T 2461/10 (MAT-Moleküle/BOEHRINGER INGELHEIM VETMEDICA) of 26.3.2014

European Case Law Identifier: ECLI:EP:BA:2014:T246110.20140326
Datum der Entscheidung: 26 März 2014
Aktenzeichen: T 2461/10
Anmeldenummer: 03808718.5
IPC-Klasse: C12N 15/62
Verfahrenssprache: DE
Verteilung: C
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Fassungen: Unpublished
Bezeichnung der Anmeldung: Moduläre Antigen-Transporter Moleküle (MAT-Moleküle) zur Modulierung von Immunreaktionen, zugehörige Konstrukte, Verfahren und Verwendungen
Name des Anmelders: Boehringer Ingelheim Vetmedica GmbH
Name des Einsprechenden: -
Kammer: 3.3.08
Leitsatz: -
Relevante Rechtsnormen:
European Patent Convention Art 60
European Patent Convention Art 63
European Patent Convention Art 111(1)
European Patent Convention Art 125
Schlagwörter: Doppelpatentierung (nein; siehe Punkte 2 bis 26)
Zurückverweisung an die Prüfungsabteilung (ja)
Rückzahlung der Beschwerdegebühr (nein)
Orientierungssatz:

-

Angeführte Entscheidungen:
G 0001/98
G 0001/05
G 0001/06
G 0002/10
T 0123/82
T 0587/98
T 0009/00
T 0307/03
T 1491/06
T 1391/07
T 1423/07
T 2402/10
Anführungen in anderen Entscheidungen:
G 0004/19
T 1155/11
T 2563/11
T 0013/14
T 0015/14
T 0318/14
T 1252/16

Sachverhalt und Anträge

I. Die Beschwerde der Anmelderin (Beschwerdeführerin) richtet sich gegen die in der mündlichen Verhandlung vom 10. März 2010 getroffene und am 17. Juni 2010 schriftlich zur Post gegebene Entscheidung der Prüfungsabteilung des Europäischen Patentamtes, mit der die europäische Patentanmeldung Nr. 03808718.5 mit der Bezeichnung "Moduläre Antigen-Transporter Moleküle (MAT-Moleküle) zur Modulierung von Immunreaktionen, zugehörige Konstrukte, Verfahren und Verwendungen" aufgrund des Artikels 97 (2) EPÜ zurückgewiesen wurde. Die europäische Anmeldung wurde als internationale Anmeldung nach dem Vertrag über die internationale Zusammenarbeit auf dem Gebiet des Patentwesens (PCT) eingereicht und veröffentlicht (internationale Veröffentlichungsnummer WO 2004/035793; im Folgenden "die veröffentlichte Anmeldung").

II. Für die Anmeldung beansprucht die Anmelderin die Priorität ihrer früheren europäischen Patentanmeldung Nr. 02022774.0, für die das europäische Patent Nr. 1 408 114 erteilt wurde (im Folgenden "Prioritätspatent"). Der Hinweis auf die Patenterteilung wurde am 3. Januar 2007 im Patentblatt bekanntgemacht.

III. Die Ansprüche 1, 12 und 13 des Prioritätspatents lauten wie folgt:

"1. Modulares Antigen-Transport-Molekül (MAT-Molekül), enthaltend mindestens ein Translokations-Modul, das den Transport des MAT-Moleküls vom extrazellulären Raum ins Zellinnere bewirkt, mindestens ein Targeting-Modul, das bewirkt, dass das MAT-Molekül intrazellulär zu den Organellen transportiert wird[,] die an der Prozessierung von Antigenen oder der Beladung von MHC-II Molekülen mit Antigenen beteiligt sind[,] und mindestens ein Antigen-Modul, das die Spezifität einer durch das MAT-Molekül in einem Individuum modulierten Immunantwort bestimmt, wobei die Module über kovalente Bindungen miteinander gekoppelt sind und wobei

a) das Translokations-Modul eine Peptid Moleküleinheit ist und HIV-tat, VP22 oder Antennapedia oder ein als Translokations-Modul funktioneller Sequenzabschnitt davon ist und;

b) das Targeting-Modul eine Moleküleinheit mit einer Aminosäuresequenz ist und die MHC invariante Kette (IiP33, IiP41, IiP35, IiP43) oder ein als Targeting-Modul funktioneller Sequenzabschnitt davon ist und

c) das Antigen-Modul ein aus einem Protein oder Peptid bestehendes Allergen ist

und wobei das MAT-Molekül die in vitro Proliferation peripherer mononukleärer Zellen aus dem Blut eines Allergikers, der gegen das Allergen reagiert, bewirkt.

12. Verwendung eines modularen Antigen-Transport-Moleküls (MAT-Molekül), nach den Ansprüchen 1 bis 3, oder Nukleinsäuren nach Anspruch 4, Vektoren nach Anspruch 5, Zelllinien oder primäre Zellen nach Anspruch 6 oder Exosomen, Deoxosomen oder Liposomen nach Anspruch 7 zur Herstellung eines Medikaments zur Prophylaxe oder Behandlung von Allergien.

13. Verwendung gemäß Anspruch 12, wobei das Medikament ein Impfstoff ist."

IV. Der angefochtenen Entscheidung lag die am 9. Februar 2010 eingereichte Fassung der Anmeldung (geänderte Ansprüche 1 bis 18, geänderte Seiten 3, 3a, 4, 11, 13, 18, 23, 25, 32, 37, 42 und 43 der Beschreibung, sowie Seiten 1, 2, 5 bis 10, 12, 14 bis 17, 19 bis 22, 24, 26 bis 31, 33 bis 36, 38 bis 41 und 44 bis 92 und Abbildungen 1 bis 9 der veröffentlichten Anmeldung) zugrunde.

V. Die Ansprüche 1, 2, 6, 7, 16 und 17 der vorliegenden Anmeldung lauten wie folgt:

"1. Verwendung eines modularen Antigen-Transport-Moleküls (MAT-Molekül), enthaltend mindestens ein Translokations-Modul, das den Transport des MAT-Moleküls vom extrazellulären Raum ins Zellinnere bewirkt, mindestens ein Targeting-Modul, das bewirkt, dass das MAT-Molekül intrazellulär zu den Organellen transportiert wird, die an der Prozessierung von Antigenen oder der Beladung von MHC-II Molekülen mit Antigen beteiligt sind[,] und mindestens ein Antigen-Modul, das wenigstens eine aus einem Antigen bestehende Moleküleinheit ist und das die Spezifität einer durch das MAT-Molekül in einem Individuum modulierten Immunantwort bestimmt, zur Herstellung eines Medikaments zur Prophylaxe oder Behandlung von einer Infektionserkrankung, einer Autoimmunerkrankung, Allergie, einer rheumatischen Erkrankung, einer Abstoßreaktion gegen ein transplantiertes Organ und/oder einer malignen Erkrankung.

2. Verwendung nach Anspruch 1, bei dem das Translokationsmodul eine Aminosäuresequenz ist, das Targeting-Modul eine Aminosäuresequenz ist und das Antigen-Modul ein Protein oder Peptid ist.

6. Verwendung nach einem der Ansprüche 1 bis 5, bei dem zumindest ein Translokations-Modul zumindest eine der nachfolgenden Sequenzen oder zumindest einen funktionellen Sequenzabschnitt dieser Sequenzen für den Transport des MAT-Moleküls vom extrazellulären Raum ins Zellinnere beinhaltet: HIV-tat, Antennapedia, VP22, Polyarginin- oder Polylysin-Sequenzen mit einer Länge von 4 bis 20 Aminosäuren oder zu den vorgenannten invertierte Sequenzen.

7. Verwendung nach einem der Ansprüche 1 oder 6, bei dem zumindest ein Targeting-Modul eine der nachfolgenden Sequenzen oder Strukturen, oder zumindest eine funktionelle Teilsequenz dieser Sequenz beinhaltet: MHC invariante Kette (liP33, liP41, liP35, liP43[sic]), MHC II-beta-Kette, Mannose-6-Phosphatrezeptor, membrangebundenes Immunglobulin (mlg), HLA-DM beta-Kette, LAMP-1, LAMP2, LAMP-3, Limp 1, CD63, CD82, CD1b oder zu den vorgenannten invertierte Sequenzen.

13. Verwendung nach einem der Ansprüche 1 bis 12 zur Prophylaxe oder Therapie von Allergien.

16. Verwendung einer (i) für das MAT-Molekül nach Anspruch 1 kodierenden Nukleinsäuresequenz, ii) eines Vektors, der mindestens eine Nukleinsäuresequenz, die für ein MAT-Molekül nach einem der vorherigen Ansprüche kodiert, enthält, iii) einer primären Zelle oder Zelllinie, die wenigstens einen Vektor und/oder eine Nukleinsäuresequenz nach i) oder ii) enthält, oder iv) von Exosomen, Deoxosomen oder Liposomen, die wenigstens ein MAT-Molekül nach einem der Ansprüche 1 bis 14, eine dafür kodierende Nukleinsäure oder ein diese Nukleinsäure enthaltenen Vektor enthält, zur Herstellung eines Medikamentes zur Prophylaxe oder Behandlung einer Infektionserkrankung, einer Autoimmunerkrankung, Allergie, einer rheumatischen Erkrankung, einer Abstoßreaktion gegen ein transplantiertes Organ und/oder einer malignen Erkrankung.

17. Verwendung nach einem der vorliegenden Ansprüche, wobei das Medikament ein Impfstoff ist."

VI. In der angefochtenen Entscheidung stellte die Prüfungsabteilung unter Verweis auf die seinerzeitige Fassung der Richtlinien für die Prüfung am EPA, Punkt C-IV, 7.4 ("Doppelpatentierung") fest, dass für die Ansprüche der vorliegenden Anmeldung das Verbot der Doppelpatentierung greife. Es sei unstrittig, dass das Prioritätspatent und die vorliegende Anmeldung denselben Anmeldetag bzw. dieselbe Priorität aufweisen, dieselben Vertragsstaaten benennen und denselben Anmelder haben (siehe Abschnitt 18, letzter Satz der angefochtenen Entscheidung), und dass der Schutzbereich des Prioritätspatents und der vorliegenden Anmeldung sich überlappen, weil bevorzugte Ausführungsformen der Erfindung, die in den Ansprüchen 6, 7 und 13 der Anmeldung beansprucht werden, identisch seien mit "... dem Schutzbereich der erteilten Ansprüchen 12 und 13 des Patentes, das aus der prioritätsbegründenden Anmeldung hervorgegangen ist" (siehe Abschnitt 19, letzter Satz). Weiterhin werde in Anspruch 16 der Anmeldung dieselbe zweite medizinische Verwendung für die entsprechenden Nukleinsäuren, Zelllinien oder primären Zellen oder Exosomen, Dexosomen oder Liposomen beansprucht. Unter diesen Umständen fehle dem Anmelder gemäß den Entscheidungen G 1/05 und G 1/06 der Großen Beschwerdekammer (ABl. EPA 2007, 362 bzw. ABl. EPA 2008, 307; Punkt 13.4) sowie der Entscheidung T 307/03 (ABl. EPA 2009, 422, Punkte 2.5 und 2.6 der Entscheidungsgründe) ein Rechtsschutzinteresse.

Die Tatsache, dass es sich im vorliegenden Fall nicht - wie in den zitierten Entscheidungen - um eine Stamm- und eine Teilanmeldung handle, sondern um ein aus der prioritätsbegründenden Anmeldung hervorgegangenes Patent und die nachfolgende Anmeldung, erlaube keine andere Beurteilung. Ein späterer Ablauf des Patentschutzes bei dem aus der nachfolgenden Anmeldung hervorgegangenen Patent begründe kein Rechtsschutzinteresse, weil aus der früheren prioritätsbegründenden Anmeldung nach dem Anmeldetag bereits Rechte abgeleitet werden könnten (siehe Abschnitt 20.2, zweiter Absatz der angefochtenen Entscheidung).

Das Verbot der Doppelpatentierung werde nicht nur auf Artikel 125 EPÜ, sondern auch auf Artikel 60 EPÜ gestützt. Entgegen der Meinung der Anmelderin könne aus Artikel 60 EPÜ abgeleitet werden, dass ein Erfinder oder sein Rechtsnachfolger nur Rechtsanspruch auf die Erteilung eines einzigen europäischen Patentes für einen bestimmten Gegenstand habe. Sobald für diesen Gegenstand ein Patent erteilt werde, sei das Recht verbraucht und das Europäische Patentamt könne die Erteilung eines zweiten Patentes ablehnen (siehe T 307/03, Abschnitt 2.1 der Entscheidungsgründe).

Dem Antrag der Anmelderin auf Aussetzung des Prüfungsverfahrens, um im Wege eines Beschränkungsverfahrens gemäß Artikel 105a bis 105c EPÜ die Ansprüche 12 und 13 des Prioritätspatents zu streichen, wurde nicht stattgegeben. Die Prüfungsabteilung war der Meinung, dass ein solches Verfahren nicht nur dem Rechtssicherheitsinteresse Dritter entgegenstehe, sondern auch nicht sinnvoll sei, weil der Einwand der Doppelpatentierung unabhängig vom Schicksal des erteilten Prioritätspatents bestehen bleibe (siehe Abschnitt 21 der angefochtenen Entscheidung).

Auch der Antrag auf Beiziehung eines rechtskundigen Mitglieds wurde unter Verweis auf die seinerzeitige Fassung der Richtlinien für die Prüfung am EPA, Punkt C-VI, 7.8, abgelehnt, mit dem Argument, die "Rechtsabteilung" habe der Prüfungsabteilung ein für eine unverwandte Patentanmeldung erstelltes internes Rechtsgutachten zur Verfügung gestellt, welches alle für die vorliegende Anmeldung relevanten Fragen geklärt habe. Auch die Frage, ob eine Aussetzung des Prüfungsverfahrens zwecks Durchführung eines Beschränkungsverfahrens bei dem Prioritätspatent geeignet sei, um dem Einwand des Verbots der Doppelpatentierung Rechnung zu tragen, sei durch das Rechtsgutachten bereits geklärt (siehe Abschnitt 22 der angefochtenen Entscheidung).

VII. Mit der Beschwerdebegründung reichte die Beschwerdeführerin eine Kopie der Ansprüche, die der angefochtenen Entscheidung zugrunde lagen, sowie der Ansprüche des Prioritätspatents ein. Außerdem reichte sie eine Kopie der Entscheidung T 1423/07 vom 19. April 2010 ein.

VIII. Die relevanten Argumente der Beschwerdeführerin in der Beschwerdebegründung lassen sich wie folgt zusammenfassen:

Verbot der Doppelpatentierung

Das Verbot der Doppelpatentierung greife im vorliegenden Fall nicht. Die Prüfungsabteilung habe zwischen der Konstellation Stammpatent/Teilanmeldung und der vorliegenden Konstellation Prioritätspatent/spätere Anmeldung nicht ausreichend differenziert und diesbezügliche Ausführungen in der Entscheidung T 1423/07 ignoriert. Des Weiteren habe sie angenommen, dass ein Verbot der Doppelpatentierung unter Artikel 125 EPÜ und/oder Artikel 60 EPÜ subsumiert werden könne. Zu dieser Frage habe die Kammer in der Entscheidung T 1423/07 (siehe Leitsätze 1 und 3) die gegenteilige Auffassung vertreten. Die Auffassung der Kammer werde von der Beschwerdeführerin geteilt. Ferner habe die Prüfungsabteilung zu Unrecht das Rechtschutzinteresse der Beschwerdeführerin an der Erteilung eines Patents für die vorliegende Anmeldung verneint. Im vorliegenden Fall bestehe jedoch aufgrund des späteren Ablaufs des Patentschutzes für ein aus der vorliegenden Anmeldung hervorgegangenes Patent im Vergleich zu dem Ablauf des Prioritätspatents ein berechtigtes Rechtschutzinteresse (siehe auch T 1423/07, Leitsatz 2).

Antrag auf Aussetzung des Prüfungsverfahrens

Die Frage, ob dem Einwand der Doppelpatentierung durch Beschränkung des früheren Patents Rechnung getragen werden könne, habe sich erst nach Inkrafttreten des EPÜ 2000 stellen können und sei bisher noch ungeklärt. Es sei festzuhalten, dass in der angefochtenen Entscheidung in keiner Weise auf das Argument der Beschwerdeführerin eingegangen werde, die von der Prüfungsabteilung zitierten Normen und Entscheidungen seien unter dem EPÜ 1973 ergangen, während im vorliegenden Fall die Normen des EPÜ 2000, insbesondere die Artikel 68 und 105a bis 105c EPÜ einschlägig seien.

Antrag auf Beiziehung eines rechtskundigen Mitglieds

Die Entscheidung der Prüfungsabteilung über den Antrag auf Beiziehung eines rechtskundigen Mitglieds sei fehlerhaft. Die Prüfungsabteilung habe ihre Entscheidung mit dem Vorliegen eines Gutachtens der "Rechtsabteilung" begründet, in dem die für den vorliegenden Fall relevanten Rechtsfragen geklärt worden seien. Die Beschwerdeführerin bezweifle, dass in dem internen Gutachten die Frage der Aussetzung zwecks Durchführung eines Beschränkungsverfahrens geklärt sei. Werde das interne Rechtsgutachten weiterhin als Grundlage für Entscheidungen herangezogen, so sollte die Möglichkeit bestehen, das Gutachten einzusehen.

Antrag auf Rückerstattung der Beschwerdegebühr

Die Prüfungsabteilung habe die Zurückweisung der Anmeldung auf die Nichteinhaltung einer nicht existierenden Regelung des EPÜ gestützt. Hierzu werde auf die Ausführungen der Kammer in Punkt 4 der Entscheidung T 1423/07 verwiesen.

IX. Die Beschwerdeführerin beantragte, die angefochtene Entscheidung aufzuheben und ein Patent auf der Grundlage der anhängigen Ansprüche 1 bis 18 zu erteilen. Außerdem beantragt sie die Rückerstattung der Beschwerdegebühr. Hilfsweise beantragt die Beschwerdeführerin die Aussetzung des Verfahrens zwecks Durchführung eines Beschränkungsverfahrens für das Prioritätspatent sowie die "Beiziehung eines juristischen Mitglieds".

Entscheidungsgründe

Zulässigkeit der Beschwerde

1. Die Beschwerde erfüllt die Erfordernisse der Artikel 106 bis 108 und der Regel 99 EPÜ und ist daher zulässig.

Doppelpatentierungsverbot

2. Kern der Beschwerde ist die Frage, ob die Prüfungsabteilung eine Patenterteilung auf der Grundlage der mit Schreiben vom 9. Februar 2010 eingereichten Anmeldeunterlagen zu Recht wegen des Verbots einer Doppelpatentierung abgelehnt hat. Die Kammer hat sich daher mit der Problematik des Doppelpatentierungsverbots, d.h. mit seiner Existenz, rechtlichen Grundlage und Reichweite zu befassen. Die hierzu in der Rechtsprechung der Beschwerdekammern geäußerten Auffassungen sind nicht völlig einheitlich. Die Kammer wird daher nachfolgend die Prinzipien darlegen, die sie für die Beurteilung dieser Problematik als maßgebend erachtet.

3. Eine Doppelpatentierung im weiteren Sinne liegt vor, wenn für den gleichen Gegenstand zwei Patente mit demselben oder überlappendem territorialen Geltungsbereich erteilt werden. Aufgrund der Ausgestaltung des Neuheitserfordernisses im EPÜ, gemäß dem auch prioritätsältere nicht vorveröffentlichte europäische Patentanmeldungen zum Stand der Technik zählen (s. Artikel 54 (3) in Verbindung mit Artikel 89 EPÜ), ist die Möglichkeit solcher Doppelpatentierungen grundsätzlich auf die Situation beschränkt, in der beide Anmeldungen bzw. Patente den gleichen Anmelde- oder Prioritätstag aufweisen. Gehen in diesem Fall die Anmeldungen bzw. Patente auf unabhängig voneinander gemachte Erfindungen (sog. "Doppelerfindungen") zurück, verhindert das europäische Patentrecht nicht die Entstehung eines doppelten Patentschutzes für den gleichen Gegenstand zugunsten unterschiedlicher Anmelder (vgl. z.B. Singer/Stauder, Europäisches Patentübereinkommen - Kommentar, 6. Aufl. 2013, Art 54 Rdn 118 und Art 60 Rdn 18; Paterson, The European Patent System, 2001, S. 500 f.; zu den Konsequenzen bei der Rechtsdurchsetzung in derartigen Fällen s. Ohly, Zur Wirkung prioritätsgleicher Patente, Mitteilungen der deutschen Patentanwälte 2006, 241 ff.).

4. Weniger klar ist demgegenüber die Rechtslage bei prioritätsgleichen Anmeldungen oder Patenten, die nicht auf unabhängig voneinander gemachte Erfindungen zurückgehen und deren Anmelder/Patentinhaber dieselbe Person oder ihr Rechtsnachfolger ist. Hier stellt sich das Problem der Doppelpatentierung im engeren Sinne (im Folgenden wird der Begriff der Doppelpatentierung oder des Doppelschutzverbots nur noch in diesem engeren Sinne verwendet). Zwar bietet auch hier Artikel 54 (3) EPÜ keine Handhabe, eine Patenterteilung aufgrund mangelnder Neuheit zu verweigern (s. bereits T 123/82 vom 30. August 1985, Punkt 9 der Entscheidungsgründe). Gleichwohl stellt sich die Frage, ob derselbe Erfindungsberechtigte und/oder sein Rechtsnachfolger für den gleichen Gegenstand Schutz durch zwei Patente mit demselben oder überlappendem territorialen Geltungsbereich erhalten darf.

5. Eine explizit das Verbot von Doppelpatentierungen betreffende Regelung enthält das EPÜ nur hinsichtlich des Verhältnisses von europäischen zu nationalen Patentanmeldungen oder Patenten: Artikel 139 (3) EPÜ ermächtigt die Vertragsstaaten vorzuschreiben, ob und unter welchen Voraussetzungen dieselbe Erfindung gleichzeitig durch europäische und nationale Anmeldungen oder Patente mit gleichem Anmelde- oder Prioritätstag geschützt werden kann. Die ganz überwiegende Mehrzahl der Vertragsstaaten hat von dieser Ermächtigung Gebrauch gemacht und die Möglichkeit eines derartigen doppelten Schutzes eingeschränkt, wobei die getroffenen Regelungen allerdings in der Art der Beschränkung divergieren (vgl. im Detail T 1423/07 vom 19. April 2010, Nr. 2.2.2 der Entscheidungsgründe). Auch Artikel 75 des (nicht in Kraft getretenen) Gemeinschaftspatentübereinkommens in der Fassung gemäß der Vereinbarung vom 15. Dezember 1989 sah ein Verbot des Doppelschutzes im Verhältnis von Gemeinschaftspatent und nationalen Patenten vor. Eine ebenfalls als Doppelschutzverbot bezeichnete Regelung findet sich ferner in Artikel 4 (2) der Verordnung (EU) Nr. 1257/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17. Dezember 2012 über die Umsetzung der Verstärkten Zusammenarbeit im Bereich der Schaffung eines einheitlichen Patentschutzes (ABl. EPA 2013, 111), wonach ein europäisches Patent für das gleiche Territorium nicht sowohl die Wirkung eines nationalen Patents als auch eines Patents mit einheitlicher Wirkung haben soll.

6. Die Frage der Doppelpatentierung stellt sich aber auch im Kontext zweier europäischer Patentanmeldungen mit gleichem Zeitrang. Dabei kann es sich um zwei von demselben Anmelder am gleichen Tag eingereichte Anmeldungen, um Stammanmeldung und Teilanmeldung oder um (europäische) Prioritätsanmeldung und (europäische) Nachanmeldung handeln. Eine Rechtsnorm, die eine Doppelpatentierung im Verhältnis zweier solcher europäischen Anmeldungen zueinander explizit verbietet, findet sich im EPÜ nicht. Zwar ist in der Entscheidung T 307/03 (ABl. EPA 2009, 422, Nr. 2.1 der Entscheidungsgründe) der Versuch unternommen worden, ein derartiges Verbot aus Artikel 60 EPÜ herzuleiten und damit zu begründen, dass das in dieser Bestimmung angesprochene Recht des Erfinders auf das Patent (in der englischen Fassung: „the right to a European patent“) als Recht auf nur ein Patent zu verstehen ist. Diese Auffassung, die auch in der angefochtenen Entscheidung vertreten wurde, hat jedoch in der späteren Beschwerderechtsprechung keine Zustimmung erfahren (s. T 1423/07, Nr. 2.3.2 der Entscheidungsgründe). Auch die Kammer vermag weder aus dem Wortlaut noch der Entstehungsgeschichte von Artikel 60 EPÜ einen ausreichend klaren Hinweis darauf zu erkennen, dass es zu den gesetzgeberischen Zwecken dieser Vorschrift gehört, Doppelpatentierungen zu verbieten.

7. Ungeachtet des Fehlens einer expliziten Regelung für das Verhältnis zweier europäischer Anmeldungen hat die Große Beschwerdekammer diesbezüglich in zwei gleichlautenden obiter dicta die Existenz eines Doppelpatentierungsverbots bejaht. In den Entscheidungen G 1/05 (ABl. EPA 2008, 271) und G 1/06 (ABl. EPA 2008, 307), die sich mit mehreren im Zusammenhang mit Teilanmeldungen entstandenen Rechtsfragen befassten, wurde in Nr. 13.4 der Gründe Folgendes ausgeführt:

"Die Kammer erkennt an, dass der Grundsatz des Doppelschutzverbots darauf basiert, dass der Anmelder kein legitimes Interesse an einem Verfahren hat, das zur Erteilung eines zweiten Patents für denselben Gegenstand führt, für den er bereits ein Patent besitzt. Die Große Beschwerdekammer hat daher nichts gegen die ständige Praxis des EPA einzuwenden, Änderungen in Teilanmeldungen zu beanstanden und zurückzuweisen, wenn in der geänderten Teilanmeldung derselbe Gegenstand beansprucht wird wie in einer anhängigen Stammanmeldung oder einem erteilten Stammpatent."(Hervorhebung durch die Kammer)

Im Lichte dieser Entscheidungen ist die Rechtfertigung des Doppelpatentierungsverbots somit im Fehlen eines "legitimen Interesses", also eines Rechtsschutzbedürfnisses zu sehen, das wiederum als allgemeine Verfahrensvoraussetzung in der Beschwerderechtsprechung anerkannt ist (vgl. T 9/00, ABl. EPA 2002, 275, Nr. 2 c) der Entscheidungsgründe) und zu den in den Vertragsstaaten im Allgemeinen anerkannten Grundsätzen des Verfahrensrechts im Sinne von Artikel 125 EPÜ gehört.

8. Die Auffassung der Großen Beschwerdekammer steht in Einklang mit der Gesetzgebungsgeschichte des EPÜ, wie die Dokumente der Travaux Préparatoires belegen. So heißt es im Bericht über die 10. Sitzung der Arbeitsgruppe I der Regierungskonferenz über die Einführung eines europäischen Patenterteilungsverfahrens, die vom 22. bis 26. November 1971 in Luxemburg stattfand (s. Dok. BR/144/1971 vom 16. Dezember 1971, abgedruckt in Band 13D der Materialien zum Europäischen Patentübereinkommen), unter Punkt 117:

"Die Arbeitsgruppe wurde sich im Lauf der Diskussion einig darüber, dass dem Anmelder, der dieselbe Erfindung mit Hilfe mehrerer, gleichzeitig eingereichter Anmeldungen schützen lassen will, nur ein einziges Patent erteilt werden darf. Sie war der Meinung, dass dies ein ungeschriebener, aber allgemein anerkannter Rechtsgrundsatz sei, und dass es deshalb einer diesbezüglichen Regelung im Uebereinkommen nicht bedürfe." (Hervorhebung durch die Kammer)

Diese Auffassung der Arbeitsgruppe I wurde für den Fall der doppelten Patentierung bei innerer Priorität ausdrücklich bekräftigt (s. Punkt 118 des oben genannten Dokuments):

"Die Arbeitsgruppe kam abschliessend zu dem Ergebnis, dass auch dann, wenn der Anmelder die Priorität einer früheren europäischen Anmeldung in Anspruch nehme, er für dieselbe Erfindung nicht zweimal dasselbe Patent für denselben benannten Staat erhalten könne. Dies brauche aber im Uebereinkommen nicht geregelt zu werden."(Hervorhebung durch die Kammer)

9. Im Bericht über die 6. Tagung der Regierungskonferenz über die Einführung eines europäischen Patenterteilungsverfahrens, die in Luxemburg vom 19. bis 30. Juni 1972 stattfand (s. Dok. BR/219/72 vom 26. September 1972, abgedruckt in Band 12D der Materialien zum EPÜ) wurde unter Punkt 49 bezüglich Artikel 125 EPÜ Folgendes festgehalten:

"Anlässlich der Erörterung dieses Artikels stellte die Konferenz fest, dass das Europäische Patentamt ein und derselben Person für dieselbe Erfindung, für die Anmeldungen mit dem gleichen Anmeldedatum vorliegen, nur ein europäisches Patent erteilen kann."(Hervorhebung durch die Kammer)

10. Diese Auffassung wurde auf der Münchner Diplomatischen Konferenz 1973 bei der Erörterung von Artikel 125 EPÜ bestätigt. So heißt es im Sitzungsbericht des Hauptausschusses I (= Dok. M/PR/I, Seite 64, Punkt 665, abgedruckt im Band 42D der Materialien zum EPÜ):

"Im Zusammenhang mit Artikel 125 wird auf Wunsch der britischen Delegation festgestellt, daß sich die Mehrheit des Hauptausschusses über folgendes einig ist: Aus den allgemein anerkannten Grundsätzen des Verfahrensrechts der Vertragsstaaten ergibt sich, daß einer Person für dieselbe Erfindung, für welche Anmeldungen mit demselben Anmeldedatum vorliegen, nur ein einziges europäisches Patent erteilt werden kann."(Hervorhebung durch die Kammer)

11. Zusammenfassend ergibt sich somit aus der Entstehungsgeschichte des EPÜ, dass weitgehende Einigkeit darüber bestand, dass eine Doppelpatentierung derselben Erfindung in allen drei oben unter Punkt 6 erwähnten Fallkonstellationen (Einreichung zweier europäischer Anmeldungen am gleichen Tag durch dieselbe Person, Stammanmeldung/Teilanmeldung und Prioritätsanmeldung/Nachanmeldung) nicht möglich sein sollte, dieses Ergebnis aber keiner expliziten Regelung bedürfe, da es bereits aus allgemeinen verfahrensrechtlichen Grundsätzen folge.

12. In der Entscheidung T 1423/07 wurden die nationalen Rechtssysteme der Vertragsstaaten in Hinblick auf das Bestehen von Doppelpatentierungsverboten untersucht. Dabei wurde unter anderem festgestellt, dass zwar die Mehrheit der Vertragsstaaten eine Doppelpatentierung im Verhältnis eines nationalen und eines europäischen Patents nicht erlaube, dieses Verbot jedoch regelmäßig nicht bereits im Anmeldeverfahren, sondern erst nach Patenterteilung Wirkungen entfalte. Nur in zwei Rechtsordnungen (Irland und Vereinigtes Königreich) fänden sich Regelungen, die für das Verhältnis nationaler Anmeldungen eine Zurückweisung aufgrund andernfalls eintretenden Doppelschutzes vorsehen, und nur in einer weiteren Rechtsordnung (Deutschland) ergäbe sich dieses Ergebnis aus Richterrecht. Hieraus wurde die Schlussfolgerung gezogen, dass sich im europäischen Patentrecht aus Artikel 125 EPÜ kein Doppelpatentierungsverbot herleiten lasse.

13. Die erkennende Kammer hält diese Schlussfolgerung, die den oben dargestellten Intentionen des EPÜ-Gesetzgebers widerspricht, nicht für zwingend. Der Umstand, dass Doppelschutzverbote im Verhältnis europäischer/nationaler Patente in den Rechtsordnungen nahezu aller Vertragsstaaten enthalten sind, ist ein starkes Indiz dafür, dass eine doppelte Patentierung derselben Erfindung durch denselben Anmelder oder seinen Rechtsnachfolger vom Gesetzgeber für grundsätzlich unerwünscht erachtet wird. Dass diese Doppelschutzverbote in vielen Vertragsstaaten nicht bereits die Patenterteilungsphase erfassen, sondern erst nach Erteilung beider Patente greifen, dürfte sich dadurch erklären lassen, dass eine andere Regelung in Anbetracht von Erteilungsverfahren, die vor unterschiedlichen Patentbehörden ablaufen, erhebliche praktische Schwierigkeiten bereitet, da es zum Zeitpunkt der Erteilung des nationalen Patents häufig noch nicht feststeht, ob für den gleichen Gegenstand ein europäisches Patent erteilt wird. Auch das überwiegende Nichtvorhandensein expliziter nationaler Regelungen, die im Verhältnis zweier nationaler Patentanmeldungen eine Doppelpatentierung untersagen würden, spricht nicht notwendigerweise für eine mangelnde Anerkennung des Doppelpatentierungsverbots in den Vertragsstaaten. Eher erscheint die Annahme berechtigt, dass die nationalen Patentgesetzgeber ebenso wie der Gesetzgeber des EPÜ (vgl. oben, Punkte 8-10) das Verbot der Doppelpatentierung aus allgemeinen Grundsätzen resultierend sahen und eine explizite gesetzliche Regelung deshalb für unnötig erachteten.

14. In der Entscheidung T 1423/07 wurde unter Punkt 2.2.4.1 ferner die Rechtsauffassung vertreten, dass ein Doppelpatentierungsverbot jedenfalls nicht in der Fallkonstellation europäische Prioritätsanmeldung/europäische Nachanmeldung bestünde, weil dem Anmelder ein Rechtsschutzinteresse aufgrund der längeren möglichen Laufzeit des auf die Nachanmeldung erteilten Patents nicht abgesprochen werden könnte. Hierauf hat sich auch die Beschwerdeführerin berufen, da die vorliegende Beschwerde eine solche Fallkonstellation betrifft.

Nach Auffassung der Kammer bedeutet die Feststellung, dass der Anmelder an der Doppelpatentierung ein Interesse hat oder haben kann, noch nicht, dass dieses Interesse von der Rechtsordnung als ein berechtigtes anzuerkennen ist. Die Große Beschwerdekammer hat in ihren vor dem Hintergrund der Fallkonstellation Stammanmeldung/Teilanmeldung gemachten obiter dicta in den Entscheidungen G 1/05 und G 1/06 (s. oben, Punkt 7) betont, dass demjenigen, der eine Doppelpatentierung anstrebt, ein legitimes Interesse fehle. Für die Fallkonstellation Prioritätsanmeldung/Nachanmeldung kam die Arbeitsgruppe I bei den Travaux Préparatoires zu dem Ergebnis, dass "... ein Anmelder [...] für dieselbe Erfindung nicht zweimal dasselbe Patent für denselben benannten Staat erhalten könne" (s. oben, Punkt 8, letzter Absatz).

Gegen die Anerkennung eines berechtigten Interesses an der Doppelpatentierung bei der letztgenannten Fallkonstellation würde sprechen, dass die Beanspruchung des gleichen Gegenstands möglicherweise zu einem indirekten Wertungswiderspruch zur Bestimmung des Artikel 63 EPÜ führen würde. Das Prioritätsrecht ist im EPÜ in einer Weise ausgestaltet, die dem Anmelder ein hohes Maß an Gestaltungsmöglichkeiten gewährt. Durch die Anerkennung der inneren Priorität geht das EPÜ über die Vorgaben der PVÜ hinaus. Außerdem ist der Anmelder bei Beanspruchung der Priorität einer europäischen Patentanmeldung grundsätzlich berechtigt, beide Anmeldungen weiter zu verfolgen. Denn die Prioritätsanmeldung gilt nicht mit Abgabe der Prioritätserklärung als zurückgenommen, wie dies etwa im deutschen Recht (s. § 40 (5) des deutschen Patentgesetzes) bei der Regelung der inneren Priorität vorgesehen ist. Der Anmelder hat unter dem EPÜ folglich eine Wahlmöglichkeit, für welchen Gegenstand er Patentschutz in der Prioritätsanmeldung oder aber in der Nachanmeldung anstrebt. Da Artikel 63 EPÜ eine maximale Patentlaufzeit von 20 Jahren ab dem Anmeldetag vorsieht, kann der Anmelder durch Ausübung dieser Wahl theoretisch selbst entscheiden, ob er die Schutzdauer von 20 Jahren ab dem Anmeldetag der Prioritätsanmeldung oder ab dem Anmeldetag der Nachanmeldung in Anspruch nimmt. Würde man dem Anmelder es in einem solchen Fall auch noch gestatten, den gleichen Gegenstand in beiden Anmeldungen/Patenten zu beanspruchen, könnte dies im Ergebnis dazu führen, dass der Anmelder für den gleichen Gegenstand in den Genuss einer Schutzdauer von 21 Jahren ab dem Anmeldetag der Prioritätsanmeldung käme. Es ist jedoch anzumerken, dass der gleiche Einwand für die Konstellation nationale Prioritätsanmeldung/europäische Nachanmeldung gelten würde, allerdings auf das Land beschränkt, in dem die Prioritätsanmeldung hinterlegt wurde.

15. Im vorliegenden Fall kann die Frage, ob dem Patentanmelder grundsätzlich ein berechtigtes Interesse an einer Doppelpatentierung desselben Gegenstands in der Fallkonstellation der inneren Priorität fehlt, dahingestellt bleiben, da die angefochtene Entscheidung schon deswegen aufzuheben ist, weil die Prüfungsabteilung die Reichweite des Verbots der Doppelpatentierung bei seiner Anwendung auf den konkreten Sachverhalt unzutreffend bemessen hat.

Reichweite des Verbots der Doppelpatentierung

16. Vergleicht man die erteilten Ansprüche des Prioritätspatents mit den in der vorliegenden Anmeldung verfolgten Ansprüchen in Hinblick auf ihren Schutzgegenstand, lässt sich keine vollkommene Identität feststellen. Selbst wenn man bei der Ermittlung des Schutzgegenstands Anspruchsalternativen außer Betracht lässt und mehrfach abhängige Ansprüche in bestimmter Weise kombiniert, ist der Schutzgegenstand keiner der nunmehr verfolgten Ansprüche mit dem Schutzgegenstand von irgendeinem der erteilten Ansprüche kongruent.

17. Bei ihrer Annahme eines Doppelpatentierungsverbots hat die Prüfungsabteilung maßgeblich auf die Ansprüche 12 und 13 des Prioritätspatents abgestellt. Anspruch 12 ist u.a. auf die Verwendung eines modularen Antigen-Transport-Moleküls (MAT-Moleküls) zur Herstellung eines Medikaments zur Prophylaxe oder Behandlung von Allergien gerichtet, während Anspruch 13 das Medikament als Impfstoff kennzeichnet. Durch die Rückbezüge von Anspruch 12 auf den Erzeugnisanspruch 1 (s. oben Abschnitt III) und von Anspruch 13 auf Anspruch 12 wird das zu verwendende MAT-Molekül näher bestimmt. Es hat u.a. mindestens drei sowohl funktionell als auch strukturell charakterisierte Module (Translokations-Modul, Targeting-Modul und Antigen-Modul) zu enthalten. Das Antigen-Modul wird u.a. dadurch charakterisiert, dass es ein aus einem Protein oder Peptid bestehendes Allergen ist. Funktionelles Merkmal des MAT-Molekül selbst ist es, dass es "die in vitro Proliferation peripherer mononukleärer Zellen aus dem Blut eines Allergikers, der gegen das Allergen reagiert, bewirkt".

18. Anspruch 1 der vorliegenden Anmeldung ist ebenso wie Anspruch 12 des Prioritätspatents auf die Verwendung eines MAT-Moleküls zur Herstellung eines Medikaments gerichtet. Zu den angegebenen Indikationen zählt u.a. die Prophylaxe oder Behandlung einer Allergie. Das MAT-Molekül ist allerdings in mehrfacher Hinsicht erheblich breiter definiert, als dies in Anspruch 1 des Prioritätspatents, auf den Anspruch 12 des Prioritätspatents rückbezogen ist, der Fall ist. Zunächst werden das Translokations-Modul und das Targeting-Modul nur funktionell, nicht aber strukturell charakterisiert. Ferner wird das Antigen-Modul nicht als "ein aus einem Protein oder Peptid bestehendes Allergen", sondern als "wenigstens eine aus einem Antigen bestehende Moleküleinheit" definiert. Außerdem fehlt die oben (s. Punkt 17, letzter Satz) erwähnte funktionelle Bestimmung des MAT-Moleküls selbst.

19. Anspruch 6 der vorliegenden Anmeldung ist u.a. auf Anspruch 1 rückbezogen und charakterisiert das Translokations-Modul näher. Drei von fünf der in Anspruch 6 spezifisch genannten Sequenzen, nämlich "HIV-tat", "Antennapedia" und "VP22") sind mit den in Anspruch 1 des Prioritätspatents genannten Sequenzen identisch. Anspruch 7 der vorliegenden Anmeldung ist auf Anspruch 1 oder 6 rückbezogen und enthält eine nähere Charakterisierung des Targeting-Moduls. Eine von 12 explizit genannten Sequenzen, nämlich "MHC invariante Kette (IiP33, IiP41, IiP35, IiP43)", stimmt mit der einzigen in Anspruch 1 des Prioritätspatents genannten Sequenz überein. Anspruch 13 der vorliegenden Anmeldung beschränkt die Verwendung auf die Indikation "Prophylaxe oder Therapie von Allergien", die in Anspruch 1 nur als eine von mehreren angegeben ist. Anspruch 17, der sich u.a. auf Anspruch 13 rückbezieht, schränkt ferner das Medikament auf einen Impfstoff ein.

20. Aus diesem Vergleich ergibt sich, dass sämtliche oben genannten Ansprüche der Anmeldung in mehrfacher Hinsicht breiter definiert sind als die Ansprüche 12 und 13 des Prioritätspatents. Selbst wenn man nur den Schutzgegenstand betrachtet, der sich aus einer Kombination der Ansprüche 1, 6, 7 und 13 (und 17) ergibt, und dabei nur die Anspruchsalternativen berücksichtigt, bei denen die Sequenzen des Translokations-Moduls und des Targeting-Moduls mit den in Anspruch 1 des Prioritätspatents diesbezüglich genannten Sequenzen übereinstimmen, so unterscheidet er sich von dem Schutzgegenstand der Ansprüche 12 (und 13) des Prioritätspatents immer noch in zweierlei Hinsicht. Zum einen wird das Antigen-Modul nicht als "ein aus einem Protein oder Peptid bestehendes Allergen", sondern - erheblich breiter - als "wenigstens eine aus einem Antigen bestehende Moleküleinheit" definiert. Zum anderen wird das MAT-Molekül nicht mehr funktionell dadurch charakterisiert, dass es die In-vitro-Proliferation peripherer mononuklearer Zellen aus dem Blut eines Allergikers, der gegen das Allergen reagiert, bewirkt. Zumindest der letztgenannte Unterschied bleibt auch dann bestehen, wenn man in die obige Kombination zusätzlich noch Anspruch 2 der Anmeldung mit einbezieht, der die Definition des Antigen-Moduls dahingehend beschränkt, dass es "ein Protein oder Peptid ist". Insofern sich die Verwendungsansprüche des Prioritätspatents (s. Ansprüche 12 und 13 i.V. mit Ansprüchen 4-7) und der vorliegenden Anmeldung (s. Anspruch 16) nicht auf MAT-Moleküle, sondern auf andere Substanzen wie z.B. Nukleinsäuren beziehen, weisen sie noch größere Unterschiede untereinander auf.

21. Im vorliegenden Fall liegt folglich keine Identität der Schutzgegenstände von Prioritätspatent und Anmeldung vor, sondern nur eine Überlappung ihrer Schutzbereiche: Die in den Ansprüchen 12 und 13 des Prioritätspatents unter Schutz gestellten Gegenstände unterfallen zwar dem Schutzbereich der Ansprüche 1, 6, 7 und 13 der Anmeldung, sind jedoch erheblich enger definiert als die Schutzgegenstände der letztgenannten Ansprüche. Es stellt sich daher die Frage, ob das Verbot der Doppelpatentierung so weit reicht, dass es auch solche Fallkonstellationen erfasst.

22. Die Rechtsprechung der Beschwerdekammern hat sich bislang überwiegend gegen eine derartige Ausdehnung des Doppelpatentierungsverbots ausgesprochen. In der Entscheidung T 587/98 (ABl. EPA 2000, 497) wurde diese Rechtsfrage für das Verhältnis Stammanmeldung/Teilanmeldung ausführlich erörtert, wobei die Beschwerdekammer 3.5.02 zu folgender Schlussfolgerung gelangte (s. Punkt 3.7 der Gründe):

"The board concludes that there is no express or implicit provision in the EPC which prohibits the presence in a divisional application of an independent claim - explicitly or as a notional claim arrived at by partitioning of an actual claim into notional claims reciting explicit alternatives - which is related to an independent claim in the parent application (or patent if, as in the present case, it has already been granted) in such a way that the 'parent' claim includes all the features of the 'divisional' claim combined with an additional feature."

23. In der späteren Entscheidung T 1391/07 vom 7. November 2008 nahm die Beschwerdekammer 3.4.02 auf die grundsätzliche Billigung des Doppelpatentierungsverbots durch die Große Beschwerdekammer in den Entscheidungen G 1/05 und G 1/06 Bezug, lehnte jedoch eine Ausdehnung dieser Praxis auf den Fall der teilweisen Überlappung des Schutzbereichs ab (s. Punkte 2.5 und 2.6 der Gründe). In der Entscheidung T 1491/06 vom 20. Dezember 2011 befasste sich die Beschwerdekammer 3.5.04 mit einem Anspruch einer Teilanmeldung, der gegenüber einem Anspruch des Stammpatents enger, gegenüber einem anderen Anspruch jedoch weiter war, und konnte hierin keinen Verstoß gegen das Doppelpatentierungsverbot erkennen (s. Punkte 3.2 bis 3.4 der Gründe). Entsprechende Äußerungen finden sich in einer Reihe weiterer Entscheidungen (vgl. etwa T 2402/10 vom 10. Mai 2012 und die dort in Punkt 8 der Gründe genannten Entscheidungen).

24. Eine entgegengesetzte Rechtsauffassung ist bislang - soweit ersichtlich - nur in der Entscheidung T 307/03 (ABl. EPA 2009, 418, Punkte 5.2 und 5.3 der Gründe) vertreten worden. Der Einwand wegen Doppelpatentierung könne auch dann erhoben werden, wenn der Gegenstand des erteilten Anspruchs im Gegenstand des später eingereichten Anspruchs enthalten sei, d.h. wenn der Anmelder den Gegenstand des bereits erteilten Patentanspruchs erneut patentieren lassen wolle und zusätzlich Patentschutz für einen anderen Gegenstand begehre, der im bereits erteilten Patent nicht beansprucht wird. Sei der Gegenstand, der zweimal patentiert würde, sowohl im schon erteilten Patent als auch in der anhängigen Anmeldung die bevorzugte Ausführungsart der Erfindung, könne das Ausmaß der Doppelpatentierung nicht als geringfügig vernachlässigt werden.

25. Die erkennende Kammer schließt sich aus den nachstehenden Erwägungen nicht der in T 307/03 vertretenen Rechtsauffassung an, sondern folgt der überwiegenden Rechtsprechung:

Die Große Beschwerdekammer hat in ihren oben zitierten obiter dicta (s. Punkt 7) das Bestehen eines Doppelpatentierungsverbots für die Fälle gebilligt, in denen in den jeweiligen Anmeldungen bzw. Patenten der gleiche Gegenstand beansprucht wird. Es bedeutet aber einen Unterschied, ob ein Gegenstand spezifisch beansprucht oder nur von dem Schutzbereich eines Anspruchs, der auf einen allgemeineren Gegenstand gerichtet ist, erfasst wird. So hat etwa die Große Beschwerdekammer in ihrer Entscheidung G 1/98 (ABl. EPA 2000, 111) im Zusammenhang mit der Auslegung des Ausschlusses der Patentierung von Pflanzensorten (Artikel 53 b) EPÜ) deutlich gemacht, dass das Patentierungsverbot nur dann greift, wenn Pflanzensorten individuell beansprucht werden, aber noch nicht, wenn der zu prüfende Anspruch Pflanzensorten nur "umfasst".

Hinzu kommt folgende Erwägung: Würde man von einem Anmelder aufgrund des Verbots der Doppelpatentierung verlangen, den speziellen Gegenstand, auf den ein Anspruch eines ihm bereits erteilten Patents gerichtet ist, aus dem allgemeineren Gegenstand, der mit seiner anhängigen Anmeldung verfolgt wird, auszuklammern, entstünde für ihn die Gefahr, sich Einwänden nach Artikel 123 (2) - und zusätzlich nach Artikel 76 EPÜ im Falle einer Teilanmeldung - auszusetzen. Die Berechtigung derartiger Einwände ist jedoch keinesfalls einfach zu beurteilen, da die Zulässigkeit von Änderungen, die einen Disclaimer ursprünglich positiv offenbarter Ausführungsformen enthalten, nach der Rechtsprechung der Großen Beschwerdekammer (G 2/10, ABl. EPA 2012, 376) zwar nicht von vornherein ausgeschlossen ist, jedoch eine Abwägung aller Umstände des Einzelfalls erfordert.

26. Die Kammer kommt daher zu dem Ergebnis, dass das Verbot der Doppelpatentierung im vorliegenden Fall einer Patenterteilung gemäß der von der Anmelderin mit Schreiben vom 9. Februar 2010 eingereichten Anspruchsfassung nicht entgegensteht. Die angefochtene Entscheidung ist somit aufzuheben.

Zurückverweisung an die Prüfungsabteilung

27. In der angefochtenen Entscheidung stellte die Prüfungsabteilung fest, dass die ihr vorliegenden Ansprüche die Voraussetzungen des Artikels 123 (2) EPÜ erfüllten. Bezüglich der Voraussetzungen der Artikel 84, 83, 54 und 56 EPÜ enthält die Entscheidung jedoch keine Feststellungen.

28. Nach Aufhebung der Entscheidung hält die Kammer es für zweckmäßig, die Angelegenheit zur weiteren Entscheidung, insbesondere unter Berücksichtigung der Voraussetzungen des Artikels 84 EPÜ an die Prüfungsabteilung zurückzuverweisen (Artikel 111 (1) EPÜ).

Antrag auf Rückzahlung der Beschwerdegebühr

29. Eine der Voraussetzungen für die Rückzahlung der Beschwerdegebühr gemäß Regel 103 (1) a) EPÜ ist, dass dies wegen eines wesentlichen Verfahrensmangels der Billigkeit entspricht. Die Beschwerdeführerin hat ihren Antrag auf Rückzahlung damit begründet, dass die Zurückweisungsentscheidung nur mit der Nichteinhaltung einer nicht existierenden Regelung des EPÜ begründet wurde, und des weiteren auf die Entscheidung T 1423/07 vom 19. April 2000 verwiesen, in der die Rückzahlung der Beschwerdegebühr in einem vergleichbaren Fall angeordnet worden sei.

30. Nach feststehender Rechtsprechung kann die Beschwerdegebühr nur dann zurückerstattet werden, wenn der gerügte Mangel verfahrensrechtlicher Natur ist. Eine fehlerhafte Beurteilung von Sachfragen durch die Prüfungsabteilung rechtfertigt daher die Zurückerstattung grundsätzlich nicht. Ausnahmen hiervon lassen sich nur in ganz besonders gelagerten Fällen begründen, etwa wenn die Prüfungsabteilung ihre Entscheidung ohne jede Rechtsgrundlage auf einen nicht bestehenden Zurückweisungsgrund stützt. Ein solcher Ausnahmefall liegt hier jedoch nach Auffassung der Kammer nicht vor. Wie bereits ausführlich dargetan (s. oben, Punkte 6-7, 12-15, 22-24), sind die Rechtsfragen, die die Existenz, rechtliche Begründung und Reichweite des Doppelpatentierungsverbots betreffen, in der bisherigen Beschwerderechtsprechung keineswegs einheitlich beurteilt worden. Die Prüfungsabteilung konnte sich für ihre Annahme des Bestehens eines Doppelpatentierungsverbots bei europäischen Anmeldungen/Patenten zudem auf entsprechende Ausführungen der Großen Beschwerdekammer stützen.

31. Auch im Übrigem liegt kein Verfahrensfehler vor, der die Rückerstattung der Beschwerdegebühr rechtfertigen würde. Eine Verletzung des Rechts auf rechtliches Gehör ist nicht zu erkennen, die getroffene Entscheidung wurde ausführlich und nachvollziehbar begründet. Dass sich die schriftlichen Entscheidungsgründe nicht mit den rechtlichen Ausführungen der Entscheidung T 1423/07 vom 19. April 2000 befassen, die die Beschwerdeführerin mit Schreiben vom 6. Mai 2010 zu den Akten gereicht hatte, ist nicht zu beanstanden, da die Zurückweisungsentscheidung bereits in der mündlichen Verhandlung vom 10. März 2010 getroffen und verkündet wurde. Zwar hätte die Prüfungsabteilung, nachdem sie offenbar amtsintern rechtlichen Rat eingeholt hatte, die Anregung bzw. den Antrag der Beschwerdeführerin, sich um ein rechtskundiges Mitglied zu erweitern, durchaus aufgreifen bzw. gewähren können; eine Verpflichtung hierzu bestand jedoch nach Auffassung der Kammer nicht.

32. Der Antrag auf Rückzahlung der Beschwerdegebühr ist somit zurückzuweisen.

Entscheidungsformel

Aus diesen Gründen wird entschieden:

1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.

2. Die Angelegenheit wird an die Prüfungsabteilung zur weiteren Entscheidung zurückverwiesen.

3. Der Antrag auf Rückzahlung der Beschwerdegebühr wird zurückgewiesen.

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