T 0318/14 (Doppelpatentierung) of 7.2.2019

European Case Law Identifier: ECLI:EP:BA:2019:T031814.20190207
Datum der Entscheidung: 07 Februar 2019
Aktenzeichen: T 0318/14
Anmeldenummer: 10718590.2
IPC-Klasse: A61K 35/74
A23L 1/30
A61P 37/08
A61P 1/12
Verfahrenssprache: EN
Verteilung: A
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Fassungen: OJ
Bezeichnung der Anmeldung: -
Name des Anmelders: Société des Produits Nestlé S.A.
Name des Einsprechenden: -
Kammer: 3.3.01
Leitsatz: -
Relevante Rechtsnormen:
European Patent Convention Art 54(2)
European Patent Convention Art 54(3)
European Patent Convention Art 60(1)
European Patent Convention Art 63(1)
European Patent Convention Art 64(1)
European Patent Convention Art 67(1)
European Patent Convention Art 67(2)
European Patent Convention Art 76(1)
European Patent Convention Art 89
European Patent Convention Art 97(2)
European Patent Convention Art 125
European Patent Convention Art 139(3)
Vienna Convention on the Law of Treaties (1969) Art 31(2)(a)
Vienna Convention on the Law of Treaties (1969) Art 31(2)(b)
Vienna Convention on the Law of Treaties (1969) Art 31(3)(a)
Vienna Convention on the Law of Treaties (1969) Art 31(3)(b)
Vienna Convention on the Law of Treaties (1969) Art 32
Schlagwörter: Vorlage an die Große Beschwerdekammer - (bejaht)
Orientierungssatz:

Der Großen Beschwerdekammer werden folgende Rechtsfragen vorgelegt:

1. Kann eine europäische Patentanmeldung nach Artikel 97 (2) EPÜ zurückgewiesen werden, wenn sie denselben Gegenstand beansprucht wie ein demselben Anmelder erteiltes europäisches Patent, das nicht zum Stand der Technik nach Artikel 54 (2) und (3) EPÜ gehört?

2.1 Wenn die erste Frage bejaht wird, welches sind dann die Bedingungen für eine solche Zurückweisung, und gelten unterschiedliche Bedingungen je nachdem, ob die zu prüfende europäische Patentanmeldung

a) am Anmeldetag oder

b) als europäische Teilanmeldung (Artikel 76 (1) EPÜ) zu oder

c) unter Inanspruchnahme der Priorität (Artikel 88 EPÜ) einer europäischen Patentanmeldung eingereicht wurde, auf deren Grundlage demselben Anmelder ein europäisches Patent erteilt wurde?

2.2 Hat insbesondere im letztgenannten Fall ein Anmelder ein legitimes Interesse an der Erteilung eines Patents auf die (spätere) europäische Patentanmeldung, weil nach Artikel 63 (1) EPÜ der Anmeldetag und nicht der Prioritätstag maßgeblich für die Berechnung der Laufzeit des europäischen Patents ist?

Angeführte Entscheidungen:
G 0001/91
G 0001/97
G 0004/98
G 0001/05
G 0001/06
G 0002/10
G 0001/11
G 0002/12
G 0002/13
G 0001/15
J 0005/91
J 0032/95
T 0118/91
T 0080/98
T 0587/98
T 0998/99
T 0015/01
T 0475/02
T 0307/03
T 0411/03
T 0425/03
T 0467/03
T 0468/03
T 0936/04
T 0005/05
T 0579/05
T 0877/06
T 1562/06
T 1708/06
T 1391/07
T 1423/07
T 0051/08
T 0616/08
T 2402/10
T 2461/10
T 2563/11
T 0879/12
T 1780/12
T 0696/16
T 1252/16
Anführungen in anderen Entscheidungen:
G 0004/19
T 1252/16

Sachverhalt und Anträge

I. Die Beschwerde richtet sich gegen die Entscheidung der Prüfungsabteilung, die europäische Patentanmeldung Nr. 10718590.2, der eine als WO 2010/130661 veröffentlichte internationale Anmeldung zugrunde lag, nach Artikel 97 (2) EPÜ "in Verbindung mit Artikel 125 EPÜ" zurückzuweisen.

II. Die Prüfungsabteilung befand, dass Anspruch 1 des einzigen Antrags auf einen Gegenstand gerichtet sei, der "zu 100 % identisch" mit dem Gegenstand des europäischen Patents Nr. 2 251 021 sei, das auf die europäische Patentanmeldung Nr. 09159932.4, der Prioritätsanmeldung zu der vorliegenden Anmeldung, erteilt wurde. Dies verstoße gegen den in den Entscheidungen G 1/05 und G 1/06 herangezogenen Grundsatz des Doppelpatentierungsverbots.

III. Die Anmelderin (nachstehend als Beschwerdeführerin bezeichnet) legte Beschwerde gegen diese Entscheidung ein und beantragte, sie aufzuheben und auf der Grundlage der Ansprüche in dem mit der Beschwerdebegründung eingereichten Hauptantrag (die mit den von der Prüfungsabteilung zurückgewiesenen Ansprüchen identisch waren) ein Patent zu erteilen. Sie beantragte auch die Rückzahlung der Beschwerdegebühr gemäß Regel 103 EPÜ und hilfsweise die Befassung der Großen Beschwerdekammer.

IV. Am 20. Juni 2018 lud die Kammer die Beschwerdeführerin zu einer mündlichen Verhandlung. In einer Mitteilung vom 14. Dezember 2018 gab sie eine vorläufige Stellungnahme ab.

V. Mit Schreiben vom 1. Februar 2019 nahm die Beschwerdeführerin zur Mitteilung der Kammer Stellung und reichte folgende Dokumente ein:

N1 Sitzungsbericht des Hauptausschusses I der Münchner Diplomatischen Konferenz über die Einführung eines europäischen Patenterteilungsverfahrens, Dokument M/PR/I, Nrn. 199 bis 211, 665 bis 669 und 857 bis 867;

Bericht über die Beratungsergebnisse des Hauptausschusses I, Anlage I zu Dokument M/PR/I, Seite 199;

Sitzungsbericht der Vollversammlung - Schlusstagung, Dokument M/PR/K/2, Seite 216, Nr. 14.

N2 Stellungnahme der norwegischen Delegation vom 8. Mai 1973 zu den vorbereitenden Dokumenten für die Münchner Diplomatische Konferenz, Dokument M/28, Nrn. 4, 5 und 7.

N3 Bericht über die 10. Sitzung der Arbeitsgruppe I vom 22. bis 26. November 1971 in Luxemburg, Dokument BR/144 d/71, Nrn. 1 bis 5 und 117 bis 120.

N4 Bericht über die 6. Tagung der Regierungskonferenz über die Einführung eines europäischen Patenterteilungsverfahrens vom 19. bis 30. Juni 1972 in Luxemburg, Dokument BR/219 d/72, Nrn. 47 bis 50.

N5 "Nationales Recht zum EPÜ", 19. Auflage, Oktober 2018, Tabelle X.

N6 Verordnung (EU) Nr. 1257/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17. Dezember 2012 über die Umsetzung der verstärkten Zusammenarbeit im Bereich der Schaffung eines einheitlichen Patentschutzes, ABl. 2012, L 361/1.

N7 Ordonnance n° 2018-341 du 9 mai 2018 relative au brevet européen à effet unitaire et à la juridiction unifiée du brevet.

VI. Eine mündliche Verhandlung fand am 7. Februar 2019 statt.

VII. Das Vorbringen der Beschwerdeführerin lässt sich wie folgt zusammenfassen:

Hauptantrag

- Das in den Richtlinien für die Prüfung im Europäischen Patentamt, Teil G-IV, 5.4 behandelte Verbot der Doppelpatentierung, bei dem einem obiter dictum der Großen Beschwerdekammer aus den Entscheidungen G 1/05 und G 1/06 gefolgt werde, gelte nicht im Fall einer inneren Priorität, d. h., wenn eine europäische Anmeldung die Priorität einer früheren europäischen Anmeldung beanspruche, auf die ein europäisches Patent erteilt worden sei, die zweite Anmeldung auf denselben Gegenstand gerichtet sei wie das erteilte Patent und beide denselben Inhaber hätten. - G 1/05 und G 1/06 sowie die "Travaux préparatoires" zum EPÜ 1973 beträfen nicht die Doppelpatentierung aufgrund einer inneren Priorität. Die Entscheidungen G 1/05 und G 1/06 seien im Zusammenhang mit Teilanmeldungen ergangen. Zur Stützung dieses Vorbringens verwies die Beschwerdeführerin auf die Bezugnahme in den "Travaux préparatoires" auf europäische Patentanmeldungen desselben Anmelders mit demselben Anmeldetag.

- Die Kammer in der Entscheidung T 1423/07 habe zu Recht anerkannt, dass die längere Schutzdauer, die bei einem späteren Anmeldetag möglicherweise erzielbar sei, ein legitimes Interesse an der Erteilung der späteren Anmeldung begründe. Eine Zurückweisung basierend auf dem Grundsatz des Doppelpatentierungsverbots sei deshalb auch dann nicht gerechtfertigt, wenn das obiter dictum der Großen Beschwerdekammer in G 1/05 und G 1/06 auf die Doppelpatentierung aufgrund einer inneren Priorität angewandt werde.

Vorlage an die Große Beschwerdekammer

- Artikel 125 EPÜ könne nicht als Grundlage für die Zurückweisung einer europäischen Patentanmeldung wegen Doppelpatentierung aufgrund einer inneren Priorität herangezogen werden. Die Doppelpatentierung sei nicht nur eine Angelegenheit des Verfahrensrechts, sondern habe auch eine materiellrechtliche Komponente. Laut der Entscheidung G 1/97 biete Artikel 125 EPÜ nur ein Instrument zur Ergänzung der bestehenden Verfahren, falls eine Vorschrift im EPÜ fehle. Zudem liege keine Regelungslücke vor, da ein Verbot der Doppelpatentierung absichtlich unterblieben sei.

- Nummer 665 des Sitzungsberichts des Hauptausschusses I der Münchner Diplomatischen Konferenz über die Einführung eines europäischen Patenterteilungsverfahrens, Dokument M/PR/I (Dokument N1 im vorliegenden Verfahren), könne nicht als zwischen allen Vertragsparteien anlässlich des Vertragsabschlusses getroffene Übereinkunft im Sinne von Artikel 31 (2) a) des Wiener Übereinkommens vom 23. Mai 1969 über das Recht der Verträge betrachtet werden. Eine mehrheitliche Feststellung sei nicht einer einstimmigen Genehmigung gleichzusetzen. Zudem sei es in dieser Rechtsfrage zu keiner späteren Übereinkunft gekommen.

- Die in der Entscheidung T 2461/10 angeführten Dokumente BR/144 d/71 und BR/219 d/72 (Dokumente N3 und N4 im vorliegenden Verfahren) bezögen sich auf Sitzungen, die der Münchner Diplomatischen Konferenz vorangingen. Der Sitzungsbericht der Münchner Diplomatischen Konferenz (Dokument M/PR/I, Dokument N1 im vorliegenden Verfahren) sollte deshalb stärkeres Gewicht erhalten, da er die abschließende Position der EPÜ-Vertragsparteien widerspiegle.

- Artikel 139 (3) EPÜ sei der einzige Artikel im EPÜ, der die Doppelpatentierung behandle, und er räume den Vertragsstaaten die Zuständigkeit dafür ein, diese Frage gesetzlich zu regeln. In Anbetracht von Artikel 2 (2) EPÜ sollte für zwei identische europäische Patente, die im Fall einer inneren Priorität erteilt wurden, nach Artikel 139 (3) EPÜ nationales Recht gelten. Diese Vorschrift lasse keinen Spielraum für ein Verbot der Doppelpatentierung nach dem EPÜ.

- Ein Verbot der Doppelpatentierung aufgrund von Teilanmeldungen nach Artikel 76 EPÜ oder bei mehreren identischen am selben Tag vom selben Anmelder eingereichten Anmeldungen könne gemäß dem Grundsatz "ne bis in idem" hingenommen werden. Im Fall einer inneren Priorität sei ein solches Verbot aber nicht gerechtfertigt; hier bestünden keine identischen materiellen Rechte, was Voraussetzung für die Anwendung des Grundsatzes "ne bis in idem" sei.

VIII. Die Beschwerdeführerin beantragte die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und die Erteilung eines Patents auf der Grundlage der Ansprüche in dem mit der Beschwerdebegründung eingereichten Hauptantrag sowie die Rückzahlung der Beschwerdegebühr nach Regel 103 EPÜ.

Hilfsweise beantragte die Beschwerdeführerin die Befassung der Großen Beschwerdekammer mit folgenden Fragen:

"1. Kann eine europäische Patentanmeldung nach Artikel 97 (2) EPÜ zurückgewiesen werden, wenn sie denselben Gegenstand beansprucht wie ein demselben Anmelder erteiltes europäisches Patent, das nicht zum Stand der Technik nach Artikel 54 (2) und (3) EPÜ gehört?

2.1 Wenn die erste Frage bejaht wird, welches sind dann die Bedingungen für eine solche Zurückweisung, und gelten unterschiedliche Bedingungen, wenn die zu prüfende europäische Patentanmeldung

a) am Anmeldetag oder

b) als europäische Teilanmeldung (Artikel 76 (1) EPÜ) zu oder

c) unter Inanspruchnahme der Priorität (Artikel 88 EPÜ) einer europäischen Patentanmeldung eingereicht wurde, auf deren Grundlage demselben Anmelder ein europäisches Patent erteilt wurde?

2.2 Hat insbesondere im letztgenannten Fall ein Anmelder ein legitimes Interesse an der Erteilung eines Patents auf die (spätere) europäische Patentanmeldung, weil nach Artikel 63 (1) EPÜ der Anmeldetag und nicht der Prioritätstag maßgeblich für die Berechnung der Laufzeit des europäischen Patents ist?"

Entscheidungsgründe

I. Angefochtene Entscheidung

1. Die vorliegende europäische Patentanmeldung wurde nach Artikel 97 (2) EPÜ in Verbindung mit Artikel 125 EPÜ mit der Begründung zurückgewiesen, dass gemäß dem von der Großen Beschwerdekammer in einem obiter dictum in den Entscheidungen G 1/05 und G 1/06 (ABl. EPA 2008, 271 bzw. 307) anerkannten Grundsatz des Doppelpatentierungsverbots ein und demselben Anmelder für eine Erfindung nicht zwei Patente erteilt werden könnten.

2. Die Prüfungsabteilung stellte fest, dass das EPÜ keine ausdrückliche Vorschrift über eine "Doppelpatentierung" enthalte. Sie stützte sich jedoch darauf, dass die Große Beschwerdekammer den Grundsatz eines Doppelpatentierungsverbots anerkannt habe, welches darauf basiere, dass ein Anmelder kein legitimes Interesse an einem Verfahren habe, das zur Erteilung eines zweiten Patents für denselben Gegenstand führt, für den er bereits ein Patent besitzt (G 1/05 und G 1/06, Nr. 13.4). Obwohl diese Feststellung im Zusammenhang mit Teilanmeldungen getroffen worden sei, gelte der Grundsatz auch im Fall einer Doppelpatentierung aufgrund einer inneren Priorität, d. h., wenn eine europäische Anmeldung die Priorität einer früheren europäischen Anmeldung desselben Anmelders beanspruche und beide Anmeldungen zur Erteilung führten, sodass ein und derselbe Anmelder ein zweites Patent auf denselben Gegenstand erhalte. Im Übrigen sei die Entscheidung T 1423/07, der zufolge in einem solchen Fall ein legitimes Interesse bestehe, gar nicht anwendbar, weil dort die Anmelder der früheren und der späteren europäischen Anmeldung nicht dieselben gewesen seien.

II. Hauptantrag

3. Der Hauptantrag der Beschwerdeführerin richtet sich auf die Erteilung eines Patents auf der Grundlage der mit der Beschwerdebegründung eingereichten Ansprüche 1 bis 9. Diese Ansprüche sind identisch mit den von der Prüfungsabteilung zurückgewiesenen Ansprüchen, und sie sind auch identisch mit den Ansprüchen des europäischen Patents Nr. 2 251 021, das auf der Grundlage der Prioritätsanmeldung der Beschwerdeführerin erteilt wurde.

4. Die angefochtene Entscheidung kann nur aufgehoben und dem Hauptantrag kann nur stattgegeben werden, wenn

- entweder das in G 1/05 und G 1/06 anerkannte Doppelpatentierungsverbot nicht auf den Fall der Doppelpatentierung aufgrund einer inneren Priorität anwendbar ist oder

- ein zweites Patent dennoch im Einklang mit den tragenden Gründen der Entscheidung T 1423/07 erteilt werden kann.

a) G 1/05 und G 1/06 nicht auf den Fall der inneren Priorität anwendbar?

5. Im Hinblick auf die erste der vorgenannten Alternativen argumentierte die Beschwerdeführerin, dass die Feststellung der Großen Beschwerdekammer über den Grundsatz eines Doppelpatentierungsverbots in Nummer 13.4 von G 1/05 und G 1/06 im Zusammenhang mit Teilanmeldungen gemacht worden sei. Die Doppelpatentierung aufgrund einer inneren Priorität sei von dieser Feststellung nicht umfasst. Zudem zeigten die "Travaux préparatoires" zum EPÜ 1973, dass ein Verbot der Doppelpatentierung nur in Bezug auf europäische Patentanmeldungen desselben Anmelders mit demselben Anmeldetag erörtert worden sei (Sitzungsbericht des Hauptausschusses I der Münchner Diplomatischen Konferenz über die Einführung eines europäischen Patenterteilungsverfahrens, Dokument M/PR/I, Nrn. 665 bis 668 und 857 bis 865).

6. Die Kammer bestreitet nicht, dass die Große Beschwerdekammer ihre Feststellung über den Grundsatz eines Doppelpatentierungsverbots unter Nummer 13.4 von G 1/05 und G 1/06 im Zusammenhang mit der Beantwortung von Fragen zur Anwendung des Artikels 76 EPÜ gemacht hatte. Dessen ungeachtet wird in Satz 1 von Nummer 13.4 von G 1/05 und G 1/06 der Grundsatz wie folgt allgemein formuliert:

"Die Kammer erkennt an, dass der Grundsatz des Doppelschutzverbots darauf basiert, dass der Anmelder kein legitimes Interesse an einem Verfahren hat, das zur Erteilung eines zweiten Patents für denselben Gegenstand führt, für den er bereits ein Patent besitzt."

7. In der Feststellung der Großen Beschwerdekammer wird nicht explizit gesagt, dass dieser Grundsatz auf zwei oder mehr Anmeldungen desselben Anmelders beschränkt ist, die nicht nur auf denselben Gegenstand gerichtet sind, sondern auch denselben Anmeldetag nach Artikel 76 (1) EPÜ haben. Da auch obiter dicta der Großen Beschwerdekammer das Ergebnis reiflicher Überlegung sind, war das Fehlen einer Bezugnahme auf Teilanmeldungen in deren Feststellung über ein Doppelpatentierungsverbot nach Auffassung der Kammer beabsichtigt und kein Versehen.

Begründet hat die Große Beschwerdekammer das Verbot zudem mit dem Erfordernis, dass ein Beteiligter am Verfahren vor dem EPA ein legitimes Interesse an diesem Verfahren haben muss. Dieses Erfordernis ist wiederum ein Grundsatz des Verfahrensrechts. Ein "legitimes Interesse" setzt voraus, dass das mit den eingereichten Anträgen angestrebte Ergebnis vernünftig und rechtlich haltbar ist. Als Rechtsgrundsatz ist dies allgemeiner als das Doppelpatentierungsverbot; Letzteres könnte sogar als Spezialfall des Ersteren betrachtet werden.

Das grundsätzliche Erfordernis eines legitimen Interesses am Verfahren könnte auch für den Fall der Doppelpatentierung aufgrund einer inneren Priorität von Belang sein. Das Interesse eines Anmelders an der "Verlängerung" der Schutzdauer für eine Erfindung, die durch ein auf die Prioritätsanmeldung erteiltes Patent geschützt ist, wurde als Rechtfertigung für eine Ausnahme vom Doppelpatentierungsverbot angesehen (s. Nrn. 12 bis 14 und 65 bis 67). Dennoch hat die innere Priorität nicht die Funktion, die Doppelpatentierung zu ermöglichen. Vielmehr hat sie weitgehend denselben Zweck wie die "äußere Priorität", nämlich für begrenzte Zeit die Interessen eines Patentanmelders, der internationalen Schutz für seine Erfindung erlangen will, zu wahren (s. G 1/15, ABl. EPA 2017, A82, Nrn. 4.3.2 und 4.3.3; T 15/01, ABl. EPA 2006, 153, Nr. 32). Deshalb fällt die Doppelpatentierung aufgrund einer inneren Priorität – auch wenn diese zu Recht beansprucht wird (T 15/01, Nr. 26) – nicht außerhalb des Anwendungsbereichs des von der Großen Beschwerdekammer in Nummer 13.4 Satz 1 von G 1/05 und G 1/06 formulierten Verbots.

8. Nummer 13.4 von G 1/05 und G 1/06 lautet weiter:

"Die Große Beschwerdekammer hat daher nichts gegen die ständige Praxis des EPA einzuwenden, Änderungen in Teilanmeldungen zu beanstanden und zurückzuweisen, wenn in der geänderten Teilanmeldung derselbe Gegenstand beansprucht wird wie in einer anhängigen Stammanmeldung oder einem erteilten Stammpatent. Dieser Grundsatz kann jedoch nicht geltend gemacht werden, um die Einreichung identischer Anmeldungen zu verhindern, denn das würde gegen den vorrangigen Grundsatz verstoßen, wonach erst anhand der endgültigen Fassung einer Anmeldung zu beurteilen ist, ob sie die Erfordernisse des EPÜ erfüllt (s. Nr. 3.2)."

9. Die Behauptung der Beschwerdeführerin, dass das Verbot der Doppelpatentierung nur für Teilanmeldungen gelte, wird auch von dieser Textstelle nicht gestützt. Die Überlegungen der Großen Beschwerdekammer erfolgten im Zusammenhang mit der Frage, ob und auf welcher Grundlage strengere Erfordernisse für die Einreichung von Teilanmeldungen als die in Artikel 76 EPÜ festgelegten bestimmt werden könnten (s. G 1/05 und G 1/06, VIII d) und Nrn. 13.1 bis 13.3). Die Große Beschwerdekammer erkannte an, dass ein Verbot der Doppelpatentierung als allgemeiner Grundsatz existiert, und billigte in Beantwortung der ihr vorgelegten Frage die Praxis des Amts, für zwei oder mehr Anmeldungen desselben Anmelders, die auf denselben Gegenstand gerichtet sind, kein Patent zu erteilen. Weiter stellte sie im Einklang mit ihren vorangegangenen Feststellungen klar, dass anhand der vom Anmelder vorgelegten endgültigen Fassung einer Anmeldung zu beurteilen ist, ob sie die Erfordernisse des EPÜ erfüllt. Diese Schlussfolgerungen hinsichtlich der Rechtsfolgen des Verbots der Doppelpatentierung bei Teilanmeldungen lassen nicht den Umkehrschluss zu, dass die Große Beschwerdekammer die Anwendung dieses Grundsatzes auf Teilanmeldungen beschränken wollte.

10. Zur Stützung ihres Vorbringens, das Verbot der Doppelpatentierung sei auf Teilanmeldungen beschränkt, führte die Beschwerdeführerin die "Travaux préparatoires" zum EPÜ 1973 an. Die Kammer stellt fest, dass die von der Beschwerdeführerin angeführten Passagen des Sitzungsberichts des Hauptausschusses I der Münchner Diplomatischen Konferenz (M/PR/1, Nrn. 665 bis 668 und Nrn. 857 bis 865) die Artikel 125 und 139 EPÜ behandeln und in G 1/05 und G 1/06 gar nicht angeführt wurden. Auf diese Passagen stützten sich zumindest teilweise spätere Entscheidungen Technischer Beschwerdekammern, die versuchten, eine Rechtsgrundlage für ein Verbot der Doppelpatentierung im EPÜ zu ermitteln. Als Grundlage für das Argument, dass die Feststellung der Großen Beschwerdekammer über ein Verbot der Doppelpatentierung in G 1/05 und G 1/06 einschränkend sei, eignen sie sich hingegen nicht.

Konkret machte die Beschwerdeführerin geltend, dass in den vorgenannten Passagen auf Anmeldungen desselben Anmelders und mit "demselben Anmeldedatum" Bezug genommen wird, und untermauerte damit ihr Vorbringen, dass sich die Feststellung der Großen Beschwerdekammer in G 1/05 und G 1/06 auf eine Doppelpatentierung aufgrund der Einreichung von Teilanmeldungen beschränke. Die Bezugnahme auf "dasselbe Anmeldedatum" in den "Travaux préparatoires" stand jedoch im Zusammenhang mit Artikel 125 EPÜ und nicht Artikel 76 EPÜ. Dementsprechend bezieht sie sich nicht nur auf Teilanmeldungen, sondern auch auf zwei oder mehr europäische Patentanmeldungen desselben Anmelders, die denselben Gegenstand beanspruchen und die unabhängig voneinander am selben Tag eingereicht wurden. Deshalb lässt sich die Beschränkung "mit demselben Anmeldedatum" nicht in die Feststellung der Großen Beschwerdekammer in G 1/05 und G 1/06 hineinlesen.

11. Aus den vorgenannten Gründen kann die Kammer nicht gelten lassen, dass die allgemeine Feststellung der Großen Beschwerdekammer über ein Doppelpatentierungsverbot (Nr. 13.4 Satz 1 von G 1/05 und G 1/06) als implizit auf Teilanmeldungen oder Anmeldungen mit "demselben Anmeldedatum" beschränkt zu lesen sei.

b) Legitimes Interesse an der Verlängerung der erzielbaren Schutzdauer?

12. Die zweite alternative Bedingung, unter der dem Hauptantrag stattgegeben werden könnte (s. Nr. 4), würde voraussetzen, dass dem Anmelder ein legitimes Interesse daran zugebilligt wird, im Fall einer inneren Priorität zwei Patente erteilt zu bekommen. In diesem Zusammenhang verwies die Beschwerdeführerin darauf, dass gemäß Artikel 63 (1) EPÜ die Laufzeit eines Patents, das auf der Grundlage einer früheren Anmeldung erteilt wurde, eine andere ist als die Laufzeit eines Patents, das auf der Grundlage einer späteren Anmeldung erteilt wurde, die die Priorität der früheren Anmeldung beansprucht. Nach Artikel 63 (1) EPÜ sei nämlich der Anmeldetag und nicht der Prioritätstag maßgeblich für die Berechnung der Patentlaufzeit. Von der Kammer in T 1423/07 sei anerkannt worden, dass die aufgrund der späteren Einreichung möglicherweise erzielbare längere Schutzdauer ein legitimes Interesse an der Erteilung der späteren Anmeldung begründe, und dies schließe eine Zurückweisung wegen Doppelpatentierung aus.

13. Die Kammer stellt jedoch fest, dass die spätere Entscheidung T 2461/10 Zweifel im Hinblick auf die rechtlichen Folgen aufwarf, die eine Gestattung der Doppelpatentierung im Fall einer inneren Priorität mit sich brächte. Dort wies die Kammer darauf hin, dass die Doppelpatentierung zu einer Schutzdauer von bis zu 21 Jahren für den gleichen Gegenstand führen würde, was kaum mit dem Wortlaut und der Absicht von Artikel 63 (1) EPÜ in Einklang gebracht werden könne (T 2461/10, Nr. 14).

Ob ein Anmelder ein legitimes Interesse an einer Doppelpatentierung aufgrund einer inneren Priorität hat, ließ T 2461/10 tatsächlich unbeantwortet. Jedoch wird Rechtsprechung nicht vom Ergebnis, sondern von der Begründung geprägt (G 3/08, ABl. EPA 2011, 10, Nr. 7.3.7). In Anbetracht der umfassenden Begründung unter Nummer 14 der Entscheidung darf davon ausgegangen werden, dass die Kammer nicht die in T 1423/07 vertretene Auffassung teilte, die unter diesen Umständen ein legitimes Interesse bejahte.

14. Die jetzige Kammer hält die unter Nummer 14 von T 2461/10 geäußerten Vorbehalte der Kammer für durchaus stichhaltig. Unabhängig davon, ob das Verbot als allgemeiner Grundsatz existiert, könnte Artikel 63 (1) EPÜ als Hindernis für die Doppelpatentierung aufgrund einer inneren Priorität betrachtet werden. Darüber hinaus liegen, wie von der Kammer in T 2461/10 festgestellt, vor dem Einsetzen des Verbots der Doppelpatentierung zwei eigenständige Anmeldungen vor, zwischen denen der Anmelder im Hinblick auf die Patenterteilung wählen kann. Eine Doppelpatentierung ist also nicht die unvermeidliche Folge eines Anspruchs auf eine innere Priorität.

In Anbetracht der divergierenden Rechtsprechung ist die Kammer derzeit außerstande, die Entscheidung T 1423/07 zu bestätigen und anzuerkennen, dass die Beschwerdeführerin im vorliegenden Fall ein legitimes Interesse daran hat, durch die Erteilung eines zweiten Patents für denselben Gegenstand wie im europäischen Patent Nr. 2 251 021, das auf der Grundlage der Prioritätsanmeldung der Beschwerdeführerin erteilt wurde, eine längere Patentlaufzeit zu erlangen.

15. Deshalb kann über den Hauptantrag nicht entschieden werden, bis diese Rechtsfrage durch Befassung der Großen Beschwerdekammer geklärt ist. Somit kann die Kammer auch nicht über den Antrag auf Rückzahlung der Beschwerdegebühr entscheiden.

III. Befassung der Großen Beschwerdekammer

a) Zulässigkeit

16. Wie nachstehend unter den Nummern 32 bis 77 genauer erläutert, ist nach Auffassung der Kammer eine Vorlage der in der Entscheidungsformel dieser Entscheidung enthaltenen Fragen gerechtfertigt, um die einheitliche Rechtsanwendung zu sichern und eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung zu beantworten. Die Vorlage steht damit im Einklang mit Artikel 112 (1) a) EPÜ.

Was die einheitliche Rechtsanwendung betrifft, bestehen Unstimmigkeiten in der einschlägigen Rechtsprechung nicht nur über den hier strittigen Punkt, nämlich die Doppelpatentierung aufgrund einer inneren Priorität (zu den Definitionen und Abgrenzungen der Begriffe s. Nrn. 17 bis 23), sondern auch über die Rechtsgrundlage und den Umfang eines Doppelpatentierungsverbots.

Zum einen hat die Beschwerdeführerin angezweifelt, ob der Grundsatz eines Doppelpatentierungsverbots als solcher im EPÜ existiert. Zum anderen besteht die ständige Praxis des Amts nach Artikel 97 (2) EPÜ in Verbindung mit Artikel 125 EPÜ darin, gestützt auf G 1/05 und G 1/06 ein und demselben Anmelder für denselben Gegenstand ein zweites Patent zu verweigern (Richtlinien für die Prüfung im Europäischen Patentamt, Teil G-IV, 5.4). Die Kammer räumt zwar ein, dass dieser Grundsatz nur in wenigen Fällen eine maßgebende Rolle spielt, doch sind die jetzt angestrebten Klarstellungen über ein prinzipielles Verbot der Doppelpatentierung von grundsätzlicher Bedeutung.

b) Doppelpatentierung

17. Im weitesten Sinne wird der Begriff "Doppelpatentierung" für die gleichzeitige Erteilung von zwei oder mehr Patenten für dieselbe Erfindung mit Wirkung auf demselben Hoheitsgebiet verwendet.

18. Nach dem EPÜ wird die Erteilung von zwei europäischen Patenten für dieselbe Erfindung, die sich in ihrem territorialen Schutzumfang überschneiden, in den meisten Fällen verhindert durch die Definition des Stands der Technik nach Artikel 54 (2) EPÜ und insbesondere die Definition des erweiterten Stands der Technik nach Artikel 54 (3) EPÜ. Es gibt jedoch zwei Fälle, die von diesen Vorschriften nicht erfasst werden. So kann es zu Doppelpatentierung erstens in Fällen kommen, die eine europäische Patentanmeldung und eine oder mehrere nationale Patentanmeldungen in einem Vertragsstaat betreffen, und zweitens in Fällen, die zwei oder mehr europäische Patentanmeldungen betreffen, wenn die jeweiligen Anmeldungen auf denselben Gegenstand gerichtet sind, sich in ihrem territorialen Schutzumfang überschneiden und dasselbe wirksame Datum, d. h. den Anmeldetag (vgl. Art. 54 (2) EPÜ) oder bei Beanspruchung einer Priorität den Prioritätstag (vgl. Art. 89 EPÜ), haben. Solche Anmeldungen gehören nicht zum Stand der Technik gemäß Artikel 54 (2) oder (3) EPÜ für die jeweils andere Anmeldung und sind somit für den Anspruchsgegenstand nicht neuheitsschädlich.

19. Was die Doppelpatentierung aufgrund der Koexistenz europäischer und nationaler Patentanmeldungen betrifft, überlässt es Artikel 139 (3) EPÜ vollständig dem Recht der Vertragsstaaten, ob sie einen Doppelschutz desselben Gegenstands durch zwei oder mehr Patente, die aus europäischen Patentanmeldungen und nationalen Anmeldungen mit demselben wirksamen Datum hervorgehen, verbieten oder gestatten.

20. Wenn zwei oder mehr europäische Patentanmeldungen auf denselben Gegenstand gerichtet sind und dasselbe wirksame Datum haben, aber von verschiedenen Personen eingereicht wurden, die die Erfindung unabhängig voneinander gemacht haben, folgt aus Artikel 60 (2) EPÜ in Verbindung mit Artikel 54 (3) EPÜ, dass die Erteilung von zwei auf denselben Gegenstand gerichteten Patenten nicht verweigert werden kann, sofern die übrigen Patentierbarkeitserfordernisse erfüllt sind.

21. In dieser Vorlage geht es nicht um die vorgenannten Fälle, sondern um Doppelpatentierung im engeren Sinne, d. h. den Fall, dass zwei oder mehr europäische Patentanmeldungen, die auf denselben Gegenstand gerichtet sind und dasselbe wirksame Datum haben, vom selben Anmelder eingereicht werden. Da solche Anmeldungen nicht zum Stand der Technik gemäß Artikel 54 (2) oder (3) EPÜ gehören, könnte ihre Weiterverfolgung dazu führen, dass derselbe Anmelder zwei oder mehr Patente erteilt bekommt, die auf denselben Gegenstand gerichtet sind und deren territorialer Schutzumfang identisch ist oder sich zumindest überschneidet.

22. Es gibt drei Situationen, in denen zwei oder mehr europäische Patentan-meldungen desselben Anmelders, die auf denselben Gegenstand gerichtet sind, dasselbe wirksame Datum haben können:

- eine europäische Patentanmeldung wird am selben Tag wie eine andere europäische Patentanmeldung desselben Anmelders eingereicht (parallele Einreichungen);

- eine europäische Patentanmeldung wird als europäische Teilanmeldung (Art. 76 (1) EPÜ) zu einer früheren europäischen Patentanmeldung eingereicht (Teilanmeldung);

- es wird eine europäische Patentanmeldung eingereicht, die die Priorität (Art. 88 EPÜ) einer früheren europäischen Patentanmeldung beansprucht (innere Priorität).

23. In all diesen Situationen stellt sich die in G 1/05 und G 1/06 aufgeworfene Frage der Doppelpatentierung nur, wenn der Anmelder die zwei oder mehr Anmeldungen bis zur Erteilung weiterverfolgt und nicht eine oder mehrere so ändert, dass der Gegenstand der jeweiligen Ansprüche nicht mehr identisch ist, bzw. überschneidende Benennungen nicht zurücknimmt. Sind diese Voraussetzungen alle erfüllt, so kann die Erteilung eines zweiten Patents nicht auf der Grundlage von Artikel 54 (3) EPÜ verweigert werden, sondern nur gestützt auf ein grundsätzliches Doppelpatentierungsverbot, wie es in G 1/05 und G 1/06 anerkannt wurde.

c) Doppelschutz

24. "Doppelpatentierung" im engeren Sinne (s. Nrn. 21 bis 23) ist von "Doppelschutz" zu unterscheiden. T 307/03 (ABl. EPA 2009, 422) scheint die einzige Entscheidung zu sein, in der die Prüfung, ob vom Anmelder für dieselbe Erfindung Schutz durch zwei Patente angestrebt wurde, dadurch erfolgte, dass die Kammer den Schutzumfang der Ansprüche des Streitpatents mit demjenigen der Ansprüche des dem Anmelder bereits erteilten Patents verglich. Die Kammer befand, dass ein Einwand wegen Doppelpatentierung auch dann erhoben werden kann, wenn der Gegenstand des erteilten Anspruchs im Gegenstand des später eingereichten Anspruchs enthalten ist (T 307/03, Leitsatz 3 und Nrn. 5.2 bis 5.4). "Doppelpatentierung" wurde also mit "Doppelschutz" gleichgesetzt, zumindest wenn der Gegenstand einer ersten Patentanmeldung vollständig im Schutzumfang einer zweiten Patentanmeldung desselben Anmelders enthalten war.

Außer in der Entscheidung T 307/03 hat die Rechtsprechung den Begriff "Doppelpatentierung" auf die anstehende Erteilung von zwei Patenten beschränkt, die denselben Gegenstand beanspruchen (s. z. B. T 1391/07, Nrn. 2.5 und 2.6; T 877/06, Nr. 5.3; T 1708/06, Nr. 6; T 2402/10, Nr. 8; T 1780/12, Nrn. 7 bis 14; T 2461/10, Nrn. 24 und 25; T 879/12, Nrn. 7, 10, 14; T 2563/11, Nrn. 2.7 bis 2.14; T 1252/16, Nr. 4.2). Diesem Ansatz wurde auch in Entscheidungen vor G 1/05 und G 1/06 gefolgt (s. z. B. T 118/91, Nr. 2.4.1; T 80/98, Nr. 9; T 587/98, ABl. EPA 2000, 497, Nr. 3.3; T 475/02, Nr. 8.6; T 411/03, Nr. 4.2; T 425/03, Nr. 4.2; T 467/03, Nr. 4.2; T 468/03, Nr. 4.2; T 579/05, Nr. 2.2).

In allen diesen Entscheidungen wurde ein Vergleich vorgenommen zwischen den Ansprüchen in der endgültigen zur Erteilung vorgelegten Fassung und den Ansprüchen eines demselben Anmelder bereits erteilten Patents, jeweils definiert durch die Anspruchskategorien in Kombination mit den technischen Merkmalen der Ansprüche (s. T 1780/12, Nrn. 11 bis 14). Die Entscheidung T 307/03 scheint in dieser Hinsicht ein Einzelfall zu sein.

Der Vollständigkeit halber stellt die Kammer fest, dass die Große Beschwerdekammer es als legitimes Verhalten des Anmelders im Verfahren erachtete, wenn er zuerst Patentschutz für eine bevorzugte Ausführungsform anstrebt und dann die allgemeine Lehre in einer Teilanmeldung weiterverfolgt (G 2/10, ABl. EPA 2012, 376, Nr. 4.5.5). Folglich kann ein und demselben Anmelder die Erteilung zweier Patente mit Ansprüchen, die sich in ihrem Schutzumfang überschneiden – wie in T 307/03 – nicht auf der Grundlage verweigert werden, dass dem Anmelder ein legitimes Interesse fehle, was gemäß G 1/05 und G 1/06 die Begründung für das Verbot der Doppelpatentierung war. Zwar kam die Große Beschwerdekammer im selben Absatz von G 2/10 auf das "sogenannte Doppelschutzverbot" zu sprechen, aber nur im Hinblick auf die etwaige Notwendigkeit eines Disclaimers, was für sie eine andere Frage war (s. auch Erörterung des Art. 139 (3) EPÜ unter Nrn. 60 bis 62). Offenbar ist T 307/03 also mit G 2/10 überholt.

In jedem Fall geht es bei der vorliegenden Beschwerde nicht um Ansprüche, die sich in ihrem Schutzumfang überschneiden. Die Ansprüche der zurückgewiesenen europäischen Patentanmeldung Nr. 10718590.2 sind identisch mit den Ansprüchen des europäischen Patents Nr. 2 251 021, das auf die europäische Patentanmeldung Nr. 09159932.4, die Prioritätsunterlage der vorliegenden Anmeldung, erteilt wurde. Somit wäre die Entscheidung T 307/03 auch dann nicht relevant für den Ausgang des vorliegenden Beschwerdeverfahrens, wenn sie nicht als Einzelfall angesehen würde.

d) Entscheidungen G 1/05 und G 1/06 (ABl. EPA 2008, 271 und 307)

25. Nummer 13.4 der Entscheidungsgründe von G 1/05 und G 1/06 lautet wie folgt:

"Die Kammer erkennt an, dass der Grundsatz des Doppelschutzverbots darauf basiert, dass der Anmelder kein legitimes Interesse an einem Verfahren hat, das zur Erteilung eines zweiten Patents für denselben Gegenstand führt, für den er bereits ein Patent besitzt. Die Große Beschwerdekammer hat daher nichts gegen die ständige Praxis des EPA einzuwenden, Änderungen in Teilanmeldungen zu beanstanden und zurückzuweisen, wenn in der geänderten Teilanmeldung derselbe Gegenstand beansprucht wird wie in einer anhängigen Stammanmeldung oder einem erteilten Stammpatent. Dieser Grundsatz kann jedoch nicht geltend gemacht werden, um die Einreichung identischer Anmeldungen zu verhindern, denn das würde gegen den vorrangigen Grundsatz verstoßen, wonach erst anhand der endgültigen Fassung einer Anmeldung zu beurteilen ist, ob sie die Erfordernisse des EPÜ erfüllt (s. Nr. 3.2)."

26. In Satz 1 dieser Textstelle wird der Grundsatz eines Verbots der Doppelpatentierung sehr allgemein formuliert; einziges Kriterium ist, dass ein Anmelder in einem anhängigen Verfahren die Erteilung eines Patents für denselben Gegenstand beantragt, für den er bereits ein Patent besitzt. Implizit besagt diese Feststellung, dass auf die anhängige Patentanmeldung nur deshalb kein Patent erteilt wird, weil sie denselben Gegenstand beansprucht wie ein dem Anmelder bereits erteiltes Patent. Im Übrigen muss der in der anhängigen Patentanmeldung beanspruchte Gegenstand alle Patentierbarkeitsvoraussetzungen erfüllen. Daraus folgt auch, dass der Gegenstand der anderen Anmeldung, die bereits zur Erteilung eines Patents geführt hat, nicht Teil des Stands der Technik nach Artikel 54 (2) oder (3) EPÜ sein darf, weil sonst die anhängige Anmeldung mit demselben Gegenstand wegen mangelnder Neuheit zurückgewiesen werden müsste.

27. Der in Satz 1 von Nummer 13.4 von G 1/05 und G 1/06 aufgestellte Grundsatz ist nicht ausdrücklich auf europäische Patentanmeldungen und Patente beschränkt. Dennoch folgt diese Einschränkung aus dem Kontext und aus dem Verweis auf die ständige Praxis des EPA in Satz 2. Diese Praxis wird in den damals geltenden Richtlinien für die Prüfung nach dem EPÜ 1973 vom Juni 2005, Teil C-IV, 6.4 wie folgt festgelegt:

"Doppelpatentierung

Im EPÜ wird nicht eigens auf den Fall gleichzeitiger europäischer Patentanmeldungen gleichen wirksamen Datums eingegangen. Es ist jedoch ein anerkanntes Prinzip in den meisten Patentsystemen, dass ein und demselben Anmelder für eine Erfindung nicht zwei Patente erteilt werden. Ein Anmelder kann zwar zwei Anmeldungen mit derselben Beschreibung prüfen lassen, wenn die Patentansprüche einen völlig unterschiedlichen Umfang haben und auf verschiedene Erfindungen gerichtet sind. In dem seltenen Fall, in dem in zwei oder mehreren europäischen Patentanmeldungen des gleichen Anmelders derselbe Staat bzw. dieselben Staaten endgültig benannt werden, indem die Benennung durch Zahlung der vorgeschriebenen Benennungsgebühren bestätigt wird, und die Patentansprüche dieser Anmeldungen denselben Anmelde- oder Prioritätstag haben und dieselbe Erfindung betreffen (wobei die Patentansprüche in der in C VI, 9.1.6 dargelegten Weise kollidieren), ist dem Anmelder jedoch mitzuteilen, dass er entweder eine oder mehrere Anmeldungen so ändern muss, dass sie nicht länger die gleiche Erfindung beanspruchen, oder unter diesen Anmeldungen eine auswählen muss, die im Hinblick auf die Patenterteilung bearbeitet werden soll. Sollten zwei derartige Anmeldungen mit demselben wirksamen Datum von zwei verschiedenen Anmeldern eingereicht werden, dann ist jedem zu gestatten, so zu verfahren, als würde es die andere Anmeldung nicht geben."

28. In Anbetracht dieser Praxis ist das von der Großen Beschwerdekammer in G 1/05 und G 1/06 anerkannte Doppelpatentierungsverbot so zu verstehen, dass es sich auf europäische Patentanmeldungen und Patente desselben Anmelders bezieht, die dasselbe wirksame Datum haben und somit füreinander nicht Teil des Stands der Technik gemäß Artikel 54 (2) und (3) EPÜ sind. Dementsprechend und aus den im Zusammenhang mit dem Hauptantrag der Beschwerdeführerin genannten Gründen (s. Nrn. 5 bis 15) gibt die allgemeine Formulierung dieses Grundsatzes durch die Große Beschwerdekammer diesen Grundsatz keinen Hinweis darauf, dass er auf europäische Teilanmeldungen oder Anmeldungen mit demselben Anmeldetag beschränkt wäre.

29. In Bezug auf die Praxis des Amts stellte Nummer 13.4 von G 1/05 und G 1/06 des Weiteren klar, dass das Verbot der Doppelpatentierung nicht angewendet werden kann, um die Einreichung identischer Anmeldungen zu verhindern, weil dies gegen den vorrangigen Grundsatz verstoßen würde, wonach erst anhand der endgültigen zur Erteilung vorgelegten Fassung zu beurteilen ist, ob die Anmeldung die Erfordernisse des EPÜ erfüllt. Die Große Beschwerdekammer erkennt anscheinend an, dass das Amt einen Einwand wegen Doppelpatentierung erhebt, wenn zwei oder mehr europäische Patentanmeldungen desselben Anmelders mit demselben wirksamen Datum und denselben Benennungsstaaten existieren, die denselben Gegenstand beanspruchen.

Zurückgewiesen werden kann eine oder mehrere dieser Anmeldungen aber nur auf der Grundlage der endgültigen zur Erteilung vorgelegten Fassung. Das heißt, eine Zurückweisung ist nur zulässig, wenn der Anmelder eine der Anmeldungen bis zur Erteilung weiterverfolgt und es versäumt, die andere(n) Anmeldung(en) so zu ändern, dass der Gegenstand der Ansprüche und der Beschreibung in der endgültigen zur Erteilung vorgelegten Fassung nicht mit dem Gegenstand des erteilten Patents identisch ist, bzw. wenn er einander überschneidende Benennungen nicht zurückzieht.

30. Nach G 1/05 und G 1/06 gilt das Verbot der Doppelpatentierung unter folgenden Voraussetzungen:

- Es gibt zwei oder mehr europäische Patentanmeldungen desselben Anmelders, die

- dasselbe wirksame Datum, d. h. den Anmeldetag gemäß Artikel 54 (2) EPÜ oder bei Beanspruchung einer Priorität den Prioritätstag gemäß Artikel 89 EPÜ haben und somit füreinander nicht Stand der Technik gemäß Artikel 54 (2) oder (3) EPÜ sind,

- sich in ihrem territorialen Schutzumfang zumindest überschneiden und

- in ihrer endgültigen zur Erteilung vorgelegten Fassung denselben Gegenstand beanspruchen.

31. Zudem greift das Verbot erst, wenn dem Anmelder ein Patent auf der Grundlage einer dieser Anmeldungen erteilt worden ist. Es führt letztlich dazu, dass die Prüfungsabteilung die anderen Anmeldungen nach Artikel 97 (2) EPÜ zurückweist, wenn deren Gegenstand in der endgültigen zur Erteilung vorgelegten Fassung mit dem Gegenstand des dem Anmelder erteilten Patents identisch ist.

Der Vollständigkeit halber stellt die Kammer in diesem Zusammenhang fest, dass nichts in G 1/05 und G 1/06 oder den Richtlinien vom Juni 2005 darauf hindeutet, dass das Doppelpatentierungsverbot in Einspruchs- oder Beschränkungsverfahren vor dem Amt gelten sollte. In jedem Fall ist dies keine Rechtsfrage, die für die Entscheidung über den Hauptantrag im vorliegenden Fall von Belang wäre. Deshalb wird der Großen Beschwerdekammer hierzu keine spezifische Frage vorgelegt (s. jedoch T 936/04, wonach es im Ermessen der Instanzen des EPA liegt, in Einspruchs- oder Einspruchsbeschwerdeverfahren gegen vorgeschlagene geänderte Ansprüche einen Einwand wegen Doppelpatentierung zu erheben).

e) Rechtsgrundlage

32. Wie unter Nummer 5 von T 2461/10 angemerkt, enthält das EPÜ nur hinsichtlich des Verhältnisses von europäischen zu nationalen Patentanmeldungen oder Patenten eine das Verbot von Doppelpatentierungen betreffende Regelung (s. Art. 139 (3) EPÜ). In den Entscheidungen G 1/05 und G 1/06 geht es nicht um Doppelpatentierung in einer solchen Situation (s. Nr. 19), sondern um Doppelpatentierung bei zwei oder mehr europäischen Patentanmeldungen desselben Anmelders mit demselben wirksamen Datum, und es wird keine einschlägige Rechtsgrundlage hierzu ermittelt. Auch wird aus dem obiter dictum der Großen Beschwerdekammer nicht ersichtlich, ob sie hier eine Regelungslücke im EPÜ sieht, die durch eine Entscheidung der Großen Beschwerdekammer zu schließen wäre.

33. In mehreren Entscheidungen haben sich die Technischen Beschwerdekammern bei der Suche nach der Rechtsgrundlage für ein Doppelpatentierungsverbot im EPÜ auf die Artikel 60 und 125 EPÜ (1973) konzentriert. Die einschlägigen Fälle werden nachstehend kurz erörtert. Daraus wird nicht nur deutlich, dass es in diesem Punkt eine abweichende Rechtsprechung gibt, sondern – was noch wichtiger ist –, dass Zweifel bestehen, ob das EPÜ überhaupt eine Vorschrift enthält, die als Grundlage für das Verbot herangezogen werden könnte. Deshalb wird auch die Möglichkeit einer Regelungslücke behandelt.

34. Hier sei angemerkt, dass mit Ausnahme von Artikel 60 (2) EPÜ 1973 die Artikel 60 und 125 EPÜ 1973 im Jahr 2000 nicht geändert wurden. Inhaltlich sind die Vorschriften also unverändert geblieben.

i) Artikel 60 EPÜ

35. Die Kammer in T 307/03 berief sich auf Artikel 60 (1) EPÜ 1973 als Rechts-grundlage für das Verbot einer Doppelpatentierung. Bemerkenswert ist, dass der Vorsitzende der zuständigen Kammer auch der Berichterstatter in G 1/05 und G 1/06 war. Die Technische Kammer hob hervor, dass das Recht des Erfinders (oder seines Rechtsnachfolgers) darauf, dass ihm für eine bestimmte in einem bestimmten Anspruch definierte Erfindung ein – einziges – Patent erteilt wird, aus Artikel 60 (1) EPÜ 1973 abgeleitet werden könne. Wurde schon ein Patent erteilt, so sei dieser Rechtsanspruch auf ein Patent erschöpft, und das EPA könne es ablehnen, dem Erfinder oder seinem Rechtsnachfolger für den Gegenstand, auf den bereits ein Patent erteilt wurde, ein weiteres Patent zu erteilen (s. T 307/03, Nr. 2.1).

36. Der Ansatz von T 307/03 wurde mit der Entscheidung T 1423/07 verworfen. Die mit diesem Fall befasste Kammer urteilte, dass Artikel 60 (1) EPÜ (1973) keine Grundlage für die Zurückweisung einer europäischen Patentanmeldung wegen Doppelpatentierung biete. Diese Vorschrift habe lediglich den Zweck, zu definieren, wem das Recht auf ein europäisches Patent zusteht. Artikel 60 (1) EPÜ (1973) könne nicht so ausgelegt werden, dass der Erfinder oder sein Rechtsnachfolger Anspruch auf die Erteilung eines einzigen Patents habe (s. Nr. 2.3.2). Die Kammer in T 2461/10 schloss sich der Analyse von T 1423/07 an. Sie fand weder im Wortlaut noch in der Entstehungsgeschichte des Artikels 60 EPÜ einen Hinweis darauf, dass mit dieser Vorschrift eine Doppelpatentierung ausgeschlossen werden soll (s. T 2461/10, Nr. 6).

37. Da der Entscheidung T 307/03 – nach Kenntnis der Kammer – in der späteren Rechtsprechung nicht gefolgt wurde, könnte sie als Einzelentscheidung angesehen werden; dann wäre Artikel 60 (1) EPÜ nicht relevant für die Beantwortung der nachstehenden Vorlagefragen durch die Große Beschwerdekammer.

38. Dennoch möchte die Kammer der Vollständigkeit halber zwei Aspekte von T 307/03 ansprechen, die weder in T 1423/07 noch in T 2461/10 behandelt wurden.

39. Erstens ähnelt der in T 307/03 verfolgte Ansatz dem sogenannten "statutären" Verbot der Doppelpatentierung "derselben Erfindung" nach dem US-Patentrecht, dem Titel 35 U.S.C. § 101 zugrunde liegt. Diese Rechtsvorschrift lautet in deutscher Übersetzung:

"Wer ein Verfahren, eine Maschine, ein Erzeugnis, eine Zusammensetzung oder eine Weiterentwicklung hiervon erfindet oder entdeckt, das bzw. die neu und nützlich ist, kann vorbehaltlich der Bedingungen und Erfordernisse dieses Titels ein Patent darauf erhalten." (Hervorhebung durch die Kammer)

40. Gemäß der US-Rechtsprechung zur Doppelpatentierung (zuerst in Miller v. Eagle Mfg. Co., 151 U.S. 186 (1894), bestätigt in In re Vogel, 422 F.2d 438, 164 USPQ 619 (CCPA 1970)) verbietet Titel 35 U.S.C. § 101 die Erteilung von zwei Patenten für dieselbe Erfindung. Das Kriterium "derselben Erfindung" wird so verstanden, dass es sich auf identische Gegenstände bezieht.

41. Die Kammer in T 307/03 hat offenbar die Worte "a European patent" in der englischen Fassung von Artikel 60 (1) EPÜ 1973 in derselben Weise ausgelegt, wie die US-Rechtsprechung die Worte "a patent" in Titel 35 U.S.C. § 101, ohne jedoch auf die US-Rechtsprechung zu verweisen. Die Patentpraxis nach nationalem Recht, die auf anderen Rechtsgrundsätzen als den im EPÜ verankerten beruht, darf jedoch nicht zur Auslegung von Vorschriften des EPÜ herangezogen werden (zu den anwendbaren Auslegungsgrundsätzen s. G 2/12, ABl. EPA 2016, A27 und G 2/13, ABl. EPA 2016, A28, Nr. V).

Bei genauerer Betrachtung des Wortlauts von Artikel 60 (1) EPÜ vertritt die jetzige Kammer die Auffassung, dass der unbestimmte Artikel "a" in der Formulierung "to a European patent" in der englischen Fassung (bzw. der bestimmte Artikel Singular in der deutschen ("auf das europäische Patent") und der französischen Fassung ("au brevet européen") nur dazu dient, den Begriff "right" ("Recht") näher zu bestimmen. Artikel 60 (1) EPÜ bezeichnet den "Erfinder" im Singular als die Person, der das Recht auf das europäische Patent zusteht. Aus dem Zusammenhang ist klar, dass der Singular den Plural nicht ausschließt (vgl. G 1/91, ABl. EPA 1992, 253, Nr. 3.2). Davon abgesehen wird im Wortlaut von Artikel 60 (1) EPÜ der Gegenstand einer Patentanmeldung gar nicht definiert (s. dazu Art. 82 EPÜ), und eine Verknüpfung zwischen einer (einzigen) "Erfindung" mit der Erteilung eines einzigen Patents wird erst recht nicht hergestellt.

42. Zweitens wurde in T 307/03 auf das Konzept der Erschöpfung des Rechts auf ein Patent zurückgegriffen. Nach dieser Rechtsmeinung ist das Recht auf ein Patent erschöpft, kann also nicht mehr in oder für ein bestimmtes Hoheitsgebiet geltend gemacht werden, wenn es durch die Einreichung einer Patentanmeldung, auf die später ein Patent erteilt wird, bereits ausgeübt wurde. Damit bot die zuständige Kammer offenbar eine Alternative zu dem in G 1/05 und G 1/06 herangezogenen Grundsatz an, dass der Anmelder ein legitimes Interesse am Verfahren haben müsse.

Nach Kenntnis der jetzigen Kammer wurde das Konzept der Erschöpfung von Rechten in der Rechtsprechung der Beschwerdekammern nur im Zusammenhang mit Prioritätsrechten behandelt (s. T 998/99, Nr. 3.1, der in diesen späteren Entscheidungen nicht gefolgt wurde: T 15/01, Nrn. 27 bis 41; T 5/05, Nr. 4.4; T 1562/06, Nr. 2.1; T 696/16, Nr. 5.5). Tatsächlich ging es ja in T 998/99 um zwei parallele Anmeldungen desselben Anmelders, die beide die Priorität derselben früheren Anmeldung beanspruchten und sich nur in der Zahl der Ansprüche unterschieden. T 998/99 betraf somit einen Fall der Doppelpatentierung aufgrund von parallelen Einreichungen, die dasselbe wirksame Datum beanspruchten, und das von der Kammer dort herangezogene Konzept der Erschöpfung erfüllte die Funktion, eine Doppelpatentierung zu verhindern.

Abgesehen davon, ob der Grundsatz einer Erschöpfung des Rechts auf ein Patent nach Artikel 125 EPÜ überhaupt herangezogen werden kann, bezweifelt die Kammer, dass dies ein geeignetes Rechtsinstrument ist, um eine Doppelpatentierung zu verhindern. Soweit sich das Recht auf ein Patent nach Artikel 60 EPÜ auf eine Erfindung bezieht, die auch eine Gruppe von Erfindungen sein könnte, die untereinander in der Weise verbunden sind, dass sie eine einzige allgemeine erfinderische Idee verwirklichen (Art. 82 EPÜ), könnte sich das Konzept der Erschöpfung des Rechts auf ein Patent für Patentanmelder sogar nachteilig auswirken, wenn die Gefahr einer Doppelpatentierung gar nicht besteht, z. B. wenn ein Anmelder zuerst Patentschutz für eine bevorzugte Ausführungsform anstrebt und später eine andere Ausführungsform oder gar die allgemeine Lehre in einer Teilanmeldung weiterverfolgt. So steht denn auch Artikel 76 (1) Satz 2 EPÜ der Anwendung des Konzepts einer Erschöpfung des Rechts auf ein Patent entgegen.

ii) Artikel 125 EPÜ – grundsätzliches Erfordernis eines legitimen Interesses am Verfahren

43. Der erste Hinweis auf Artikel 125 EPÜ als Rechtsgrundlage für ein Doppelpatentierungsverbot befand sich in den Richtlinien für die Prüfung, ohne dass der Artikel dort ausdrücklich genannt wurde. Dies wurde von der Kammer in der Entscheidung T 587/98 (s. T 587/98, Nrn. 3.1, 3.2 und 3.5) festgestellt, in der es um die Zurückweisung einer Teilanmeldung ging, deren Gegenstand sich mit demjenigen des auf die Stammanmeldung erteilten Patents überschnitt. Die Kammer befand, dass Artikel 125 EPÜ 1973 auf den ihr vorliegenden Fall nicht anwendbar sei, da dies das Fehlen von "Vorschriften über das Verfahren" im Übereinkommen voraussetze; die Regelungen zu Teilanmeldungen seien jedoch in sich geschlossen und vollständig. Außerdem wäre ein etwaiges Verbot "kollidierender Ansprüche", wie es von der Prüfungsabteilung vertreten worden sei, eine Angelegenheit des materiellen Rechts und nicht des Verfahrensrechts – und Artikel 125 EPÜ 1973 sei nicht auf das materielle Recht anwendbar.

44. In T 307/03 stützte sich die Kammer auf Artikel 60 (1) EPÜ als Rechtsgrundlage für das Verbot der Doppelpatentierung und hielt es nicht für notwendig, sich mit den in der Sache T 587/98 angestellten Überlegungen zu Artikel 125 EPÜ auseinanderzusetzen (T 307/03, Nr. 2.7).

45. In T 1423/07 widersprach die Kammer der Feststellung in T 587/98, das Verbot der Doppelpatentierung sei eine Angelegenheit des materiellen Rechts und nicht des Verfahrensrechts. Laut T 1423/07 berührt die Zurückweisung einer europäischen Patentanmeldung wegen Doppelpatentierung verfahrensrechtliche wie auch materiellrechtliche Aspekte; Artikel 125 EPÜ sei somit anwendbar (s. Nr. 2.2.1 der Entscheidungsgründe). Die Kammer prüfte, ob ein solcher in den Vertragsstaaten im Allgemeinen anerkannter Grundsatz des Verfahrensrechts im Sinne des Artikels 125 EPÜ existierte. Ihre Analyse des entsprechenden nationalen Rechts ergab, dass die Mehrzahl der Vertragsstaaten keine Doppelpatentierung gestattet, wenn es sowohl ein erteiltes nationales Patent als auch ein erteiltes europäisches Patent gibt, die denselben Gegenstand beanspruchen und denselben Vertragsstaat benennen.

Dieser Ausschluss der Doppelpatentierung betraf jedoch den Fall zweier bereits erteilter Patente, d. h. das Verfahren nach der Patenterteilung, und nicht den Fall, dass eine anhängige Patentanmeldung mit einem bereits erteilten Patent kollidiert. Nach Auffassung der Kammer würde die Zurückweisung einer europäischen Patentanmeldung auf der Grundlage des Artikels 125 EPÜ die Existenz eines Rechtsgrundsatzes voraussetzen, der sich auf das Verfahren vor der Erteilung bezieht und die Zurückweisung einer nationalen Anmeldung wegen Doppelpatentierung zulässt. Nur drei Vertragsstaaten sähen einen solchen Grundsatz vor. Artikel 125 EPÜ wurde deshalb von der Kammer nicht als geeignete Rechtsgrundlage dafür erachtet, eine europäische Patentanmeldung nach Artikel 97 (2) EPÜ oder 97 (1) EPÜ 1973 wegen Doppelpatentierung zurückzuweisen.

46. In T 2461/10 wurde Artikel 125 EPÜ als geeignete Rechtsgrundlage für den Grundsatz eines legitimen Interesses am Verfahren anerkannt, aus dem die Große Beschwerdekammer das Verbot der Doppelpatentierung hergeleitet hatte (T 2461/10, Nr. 7). Nach Auffassung der zuständigen Kammer bestätigte die Entstehungsgeschichte des Artikels die Entscheidungen der Großen Beschwerdekammer G 1/05 und G 1/06.

Die Kammer verwies auf den Bericht über die 10. Sitzung der Arbeitsgruppe I der Regierungskonferenz über die Einführung eines europäischen Patenterteilungsverfahrens vom 22. bis 26. November 1971 in Luxemburg (BR/144 d/71 vom 16. Dezember 1971, Dokument N3 im vorliegenden Verfahren, Nrn. 117 und 118), den Bericht über die 6. Tagung der Regierungskonferenz über die Einführung eines europäischen Patenterteilungsverfahrens vom 19. bis 30. Juni 1972 in Luxemburg (BR/219 d/72 vom 26. September 1972, Dokument N4 im vorliegenden Verfahren, Nr. 49) und den Sitzungsbericht des Hauptausschusses I der Münchner Diplomatischen Konferenz über die Einführung eines europäischen Patenterteilungsverfahrens (M/PR/I, Dokument N1 im vorliegenden Verfahren, Nr. 665; s. T 2461/10, Nrn. 8 bis 10). Aus diesen vorbereitenden Dokumenten schloss die zuständige Kammer, dass der Gesetzgeber 1973 keine Notwendigkeit für eine explizite Regelung der Doppelpatentierung sah, da dieses Verbot bereits aus allgemeinen verfahrensrechtlichen Grundsätzen folge (T 2461/10, Nr. 11).

Die Kammer widersprach den Schlussfolgerungen, die in T 1423/07 aus der dortigen Analyse des nationalen Rechts der Vertragsstaaten gezogen worden waren. Sie sah den Umstand, dass in fast allen Vertragsstaaten die Doppelpatentierung zwischen einem erteilten nationalen und einem erteilten europäischen Patent desselben Anmelders oder dessen Rechtsnachfolgers, die denselben Gegenstand beanspruchten, untersagt werde, als ein starkes Indiz dafür an, dass eine doppelte Patentierung vom nationalen Gesetzgeber generell für unerwünscht erachtet werde. Dass die nationalen Verbote erst nach der Patenterteilung griffen, lasse sich durch die erheblichen praktischen Schwierigkeiten erklären, die sich aus der Zuständigkeit unterschiedlicher Patentbehörden im Erteilungsverfahren ergäben. Die geringe Zahl nationaler Regelungen zum Verbot der Doppelpatentierung bei nationalen Patentanmeldungen sprächen nicht notwendigerweise für eine mangelnde Anerkennung eines solchen Verbots. Eher erscheine die Annahme berechtigt, dass die nationalen Patentgesetzgeber ebenso wie der Gesetzgeber des EPÜ das Verbot der Doppelpatentierung aus allgemeinen Grundsätzen resultierend sahen und eine explizite gesetzliche Regelung deshalb für unnötig erachteten (T 2461/10, Nrn. 12 und 13).

Der Feststellung in T 2461/10, dass sich das Doppelpatentierungsverbot aus dem im Allgemeinen anerkannten Grundsatz im Sinne des Artikels 125 EPÜ ableitet, wonach ein legitimes Interesse am Verfahren bestehen muss, wurde in T 2563/11 gefolgt (s. T 2563/11, Nrn. 2.4. und 2.5).

In dieser Hinsicht ist die Rechtsprechung also widersprüchlich.

47. Darüber hinaus folgen die Richtlinien für die Prüfung im Europäischen Patentamt vom November 2018 (Teil G IV, 5.4) den Feststellungen aus T 2461/10.

48. Andererseits hat die Beschwerdeführerin Zweifel daran aufkommen lassen, ob die "Travaux préparatoires" zum EPÜ 1973, denen in den Entscheidungen T 2461/10 und T 2563/11 mangels einer ausdrücklichen Vorschrift im EPÜ beträchtliches Gewicht zuteil wurde, tatsächlich zeigen, dass der Gesetzgeber die Doppelpatentierung in Bezug auf zwei europäische Patentanmeldungen desselben Anmelders ausschließen wollte.

49. Die einschlägigen Passagen (M/PR/I; Dokument N1 im vorliegenden Verfahren) zu Artikel 125 EPÜ (Seite 64) lauten wie folgt:

"Artikel 125 – Heranziehung allgemeiner Grundsätze

665. Im Zusammenhang mit Artikel 125 wird auf Wunsch der britischen Delegation festgestellt, dass sich die Mehrheit des Hauptausschusses über Folgendes einig ist: Aus den allgemein anerkannten Grundsätzen des Verfahrensrechts der Vertragsstaaten ergibt sich, dass einer Person für dieselbe Erfindung, für welche Anmeldungen mit demselben Anmeldedatum vorliegen, nur ein einziges europäisches Patent erteilt werden kann.

666. Die norwegische Delegation erklärt hierzu, sie könne diesem Grundsatz in so allgemeiner Form nicht zustimmen, da nach skandinavischem Recht es theoretisch möglich sei, einem Anmelder für dieselbe Erfindung zwei Patente zu erteilen.

667. Die Delegation der FICPI fragt, was in diesem Zusammenhang unter derselben Anmeldung zu verstehen sei; komme es darauf an, ob der Inhalt im Wesentlichen derselbe sei, oder ob die Patentansprüche in Wesentlichen dieselben seien?

668. Nach Auffassung der britischen Delegation kommt es darauf an, dass die Patentansprüche dieselben sind.

669. Im Zusammenhang mit Artikel 125 wird ferner auf Wunsch der britischen Delegation festgestellt, dass nach übereinstimmender Auffassung des Hauptausschusses das Europäische Patentamt das Recht hat, alle Irrtümer, die ihm versehentlich unterlaufen, zu berichtigen."

50. Die Beschwerdeführerin argumentierte, aus der Erwähnung einer mehrheitlichen Übereinkunft unter Nummer 665 werde offensichtlich, dass es auf der Münchner Diplomatischen Konferenz keine einhellige Meinung in dieser Frage gegeben habe. Dies werde bestätigt durch die unter Nummer 666 des Berichts festgehaltene ausdrückliche abweichende Erklärung der norwegischen Delegation und durch Nummer 669, aus der hervorgehe, dass im Bericht zwischen mehrheitlichen und einstimmigen Meinungen unterschieden werde.

51. Die Beschwerdeführerin verwies auch auf Nummer 11 der Stellungnahme der norwegischen Delegation vom 8. Mai 1973 zu den vorbereitenden Dokumenten für die Münchner Diplomatische Konferenz (M/28, Dokument N2 im vorliegenden Verfahren), die wie folgt lautet:

"Im Zusammenhang mit Artikel 125 wurde auf der 6. Tagung der Regierungskonferenz 'festgestellt, dass das Europäische Patentamt ein und derselben Person für dieselbe Erfindung, für die Anmeldungen mit dem gleichen Anmeldedatum vorliegen, nur ein europäisches Patent erteilen kann' (Nr. 49 des Berichts). Nach Meinung Norwegens ergibt sich jedoch aus Artikel 52 Absatz 3, dass am gleichen Tag eingereichte Anmeldungen im Verhältnis zueinander keineswegs neuheitsschädlich sind und dass ein Anmelder somit ohne Nachteil für sich selbst mehrere Anmeldungen am selben Tag einreichen kann. Unter diesen Umständen sollte eine mögliche Beschränkung, wie sie auf der 6. Tagung festgelegt wurde, im Übereinkommen ausdrücklich vorgesehen werden."

52. Der Beschwerdeführerin zufolge zeigten die vorbereitenden Arbeiten zum EPÜ, dass es keine Einstimmigkeit in Bezug auf ein Doppelpatentierungsverbot gegeben habe. Die unter Nummer 665 von M/PR/I (Dokument N1 im vorliegenden Verfahren) angeführte Mehrheitsmeinung im Hauptausschuss stelle keine "sich auf den Vertrag beziehende Übereinkunft" im Sinne von Artikel 31 (2) a) des Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge vom 23. Mai 1969 (nachstehend "Wiener Übereinkommen") dar, die zwischen allen Vertragsparteien getroffen werden müsse. Somit könne diese mehrheitliche Übereinkunft bei der Auslegung des EPÜ nicht berücksichtigt werden.

53. In Anbetracht der Entstehungsgeschichte des Artikels 125 EPÜ teilt die Kammer die Bedenken der Beschwerdeführerin, dass dieser Artikel als Beleg für die Existenz eines Doppelpatentierungsverbots herangezogen werden kann. 54. Unstrittig ist, dass ein Verbot der Doppelpatentierung 1971 in der Arbeitsgruppe I der Regierungskonferenz über die Einführung eines europäischen Patenterteilungsverfahrens diskutiert wurde. Offenbar nahmen die Diskussionen ihren Anfang im Zusammenhang mit Teilanmeldungen auf einen Vorschlag der deutschen und der britischen Delegation hin, den Inhalt der damaligen Artikel 81 und 94 zu einem neuen Artikel 173a zusammenzufassen (s. Bericht über die 9. Sitzung der Arbeitsgruppe I der Regierungskonferenz über die Einführung eines europäischen Patenterteilungsverfahrens vom 12. bis 22. Oktober 1971 in Luxemburg, BR/135 d/71, Nr. 154):

"154. Die Gruppe war damit einverstanden, in Absatz 2 vorzusehen, dass die Patentansprüche der früheren Anmeldung [...] keinen Gegenstand enthalten dürfen, für den in einer der anderen Anmeldungen Schutz begehrt wird. Diese Bestimmung wurde für notwendig gehalten, damit nicht zwei Patente für denselben Gegenstand erteilt werden, da die verschiedenen Anmeldungen in diesem Falle dieselbe Priorität haben würden.

[...]

Die britische Delegation warf die Frage auf, ob eine ähnliche Lösung nicht für den Fall in Aussicht genommen werden könnte, dass beim Patentamt eine Anmeldung unter Berufung auf die Priorität einer bereits eingereichten europäischen Patentanmeldung eingereicht wird, um die Möglichkeit auszuschließen, dass sich die Patentansprüche dieser beiden Anmeldungen ganz oder teilweise überschneiden, indem sie sich auf denselben Gegenstand beziehen.

Die Gruppe behielt sich vor, diese Frage zu einem späteren Zeitpunkt zu prüfen."

Der entsprechende Absatz 2 des vorgeschlagenen Artikels 137a lautete wie folgt (BR/134 d/71, Seite 63):

"Die Patentansprüche der früheren Anmeldung und der Teilanmeldung dürfen keinen Gegenstand enthalten, für den jeweils in der anderen Anmeldung Schutz begehrt wird. Die Beschreibung und die Zeichnungen sollen sich nach Möglichkeit nur auf den Gegenstand beziehen, für den in der Anmeldung Schutz begehrt wird. Ist es erforderlich, in einer Anmeldung einen Gegenstand zu beschreiben, für den in einer anderen Anmeldung Schutz begehrt wird, so ist auf diese zu verweisen."

55. Erneut beraten wurde über diese Frage in der 10. Sitzung der Arbeitsgruppe I vom 22. bis 26. November 1971 in Luxemburg (BR/144 d/71 vom 16. Dezember 1971, Dokument N3 im vorliegenden Verfahren). Die britische Delegation wiederholte die Frage, ob der Gedanke hinter dem Artikel 137a (2), dem zufolge im besonderen Fall einer Teilanmeldung die Ansprüche der Teilanmeldung keinen Gegenstand enthalten dürfen, für den in der Stammanmeldung Schutz begehrt wurde und umgekehrt, nicht auf alle Fälle ausgedehnt werden sollte, in denen jemand mit mehreren europäischen Anmeldungen Schutz für dieselbe Erfindung beansprucht. So wäre zu verhindern, dass ein Anmelder für ein und dieselbe Erfindung mehrere Patente beantragen kann (BR/144 d/71, Nr. 117). Die relevanten Schlussfolgerungen der Arbeitsgruppe I in der nachfolgenden Diskussion wurden in T 2461/10 zur Untermauerung des obiter dictum der Großen Beschwerdekammer herangezogen, bei dem es um die Existenz eines Doppelpatentierungsverbots ging (G 1/05 und G 1/06, Nr. 13.4). Der Bericht über die 10. Sitzung der Arbeitsgruppe I zeigt nämlich, ohne auf den Grundsatz eines legitimen Interesses am Verfahren zurückzugreifen, dass Einigkeit über ein Verbot der Doppelpatentierung nicht nur im Zusammenhang mit Teilanmeldungen bestand, sondern auch in Bezug auf Doppelpatentierung aufgrund einer inneren Priorität oder aufgrund paralleler Einreichungen. Die einschlägigen Passagen des Berichts lauten wie folgt (BR/144 d/71, Nrn. 117 bis 119):

"117. [...]

Die Arbeitsgruppe wurde sich im Lauf der Diskussion einig darüber, dass dem Anmelder, der dieselbe Erfindung mithilfe mehrerer, gleichzeitig eingereichter Anmeldungen schützen lassen will, nur ein einziges Patent erteilt werden darf. Sie war der Meinung, dass dies ein ungeschriebener, aber allgemein anerkannter Rechtsgrundsatz sei, und dass es deshalb einer diesbezüglichen Bestimmung im Übereinkommen nicht bedürfe.

118. [...]

Die Arbeitsgruppe kam abschließend zu dem Ergebnis, dass auch dann, wenn der Anmelder die Priorität einer früheren europäischen Anmeldung in Anspruch nehme, er für dieselbe Erfindung nicht zweimal dasselbe Patent für denselben benannten Staat erhalten könne. Dies brauche aber im Übereinkommen nicht geregelt zu werden. [...]

119. Die Arbeitsgruppe kam abschließend überein, dass auf der Diplomatischen Konferenz in das Protokoll eine auslegende Erklärung aufgenommen werden müsse, wonach es nicht möglich ist, dass ein Erfinder für dieselbe Erfindung zwei Patente erhält."

56. Auf der 6. Tagung der Regierungskonferenz über die Einführung eines europäischen Patenterteilungsverfahrens vom 19. bis 30. Juni 1972 in Luxemburg wurde im Zusammenhang mit Artikel 125 EPÜ wiederholt, dass "das Europäische Patentamt ein und derselben Person für dieselbe Erfindung, für die Anmeldungen mit dem gleichen Anmeldedatum vorliegen, nur ein europäisches Patent erteilen kann" (s. Bericht vom 26. September 1972, BR/219 d/72, Dokument N4 im vorliegenden Verfahren, Nr. 49). Die Formulierung "Anmeldungen mit dem gleichen Anmeldedatum" in der vorstehenden Passage verweist zwar nicht speziell auf die Doppelpatentierung aufgrund einer inneren Priorität, doch lässt sich im Lichte der Diskussion in der 10. Sitzung der Arbeitsgruppe I argumentieren, dass dies eine unbeabsichtigte Ungenauigkeit bei der Abfassung des Berichts gewesen sein könnte.

57. In Anbetracht der vorstehenden Ausführungen ist festzustellen, dass es bis zur Diplomatischen Konferenz unstrittig war, dass eine Doppelpatentierung aufgrund von zwei oder mehr europäischen Patentanmeldungen desselben Anmelders nicht möglich sein sollte und eine diesbezügliche Vorschrift nicht erforderlich wäre. Eine diesbezügliche Erklärung auf der Diplomatischen Konferenz wurde dennoch als angebracht angesehen.

58. Aus den Dokumenten der Münchner Diplomatischen Konferenz ist jedoch nicht ersichtlich, dass noch Einigkeit über den Grundsatz bestand, dass das Europäische Patentamt ein und derselben Person für ein und dieselbe Erfindung, die Gegenstand mehrerer Anmeldungen mit demselben wirksamen Datum ist, nur ein europäisches Patent erteilen kann. Die Nummern 665 und 666 des Sitzungsberichts des Hauptausschusses I (M/PR/I, Dokument N1 im vorliegenden Verfahren) zeigen, dass es mindestens eine abweichende Meinung gab. Ob es nur eine abweichende Meinung gab, lässt sich den "Travaux préparatoires" nicht entnehmen. Bemerkenswert ist auch, dass der Berichterstatter des Hauptausschusses I das Thema Doppelpatentierung in seinem Bericht über die Arbeiten des Hauptausschusses I an den Gesamtausschuss nicht erwähnte (s. Nr. 10 auf S. 202 und 203 der Anlage I von M/PR/I, Dokument N1 im vorliegenden Verfahren).

59. Wie von der Beschwerdeführerin richtig hervorgehoben, ist die Mehrheitsmeinung auf der Münchner Diplomatischen Konferenz auf jeden Fall weder eine Übereinkunft im Sinne von Artikel 31 (2) a) des Wiener Übereinkommens noch eine Urkunde, die von einer oder mehreren Vertragsparteien anlässlich des Vertragsabschlusses abgefasst und von den anderen Vertragsparteien als eine sich auf den Vertrag beziehende Urkunde angenommen wurde (Art. 31 (2) b) des Wiener Übereinkommens).

Nummer 665 des Dokuments M/PR/I (Dokument N1 im vorliegenden Verfahren), das in T 2461/10 und T 2563/11 herangezogen wurde, ergänzt also nicht den Wortlaut des Übereinkommens und etabliert dementsprechend keinen Grundsatz eines Doppelpatentierungsverbots anstelle einer ausdrücklichen Vorschrift im Übereinkommen.

Ebenso wenig kann die unter Nummer 665 des Dokuments M/PR/I genannte Mehrheitsmeinung als ergänzendes Auslegungsmittel herangezogen werden. Nach Artikel 32 des Wiener Übereinkommens können ergänzende Auslegungsmittel herangezogen werden, um die sich unter Anwendung des Artikels 31 des Wiener Übereinkommens ergebende Bedeutung zu bestätigen oder die Bedeutung zu bestimmen, wenn die Auslegung nach Artikel 31 des Wiener Übereinkommens a) die Bedeutung mehrdeutig oder dunkel lässt oder b) zu einem offensichtlich sinnwidrigen oder unvernünftigen Ergebnis führt (s. G 2/12 und G 2/13, Nrn. V. (2) bis (5) und VII.5. (1) der Entscheidungsgründe).

Keine dieser Alternativen ist jedoch auf die zu entscheidende Rechtsfrage anwendbar. Die "Travaux préparatoires" wurden denn auch in T 2461/10 und T 2563/11 nicht als Mittel zur Auslegung des Übereinkommens, namentlich des Artikels 125 EPÜ, herangezogen, sondern um darzulegen, dass auf der Münchner Diplomatischen Konferenz eine vereinbarte Erklärung abgegeben wurde, zwar im Zusammenhang mit Artikel 125 EPÜ, aber mit der Absicht, den Wortlaut des Übereinkommens zu ergänzen und eine Grundlage für ein Doppelpatentierungsverbot bereitzustellen, ohne dass es einer ausdrücklichen Vorschrift bedurfte.

60. Von diesen Überlegungen abgesehen ist es rechtssystematisch zweifelhaft, ob Artikel 125 EPÜ als Grundlage für ein Verbot der Doppelpatentierung herangezogen werden kann. Dem Verweis auf die in den Vertragsstaaten im Allgemeinen anerkannten Grundsätze des Verfahrensrechts in Artikel 125 EPÜ stehen die Befugnisse der Vertragsstaaten nach Artikel 139 (3) EPÜ entgegen. Der Geltungsbereich von Artikel 139 (3) EPÜ umfasst auch die Erteilung von mehr als einem Patent an denselben Anmelder für denselben Gegenstand mit Wirkung für denselben Vertragsstaat aufgrund der Koexistenz europäischer und nationaler Patentanmeldungen. Deshalb erschiene es paradox, wenn der Gesetzgeber es dem nationalen Recht der Vertragsstaaten überlassen hätte, die Doppelpatentierung in Bezug auf europäische und nationale Patente entweder auszuschließen oder zu erlauben, und sich gleichzeitig auf die Rechtslage in den Vertragsstaaten zu stützen, um ein Doppelpatentierungsverbot zu rechtfertigen, soweit es nur um europäische Patentanmeldungen geht.

Artikel 6 des Entwurfs von 1965 (der erstellt wurde, bevor das Übereinkommen Nicht-EWG-Ländern zum Beitritt offenstand, und der schließlich zu Artikel 139 (3) EPÜ wurde) untersagte den gleichzeitigen Schutz einer bestimmten Erfindung durch ein nationales und ein europäisches Patent und sah eine diesbezügliche Harmonisierung vor. Allerdings war 1971 die Mehrheit der damals 21 an den Verhandlungen beteiligten Staaten dafür, die Regelung dieser Frage dem nationalen Recht zu überlassen (s. Bericht über die 4. Sitzung der Arbeitsgruppe I der Regierungskonferenz über die Einführung eines europäischen Patenterteilungsverfahrens vom 20. bis 28. April 1971 in Luxemburg, BR/125 d/71, Nr. 15; Bericht der britischen Delegation über die Artikel 1 bis 29 des Zweiten Vorentwurfs eines Übereinkommens über ein europäisches Patenterteilungsverfahren von 1971, Nr. 21). Diese Kompromisslösung wurde auf der Münchner Diplomatischen Konferenz beibehalten (s. Sitzungsbericht des Hauptausschusses I der Münchner Diplomatischen Konferenz über die Einführung eines europäischen Patenterteilungsverfahrens, Dokument M/PR/I, Nrn. 857 bis 867, Dokument N1 im vorliegenden Verfahren).

Natürlich hätte es nach der Annahme des Artikels 139 (3) EPÜ im Jahr 1973 zu einer Angleichung des nationalen Rechts der Vertragsstaaten im Sinne eines grundsätzlichen Doppelpatentierungsverbots kommen können, womit die ursprüngliche Absicht des Gesetzgebers durch Übereinkunft oder Übung ersetzt worden wäre (s. Art. 31 (3) a) und b) des Wiener Übereinkommens). Aus Tabelle X der EPA-Veröffentlichung "Nationales Recht zum EPÜ" (19. Auflage, Oktober 2018, Dokument N5 im vorliegenden Verfahren) geht jedoch klar hervor, dass das nationale Recht weiterhin divergiert. Das Erfordernis nach Artikel 125 EPÜ, dass der herangezogene Grundsatz im Allgemeinen anerkannt sein muss, ist nach wie vor nicht erfüllt (s. aber den Vorbehalt gegenüber diesem Ansatz unter Nr. 61), selbst wenn dieses Erfordernis dahin gehend ausgelegt wird, dass die betreffenden Grundsätze nicht unbedingt in allen Vertragsstaaten anerkannt zu sein brauchten (s. Bericht über die 8. Sitzung der Arbeitsgruppe I der Regierungskonferenz über die Einführung eines europäischen Patenterteilungsverfahrens vom 14. bis 17. September 1971 in Luxemburg, BR/132 d/71, Nr. 56).

61. Zudem ist Artikel 139 (3) EPÜ nicht auf die Frage der Doppelpatentierung beschränkt, sondern bezieht sich ganz allgemein auf den gleichzeitigen Schutz, der aus der Einreichung europäischer und nationaler Patentanmeldungen für dieselbe Erfindung erwächst. Die Vorschrift betrifft die Frage, ob und zu welchen Bedingungen der Schutz einer Erfindung durch eine europäische Patentanmeldung oder ein europäisches Patent nach den Artikeln 64 und 67 EPÜ und der Schutz derselben Erfindung durch eine nationale Patentanmeldung oder ein nationales Patent desselben Anmelders gleichzeitig in Anspruch genommen werden können. So befassen sich die auf Artikel 139 (3) EPÜ beruhenden nationalen Rechtsvorschriften konkret mit der Koexistenz paralleler Einreichungswege mit Wirkung für ein und dasselbe nationale Hoheitsgebiet, während der in G 1/05 und G 1/06 formulierte Grundsatz des Doppelpatentierungsverbots mehrere Einreichungen für dieselbe Erfindung innerhalb ein und desselben Einreichungssystems betrifft.

Im Übrigen geht aus dem Wortlaut des Artikels 139 (3) EPÜ klar hervor, dass die Koexistenz zweier identischer Patente nicht in der Phase vor der Erteilung verhindert werden soll, sondern erst nach der Erteilung eines europäischen Patents. Deshalb schließt sich die Kammer der Feststellung in T 1423/07 an, dass der Bezugsrahmen für die Aufstellung eines Doppelpatentierungsverbots nach Artikel 125 EPÜ ein im nationalen Recht existierender Grundsatz sein sollte, der die Zurückweisung einer nationalen Anmeldung wegen Doppelpatentierung im Verfahren vor der Erteilung gestattet (s. T 1423/07, Nr. 2.2.2), die beispielsweise vorkommt, wenn es eine innere Priorität gibt.

62. Ein weiteres Argument der Beschwerdeführerin in diesem Zusammenhang lautete, dass in Anbetracht der Artikel 2 (2) EPÜ und 139 (3) EPÜ die Frage der Doppelpatentierung gänzlich dem nationalen Recht überlassen bleibe (s. VII, vorletzter Absatz). Artikel 139 (3) EPÜ könne so verstanden werden, dass den Vertragsstaaten die Zuständigkeit dafür eingeräumt werde, gesetzlich zu regeln, welche Wirkung zwei europäische Patente desselben Anmelders für denselben Gegenstand erhalten sollten, falls diesem Anmelder im Prüfungsverfahren vor dem EPA ein zweites europäisches Patent für dieselbe Erfindung nicht verweigert werden könne. Nach dieser Auslegung gäbe es keine Regelungslücke, und die Beschwerdekammern würden sich mit einem grundsätzlichen Doppelpatentierungsverbot möglicherweise in nationales Recht einmischen.

Die Kammer lässt diese Argumentation jedoch nicht gelten. Es kann nicht zu einer derartigen Einmischung kommen, weil Artikel 139 (3) EPÜ die Phase nach der Erteilung betrifft und zudem nicht darauf abzielt, die Erteilung eines oder mehrerer europäischer Patente für denselben Gegenstand zu verhindern (s. Nr. 61).

63. Abschließend sei festgestellt, dass Artikel 125 EPÜ nur ein Instrument zur Ergänzung der bestehenden Verfahren bietet, falls eine Vorschrift im EPÜ fehlt (s. G 1/97, ABl. EPA 2000, 322, Nr. 3 a)). Die Kammer stimmt mit T 1423/07 darin überein, dass das Doppelpatentierungsverbot verfahrensrechtliche wie auch materiellrechtliche Aspekte berührt. Dennoch ist fraglich, ob Artikel 125 EPÜ als rechtliche Grundlage für dieses Verbot herangezogen werden kann.

Ein Doppelpatentierungsverbot wäre ein separater und über die in Artikel 97 (2) genannten Erfordernisse des EPÜ hinausgehender Zurückweisungsgrund (vgl. die Zweifel der Kammer in T 587/98, Nr. 3.6, in einer Sache, die den Doppelschutz bei einander umfassenden Ansprüchen betraf). Die Aufnahme eines weiteren Patentierbarkeitserfordernisses (oder Zurückweisungsgrunds) auf der Grundlage von Artikel 125 EPÜ würde über den Zweck dieser Vorschrift – die Ergänzung bestehender Verfahren – hinausgehen.

Andererseits sind diese Überlegungen vielleicht gar nicht maßgebend, da die Beschwerdekammern befugt sind, eine Regelungslücke zu schließen, ohne von Artikel 125 EPÜ eingeschränkt zu werden (s. Erörterung unter Nrn. 72 bis 75).

64. In Anbetracht der vorstehenden Ausführungen ist es deshalb zweifelhaft, ob Artikel 125 EPÜ eine geeignete Rechtsgrundlage für ein Verbot der Doppelpatentierung darstellt.

iii) Artikel 63 (1) EPÜ

65. Wie im Zusammenhang mit dem Hauptantrag dargelegt (s. Nr. 13), lehnte die Kammer in der Sache T 2461/10 die in T 1423/07 vertretene Auffassung ab, dass die bei einer inneren Priorität aufgrund der späteren Einreichung möglicherweise erzielbare längere Schutzdauer ein legitimes Interesse begründe. In T 2461/10 wies die Kammer darauf hin, dass die Doppelpatentierung zu einer Schutzdauer von bis zu 21 Jahren für denselben Gegenstand führen würde, was schwerlich mit dem Wortlaut und der Intention von Artikel 63 (1) EPÜ in Einklang zu bringen wäre (T 2461/10, Nr. 14).

Richtig ist, dass sich die Entscheidung T 2461/10 nicht auf Artikel 63 (1) EPÜ, sondern auf Artikel 125 EPÜ als Rechtsgrundlage für ein Verbot der Doppelpatentierung stützte. Für die Zwecke dieser Vorlage hat die jetzige Kammer jedoch geprüft, ob Artikel 63 (1) EPÜ die Doppelpatentierung in Fällen einer inneren Priorität unabhängig davon beschränkt, ob ein grundsätzliches Doppelpatentierungsverbot als solches besteht.

66. In den Beratungen über die Doppelpatentierung in der 10. Sitzung der Arbeitsgruppe I vom 22. bis 26. November 1971 in Luxemburg äußerten die Delegationen ähnliche Bedenken hinsichtlich einer Verlängerung der Schutzdauer (s. BR/144 d/71 vom 16. Dezember 1971, Dokument N3 im vorliegenden Verfahren, Nr. 118). In der Frage, ob es zulässig sein sollte, dass der Anmelder einer europäischen Patentanmeldung die Priorität einer früheren europäischen Patentanmeldung in Anspruch nimmt und dabei auch einen oder mehrere Staaten benennt, die bereits in der früheren Anmeldung benannt waren, wurde argumentiert, dass "dies dazu führen könne, dass sich […] die Laufzeit des Patents um den Zeitraum verlängert, der zwischen der Einreichung der früheren und der späteren Anmeldung liegt, falls inzwischen die erste Anmeldung zurückgenommen wird". Die Verlängerung der Laufzeit eines europäischen Patents wurde also im Rahmen der Frage behandelt, ob eine innere Priorität generell zulässig sein sollte.

Relevant für diese Frage ist die Tatsache, dass der einstweilige Schutz gemäß Artikel 67 (1) und (2) EPÜ durch die Veröffentlichung der europäischen Patentanmeldung ausgelöst wird und dass der Patentschutz nach Artikel 64 (1) EPÜ die Erteilung eines europäischen Patents erfordert. Wenn also eine innere Priorität beansprucht wird, beträgt die Dauer des Erfindungsschutzes in den seltenen Fällen, in denen er vor der Einreichung der prioritätsbeanspruchenden späteren europäischen Patentanmeldung beginnt, mehr als 20 Jahre (maximale Laufzeit eines europäischen Patents gemäß Artikel 63 (1) EPÜ). Dies bedingt entweder, dass die frühere europäische Patentanmeldung auf Antrag des Anmelders vorzeitig veröffentlicht wird (Art. 93 (1) b) EPÜ; s. jedoch Regel 52 (4) EPÜ) oder dass vor der Einreichung der prioritätsbeanspruchenden europäischen Patentanmeldung ein Patent darauf erteilt wird. Unter normalen Umständen beträgt der Patentschutz für die in der früheren europäischen Patentanmeldung erstmals offenbarte Erfindung jedoch nicht mehr als 20 Jahre, weil der Veröffentlichungstag der früheren und der prioritätsbeanspruchenden späteren europäischen Patentanmeldung derselbe ist (Art. 93 (1) a) EPÜ). Zutreffender ist, dass sich der Tag, an dem der Patentschutz für die Erfindung endet, um bis zu 12 Monate verschiebt, wenn ein Patent auf die später eingereichte Anmeldung erteilt wird, weil die Laufzeit eines europäischen Patents vom Anmeldetag (Art. 63 (1) EPÜ) und nicht vom Prioritätstag an berechnet wird.

Es ist ein Wesensmerkmal der Inanspruchnahme einer Priorität, dass die Laufzeit des auf die spätere europäische Patentanmeldung erteilten Patents und somit auch das Ende des Patentschutzes um bis zu 12 Monate verschoben wird. Da die Inanspruchnahme der Priorität einer früheren europäischen Patentanmeldung, in der dieselben Vertragsstaaten benannt sind, nach Artikel 88 EPÜ zulässig ist (T 15/01, Nr. 26), muss die Verschiebung des Endes des Patentschutzes als rechtliche Folge eines Anspruchs auf (innere) Priorität hingenommen werden.

67. Diese Überlegungen sprechen dagegen, dass Artikel 63 (1) EPÜ eine einschränkende Wirkung auf die Doppelpatentierung aufgrund einer inneren Priorität hat. Noch zweifelhafter ist, ob Artikel 63 (1) EPÜ eine konkrete Rechtsgrundlage für ein Verbot der Doppelpatentierung aufgrund einer inneren Priorität sein kann.

Andererseits ist die Tatsache, dass die Patentlaufzeit für die spätere europäische Patentanmeldung später beginnt, kaum eine hinreichende Rechtfertigung dafür, die Doppelpatentierung derselben Erfindung zu gestatten. In Bezug auf die frühere wie auch die spätere europäische Patentanmeldung hat der Anmelder die Wahl, ob und in welcher Form er diese bis zur Erteilung weiterverfolgen will (T 2461/10, Nr. 14). Da der späteren Anmeldung sowohl der spätere Anmeldetag als auch der Prioritätstag (sofern wirksam beansprucht) zugutekommen, ist kein Grund ersichtlich, warum ein Anmelder die frühere und die spätere Anmeldung weiterverfolgen sollte, um Schutz für denselben Gegenstand zu erlangen.

Solange es aber nicht, wie in G 1/05 und G 1/06 dargelegt, einen Rechtsgrundsatz gibt, der ein legitimes Interesse am Verfahren voraussetzt, ist das fehlende Interesse an der Erteilung von mehr als einem Patent für denselben Gegenstand kein hinreichender Grund für eine Zurückweisung.

iv) Artikel 76 (1) EPÜ

68. Zu Doppelpatentierung kommt es am ehesten im Zusammenhang mit europäischen Teilanmeldungen, denn eine Teilanmeldung, die nicht über den Inhalt der früheren Anmeldung hinausgeht, gilt als am Anmeldetag der früheren Anmeldung eingereicht und genießt gegebenenfalls auch deren Prioritätstag (Art. 76 (1) EPÜ). Dennoch schränkt Artikel 76 (1) EPÜ nicht die Doppelpatentierung ein (im Einklang mit den Ausnahmeregelungen, die Artikel 4G Absatz 2 der Pariser Verbandsübereinkunft zum Schutz des gewerblichen Eigentums einräumt; das EPÜ ist davon ein Sonderabkommen).

69. Die vorstehend im Zusammenhang mit Artikel 125 EPÜ analysierten "Travaux préparatoires" bestätigen, dass Artikel 76 (1) EPÜ keine Beschränkung der Doppelpatentierung beinhaltet. Artikel 137a Absatz 2 Satz 1 des Entwurfs von 1971 sah vor, dass die Ansprüche der Teilanmeldung keinen Gegenstand enthalten sollten, für den in der früheren Anmeldung Schutz begehrt wurde und umgekehrt. Dieser Satz wurde jedoch in der 10. Sitzung der Arbeitsgruppe I gestrichen, da das Risiko bestand, er könnte dahin gehend ausgelegt werden, dass – außer bei Teilanmeldungen – die Ansprüche späterer Anmeldungen denselben Gegenstand enthalten dürfen wie die Ansprüche früherer Anmeldungen (s. Bericht über die 10. Sitzung der Arbeitsgruppe I vom 22. bis 26. November 1971 in Luxemburg, BR/144 d/71 vom 16. Dezember 1971, Dokument N3 im vorliegenden Verfahren, Nr. 120). Man fürchtete also, dass die Aufnahme eines Doppelpatentierungsverbots im Zusammenhang mit Teilanmeldungen die unbeabsichtigte Folge haben könnte, dass im Umkehrschluss die Anwendbarkeit eines solchen Verbots auf Fälle ohne Teilanmeldungen verneint würde. Eine spezielle Vorschrift wurde nicht als notwendig erachtet; stattdessen sollte eine Erklärung aufgenommen werden, wonach es nicht möglich ist, dass ein Erfinder für dieselbe Erfindung zwei Patente erhält.

70. Diese Punkte bestätigen die Feststellungen der Kammer in Bezug auf den Hauptantrag der Beschwerdeführerin, dass die Große Beschwerdekammer in G 1/05 und G 1/06 das Doppelpatentierungsverbot nicht aus Artikel 76 (1) EPÜ herleitete – weder durch eine wörtliche Lesart noch durch Auslegung des Wortlauts – und zudem das Verbot nicht auf die Doppelpatentierung von Stamm- und Teilanmeldungen beschränkte (s. Erörterung unter Nrn. 5 bis 11).

71. Dies lässt den Schluss zu, dass Artikel 76 (1) EPÜ nicht als Rechtsgrundlage für ein Verbot der Doppelpatentierung herangezogen werden kann.

v) Schließen einer Regelungslücke

72. Die Beschwerdekammern können eine Regelungslücke schließen, ohne an die Bedingungen des Artikels 125 EPÜ gebunden zu sein (s. zur Veranschaulichung G 1/11, ABl. EPA 2014, A122, Nr. 13; J 5/91, ABl. EPA 1993, 657, Nrn. 5.4 und 5.5; J 32/95, ABl. EPA 1999, 713, Nr. 2.4; T 616/08, Nr. 12). Die Grenzen für die Ausfüllung einer Regelungslücke durch eine Beschwerdekammerentscheidung oder, wie von der Großen Beschwerdekammer in G 1/97 ausgedrückt, im Wege der richterlichen Rechtsfortbildung, wurden unter Nummer 3 b) von G 1/97 abgesteckt:

"In einem kodifizierten System wie dem EPÜ kann nicht der Richter nach Bedarf an die Stelle des Gesetzgebers treten, der die erste Rechtsquelle ist und bleibt. Zwar kann er sich veranlasst sehen, Lücken auszufüllen, insbesondere, wenn sich zeigt, dass der Gesetzgeber es versäumt hat, bestimmte Fälle zu regeln. Er kann sogar zur Rechtsfortbildung über die Ausfüllung von Lücken hinaus beitragen. Grundsätzlich muss die Rechtsordnung aber – und sei es auch in unvollkommener Form – Anhaltspunkte enthalten [...]."

73. Im vorliegenden Fall geht es primär darum, ob es eine (unbeabsichtigte) Lücke in den Vorschriften des EPÜ und damit ein rechtliches Vakuum im Hinblick auf die Doppelpatentierung gibt. Die "Travaux préparatoires" zeigen, dass die Absicht bestand, auf der Münchner Diplomatischen Konferenz eine vereinbarte Erklärung zu einem Doppelpatentierungsverbot abzugeben. Der Konferenz ist es jedoch nicht gelungen, sich einstimmig auf eine solche Erklärung zu einigen. Dass im Übereinkommen nichts über Doppelpatentierung ausgesagt wird, ist demnach auf eine fehlende Einigung und nicht auf eine Unterlassung zurückzuführen. Daraus lässt sich jedoch nicht schließen, dass das Fehlen eines Doppelpatentierungsverbots beabsichtigt war.

Auch auf der Diplomatischen Konferenz zur Revision des EPÜ im Jahr 2000 wurde ein solches Verbot nicht eingeführt. Artikel 139 (3) EPÜ, der den Vertragsstaaten die uneingeschränkte Zuständigkeit dafür einräumt, den Doppelschutz gesetzlich zu regeln, blieb unverändert. Eine Absicht, die Doppelpatentierung in Bezug auf europäische Patentanmeldungen zu harmonisieren, ist nicht eindeutig belegt.

74. Andererseits ist nach G 1/05 und G 1/06 das Doppelpatentierungsverbot eine konkrete Form des allgemeinen Rechtsgrundsatzes, dass ein Beteiligter ein legitimes Interesse an einem Verfahren haben muss. Obwohl im Übereinkommen nicht ausdrücklich erwähnt, liegt dieser allgemeine Grundsatz doch mehreren seiner Vorschriften zugrunde. So lassen beispielsweise die Regeln 75 und 84 EPÜ die Einlegung des Einspruchs bzw. die Fortsetzung des Einspruchsverfahrens auch dann zu, wenn in allen benannten Vertragsstaaten auf das europäische Patent verzichtet worden ist oder das Patent in allen diesen Staaten erloschen ist. Damit wird dem legitimen Interesse eines mutmaßlichen Verletzers am rückwirkenden Widerruf des Patents Rechnung getragen. Auch das Erfordernis, dass ein Beschwerdeführer durch die angefochtene Entscheidung beschwert sein muss (Art. 107 EPÜ), kann als Ausdruck des Grundsatzes eines legitimen Interesses am Beschwerdeverfahren betrachtet werden; dadurch werden Beschwerden ausgeschlossen, die offensichtlich aussichtslos oder schikanös sind.

Die Zurückweisung einer europäischen Patentanmeldung aus dem Grund, dass dem Anmelder bereits ein europäisches Patent für denselben Gegenstand erteilt wurde, ist zweifellos ein Beispiel für die Anwendung des Grundsatzes eines legitimen Interesses am Verfahren. Daher steht die Uneinigkeit auf der Münchner Diplomatischen Konferenz in der Frage der Doppelpatentierung im Widerspruch dazu, dass der vorgenannte – dem Übereinkommen zugrunde liegende – Verfahrensgrundsatz von den Vertragsstaaten stillschweigend anerkannt wurde. Während der implizite allgemeine Grundsatz dafür spricht, dass die Rechtsprechung das Übereinkommen durch ein Doppelpatentierungsverbot ergänzt, spricht die fehlende Einigkeit über eine Harmonisierung während der Entstehungsgeschichte dagegen.

75. Aus dem Vorstehenden wird deutlich, dass berechtigte Zweifel an der Absicht des Gesetzgebers hinsichtlich der Doppelpatentierung bestehen. Es gibt also keine Leitlinie, der die Beschwerdekammern folgen könnten. Möglicherweise müssen die Beschwerdekammern in dieser Situation darauf verzichten, eine mutmaßliche Regelungslücke zu füllen, um nicht an die Stelle des Gesetzgebers zu treten (auch wenn sie sich damit nicht, wie von der Beschwerdeführerin vorgebracht, direkt in die Hoheitsrechte eines Vertragsstaats nach Art. 139 (3) EPÜ einmischen würden, s. Nr. 62).

Die Doppelpatentierung zu verbieten oder zu gestatten, ist eine politische Entscheidung. Ein Verbot der Doppelpatentierung impliziert eine Abweichung von der Definition des Stands der Technik nach Artikel 54 (2) und (3) EPÜ und würde somit ein weiteres Patentierbarkeitserfordernis schaffen. Entsprechende Bedenken äußerte auch die norwegische Delegation (s. Stellungnahme der norwegischen Delegation vom 8. Mai 1973 zu den vorbereitenden Dokumenten für die Münchner Diplomatische Konferenz, M/28 (Dokument N2 im vorliegenden Verfahren), Nr. 11, von der Beschwerdeführerin angeführt, s. Nr. 50).

Solch ein weiteres Patentierbarkeitserfordernis könnte u. a. damit gerechtfertigt werden, Patentdickichte zu vermeiden. Allerdings würde ein Doppelpatentierungsverbot, das lediglich verhindert, dass derselbe Gegenstand zweimal in einem derselben Person erteilten europäischen Patent beansprucht wird, wenig zu dem Ziel beitragen, unnötige, durch eine Vielzahl von Patenten verursachte Wettbewerbsbeschränkungen zu vermeiden. Zudem wäre ein solches Verbot leicht durch geringfügige Änderungen der Ansprüche zu umgehen. Die Verhinderung des Doppelschutzes ist andererseits Sache des nationalen Rechts, und Artikel 139 (3) EPÜ räumt den Vertragsstaaten diesbezüglich uneingeschränktes Ermessen ein.

Ohne die Einführung eines Doppelpatentierungsverbots nach dem EPÜ im Wege der Rechtsprechung gelten weiterhin dieselben Patentierbarkeitserfordernisse für alle europäischen Patentanmeldungen, namentlich der in Artikel 54 EPÜ verankerte Grundsatz des "ganzen Tags". Dann ist die Doppelpatentierung als Folge der Definition des Stands der Technik nach Artikel 52 (2) und (3) EPÜ genauso zu akzeptieren wie bei zwei europäischen Patentanmeldungen, die auf denselben Gegenstand gerichtet sind und dasselbe wirksame Datum haben, aber von verschiedenen Personen eingereicht werden. Dabei schließt die Akzeptanz der Doppelpatentierung nicht aus, dass die Frage des Doppelschutzes im nationalen Recht geregelt wird. Die Entscheidung für oder gegen ein Doppelpatentierungsverbot in Bezug auf europäische Patentanmeldungen dürfte sich aber besser im Rahmen eines ordentlichen Gesetzgebungsverfahrens treffen lassen.

vi) Res judicata / ne bis in idem

76. Der Vollständigkeit halber weist die Kammer darauf hin, dass das Verbot der Doppelpatentierung von dem in T 51/08 herangezogenen Grundsatz der res judicata (ne bis in idem) zu unterscheiden ist. Dort wurde ein Gegenstand, über den eine Beschwerdekammer in der Stammanmeldung rechtskräftig entschieden hatte, in einer Teilanmeldung weiterverfolgt. Wie die Kammer in T 51/08 zutreffend anmerkte, sollen mit dem Grundsatz der res judicata doppelte oder widersprüchliche Urteile verhindert werden, während ein Doppelpatentierungsverbot mehrere Patente für denselben Gegenstand verhindern soll (T 51/08, Nr. 3.2).

77. Zu beachten ist auch der allgemein anerkannte Grundsatz des Patentrechts, dass eine wirksam eingereichte Teilanmeldung zu einer eigenständigen, von der Stammanmeldung unabhängigen Anmeldung wird und genauso zu behandeln ist wie normale Anmeldungen und denselben Erfordernissen unterliegt, sofern nicht besondere Vorschriften im EPÜ etwas anderes vorsehen (G 1/05 und G 1/06, Nrn. 3.1 und 8.1; G 4/98, ABl. EPA 2001, 131, Nr. 5). Dasselbe gilt für eine europäische Patentanmeldung, die die Priorität einer früheren europäischen Patentanmeldung beansprucht, oder eine europäische Patentanmeldung, die am selben Tag eingereicht wurde wie eine andere europäische Patentanmeldung, die denselben Gegenstand beansprucht.

e) Zusammenfassung der Feststellungen

78. Die wichtigsten Schlussfolgerungen der Kammer lassen sich wie folgt zusammenfassen:

- Das EPÜ enthält keine Vorschrift, die die Doppelpatentierung ausdrücklich verbietet.

- Es ist nicht klar, ob ein solches Verbot durch eine vereinbarte Erklärung oder einen ähnlichen auf der Münchner Diplomatischen Konferenz vollzogenen Verwaltungsakt zu einem impliziten Teil des Übereinkommens geworden ist.

- Der Gesetzgeber hat auf der Diplomatischen Konferenz zur Revision des EPÜ im Jahr 2000 kein ausdrückliches Doppelpatentierungsverbot eingeführt. Artikel 139 (3) EPÜ blieb unverändert.

- Ein Verbot der Doppelpatentierung kann nicht auf Artikel 60 (1) EPÜ gestützt werden.

- Weder Artikel 63 (1) EPÜ noch Artikel 76 (1) EPÜ bietet Raum für ein Verbot der Doppelpatentierung.

- Es ist fraglich, ob Artikel 125 EPÜ als rechtliche Grundlage für ein Verbot der Doppelpatentierung geeignet ist. Diese Vorschrift kann nicht herangezogen werden, um eine neue Patentierbarkeitsvoraussetzung (oder einen neuen Zurückweisungsgrund) aufzunehmen.

- Artikel 139 (3) EPÜ behandelt den Doppelschutz aufgrund paralleler Einreichungswege für dasselbe Hoheitsgebiet. Diese Frage bleibt ganz dem nationalen Recht überlassen.

- Wenn ein Doppelpatentierungsverbot in Bezug auf europäische Patentanmeldungen überhaupt eingeführt werden kann, so im Zuge der Schließung einer unbeabsichtigten Regelungslücke durch die Rechtsprechung. In Anbetracht der damit verbundenen politischen Erwägungen dürfte ein ordentliches Gesetzgebungsverfahren jedoch einen besseren Rahmen zur Schaffung einer soliden rechtlichen Grundlage für ein Doppelpatentierungsverbot abgeben.

IV. Vorlage an die Große Beschwerdekammer

79. Mit der ersten Frage soll geklärt werden, ob ein grundsätzliches Doppelpatentierungsverbot in Bezug auf europäische Patentanmeldungen desselben Anmelders besteht. Im Kern geht es darum, ob eine Grundlage dafür existiert, dass die Kammern (oder andere Organe des EPA) die Erteilung von Patenten auf eine Weise beschränken, die nicht durch eine konkrete Vorschrift des EPÜ gerechtfertigt ist. Der Verweis in der ersten Frage auf den "Stand der Technik nach Artikel 54 (2) und (3) EPÜ" ist auf die drei Situationen gerichtet, in denen es zu Doppelpatentierung kommen kann (s. Nr. 22). Alternativ könnte man auch sagen, die Frage zielt auf Situationen ab, in denen die betreffende europäische Patentanmeldung dasselbe wirksame Datum (Prioritätstag oder Anmeldetag) hat wie eine europäische Patentanmeldung, für die dem Anmelder bereits ein europäisches Patent erteilt wurde.

80. Bestätigt die Große Beschwerdekammer den Grundsatz eines Doppelpatentierungsverbots, so gilt es mit der zweiten Frage die Bedingungen für die Zurückweisung einer europäischen Patentanmeldung wegen Doppelpatentierung klarzustellen, wobei Nummer 13.4 von G 1/05 und G 1/06 zu berücksichtigen ist (s. Nrn. 25 bis 31). Falls bestätigt wird, dass ein solcher Grundsatz existiert, sollte insbesondere geklärt werden, welches die Bedingungen für ein "legitimes Interesse" sind und was "dieselbe Erfindung" bedeutet. In diesem Zusammenhang muss die von der Beschwerdeführerin aufgeworfene Frage geprüft werden, ob die verschiedenen Situationen, in denen es zu Doppelpatentierung kommen kann, unterschiedliche Bedingungen rechtfertigen. Die Frage 2.2 behandelt die konkrete Rechtsfrage, die für die Entscheidung über die vorliegende Beschwerde relevant ist.

Entscheidungsformel

Aus diesen Gründen wird entschieden:

Der Großen Beschwerdekammer werden folgende Rechtsfragen vorgelegt:

1. Kann eine europäische Patentanmeldung nach Artikel 97 (2) EPÜ zurückgewiesen werden, wenn sie denselben Gegenstand beansprucht wie ein demselben Anmelder erteiltes europäisches Patent, das nicht zum Stand der Technik nach Artikel 54 (2) und (3) EPÜ gehört?

2.1 Wenn die erste Frage bejaht wird, welches sind dann die Bedingungen für eine solche Zurückweisung, und gelten unterschiedliche Bedingungen je nachdem, ob die zu prüfende europäische Patentanmeldung

a) am Anmeldetag oder

b) als europäische Teilanmeldung (Artikel 76 (1) EPÜ) zu oder

c) unter Inanspruchnahme der Priorität (Artikel 88 EPÜ) einer europäischen Patentanmeldung eingereicht wurde, auf deren Grundlage demselben Anmelder ein europäisches Patent erteilt wurde?

2.2 Hat insbesondere im letztgenannten Fall ein Anmelder ein legitimes Interesse an der Erteilung eines Patents auf die (spätere) europäische Patentanmeldung, weil nach Artikel 63 (1) EPÜ der Anmeldetag und nicht der Prioritätstag maßgeblich für die Berechnung der Laufzeit des europäischen Patents ist?

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