaren Festlegen schaffen (siehe Schraubverbindungen 14 in Figur 1 des Streitpatents zwischen dem Flansch 13 des Anschlusselements und dem Bremszylinder) und gleichzeitig ein Dämpferelement (12, Figur 1) dazwischen vorsehen.

Daher ist auch der kombinierte Gegenstand der Ansprüche 1 und 4 im Sinne von Artikel 83 EPÜ ausführbar.

5.4 Der Gegenstand von Anspruch 1 des Hilfsantrags 6A, sowie der von Anspruch 1 abhängigen Ansprüche 2 bis 7, erfüllt daher die im Einspruchsbeschwerdeverfahren zu überprüfenden Erfordernisse des EPÜ.

Entscheidungsformel

Aus diesen Gründen wird entschieden:

1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.

2. Die Angelegenheit wird an die Einspruchsabteilung mit der Anordnung zurückverwiesen, ein Patent mit folgenden Ansprüchen und einer noch anzupassenden Beschreibung aufrechtzuerhalten:

Ansprüche 1-7 gemäß Hilfsantrag 6A, eingereicht während der mündlichen Verhandlung vom 20. Juli 2022.

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