T 2344/16 (Bestimmung der Streuparameter eines Mehrtor-Messobjekts - Rohde & … of 15.2.2021

European Case Law Identifier: ECLI:EP:BA:2021:T234416.20210215
Datum der Entscheidung: 15 Februar 2021
Aktenzeichen: T 2344/16
Anmeldenummer: 03810391.7
IPC-Klasse: G01R35/00
Verfahrenssprache: DE
Verteilung: D
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Bibliografische Daten verfügbar in: DE
Fassungen: Unpublished
Bezeichnung der Anmeldung: VERFAHREN ZUM MESSEN DER STREUPARAMETER EINES MEHRTOR-MESSOBJEKTES MITTELS EINES MEHRTOR-NETZWERKANALYSATORS MIT NICHTSINUSFOERMIGEN MESSSIGNALEN
Name des Anmelders: Rohde & Schwarz GmbH & Co. KG
Name des Einsprechenden: -
Kammer: 3.4.01
Leitsatz: -
Relevante Rechtsnormen:
RPBA2020 Art 011 (2020)
European Patent Convention R 103(1)(a) (2007)
RPBA2020 Art 013(1) (2020)
RPBA2020 Art 013(2) (2020)
European Patent Convention Art 56 (2007)
Schlagwörter: Erfinderische Tätigkeit - Hauptantrag (ja)
Erfinderische Tätigkeit - Aufgabe und Lösung
Rückzahlung der Beschwerdegebühr - Gelegenheit zur Stellungnahme (ja)
Rückzahlung der Beschwerdegebühr - wesentlicher Verfahrensmangel (nein)
Wesentlicher Verfahrensmangel - Verletzung des rechtlichen Gehörs (nein)
Änderung des Beschwerdevorbringens - rechtfertigende Gründe des Beteiligten (ja)
Orientierungssatz:

Einer Änderung der Besetzung einer Prüfungsabteilung vor der mündlichen Verhandlung steht grundsätzlich nichts entgegen. Eine Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren und insbesondere auf rechtliches Gehör liegt darin an sich nicht.

Die Einführung von neuem Stand der Technik, insbesondere zum Nachweis allgemeinen Fachwissens in Anwendung des Art. 114 EPÜ, zu einem späten Stadium der Prüfung und insbesondere während der mündlichen Verhandlung vor der Prüfungsabteilung verstößt nicht an sich gegen die ,,Waffengleichheit" im Verfahren.

Angeführte Entscheidungen:
T 0390/86
T 1207/09
T 1561/15
T 0922/17
T 1482/17
Anführungen in anderen Entscheidungen:
-

Sachverhalt und Anträge

I. Die Beschwerde der Patentanmelderin richtet sich gegen die Entscheidung der Prüfungsabteilung, die europäische Patentanmeldung 03 810 391 zurückzuweisen.

II. Die Patentanmeldung wurde zurückgewiesen, weil der Gegenstand des unabhängigen Anspruchs 1 aller eingereichten Anträge (Hauptantrag und Hilfsanträge I, II, III, IIIa und IIII) nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit im Sinne des Artikels 56 EPÜ beruhe, und zwar im Hinblick auf die Lehre des Dokuments

D1: US-A-2001/0004729,

das von der Prüfungsabteilung als nächstliegender Stand der Technik angesehen wurde.

Auf die in der Anmeldung zitierten Dokumente

D2: DE-A-100 22 853 und

D3: WO-A-01/27648

wurde ebenfalls Bezug genommen.

Im Laufe der mündlichen Verhandlung im Prüfungsverfahren war seitens der Prüfungsabteilung auf das allgemeine Fachwissen und in diesem Zusammenhang von Amts wegen auf die Dokumente

D4: Agilent Technologies, "Hints for making Better

Network Analyzer Measurements", Application

Note 1291-1; (2000), pages 1-12; und

D5: Agilent AN 1287-1, "Understanding the

Fundamental Principles of Vector Network

Analysis", Application Note, (2000), pages

1-14,

Bezug genommen worden.

In der Entscheidung wurde auch darauf hingewiesen, dass im Übrigen Einwände wegen fehlender Klarheit gegen die Hilfsanträge I, II, III und IIII und wegen mangelnder Stützung durch die Beschreibung gegen den Hauptantrag und die Hilfsanträge I und II (Artikel 84 EPÜ) bestünden.

III. Die Beschwerdeführerin beantragte in ihrer Beschwerde, unter Aufhebung der angefochtenen Entscheidung ein Patent auf Basis eines der der Prüfungsabteilung vorliegenden Anträge zu erteilen.

Die Zurückverweisung der Angelegenheit an die Prüfungsabteilung sowie die Rückerstattung der Beschwerdegebühr wurden ebenfalls beantragt.

IV. In einer Mitteilung der Kammer gemäß Artikel 15(1) VOBK 2007 wurde die Beschwerdeführerin über die vorläufige Auffassung der Kammer unterrichtet, wonach die Klarheitseinwände der Prüfungsabteilung nicht geteilt würden und weitere Klarheitsprobleme nicht zu erkennen seien. Die zentrale Frage sei jene nach der erfinderischen Tätigkeit und dabei insbesondere der Berücksichtigung der Lehre von D2 durch die Fachperson.

V. In der mündlichen Verhandlung vor der Beschwerdekammer reichte die Beschwerdeführerin eine angepasste Fassung des Hauptantrags ein.

VI. Der unabhängige Anspruch 1 dieses (neuen) Hauptantrags lautet:

Verfahren zum Messen der Wellengrößen eines Mehrtor-Meßobjektes mittels eines Mehrtor-Netzwerkanalysators bei Einspeisung eines nichtsinusförmigen, insbesondere digital modulierten Meßsignals, wobei für den Netzwerkanalysator

in einem vorhergehenden Kalibrierverfahren Fehlerkorrekturwerte ermittelt werden, die bei der anschließenden Berechnung der Streuparameter aus den am Mehrtor-Meßobjekt gemessenen Wellengrößen entsprechend berücksichtigt werden,

dadurch gekennzeichnet,

daß zunächst die Zeitversätze zwischen den Meßsignalen in den Meßkanälen, die den an den Toren des Meßobjekts gemessenen Wellengrößen entsprechen, berechnet und kompensiert werden, dann aus diesen zeitkompensierten Meßsignalen unkorrigierte Streuparameter des Meßobjektes berechnet werden und schließlich diese Streuparameter mit den Fehlerkorrekturwerten korrigiert werden.

Die Ansprüche 2 bis 5 des Hauptantrags sind abhängige Ansprüche.

Der Anspruch 4 lautet:

Verfahren nach Anspruch 3, dadurch gekennzeichnet, daß aus der mittleren Steigung der ermittelten Phasenanteile ein konstanter Zeitkorrekturfaktor ermittelt wird, mit dem die Zeitversätze zwischen den Meßsignalen kompensiert werden.

Er unterscheidet sich von dem bis dato gültigen Anspruch 4, indem der Begriff "Zeitversätze" durch "Phasenanteile" ersetzt wurde.

Entscheidungsgründe

Rückerstattung der Beschwerdegebühr

1. Die Beschwerdeführerin erblickt einen wesentlichen Verfahrensmangel darin, dass "offensichtlich nicht die von der Amtsleitung zur Prüfung dieser Patentanmeldung eingesetzten Bediensteten des Europäischen Patentamts, welche ausweislich des Ladungsbescheids die Prüfungsabteilung bildeten, die Verhandlung am 18.04.2016 durchgeführt und die Entscheidung vom 18.07.2016 getroffen" hätten, "sondern mehrheitlich andere Bedienstete, welche hierzu von der Amtsleitung offensichtlich mehrheitlich gar nicht berufen waren." Die Entscheidung sei daher "unwirksam" und "wegen dieses groben Verfahrensfehlers" sei auch die Beschwerdegebühr zurückzuerstatten.

2. Als weiterer wesentlicher Verfahrensmangel wird geltend gemacht, dass erst in der mündlichen Verhandlung vor der Prüfungsabteilung weiterer Stand der Technik (Dokumente D4 und D5) in das Verfahren eingeführt worden seien, auf welchen die Entscheidung über die Zurückweisung sich maßgeblich stützte. Dem im Hinblick darauf gestellten Antrag auf Vertagung der Verhandlung sei nicht entsprochen und die Beschwerdeführerin daher in ihrem rechtlichen Gehör verletzt worden, da ihr Vertreter den Inhalt der Druckschriften D4 und D5 mit ihr "nicht besprechen konnte".

Schließlich verweist die Beschwerdeführerin in diesem Zusammenhang auf das Prinzip der Waffengleichheit, zumal von den Parteien erwartet werde, dass sie ihre Anträge innerhalb fester Fristen einreichen würden. Die Prüfungs- und Einspruchsabteilungen seien besonders streng bei der Auslegung solcher Bestimmungen, wenn es darum ginge, über die Zulassung neuer Anträge oder neu eingereichten Standes der Technik zu befinden. Im Gegensatz dazu würden sich die Prüfungsabteilungen selbst eine gewisse Freiheit nehmen, neue Dokumente erst während einer mündlichen Verhandlung einzuführen, wie auch der vorliegende Fall zeige.

3. Nach der ständigen Rechtsprechung der Beschwerdekammern stellt die Änderung der Zusammensetzung der Prüfungsabteilung vor der mündlichen Verhandlung allein keine Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren und auf rechtliches Gehör dar. Einer Änderung der Besetzung einer Prüfungsabteilung steht grundsätzlich nichts entgegen, wobei auch kein bestimmtes Verfahren einzuhalten ist (Rechtsprechung der Beschwerdekammern III.K.1. m.w.N., zuletzt T 1207/09).

4. Die Zuständigkeit der Prüfungsabteilungen für die Prüfung europäischer Patentanmeldungen ergibt sich aus Artikel 18(1) EPÜ. Ihre Zusammensetzung wird in Artikel 18(2) EPÜ geregelt. Die Beschwerdeführerin scheint von einem festen Entscheidungsorgan auszugehen, das von der Amtsleitung ein für alle Mal "berufen" wäre. Derartiges ergibt sich allerdings weder aus dem EPÜ noch aus allgemein anerkannten verfahrensrechtlichen Grundsätzen; insbesondere gilt das für das Verfahren vor den Beschwerdekammern verbriefte Recht der Parteien auf eine Entscheidung durch die gesetzliche Richterin/den gesetzlichen Richter (s. dazu Rechtsprechung der Beschwerdekammern III.J.1.5. m.w.N.) nicht auch für das erstinstanzliche Prüfungsverfahren und die damit befassten Entscheidungsorgane.

Dies hat nicht zuletzt auch praktische Gründe: So wäre es bei einer unveränderlichen Zusammensetzung der Prüfungsabteilung kaum möglich, sicherzustellen, dass die ursprüngliche Besetzung über die gesamte - oft längere - Dauer der Prüfung tatsächlich in der Lage wäre, ihre Rolle bis zur Endentscheidung zu erfüllen. Die Gründe dafür sind vielerlei (Krankheiten, Pensionierungen, Beförderungen...).

Entscheidend ist lediglich, dass die Prüfungsabteilung grundsätzlich in jener Zusammensetzung zu entscheiden hat, in der auch die mündliche Verhandlung abgehalten wurde. Die hier vorliegenden Umstände sind also insbesondere etwa von dem Fall zu unterscheiden, in dem ohne nachvollziehbare Gründe die Prüferinnen und Prüfer, die die abschließende schriftliche Entscheidung unterzeichnen, von jenen abweichen, die in der mündlichen Verhandlung über den Fall entschieden haben (vgl. Rechtsprechung der Beschwerdekammern III.K.1.1. m.w.N., insb. T 390/86, ABl. EPA 1989, 39 [für das insoweit gleichgelagerte Einspruchsverfahren]).

5. Besondere Umstände, die im vorliegenden Fall mit einer Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren einhergehen könnten, tut die Beschwerdeführerin im Übrigen gar nicht dar.

6. Zum weiteren Vorwurf hinsichtlich einer Verletzung des rechtlichen Gehörs der Beschwerdeführerin durch die Einführung der Dokumente D4 und D5 ist festzuhalten, dass die mündliche Verhandlung auf ihren Antrag für mehr als zwei Stunden unterbrochen und ihrem Vertreter damit ausreichend Gelegenheit gegeben wurde, sich mit dem neu eingeführten Stand der Technik auseinanderzusetzen. Nach der Unterbrechung der mündlichen Verhandlung bestätigte er auf Nachfrage zudem ausdrücklich, dass er ausreichend Zeit gehabt habe, sich mit dem Inhalt des neu eingeführten Standes der Technik vertraut zu machen. Er hatte an dieser Stelle allerdings zugleich auch darauf hingewiesen, nicht genügend Zeit gehabt zu haben, zu überprüfen, ob das Datum des Druckvermerks in den jeweiligen Dokumenten D4 und D5 auch dem Publikationsdatum entspreche, und ob diese daher öffentlich zugänglich gewesen seien.

7. Dieser Vorwurf der Unüberprüfbarkeit der Veröffentlichungsdaten wird von der Beschwerdeführerin im Rahmen ihrer Verfahrensrüge nicht mehr aufrechterhalten. Dass sie den Inhalt der D4 und D5 nicht mit ihrem Vertreter habe besprechen können, hat sie zudem in der mündlichen Verhandlung vor der Prüfungsabteilung gar nicht ins Treffen geführt und im Gegenteil eben ausdrücklich eingeräumt, genügend Zeit zur Auseinandersetzung mit diesen Dokumenten gehabt zu haben. Auch insoweit gehen ihre Ausführungen ins Leere.

8. Zum Vorwurf einer Verletzung der Waffengleichheit räumt die Kammer ein, dass die Einführung von (neuem) Stand der Technik zu einem späten Stadium der Prüfung, und insbesondere während der mündlichen Verhandlung, die Parteien vor gewisse Herausforderungen stellen kann. Dies gilt insbesondere bei komplexem Sachverhalt und bei größerem Umfang des neu eingeführten Materials.

9. Es liegt jedoch in der Natur der Debatte während der mündlichen Verhandlung, dass bisher nicht zentrale Aspekte erörtert werden oder auf einmal besondere Relevanz erlangen. Andernfalls wäre der Mehrwert einer mündlichen Verhandlung i.S.d. Artikels 116 EPÜ gegenüber einem bloß schriftlichen Verfahren schon grundsätzlich zu hinterfragen. Wenn die Prüfungsabteilung im Rahmen der Prüfung auf einen neuen Stand der Technik stößt oder - wie hier - zur Stützung ihrer Auffassung zum Nachweis allgemeinen Fachwissens in Anwendung des Artikel 114 EPÜ neuen Stand der Technik in das Verfahren einführt, begegnet dies an sich keinen Bedenken. Dies dient, im Gegenteil, auch dem Interesse der Öffentlichkeit, die von einer vollständigen Prüfung einer Anmeldung durch die Erteilungsbehörde ausgeht und auch ausgehen kann. Darüber hinaus soll nicht zuletzt auch der Partei Gelegenheit gegeben werden, sich zu dem neu vorgelegten Stand der Technik zu äußern.

10. Die Alternative einer Vertagung der mündlichen Verhandlung bei jeder Vorlage neuer Dokumente wäre in niemandes Interesse, da sie in aller Regel eine Verzögerung der Verfahren nach sich ziehen würde. Den für die Parteien entstehenden Herausforderungen wird grundsätzlich dadurch Rechnung getragen, dass die Prüfungsabteilung eine Unterbrechung der Verhandlung anbietet, wie dies auch im vorliegenden Fall geschehen ist. Das Angebot wurde wahrgenommen und der Vertreter der Beschwerdeführerin konnte sich mit den neu eingeführten Dokumenten (D4 und D5) vertraut machen.

11. Im vorliegenden Fall wurden die Dokumente zudem eben als Beleg für das seitens der Prüfungsabteilung angenommene und von der Beschwerdeführerin in Zweifel gezogene allgemeine Fachwissen herangezogen. Die Einführung solcher Belege entspricht sohin ihrem eigenen Anliegen; daraus kann sie sich nicht beschwert erachten.

12. Ein wesentlicher Verfahrensmangel i.S.d. Regel 103(1) a) EPÜ und von Artikel 11 VOBK 2020, der die Zurückverweisung der Angelegenheit an die Prüfungsabteilung und/oder eine Rückzahlung der Beschwerdegebühr rechtfertigen könnte, liegt daher nicht vor.

Hauptantrag - Berücksichtigung (Zulassung)

13. Der im Laufe der mündlichen Verhandlung vor der Beschwerdekammer neu eingereichte Hauptantrag unterscheidet sich von dem ursprünglichen Hauptantrag dadurch, dass der abhängige Anspruch 4 an die Beschreibung angepasst ist. Er wurde eingereicht, nachdem sich im Zuge der Diskussion gezeigt hatte, dass der Gegenstand des Anspruchs 1 zwar neu und erfinderisch ist, Anspruch 4 aber (doch) Bedenken im Hinblick auf Artikel 84 EPÜ begegnet, und die Kammer daher den Einwand der mangelnden Stützung gegen den Anspruch 4 wieder aufgreifen wolle.

14. Der neue Antrag stellt eine Änderung des Beschwerdevorbringens im Sinne des Artikels 13(1) VOBK 2020 dar, die damit dem Regime des Artikels 13(2) VOBK unterliegt. Sie ist vor dem Hintergrund zu sehen, dass der ursprünglich von der Prüfungsabteilung erhobene Einwand in genannter Richtung zunächst von der Kammer nicht weiterverfolgt worden war, nun aber neuerlich aufgegriffen wurde. Im Hinblick auf das Gebot des Fair Trial i.S.d. Artikel 6(1) EMRK muss die Beschwerdeführerin durchaus berechtigt sein, auf den wieder aufgegriffenen Einwand zu reagieren.

15. Der Wortlaut des Anspruchs 4 wurde der Beschreibung (Seite 6, Zeile 30) angepasst, um klar zum Ausdruck zu bringen, dass ein konstanter Zeitkorrekturfaktor aus der mittleren Steigung der ermittelten Phasenanteile ermittelt wird.

16. Der Widerspruch zwischen der Beschreibung und dem ursprünglichen Wortlaut des Anspruchs 4 ist somit ausgeräumt. Der beanspruchte Gegenstand ist nun klar und im Sinne des Artikels 84 EPÜ durch die Beschreibung gestützt. Er ist - wie im Folgenden zu zeigen ist - auch gewährbar.

17. Damit liegen außergewöhnliche Umstände i.S.d. Artikels 13(2) VOBK 2020 vor, die die Berücksichtigung des (neuen) Hauptantrags rechtfertigen (ebenso zur Wiedereinführung vor der Prüfungsabteilung erhobener Einwände durch die Kammer T 922/17; vgl. auch zu erstmals in der mündlichen Verhandlung im Beschwerdeverfahren erhobenen Einwänden T 1561/15 und T 1482/17).

Hauptantrag - Artikel 56 EPÜ

18. Die Entscheidung der Prüfungsabteilung beruht auf Dokument D1 als nächstliegendem Stand der Technik. Dies wird seitens der Beschwerdeführerin nicht bestritten. Die Kammer sieht ebenfalls keinen Grund, das in Frage zu stellen.

19. Dokument D1 gehört zum Gebiet der Erfindung. Es offenbart ein Verfahren zum Messen der Wellengrößen eines Mehrtor-Messobjekts mittels eines Mehrtor-Netzwerkanalysators (vgl. Absatz [0003]). Konkret werden dort Streuparameter mittels nichtsinusförmiger Messsignale ermittelt, um die Messungen mit Netzwerkanalysatoren möglichst unter den gleichen Bedingungen durchzuführen wie beim späteren Einsatz des Messobjekts (vgl. Absätze [0033], [0038]). In einem vorhergehenden Kalibrierverfahren werden Fehlerkorrekturwerte ermittelt, die bei der anschließenden Berechnung der Streuparameter aus den am Mehrtor-Messobjekt gemessenen Wellengrößen entsprechend berücksichtigt werden (vgl. Absätze [0015] - [0020]; [0035], [0037]).

20. Die Kammer schließt sich somit der überzeugenden Analyse des Dokuments D1 auf Seiten 3 (unten) und 4 (oben) der angefochtenen Entscheidung an.

21. Daraus hat die Prüfungsabteilung zutreffend die Schlussfolgerung gezogen, dass der Gegenstand des Anspruchs 1 des Hauptantrags sich von dem aus D1 bekannten Verfahren dadurch unterscheidet, dass zunächst die Zeitversätze zwischen den Messsignalen in den Messkanälen, die den an den Toren des Messobjekts gemessenen Wellengrößen entsprechen, berechnet und kompensiert werden, und dann aus diesen zeitkompensierten Messsignalen unkorrigierte Streuparameter des Messobjektes berechnet werden (vgl. Seite 2, 2. Absatz der Entscheidung).

22. Die Definition der zu lösenden Aufgabe durch die Prüfungsabteilung, ein Verfahren zur Berechnung und Kompensation der verbliebenen Zeitversätze zwischen nicht sinusförmigen Messsignalen bereitzustellen, ist jedoch nicht überzeugend. Die zu lösende Aufgabe besteht nach allgemeinen Grundsätzen in erster Linie darin, einen beabsichtigten Zweck zu erreichen. In einer Kette von Wirkungen handelt es sich um die tatsächlich beabsichtigte Wirkung. Sie unterscheidet sich von den anderen Wirkungen in der Kette, indem auf diese Wirkung eben nicht verzichtet werden soll, es also entscheidend auf diese Wirkung ankommt.

23. Dass es sich bei der Berechnung und Kompensation der Zeitversätze zwischen den Messsignalen nicht um die Lösung des Problems, sondern um die gestellte Aufgabe handelte, wurde von der Prüfungsabteilung mit Hinweis auf D4 begründet. D4 wurde als Nachweis für das allgemeine Fachwissen in Bezug auf den Zusammenhang von Sweep-Zeiten und Zeitversätzen bei Netzwerkanalysatoren herangezogen.

24. Auch dem kann die Kammer nicht beipflichten. Zwar hätte die Fachperson ohne weiteres erkannt, dass das Messsystem von D1 für die Messung von Messobjekten mit größeren Zeitversätzen ungeeignet ist. Dies gilt für Objekte, wie z.B. längere Kabel, mit Zeitversätzen, die Phasenverschiebungen von mehreren Zyklen der Trägerfrequenz entsprechen. Die bei solchen Messungen feststellbare Verschlechterung der Messergebnisse hätte die Fachperson auch ohne weiteres auf Laufzeitunterschiede im Messaufbau und im Messobjekt zurückgeführt.

25. Diese Feststellung reicht jedoch nicht für die Schlussfolgerung, dass die Aufgabe darin liegt, die Zeitversätze zu berechnen und zu kompensieren. Weshalb die Fachperson zu diesem Punkt ihrer Überlegungen sich für ein Berechnen der Zeitversätze entschieden hätte, ist nicht zu ersehen. In diesem Sinne entspricht die Definition der objektiven Aufgabe durch die Prüfungsabteilung dem Ergebnis einer Ex-post-Betrachtung der Sachlage.

26. Die vorgeschlagene Definition der Aufgabe auf Seite 2, 2. Absatz der veröffentlichten Anmeldung erscheint zwar überzeugender, aber zu allgemein. Demnach ist eine Verbesserung der Messergebnisse, d.h. der zu ermittelnden Streuparameter, beabsichtigt. Im Sinne dieses Desiderata wären die Erfinder wohl bereit, auf die eigentliche Berechnung und Kompensation der Zeitversätze zu verzichten.

27. Aufbauend auf die in der Anmeldeung definierte Aufgabe und im Hinblick auf die weitere Erkenntnis, dass bei der Messung von Messobjekten mit größeren Verzögerungen die Verschlechterung der Messergebnisse bei den gemessenen Wellengrößen auf Laufzeitunterschiede im Messaufbau und im Messobjekt zurückzuführen ist (vgl. Seite 2, 4. Absatz) folgt, dass die zu lösende objektive Aufgabe darin liegt, das System von D1 so anzupassen, dass es unter Berücksichtigung der Laufzeitunterschiede im Messaufbau und im Messobjekt auch bei solchen Messobjekten zuverlässige Messergebnisse liefert.

28. Somit unterscheidet sich die Problemstellung von der Definition der Aufgabe durch die Prüfungsabteilung dadurch, dass sie keine direkten Hinweise auf die Berechnung und Kompensation der Zeitversätze enthält. Die entscheidende Frage in diesem Zusammenhang ist nun, ob die Fachperson ausgehend von D1 die Lehre der D2 tatsächlich berücksichtigt hätte.

29. Auch wenn D2 die Bestimmung von Parametern eines n-Tores nebenbei erwähnt (vgl. D2, Spalte 1, Zeilen 23-25), beschäftigt sich D2 in erster Linie mit der Bestimmung von Kennlinien bei Objekten, wie z.B. Verstärkern, bei denen nur kleinere Phasenverschiebungen unter 2(see PDF) zu erwarten sind. Gemäß einem bevorzugten Ausführungsbeispiel wird ein Verstärker mit einem dem Einsatzzweck entsprechenden, wirklichkeitsnahen Eingangssignal, z.B. einem CDMA-Signal, angesteuert (vgl. D2, Spalte 1, Zeilen 8-13; Spalte 3, Zeilen 27-31).

30. Dokument D2 geht von der messtechnischen Problematik aus, dass bei einem Testverfahren eines Verstärkers, bei dem keine Synchrondemodulation im Testgerät vorgesehen wird, keine exakt definierte zeitliche Korrelation zwischen dem Eingangssignal und dem Ausgangssignal besteht. Eine genaue Bestimmung der Amplituden-Kennlinie und der Phasen-Kennlinie des Verstärkers ist dadurch unmöglich. Die beim Einsatz des Verstärkers berechnete Vorverzerrung der Eingangssignale, die die ermittelte Nichtlinearität der Amplitude und Phase kompensieren soll, wird dann ungenau (vgl. Spalte 1, Zeilen 26-55).

31. In D2 wird im Sinne der dort identifizierten Aufgabe ein Verfahren offenbart, das unter Verzicht auf aufwendige Synchronisations-Demodulatoren zur Erzeugung eines Referenzträgers die Messung einer Ausgangs-Signalreihe ohne zeitlichen Bezug zu einer Eingangs-Signalreihe ermöglicht (vgl. Spalte 1, Zeilen 56-62).

32. Die bei Messungen von Objekten mit größeren Zeitverzögerungen (d.h. Zeitverzögerungen, die zu Phasenverschiebungen von der Größenordnung eines oder mehrerer Zyklen der Trägerfrequenz führen) beobachtete Verschlechterung der Messergebnisse wird in D2 überhaupt nicht angesprochen.

33. An dieser Stelle kommt die von der Prüfungsabteilung abweichende Definition der Aufgabe durch die Kammer zum Tragen: D2 beschreibt in der Tat, wie Zeitverzögerungen berechnet und kompensiert werden. Ein eindeutiger Hinweis auf eine durch Laufzeitunterschiede bei Breitband-Signalen, z.B. vom Typ W-CDMA, verursachte Verschlechterung der Messergebnisse für Messobjekte mit längeren Zeitverzögerungen, wie sie z.B. bei der Messung von längeren Kabeln zu erwarten sind, ist der D2 jedoch nicht zu entnehmen.

34. Die Fachperson hätte dementsprechend bei Verwendung eines kalibrierten Netzwerkanalysators wie in der D1 keinen Grund, die Lehre von D2 in Betracht zu ziehen, um die gestellte objektive Aufgabe zu lösen. Im Hinblick auf die Lehre der D4, die im Gegensatz zu D2 das durch Zeitverzögerungen verursachte Problem direkt anspricht, wäre die Fachperson auf fachübliche Maßnahmen umgestiegen. Bei der Verwendung von Sweep-Signalen hätte sie sich für ein langsames Ansteigen der Sweep-Frequenz oder für die Verwendung von Verzögerungskabeln, die die zu erwartenden Zeitverzögerungen aufweisen (vgl. D4, Seite 4), entschieden. Wenn auch praktisch umständlich, wäre auch letztere Alternative für Signale vom Typ CDMA geeignet.

35. Der Gegenstand des Anspruchs 1 gemäß Hauptantrag ist demnach erfinderisch im Sinne des Artikels 56 EPÜ.

Entscheidungsformel

Aus diesen Gründen wird entschieden:

1. Der Beschwerde wird Folge gegeben.

2. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben und die Angelegenheit mit der Anordnung an die Prüfungsabteilung zurückverwiesen, ein Patent mit folgender Fassung zu erteilen:

Beschreibung:

Seiten: 1-7 in der am 18. März 2016 eingereichten Fassung

Ansprüche:

Nr.: 1-5 wie eingereicht in der mündlichen Verhandlung vom 15. Februar 2021

Zeichnungen:

Blatt: 1/1 wie ursprünglich eingereicht.

3. Der Antrag auf Rückzahlung der Beschwerdegebühr wird zurückgewiesen.

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