T 2610/16 () of 14.9.2020

European Case Law Identifier: ECLI:EP:BA:2020:T261016.20200914
Datum der Entscheidung: 14 September 2020
Aktenzeichen: T 2610/16
Anmeldenummer: 04820595.9
IPC-Klasse: H01H33/66
H01H33/14
H01H33/666
Verfahrenssprache: DE
Verteilung: D
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Bibliografische Daten verfügbar in: DE
Fassungen: Unpublished
Bezeichnung der Anmeldung: Schaltgerät für den Mittel- und Hochspannungsbereich
Name des Anmelders: ABB Schweiz AG
Name des Einsprechenden: Siemens Aktiengesellschaft
Kammer: 3.5.02
Leitsatz: -
Relevante Rechtsnormen:
European Patent Convention Art 100(c) (2007)
RPBA2020 Art 013(2) (2020)
Schlagwörter: Hauptantrag - unzulässige Zwischenverallgemeinerung (ja)
Neue Hilfsanträge 1 bis 4 nach Zustellung der Ladung zur mündlichen Verhandlung - Vorliegen außergewöhnlicher Umstände (nein)
Orientierungssatz:

-

Angeführte Entscheidungen:
-
Anführungen in anderen Entscheidungen:
T 0754/17
T 1962/17
T 2137/18
T 0277/19
T 1456/20
T 2034/21

Sachverhalt und Anträge

I. Die Einsprechende hat Beschwerde gegen die Entscheidung der Einspruchsabteilung eingelegt, mit welcher der Einspruch gegen das europäische Patent Nr. 1 690 276 zurückgewiesen wurde.

II. In der angefochtenen Entscheidung war die Einspruchsabteilung zu dem Schluss gelangt, dass keiner der Einspruchsgründe nach den Artikeln 100 a), b) und c) EPÜ der Aufrechterhaltung des Patents entgegensteht.

III. In einer der Ladung zur mündlichen Verhandlung beigefügten Mitteilung hat die Kammer den Parteien unter anderem ihre vorläufige Meinung mitgeteilt, wonach zumindest der Einspruchsgrund nach Artikel 100 c) EPÜ der Aufrechterhaltung des europäischen Patents entgegenstehen dürfte.

IV. Mit Schreiben vom 13. August 2020 hat die Patentinhaberin mit den Hilfsanträgen 1 und 2 erstmals im Verfahren Hilfsanträge eingereicht.

V. Eine mündliche Verhandlung fand am 14. September 2020 in Anwesenheit der Parteien vor der Kammer statt.

Die Beschwerdeführerin (Einsprechende) beantragte, die angefochtene Entscheidung aufzuheben und das Patent zu widerrufen.

Die Beschwerdegegnerin (Patentinhaberin) beantragte abschließend, die Beschwerde zurückzuweisen; hilfsweise, das Patent in geänderter Fassung auf der Grundlage der Ansprüche der mit dem Schreiben vom 13. August 2020 eingereichten Hilfsanträge 1 und 2 aufrechtzuerhalten; weiter hilfsweise, das Patent in geänderter Fassung auf der Grundlage der Ansprüche der in der mündlichen Verhandlung am 14. September 2020 eingereichten Hilfsanträge 3 und 4 aufrechtzuerhalten.

VI. Anspruch 1 des Patents in der erteilten Fassung hat den folgenden Wortlaut:

"Schaltgerät für den Mittel- und Hochspannungsbereich mit Leistungs- und/oder Lastschaltern, wobei auf jeder Phase zwei unabhängige, aber gleichartige Leistungsschalter (1) in Reihe geschaltet sind, welche in einem kleinen Zeitfenster dt zueinander koordiniert schaltbar sind, dadurch gekennzeichnet, dass zwischen den Schaltstrecken der beiden Schalter eine galvanisch mit beiden Schaltern verbundene, als Antenne wirkende Elektrode (4) derart angeordnet ist, dass die sich ergebenden elektrischen Teilkapazitäten nahezu symmetrisch sind."

VII. Die Hilfsanträge 1 bis 4 werden angesichts der von der Kammer getroffenen Entscheidung, dass diese Anträge unberücksichtigt bleiben, nicht wiedergegeben.

VIII. Die für diese Entscheidung relevanten Argumente der Beschwerdeführerin waren wie folgt:

Die Aufnahme des Merkmals "unabhängige, aber gleichartige Leistungsschalter" in den ursprünglichen Anspruch 1 als Ersatz für den Begriff "Schalter" stelle eine unzulässige Zwischenverallgemeinerung dar. Die ursprüngliche Beschreibung auf Seite 2, Zeilen 23 bis 26 offenbare das Merkmal "unabhängige, aber gleichartige Leistungsschalter" untrennbar in Zusammenhang mit dem weiteren Merkmal, dass die "Ein- und Ausschaltmittel [der Leistungsschalter] elektrisch bzw. mechanisch gekoppelt sind". Dieser Aspekt sei auch als erfindungswesentlich herausgestellt. Die Betrachtung des ganzen Satzes zeige, dass das Merkmal "zwei unabhängige, aber gleichartige Leistungsschalter" nicht isoliert verstanden werden könne, sondern ausschließlich in Zusammenhang mit der besonderen elektrischen oder mechanischen Kopplung, die zwingend erforderlich sei. Die nachfolgende Beschreibung auf Seite 2, Zeilen 30 bis 35 beschreibe die mechanische und die elektrische Kopplung nur insoweit als vorteilhafte Alternativen als es die Antriebe der Schalter betreffe. Die Beschreibung auf Seite 2 in den Zeilen 23 bis 28 betreffe jedoch die Kopplung der Ein- und Ausschaltmittel.

Die Hilfsanträge 1 und 2 seien im Beschwerdeverfahren nicht zu berücksichtigen. Sie stellten offensichtlich eine Reaktion auf den Einwand einer mangelnden ursprünglichen Offenbarung dar. Dieser Einwand sei jedoch bereits sowohl in der Einspruchsschrift als auch in der Beschwerdebegründung vorgetragen worden, sodass die Beschwerdegegnerin ausreichend Gelegenheit gehabt habe, entsprechende Hilfsanträge einzureichen. Für die Einreichung der Hilfsanträge 1 und 2 erstmals nach Ladung zur mündlichen Verhandlung vor der Kammer lägen daher keine stichhaltigen Gründe im Sinne von Artikel 13(2) VOBK 2020 vor. Sie seien somit im Beschwerdeverfahren nicht zu berücksichtigen.

Entsprechendes gelte auch für die während der mündlichen Verhandlung eingereichten Hilfsanträge 3 und 4. Da sich die Umstände seit der Einreichung der Hilfsanträge 1 und 2 nicht geändert hätten, außer dass diese Anträge unberücksichtigt blieben, seien auch die Hilfsanträge 3 und 4 aus den gleichen Gründen wie die Hilfsanträge 1 und 2 im Beschwerdeverfahren nicht zu berücksichtigen.

IX. Die für diese Entscheidung relevanten Argumente der Beschwerdegegnerin waren wie folgt:

Zwar sei das Merkmal "unabhängige, aber gleichartige Leistungsschalter" auf Seite 2, Zeilen 23 bis 28 der ursprünglichen Beschreibung in Zusammenhang mit Ein- und Ausschaltmitteln erwähnt, die elektrisch bzw. mechanisch gekoppelt sind. Allerdings sei für den Fachmann klar, dass diese Koppelung der Schalter allenfalls in einer vorteilhaften Ausführung in Ergänzung der in Reihe geschalteten Schalter erfolge. Seite 2, Zeilen 30 bis 34 offenbare explizit, dass die Koppelung lediglich eine "vorteilhafte Ausgestaltung" sei. Zudem sei der Gegenstand des erteilten Anspruchs 1 unmittelbar und eindeutig aus den ursprünglich eingereichten Ansprüchen 1, 7 und 8 ableitbar, wonach zwei baulich gleichartige Schalter in Reihe geschaltet sind und zwischen den Schaltern eine Elektrode angeordnet ist, so dass die Teilkapazitäten nahezu symmetrisch sind. Die ursprünglich offenbarte Erfindung sei nicht die Kopplung der Leistungsschalter, sondern die spezielle Anordnung der als Elektrode wirkenden Antenne gemäß dem kennzeichnenden Teil des erteilten Anspruchs 1. Die auf Seite 2, Zeilen 23 bis 28 beschriebene Kopplung der Leistungsschalter gehöre hingegen zum Stand der Technik und sei physikalisch bzw. technisch nicht notwendig, um die angestrebte Symmetrie der Teilkapazitäten zu erzielen. Eine gewisse Synchronisierung zwischen den Schaltern sei im Übrigen inhärent.

Die Hilfsanträge 1 und 2 seien im Beschwerdeverfahren zu berücksichtigen. Coronavirus-bedingt habe der Vertreter Kommunikationsprobleme mit der Beschwerdegegnerin im Vorfeld der Verhandlung gehabt. Ferner habe es interne Abstimmungsschwierigkeiten und firminterne Änderungen Anfang des Jahres 2020 in der entsprechenden Fachabteilung der Beschwerdegegnerin gegeben. Ferner habe für die Beschwerdegegnerin bis zum Erhalt der vorläufigen Meinung der Kammer, in der erstmalig der Einspruchsgrund nach Artikel 100 c) EPÜ als einschlägig erachtet wurde, keine Veranlassung bestanden, Hilfsanträge einzureichen. Im Übrigen seien die Hilfsanträge 1 und 2 vor dem von der Kammer gesetzten Zeitpunkt eingereicht worden. Die Hilfsanträge 1 und 2 würden darüber hinaus sämtliche Einwände ausräumen und keine weiteren Probleme aufwerfen.

Da sich die Umstände bis auf die Tatsache, dass die Hilfsanträge 1 und 2 unberücksichtigt blieben, nicht geändert hätten, seien die zu den Hilfsanträgen 1 und 2 vorgebrachten Argumente entsprechend für die Berücksichtigung der Hilfsanträge 3 und 4 gültig.

Entscheidungsgründe

1. Die Beschwerde ist zulässig.

2. Hauptantrag - Änderungen (Artikel 100 c) EPÜ)

2.1 Der Gegenstand des europäischen Patents geht über den Inhalt der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung hinaus.

Nach der ständigen Rechtsprechung der Beschwerdekammern ist es in der Regel nicht zulässig, bei einer Änderung eines Anspruchs isolierte Merkmale aus einer Reihe von Merkmalen herauszugreifen, die ursprünglich nur in Kombination und insbesondere ausschließlich im Zusammenhang mit anderen strukturellen und funktionellen Merkmalen offenbart waren (siehe Rechtsprechung der Beschwerdekammern, 9. Auflage 2019, II.E.1.9).

2.2 Die ursprüngliche Beschreibung auf Seite 2, Zeilen 23 bis 28 hat den folgenden Wortlaut:

"Die Idee, zwei Vakuumkammern in Reihe zu schalten ist an sich zwar schon bekannt, aber die Realisierung durch zwei unabhängige, aber gleichartige Leistungsschalter, deren Ein- und Ausschaltmittel elektrisch bzw. mechanisch gekoppelt sind ist dabei besonders. Durch eine spezielle mechanische Kopplung der Ausschaltwellen wird ein Gleichlauf von kleiner 3 ms erreicht. Auf diese Weise kann es beim Schalten tatsächlich auch zu der Aufteilung der anliegenden elektrischen Spannung kommen." (Hervorhebung hinzugefügt)

2.3 Die isolierte Aufnahme lediglich des Merkmals "zwei unabhängige, aber gleichartige Leistungsschalter" in den Anspruch 1, ohne das weitere damit verknüpfte Merkmal "deren Ein- und Ausschaltmittel elektrisch bzw. mechanisch gekoppelt sind", stellt ein unzulässiges isoliertes Herausgreifen eines Merkmals aus einer ursprünglich offenbarten Kombination zweier untrennbar miteinander verknüpfter Merkmale dar.

Der fachkundige Leser entnimmt der oben hervorgehobenen Passage der Beschreibung zweifelsfrei, dass die besondere Kombination zweier unabhängiger, aber gleichartiger Leistungsschalter, deren Ein- und Ausschaltmittel elektrisch bzw. mechanisch gekoppelt sind, keine spezielle Ausführungsform darstellt, sondern vielmehr ein wesentliches Merkmal, um den gewünschten Erfolg der Erfindung zu erzielen.

Der ursprünglichen Gesamtoffenbarung lassen sich demgegenüber nicht unmittelbar und eindeutig zwei unabhängige, aber gleichartige Leistungsschalter entnehmen, deren Ein- und Ausschaltmittel nicht elektrisch bzw. mechanisch gekoppelt sind. Das betreffende Merkmal stellt in isolierter Betrachtung somit eine zusätzliche technisch relevante Information dar, die in den ursprünglichen Anmeldungsunterlagen nicht enthalten war.

Insofern ist auch unerheblich, dass eine elektrische oder mechanische Kopplung der Ein- und Ausschaltmittel der Leistungsschalter in technischer oder physikalischer Hinsicht möglicherweise nicht erforderlich ist, denn eine entsprechende Lehre lässt sich den ursprünglichen Anmeldungsunterlagen jedenfalls nicht entnehmen.

2.4 Den obigen Feststellungen steht im Übrigen nicht entgegen, dass der erteilte Anspruch 1 das folgende, die Antenne betreffende Merkmal im kennzeichnenden Teil aufweist:

"zwischen den Schaltstrecken der beiden Schalter eine galvanisch mit beiden Schaltern verbundene, als Antenne wirkende Elektrode (4) derart angeordnet ist, dass die sich ergebenden elektrischen Teilkapazitäten nahezu symmetrisch sind."

Allein die Tatsache, dass das betreffende Merkmal im kennzeichnenden Teil des Anspruchs 1 vorhanden ist, stellt keinen hinreichenden Beleg für die Behauptung der Beschwerdegegnerin dar, dieser Aspekt, und nicht die elektrische oder mechanische Kopplung, sei ursprünglich als wesentlich für den gewünschten Erfolg der Erfindung beschrieben gewesen. Außerdem war das betreffende Merkmal ursprünglich nicht im unabhängigen Anspruch 1, sondern im von diesem abhängigen Anspruch 7 beansprucht.

Entscheidend ist vielmehr, was der fachkundige Leser den ursprünglichen Anmeldungsunterlagen entnehmen kann und die Beschwerdegegnerin hat keine diesbezüglichen Offenbarungsstellen aufgezeigt. Das die Antenne betreffende Merkmal ist in den ursprünglichen Anmeldungsunterlagen vielmehr ausschließlich als zusätzliches optionales, aber nicht als die Erfindung ausmachendes Merkmal, beschrieben.

2.5 Wie die Beschwerdeführerin darüber hinaus zutreffend vorgetragen hat, ergibt sich aus der ursprünglichen Beschreibung auf Seite 2, Zeilen 30 bis 34 keineswegs, dass es sich bei der Kopplung der Ein- und Ausschaltmittel der Leistungsschalter um eine bevorzugte Ausgestaltung der Erfindung handelt. Vielmehr nehmen die besagten Textstellen Bezug auf die Antriebe der Schalter, die entweder mechanisch oder elektrisch gekoppelt sind. Einen Hinweis auf eine Alternative zu der im Absatz darüber beschriebenen mechanischen oder elektrischen Kopplung der Ein- und Ausschaltmittel der Leistungsschalter lässt sich diesen Textstellen hingegen nicht entnehmen.

2.6 Die Kammer stellt darüber hinaus fest, dass der ursprüngliche abhängige Anspruch 8 keine Offenbarungsgrundlage für die Änderung im erteilten Anspruch 1 bietet. Der ursprüngliche Anspruch 8 besagt, dass "die in Reihe geschalteten Schalter (1) baulich gleichartig sind", während in den Anspruch 1 der hiervon abweichende Wortlaut "zwei unabhängige, aber gleichartige Leistungsschalter" gemäß Seite 2, Zeile 24 der ursprünglichen Beschreibung aufgenommen wurde. Die deutlichen Abweichungen zwischen dem Wortlaut des ursprünglichen Anspruchs 8 und dem Merkmal des erteilten Anspruchs 1, insbesondere das Fehlen der Ausdrücke "baulich" im erteilen Anspruch 1 bzw. "unabhängige" und "Leistungsschalter" im ursprünglichen Anspruch 8, lassen erhebliche Zweifel daran bestehen, dass es sich um eine Offenbarungsgrundlage für das betreffende Merkmal des Anspruchs 1 handeln könnte.

Daher ist für die Kammer nicht erkennbar, dass der fachmännische Leser im Lichte des ursprünglichen abhängigen Anspruchs 8 zu dem Schluss gelangen würde, die in der Beschreibung auf Seite 2, Zeilen 23 bis 26 beschriebene Kombination zweier unabhängiger, aber gleichartiger Leistungsschalter mit einer elektrischen oder mechanischen Kopplung ihrer Ein- und Ausschaltmittel sei, entgegen der expliziten Darstellung, nicht ausschlaggebend für den gewünschten Erfolg der Erfindung und damit nicht untrennbar miteinander verknüpft.

Im Übrigen bemerkt die Kammer in diesem Zusammenhang, dass der ursprüngliche abhängige Anspruch 8 im erteilten Patent nach wie vor als abhängiger Anspruch 7 vorhanden ist. Für die Kammer ist daher insgesamt nicht ersichtlich, inwiefern der ursprüngliche abhängige Anspruch 8 die Offenbarungsgrundlage für das isolierte Merkmal "zwei unabhängige, aber gleichartige Leistungsschalter" der in der Beschreibung auf Seite 2 offenbarten expliziten Kombination bilden könnte.

2.7 Daher ist die Kammer insgesamt zu der Überzeugung gelangt, dass der Fachmann den ursprünglichen Anmeldungsunterlagen nichts anderes entnimmt, als die feststehende Kombination zweier unabhängiger, aber gleichartiger Leistungsschalter, deren Ein- und Ausschaltmittel elektrisch oder mechanisch gekoppelt sind. Die Nichtaufnahme des Merkmals, dass die Ein- und Ausschaltmittel der Leistungsschalter mechanisch oder elektrisch gekoppelt sind, in den erteilten Anspruch 1 stellt daher eine Erweiterung des Gegenstands des europäischen Patents über den Inhalt der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung hinaus dar.

2.8 Vor diesem Hintergrund ist eine Prüfung der weiteren Einwände der Beschwerdeführerin unter Artikel 100 c) EPÜ nicht erforderlich.

2.9 Die Kammer ist somit zu dem Schluss gelangt, dass der Einspruchsgrund nach Artikel 100 c) EPÜ der Aufrechterhaltung des europäischen Patents entgegen steht.

3. Berücksichtigung der Hilfsanträge 1 und 2 im Beschwerdeverfahren (Artikel 13 (2) VOBK 2020)

3.1 Nach Zustellung der Ladung zur mündlichen Verhandlung vor der Kammer, die am 25. Mai 2020 erfolgt ist, hat die Beschwerdegegnerin mit Schreiben vom 13. August 2020 erstmals im gesamten Verfahren Hilfsanträge 1 und 2 eingereicht.

3.2 Nach den geltenden Grundsätzen der Verfahrensordnung der Beschwerdekammern müssen die Beschwerdebegründung und die Erwiderung den vollständigen Sachvortrag der Parteien enthalten (Artikel 12 (3) VOBK 2020 im wesentlichen entsprechend Artikel 12 (2) VOBK 2007). Zweck dieser Bestimmung, sowohl in der alten Fassung als auch in der revidierten Fassung ist es, ein faires Verfahren für alle Beteiligten sicherzustellen und es der Kammer zu ermöglichen, ihre Arbeit auf der Basis eines vollständigen Vorbringens beider Seiten zu beginnen (vgl. Rechtsprechung der Beschwerdekammern, 9. Auflage 2019, V.A.4.12.5). Änderungen dieses Beschwerdevorbringens, die erst nach Zustellung der Ladung zur mündlichen Verhandlung eingehen, bleiben nach Artikel 13 (2) VOBK 2020, der nach Artikel 25 (3) VOBK 2020 im vorliegenden Fall anzuwenden ist, grundsätzlich unberücksichtigt, es sei denn, der betreffende Beteiligte hat stichhaltige Gründe für das Vorliegen außergewöhnlicher Umstände aufgezeigt.

3.3 Im vorliegen Fall hat die Beschwerdegegnerin keine stichhaltigen Gründe für das Vorliegen außergewöhnlicher Umstände aufgezeigt, welche die Berücksichtigung der Hilfsanträge 1 und 2 im Beschwerdeverfahren rechtfertigen könnten.

Ein stichhaltiger Grund für das Vorliegen außergewöhnlicher Umstände, die eine Änderung des Beschwerdevorbringens erst nach Zustellung der Ladung zur mündlichen Verhandlung rechtfertigen könnten, ist beispielsweise die Berücksichtigung eines neuen Einwandes durch die Kammer, der nicht unter die zuvor von der Kammer oder einem Beteiligten erhobenen Einwände fällt.

Die Beschwerdegegnerin hat geltend gemacht, die Einreichung der Hilfsanträge 1 und 2 stelle eine Reaktion auf die Mitteilung der Kammer nach Artikel 15 (1) VOBK 2020 dar, um den Einwand unter Artikel 100 c) EPÜ, im Hinblick auf das aufgenommene Merkmal "zwei unabhängige, aber gleichartige Leistungsschalter", auszuräumen. Für die Beschwerdegegnerin habe keine Notwendigkeit bestanden, im Einspruchsverfahren eine derartige Änderung einzureichen, da das Patent, wie erteilt, aufrechterhalten wurde.

Jedoch war der entsprechende Einwand bereits in der Einspruchsbegründung vorgetragen und in der Beschwerdebegründung wiederholt worden. Die der Ladung zur mündlichen Verhandlung beigefügte Mitteilung der Kammer (Artikel 15 (1) VOBK 2020) ist diesem Einwand gefolgt und enthielt nichts, was über die von der Beschwerdeführerin vorgetragenen Einwände hinaus ging. Die Beschwerdegegnerin hat dies im Übrigen nicht bestritten.

Unter diesen Umständen stellt daher die Tatsache, dass die Kammer in der der Ladung zur mündlichen Verhandlung beigefügten Mitteilung eine von der Einspruchsabteilung in der angefochtenen Entscheidung abweichende vorläufige Meinung vertreten hat, jedenfalls keinen stichhaltigen Grund für das Vorliegen eines außergewöhnlichen Umstands im Sinne von Artikel 13 (2) VOBK 2020 dar, der eine Änderung des Beschwerdevorbringens der Beschwerdegegnerin durch die Vorlage von Hilfsanträgen erst nach Zustellung der Ladung zur mündlichen Verhandlung rechtfertigen kann.

3.4 Die Einreichung von Hilfsanträgen auf einen seit Beginn des Verfahrens bekannten Einwand wäre jedenfalls bereits zu einem weit früheren Verfahrensstadium angezeigt gewesen, insbesondere im Laufe des Einspruchverfahrens oder bereits im Jahr 2017 mit der Erwiderung auf die Beschwerdebegründung.

3.5 Daraus folgt, dass die erst seit März 2020 bestehenden Coronavirus-bedingten Einschränkungen und damit einhergehende Kommunikationsprobleme als solche keine außergewöhnlichen Umstände im Sinne des Artikels 13 (2) VOBK 2020 bilden.

In diesem Zusammenhang ist auch weder ersichtlich noch vorgetragen, dass die Beschwerdegegnerin durch Coronavirus-bedingte Einschränkungen daran gehindert war, eine vor Zustellung der Ladung zur mündlichen Verhandlung beabsichtigte Einreichung von Hilfsanträgen vorzunehmen.

Der Vollständigkeit halber bemerkt die Kammer in diesem Zusammenhang Folgendes: Selbst wenn eine Einreichung von Hilfsanträgen zu Beginn dieses Jahres, und insbesondere vor Zustellung der Ladung zur mündlichen Verhandlung vor der Kammer, beabsichtigt gewesen sein sollte, die dann durch die eingetretene Corona-Pandemie zu einer Einreichung erst nach Zustellung der Ladung zur mündlichen Verhandlung geführt haben sollte, wären die Hilfsanträge 1 und 2 auch gemäß Artikel 13 (1) VOBK 2020 nicht in das Beschwerdeverfahren zuzulassen gewesen.

Insbesondere sind für die Kammer keine Gründe ersichtlich, welche die Einreichung der Hilfsanträge 1 und 2 in einem derart späten Verfahrensstadium in Reaktion auf einen bereits seit dem Jahr 2015 bekannten Einwand unter Artikel 100 c) EPÜ und insbesondere nach drei Jahren Untätigkeit der Beschwerdegegnerin in Bezug auf Hilfsanträge seit Einlegung der Beschwerde, rechtfertigen könnten. Selbst bei Berücksichtigung der Hilfsanträge 1 und 2 im Beschwerdeverfahren unter Artikel 13 (2) VOBK 2020 wären diese somit unter Anwendung der Kriterien nach Artikel 13 (1) VOBK 2020 nicht in das Beschwerdeverfahren zuzulassen gewesen.

3.6 Die Kammer ist daher zu dem Schluss gelangt, dass mangels stichhaltiger Gründe für das Vorliegen außergewöhnlicher Umstände die Hilfsanträge 1 und 2 gemäß Artikel 13 (2) VOBK 2020 im Beschwerdeverfahren unberücksichtigt bleiben.

4. Berücksichtigung der Hilfsanträge 3 und 4 im Beschwerdeverfahren (Artikel 13 (2) VOBK 2020)

4.1 Während der mündlichen Verfahren vor der Kammer hat die Beschwerdegegnerin weitere Hilfsanträge 3 und 4 eingereicht. Obwohl die Zulassung von Hilfsanträgen während der mündlichen Verhandlung nicht grundsätzlich ausgeschlossen ist, und etwa in Reaktion auf neue Einwände gerechtfertigt sein kann, sind im vorliegendem Fall die Umstände seit der Erwiderung auf die Ladung zur mündlichen Verhandlung unverändert geblieben. Da die anzuwenden Kriterien sowie die vorgebrachten Argumente der Beschwerdegegnerin in Bezug auf die Berücksichtigung dieser Hilfsanträge im Beschwerdeverfahren unter Artikel 13 (2) VOBK 2020 daher identisch zu denen der Hilfsanträge 1 und 2 sind, gelten die oben unter Punkt 3 getroffenen Feststellungen der Kammer entsprechend für die Hilfsanträge 3 und 4.

4.2 Die Kammer hat daher entschieden, dass die Hilfsanträge 3 und 4 im Beschwerdeverfahren unberücksichtigt bleiben (Artikel 13 (2) VOBK 2020).

5. Ergebnis

Da der Hauptantrag der Beschwerdegegnerin nicht gewährbar ist und die Hilfsanträge 1 bis 4 im Beschwerdeverfahren unberücksichtigt bleiben, war dem Hauptantrag der Beschwerdeführerin stattzugeben.

Entscheidungsformel

Aus diesen Gründen wird entschieden:

1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.

2. Das Patent wird widerrufen.

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