European Case Law Identifier: | ECLI:EP:BA:2005:T000505.20051109 | ||||||||
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Datum der Entscheidung: | 09 November 2005 | ||||||||
Aktenzeichen: | T 0005/05 | ||||||||
Anmeldenummer: | 99104880.2 | ||||||||
IPC-Klasse: | C09B 67/22 | ||||||||
Verfahrenssprache: | DE | ||||||||
Verteilung: | B | ||||||||
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Bezeichnung der Anmeldung: | Dispersionsazofarbstoffmischungen | ||||||||
Name des Anmelders: | DyStar Textilfarben GmbH & Co. Deutschland KG | ||||||||
Name des Einsprechenden: | CLARIANT INTERNATIONAL LTD. M. DOHMEN GmbH |
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Kammer: | 3.3.01 | ||||||||
Leitsatz: | - | ||||||||
Relevante Rechtsnormen: | |||||||||
Schlagwörter: | Gültigkeit der beanspruchten Prioritäten - bejaht Zurückverweisung an die Erstinstanz |
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Orientierungssatz: |
1. Nur solche Anmeldungen, die vom Anmelder der europäischen Anmeldung selbst oder seinem Rechtsvorgänger getätigt wurden, sind relevant für die Erfüllung des sich aus Artikel 87 (4) EPÜ herleitenden Erfordernisses, dass es sich bei der prioritätsbegründenden Anmeldung um die erstmalige Anmeldung der betreffenden Erfindung durch den Anmelder der europäischen Anmeldung oder seinen Rechtsvorgänger handeln muss. Anmeldungen verschiedener Anmelder stehen einander als Stand der Technik im Sinne von Artikel 54 (2) oder ggf. 54 (3) EPÜ gegenüber (siehe Punkt 4.2 der Entscheidungsgründe). 2. Weder dem EPÜ noch dem PVÜ ist zu entnehmen, dass es sich beim Prioritätsrecht um eine Ausnahmeregelung handle, die deshalb eng auszulegen sei und damit nur eine einmalige Ausübung des Prioritätsrechtes für einen Vertragsstaat zulasse (im Einklang mit T 0015/01 - siehe Punkt 4.4 der Entscheidungsgründe). |
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Angeführte Entscheidungen: |
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Anführungen in anderen Entscheidungen: |
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Sachverhalt und Anträge
I. Die Beschwerde richtet sich gegen die Entscheidung der Einspruchsabteilung, das europäische Patent Nr. 0 945 493 wegen mangelnder Neuheit zu widerrufen.
Insbesondere war die Einspruchsabteilung der Meinung, dass die im Streitpatent beanspruchten Prioritäten (DE 19812615 vom 23.03.98 und DE 19816056 vom 09.04.1998 - im weiteren: "Prioritätsanmeldungen") nicht gültig beansprucht waren, dass somit der Inhalt des Dokuments
(18) JP-A-10-120932 (mit englischer Übersetzung)
zum Stand der Technik gehörte und dass mehrere Beispiele in diesem Dokument die Neuheit der beanspruchten Mischungen vorwegnahmen.
Der der angefochtenen Entscheidung zugrunde liegende Anspruchssatz wurde mit Schreiben vom 14. März 2003 eingereicht und bestand aus 11 Ansprüchen. Der Wortlaut des Anspruchs 1 lautete:
"1. Mischung, enthaltend wenigstens eine Verbindung der Formel (i)
FORMEL/TABELLE/GRAPHIK
worin
R**(1) für Wasserstoff C1-C4-Alkyl, Halogen, insbesondere Cl und Br oder C1-C4-Alkoxy steht,
n 1 oder 2 bedeutet und der
Ring A gegebenenfalls substituiert ist,
und wenigstens eine Verbindung der Formel (II)
FORMEL/TABELLE/GRAPHIK
worin
X für Halogen, insbesondere Cl und Br oder CN steht,
R**(2) und R**(5) unabhängig voneinander Wasserstoff oder C1-C4-Alkyl bedeuten,
R**(3) und R**(4) unabhängig voneinander Wasserstoff, C2-C4-Alkenyl, unsubstituiertes C1-C4-Alkyl oder durch -CN, -C6H5, C1-C4-Alkoxy und/oder -COOR substituiertes C1-C4-Alkyl bedeutet, wobei R für Wasserstoff oder C1-C4-Alkyl steht."
II. Eine mündliche Verhandlung vor der Kammer fand am 9. November 2005 statt.
III. Die Beschwerdeführerin (Patentinhaberin) vertrat die Auffassung, Dokument (18) gehöre nicht zum Stand der Technik, da die beanspruchten Prioritäten gültig beansprucht seien.
IV. Beide Beschwerdegegnerinnen 01 und 02 (Einsprechende 01 und 02) haben vorgebracht, dass Dokument (18) und das Streitpatent dieselbe Erfindung betreffen und durch die gleiche Anmelderin eingereicht wurden. Da, somit, keine der beiden im Streitpatent genannten Prioritätsanmeldungen als die erste Anmeldung betrachtet werden könne, seien die Prioritäten nicht gültig und gehöre Dokument (18) zum Stand der Technik.
Die Beschwerdegegnerinnen haben auch argumentiert, die zweite Anmeldung, deren Priorität für das Streitpatent beansprucht wird, sei bereits unter Inanspruchnahme der Priorität der ersten Anmeldung, deren Priorität ebenfalls im Streitpatent beansprucht wird, eingereicht worden; die erste Priorität könne jedoch ein weiteres Mal, wie hier für das Streitpatent, nicht wirksam in Anspruch genommen werden.
Weiterhin brachte die Beschwerdegegnerin 01 während der mündlichen Verhandlung vor der Kammer vor, die Beschwerdeführerin und Anmelderin des Streitpatentes mit Sitz in Frankfurt könnte die beiden beanspruchten Prioritäten nicht geltend machen, weil beide Prioritätsanmeldungen durch eine andere Anmelderin eingereicht worden seien. Die Anmelderin der Prioritätsanmeldungen habe zwar den gleichen Namen wie die Anmelderin des Streitpatentes, jedoch einen unterschiedlichen Sitz, nämlich Leverkusen.
Schließlich bezweifelte die Beschwerdegegnerin 01, dass der vorliegende Anspruch 1 das Erfordernis des Artikels 123 (2) EPÜ erfülle.
V. Die Beschwerdeführerin beantragte die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und die Feststellung der Neuheit gegenüber Dokument (18).
Die Beschwerdegegnerinnen beantragten die Zurückverweisung der Beschwerde der Patentinhaberin.
Entscheidungsgründe
1. Die Beschwerde ist zulässig.
2. Die Kammer hat keinen Grund zu bezweifeln, dass die Änderungen gemäß dem im Einspruchsverfahren eingereichten Anspruchssatz insbesondere durch den Einspruchsgrund nach Artikel 100 a) EPÜ veranlasst sind. Auch seitens der Beschwerdegegnerinnen wurde dies nicht im Frage gestellt.
Es obliegt nun der Kammer darüber zu entscheiden, ob die gegenüber der erteilten Fassung des Patents vorgenommenen Änderungen der Ansprüche zulässig sind und der beanspruchte Gegenstand gegenüber dem Dokument (18) neu ist. Bei der Frage der Neuheit ist es im vorliegenden Fall wesentlich ob die Wirksamkeit der Prioritäten anerkannt werden kann und somit Dokument (18) überhaupt zum Stand der Technik im Sinne von Artikel 54 EPÜ gehört.
3. Artikel 123 (2) und (3) EPÜ
3.1 Der vorliegende Anspruchssatz unterscheidet sich vom erteilten Anspruchssatz lediglich dadurch, dass gemäß Anspruch 1 die Substituenten R**(3) und R**(4) in der Verbindung der Formel (II) unabhängig voneinander die folgende Bedeutung haben können: Wasserstoff, C2-C4-Alkenyl, unsubstituiertes C1-C4-Alkyl oder durch -CN, -C6H5, C1-C4-Alkoxy und/oder -COOR substituiertes C1-C4-Alkyl, wobei R für Wasserstoff oder C1-C4-Alkyl steht.
3.2 Gemäß Anspruch 1 des erteilten Streitpatents konnten R**(3) und R**(4) unabhängig voneinander die folgende Bedeutung haben: Wasserstoff, gegebenenfalls substituiertes C1-C4-Alkyl oder C2-C4-Alkenyl. Diese Änderung findet ihre Stütze auf der Seite 2, Zeilen 11 bis 16, der ursprünglich eingereichten Anmeldung, in der R**(3) und R**(4)in der Verbindung der Formel (II) unabhängig voneinander Wasserstoff, gegebenenfalls substituiertes C1-C4-Alkyl oder C2-C4-Alkenyl bedeuten, wobei als mögliche Substituenten für Alkyl die Gruppen OH, -CN, OCOR, OCOC6H5, OCOOR, COOR, OC6H5, C6H5 und/oder C1-C4-Alkoxy bevorzugt sind, wobei R für Wasserstoff oder C1-C4-Alkyl steht.
3.3 Die Beschwerdegegnerin 01 hat bestritten, dass die Passage auf Seite 2, Zeilen 11 bis 16, der ursprünglich eingereichten Anmeldung als Stütze für die im Anspruch 1 vorgenommene Änderung betrachtet werden könnte, weil von den dort zitierten Substituenten für Alkyl die Gruppen OH, -OCOR, -OCOC6H5, -OCOOR und -OC6H5 gestrichen wurden und die eingeschränkte Gruppe der im vorliegenden Anspruch 1 beschriebenen Alkyl-Substituenten als solche in der ursprünglich eingereichten Anmeldung nicht beschrieben war.
3.4 Die Einschränkung einer Liste von in der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung offenbarten alternativen Definitionen für Substituenten in einer chemischen Formel verstößt jedoch nicht gegen Artikel 123 (2) EPÜ, da eine solche Einschränkung nicht zu einer Kombination von Substituenten führt, die in der ursprünglich eingereichten Anmeldung nicht offenbart war, sondern lediglich den verbliebenen Gegenstand als eine Liste von alternativen Definitionen definiert, welche Liste sich von den ursprünglichen Listen nur durch deren Umfang unterscheidet (siehe Entscheidung T 615/95 vom 16. Dezember 1997 - Punkt 6 der Entscheidungsgründe).
3.5 Durch die Einschränkung der Liste der Alkyl-Substituenten in der Definition von R**(3) und R**(4) in der Verbindung der Formel (II) wurde das Streitpatent somit nicht so geändert, dass ihr Gegenstand über den Inhalt der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung hinausgeht. Auch geht der Schutzbereich der so eingeschränkten Ansprüche nicht über den der Ansprüche des Streitpatents in der erteilten Fassung hinaus.
Gegen die Ansprüche 1 bis 11 bestehen somit keine Einwände nach Artikel 123 (2) oder (3) EPÜ.
4. Wirksamkeit der Prioritäten
4.1 Die von den Beschwerdegegnerinnen gegen die Wirksamkeit der für das Streitpatent beanspruchten Prioritäten vorgebrachten Einwendungen (siehe Punkt IV oben) können die Kammer nicht überzeugen.
4.2 In der angefochtenen Entscheidung wurde den beiden von der Firma "DyStar Textilfarben GmbH & Co. Deutschland KG" getätigten Prioritätsanmeldungen die Qualifikation als Erstanmeldung im Sinne von Artikel 87 (1) und (4) EPÜ mit der Begründung abgesprochen, sie hätten mit dem Dokument (18) der Firma "DyStar Japan Ltd." zwei Erfinder und teilweise den Erfindungsgegenstand gemeinsam. Da deren Anmeldetag, d. h. der 18. Oktober 1996, mehr als zwölf Monate vor dem Anmeldetag des Streitpatents liegt und diese Anmeldung "öffentlich gemacht wurde", könne der gleiche Gegenstand von denselben Erfindern nicht mehr als Grundlage für die Inanspruchnahme eines Prioritätsrechtes dienen.
Für die Kammer - und offenbar selbst für die Beschwerdegegnerin 01, die ausdrücklich zugestand, dass es hierfür nicht auf die Erfinder ankomme - ist diese Begründung, der schon der klare Wortlaut der oben genannten Bestimmungen entgegensteht, nicht nachvollziehbar; jedenfalls ist sie nicht zutreffend. Nach seinem Wortlaut und in Einklang mit den Bestimmungen der PVÜ ("Celui qui aura régulièrement fait le dépôt d'une demande de brevet d'invention ..." - Artikel 4 A.-(1) schon in der unverändert gebliebenen Urfassung) legt Art. 87 (1) EPÜ ("Jedermann, der in einem oder mit Wirkung für einen Vertragsstaat der Pariser Verbandsübereinkunft ... eine Anmeldung für ein Patent .... vorschriftsmäßig eingereicht hat") fest, dass das Prioritätsrecht (ausschließlich) dem Anmelder einer (qualifizierten) Anmeldung zusteht. Nur er oder sein Rechtsnachfolger kann das Prioritätsrecht ausüben. Das bedeutet, dass für die Priorität einer europäischen Anmeldung nur solche Prioritätsanmeldungen herangezogen werden können, die vom Anmelder der europäischen Anmeldung selbst oder seinem Rechtsvorgänger getätigt wurden. Folglich sind auch nur solche Anmeldungen relevant für die Erfüllung des weiteren, sich aus Artikel 87 (4) EPÜ (entspricht Art. 4 C.-(4) PVÜ) herleitenden Erfordernisses, dass es sich bei der prioritätsbegründenden Anmeldung um die erstmalige Anmeldung der betreffenden Erfindung durch den Anmelder der europäischen Anmeldung oder seinen Rechtsvorgänger handeln muss. Hingegen stehen Anmeldungen verschiedener Anmelder einander als Stand der Technik im Sinne von Artikel 54 (2) oder ggf. 54 (3) EPÜ gegenüber, wobei Artikel 54 (3) EPÜ allerdings nur für europäische Anmeldungen in der ursprünglich eingereichten Fassung gilt.
Auf den Erfinder wird nirgends in Artikel 87 EPÜ oder in Artikel 4 PVÜ Bezug genommen. Die Kammer verkennt zwar nicht, dass es Gründe geben mag, nur die ältere Anmeldung als prioritätsbegründend anzusehen, wenn die von zwei verschiedenen Anmeldern eingereichten Anmeldungen auf dieselbe Erfindung ein und desselben Erfinders zurückgehen (nationale Rechtsprechung in diesem Sinne, jedoch zu jeweils sehr spezifischen, hier nicht vorliegenden Fallkonstellationen, siehe Wieczorek "Die Unionspriorität im Patentrecht", S. 112 f.). Im vorliegenden Fall ist der Gegenstand von Dokument (18) prima facie nicht derselbe wie der der Prioritätsanmeldungen, insbesondere sind jedoch die Erfinder nicht identisch. Die Nennung einer zusätzlichen Person als Erfinder in den Prioritätsanmeldungen zum Streitpatent ist jedoch kein rein formaler, unbeachtlicher Unterschied; es ist nach Ansicht der Kammer zumindest ein Indiz dafür, dass nicht von einem unverändert gebliebenen Erfindungsgegenstand auszugehen ist, wie von der Beschwerdegegnerin 01 auch eingeräumt. Für die Anwendung des Prioritätsrechts gemäß Artikel 87 (1) bis (5) EPÜ kommt es nicht darauf an, welchem Erfinder welchen Beitrag zum Anmeldungsgegenstand zuzuschreiben ist. Dies leuchtet auch sofort ein, weil es nämlich kaum möglich erscheint, zeitgerecht und verlässlich festzustellen, wer tatsächlich der oder die Erfinder des Anmeldungsgegenstandes oder bestimmten Teilen davon ist bzw. sind. Aus diesem Grunde bestimmt Artikel 60 (3) EPÜ, dass im Verfahren vor dem europäischen Patentamt der Anmelder als berechtigt gilt, das grundsätzlich dem Erfinder zustehende Recht auf das europäische Patent (Artikel 60 (1) EPÜ) geltend zu machen. Aus demselben Grund kann im vorliegenden Fall der Beitrag, den die dritte in den beiden Prioritätsanmeldungen als Erfinder genannte Person zum Gegenstand der Prioritätsanmeldungen geleistet hat, kein zu prüfendes Kriterium sein. Im Rahmen der Prüfung der für jede Prioritätsbegründung geltenden Erstanmeldungsvoraussetzung, dem tatsächlichen Beitrag einer als Erfinder genannten Person nachgehen zu müssen, wäre auch nicht systemkonform, weil dadurch ein guter Teil der Verfahrenserleichterungen wieder verloren ginge, die durch das Abstellen auf den Anmelder in Artikel 60 (3) und 87 (1) EPÜ gerade erreicht werden sollen. Für die Kammer besteht somit kein Anlass, die Prioritätsanmeldungen nicht als im Rechtssinne vom Dokument (18) unabhängige Erstanmeldungen anzusehen.
4.3 Letzteres wurde in der mündlichen Verhandlung vor der Kammer von den Beschwerdegegnerinnen auch mit dem Hinweis auf die Konzernverbundenheit der Anmelderin vom Dokument (18) und der Patentinhaberin als Anmelderin der Prioritätsanmeldungen - beide nach dem Vorbringen der Beschwerdeführerin 100%ige Töchter der Dystar GmbH, somit Schwestergesellschaften - bestritten. Wegen der gemeinsamen Kontrolle durch die Muttergesellschaft seien sie, wirtschaftlich betrachtet, nicht voneinander unabhängige Gesellschaften. Die wirtschaftliche Betrachtungsweise sei auch für die prioritätsrechtlichen Voraussetzungen maßgebend, da die Anmeldungstätigkeit der beiden Gesellschaften tatsächlich einer gemeinsamen Steuerung unterworfen gewesen sei.
Abgesehen davon, dass weder das EPÜ noch die PVÜ hierfür eine Stütze bietet, würde eine gemeinsame Steuerung, sollte es eine solche geben, nichts daran ändern, dass die beiden Anmelderinnen selbständige juristische Personen und damit unabhängig voneinander handelnde, dem Begriff "Jedermann" in Artikel 87 (1) EPÜ unterfallende Rechtspersonen sind. Rechtshandlungen, wie etwa die Einreichung einer Patentanmeldung, sind grundsätzlich der Person zuzurechnen, die sie vorgenommen hat. Auch für konzernverbundene Handelsgesellschaften gilt, dass Ausnahmen von diesem Grundsatz einer spezifischen Rechtsgrundlage - wie sie etwa im nationalen Steuerrecht zu finden ist - bedürfen. Ausnahmevorschriften, die die prioritätsrechtliche Zuordnung einer Anmeldung zu einer von der Anmelderin verschiedenen Person, die nicht ihr Rechtsnachfolger ist, vorsehen würden, bestehen nicht. Ebenso wenig ist behauptet worden, noch sind Anhaltspunkte dafür gegeben, dass die Patentinhaberin oder die mit ihr verbundenen Gesellschaften missbräuchlich vorgegangen wären, um die zeitlichen oder sonstigen Beschränkungen des Prioritätsrechts aus den oder für die hier relevanten Anmeldungen zu umgehen.
4.4 Es wurde während des Beschwerdeverfahrens außerdem vorgebracht, die bereits in der jüngeren Prioritätsanmeldung beanspruchte (innere) Priorität der älteren Prioritätsanmeldung könne nicht neuerlich, und damit nicht mehr für die dem Streitpatent zugrunde liegende europäische Patentanmeldung beansprucht werden. Dem stehe der in der Entscheidung T 998/99 (ABl. EPA 2005, 229) ausgeführte Erschöpfungsgrundsatz entgegen. Diese Auslegung von Artikel 87 EPÜ sei der gegenteiligen, in T 15/01 vom 17. Juni 2004 vertretenen Auffassung vorzuziehen, weil in Übereinstimmung mit der PVÜ der Zweck dieser Bestimmung darin bestehe, der Anmelderin das Prioritätsrecht als Sonderrecht nur zur einmaligen Ausübung innerhalb der Prioritätsfrist von zwölf Monaten einzuräumen. Im übrigen sei eine mehrfache Ausübung des Prioritätsrechts nicht schon deshalb erlaubt, weil sie im EPÜ nicht ausdrücklich verboten ist.
Die Kammer kann weder in diesem Vorbringen, noch in den Entscheidungsgründen zu T 998/99 noch sonst Gründe für die in dieser Entscheidung aufgestellte These erkennen, dass es sich beim Prioritätsrecht um eine Ausnahmeregelung handle, die deshalb eng auszulegen sei und damit nur eine einmalige Ausübung des Prioritätsrechtes für einen Vertragsstaat zulasse. Selbst nach ausdrücklicher Aufforderung durch die Kammer in der mündlichen Verhandlung wurde von den Beschwerdegegnerinnen zur Widerlegung der umfassenden und systematischen Gründe, die in ausdrücklicher Distanzierung von T 998/99, in der Entscheidung T 15/01 ausgeführt sind, nichts Entscheidungsrelevantes vorgetragen. Auch die zuletzt genannte Entscheidung stellt ausdrücklich fest, dass dem EPÜ nicht zu entnehmen ist, ob eine mehrfache Beanspruchung einer Priorität erlaubt ist oder nicht, ohne allerdings daraus die in der Entscheidung T 998/99 nicht weiter begründete Schlussfolgerung zu ziehen, eine mehrfache Beanspruchung derselben Erfindung in ein und demselben Vertragsstaat sei nicht möglich. Außerdem wird darin die in der Entscheidung T 998/99 aufgestellte These, bei der Prioritätsregelung handele es sich um eine eng auszulegende Ausnahmeregelung, insbesondere mit dem Argument widerlegt, die Artikel 87 bis 89 EPÜ bildeten eine vollständige und eigenständige Regelung des Rechts, das bei der Beanspruchung von Prioritäten für europäische Anmeldungen anzuwenden sei, wobei das EPÜ gemäß seiner Präambel aber ein Sonderabkommen im Sinne von Artikel 19 der PVÜ darstelle und daher nicht beabsichtigt gewesen sein könne, die Bestimmungen des EPÜ den in der PVÜ festgelegten Prioritätsgrundsätzen entgegenzustellen. Wenn die Prioritätsregelung aber keine Ausnahmeregelung sei, müsse der in der Entscheidung T 998/99 vertretenen Ansicht widersprochen werden, es handele sich bei der Prioritätsregelung um eine Ausnahmeregelung, die eine entsprechend enge Auslegung erfordere.
Im vorliegenden Fall kommt die Kammer noch aus einem weiteren Grund zum Ergebnis, dass das Prioritätsrecht keiner Erschöpfung in dem hier in Rede stehenden Sinn unterliegt. Könnte nämlich, wie hier geschehen, eingewendet werden, eine bereits für eine nationale Nachanmeldung im selben (oder auch einem anderen) Vertragsstaat beanspruchte Priorität könne für eine spätere europäische Patentanmeldung, in der derselbe Vertragsstaat benannt ist, nicht mehr wirksam beansprucht werden, ergäben sich für das europäische Patentrecht neue, völlig offene Rechtsfragen auch in Hinblick darauf, dass nach Artikel 89 EPÜ das Prioritätsrecht die Wirkung hat, dass der Prioritätstag als Anmeldungstag für die Anwendung der Artikel 54 (2) und (3) sowie 60 (2) EPÜ gilt. Bliebe man dabei, dass diese Wirkung für die gesamte Anmeldung einheitlich eintritt, so wie es dem Wortlaut und dem bisherigen Verständnis der Bestimmung entspricht, stünde man einem Dilemma gegenüber: entweder kann ein Vertragsstaat, hinsichtlich dessen die Priorität bereits erschöpft wurde (hier: DE) für eine europäische Patentanmeldung nicht benannt werden bzw. bleiben, oder die Anmelderin müsste in Kauf nehmen, dass die Erschöpfung in einem in der europäischen Patentanmeldung benannten Vertragsstaat der Geltendmachung des Prioritätsrechts für die Anmeldung insgesamt entgegensteht, und damit für alle übrigen dort benannten Vertragsstaaten, auch wenn für sie (hier: CH/LI, ES, FR, GB und IT) die betroffene Priorität noch gar nie beansprucht wurde. Ein mit dem EPÜ und der PVÜ, der alle Vertragsstaaten des EPÜ angehören, vereinbarer Ausweg aus diesen Schwierigkeiten ist nicht ohne weiteres ersichtlich und braucht, wenn man sich wie die Kammer der in T 15/01 begründet vertretenen Auffassung anschließt, auch nicht gesucht werden.
4.5 Unter diesen Umständen hält es die Kammer nicht für erforderlich, die Frage der Erschöpfung eines geltendgemachten Prioritätsrechts der Großen Beschwerdekammer zur Entscheidung vorzulegen. Auch wenn es sich dabei um eine Rechtsfrage grundsätzlicher Bedeutung handelt, so kann die Kammer, wie oben dargelegt, die von den Beschwerdegegnerinnen aufgeworfene Frage selbst und eindeutig beantworten. Auch stellt es keine Abweichung von der Rechtsprechung dar, wenn die Kammer dabei einer der beiden gegensätzlichen Beschwerdekammerentscheidungen folgt, welche zu dieser Frage ergangen sind.
4.6 Schließlich kann der von der Beschwerdegegnerin 01 in der mündlichen Verhandlung vor der Kammer erhobene Einwand der mangelnden Berechtigung der Patentinhaberin "DyStar Textilfarben GmbH & Co. Deutschland KG" zur Geltendmachung der beiden Prioritäten nicht überzeugen. Bei der namensgleichen Prioritätsanmelderin handelt es sich gerade nicht um eine von der Patentinhaberin verschiedene (juristische) Person, wie von der Beschwerdegegnerin 01 mit Hinweis darauf behauptet, dass auf den beiden Prioritätsbelegen als Ortsangabe "Leverkusen" angegeben, der Gesellschaftssitz der Patentinhaberin im Widerspruch dazu jedoch Frankfurt ist. Diese von ihrem registermäßigen Sitz (siehe Handelsregisterauszug, eingereicht am 9. November 2005) unterschiedliche Ortsangabe wurde von der Beschwerdeführerin aus innerbetrieblichen Gründen, die der Prokurist der Beschwerdeführerin in der mündlichen Verhandlung erläuterte, regelmäßig bei Patentanmeldungen verwendet. Die dem Streitpatent zugrunde liegende Anmeldung selbst ist Nachweis dafür, indem bei dieser "Leverkusen" auf dem Erteilungsantrag sowohl im Rahmen der Vertreteranschrift (Feld 16) angegeben ist, als auch am Ende als Ort der Unterfertigung des Antrags. Bei realistischer Betrachtung kann daher kein vernünftiger Zweifel bestehen, dass die Patentinhaberin selbst Anmelderin der beiden Prioritätsanmeldungen war und somit die "Person" ist, welche gemäß Artikel 87 (1) EPÜ die damit begründeten Prioritätsrechte "genießt".
4.7 Die Kammer kommt daher zum Schluss, dass Dokument (18) als Anmeldung durch eine auch im patentrechtlichen Sinn von der Patentinhaberin verschiedene Person den Prioritätsanmeldungen nicht ihre Eigenschaft als Erstanmeldungen im Sinne des EPÜ genommen hat.
5. Weiterhin hat die Kammer sich davon überzeugt, dass beide Prioritätsanmeldungen sich gemäß den in der G 2/98 entwickelten Grundsätze auf dieselbe Erfindung als im Streitpatent beziehen. Dies war nie bestritten worden.
6. Da somit beide im Streitpatent beanspruchte Prioritäten wirksam in Anspruch genommen sind, gehört Dokument (18) nicht zum Stand der Technik im Sinne von Artikel 54 EPÜ und erübrigt sich der Antrag der Beschwerdeführerin auf Feststellung der Neuheit gegenüber Dokument (18) (siehe Punkt V oben).
ENTSCHEIDUNGSFORMEL
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.
2. Es wird festgestellt, dass die für das Streitpatent beanspruchten beiden Prioritäten (DE 19812615 vom 23.03.1998 und DE 19816056 vom 09.04.1998) wirksam in Anspruch genommen sind.
3. Die Angelegenheit wird an die 1. Instanz zur Fortsetzung des Einspruchsverfahrens zurückverwiesen.