T 2102/08 () of 26.7.2011

European Case Law Identifier: ECLI:EP:BA:2011:T210208.20110726
Datum der Entscheidung: 26 Juli 2011
Aktenzeichen: T 2102/08
Anmeldenummer: 00811008.2
IPC-Klasse: G01D 5/245
Verfahrenssprache: DE
Verteilung: C
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Bibliografische Daten verfügbar in: DE
Fassungen: Unpublished
Bezeichnung der Anmeldung: Inkremental-Absolut-Abtastkopf mit gesamter Signalverarbeitung ( Photo-ASIC, ASIC )
Name des Anmelders: Baumer Innotec AG
Name des Einsprechenden: DR. JOHANNES HEIDENHAIN GmbH
OPTOLAB Licensing GmbH
Kammer: 3.4.02
Leitsatz: -
Relevante Rechtsnormen:
European Patent Convention 1973 Art 54
European Patent Convention 1973 Art 56
European Patent Convention 1973 Art 112(1)
European Patent Convention 1973 R 71a(2)
Rules of procedure of the Boards of Appeal Art 12(1)
Rules of procedure of the Boards of Appeal Art 12(2)
Rules of procedure of the Boards of Appeal Art 12(4)
Rules of procedure of the Boards of Appeal Art 13(1)
Schlagwörter: Verspätetes Vorbringen - im erstinstanzlichen Verfahren nicht zugelassener Hilfsantrag
Verspätetes Vorbringen - Heilung durch rügeloses Einlassen (nein, vgl. Punkt 4. der Entscheidungsgründe)
Vorlage an die Große Beschwerdekammer (nein)
Orientierungssatz:

-

Angeführte Entscheidungen:
G 0008/91
G 0010/91
G 0007/93
G 0001/99
T 0501/92
T 1685/07
T 0356/08
Anführungen in anderen Entscheidungen:
T 0253/10
T 0971/11
T 0247/12
T 1675/13
T 2384/16
T 0254/20
T 0562/20

Sachverhalt und Anträge

I. Die Beschwerdeführerin (Patentinhaberin) richtet ihre am 29. August 2008 eingegangene Beschwerde gegen die Ent­scheidung der Einspruchsabteilung vom 30. Juni 2008, mit der das Europäische Patent Nr. 1 102 039 widerrufen worden war. Die Beschwerdegebühr wurde an demselben Tag entrichtet. Die Beschwerdebegründung ging am 10. November 2008 ein.

II. Gegen das Patent legte die Dr. Johannes Heidenhain GmbH (Einsprechende 1) gestützt auf die Einspruchsgründe nach Artikel 100(a) EPÜ (fehlende Neuheit und erfinde­rische Tätigkeit, Artikel 54 und 56 EPÜ) Einspruch ein. Ein weiterer Einspruch wurde durch die Optolab Licen­sing GmbH (Einsprechende 2) eingelegt. Dieser stützte sich ebenfalls auf die Einspruchsgründe nach Artikel 100(a) EPÜ und auf Artikel 100(c) EPÜ (unzulässige Erweiterung des Gegenstandes des europäischen Patents). Als Beleg für die Einwände fehlender Neuheit und erfinderischer Tätigkeit wurden im Einspruchs- und Beschwerdeverfahren unter anderem folgende Druckschriften zitiert:

D1: EP-A-0 503 716

D4: DE-A-195 05 176

D6: Applied Optics, Vol. 35, Nr. 1, 1. Januar 1996, Seiten 201 - 208, Kai Engelhardt und Peter Seitz: "Absolute, high-resolution optical position encoder".

III. In ihrer Entscheidung kam die Einspruchsabteilung zum Schluss, dass die abhängigen Ansprüche 2, 3 und 4 des erteilten Patents eine ursprünglich nicht offenbarte technische Lehre enthielten und deshalb der von den Einsprechenden genannte Einspruchsgrund nach Artikel 100(c) EPÜ der Aufrechterhaltung des Patents in der erteilten Form (Hauptantrag) entgegenstünde. Während der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung reichte die Patentinhaberin einen neuen Hilfsantrag ein. Die Einspruchsabteilung stellte fest, dass dieser Antrag nach der in Regel 116 EPÜ genannten Frist eingereicht worden und deshalb als verspätet anzusehen sei. Da Anspruch 1 dieses Antrags nicht den Erfordernissen des Artikel 123 (2) EPÜ genüge, sei dieser Hilfsantrag überdies nicht als prima facie relevant anzusehen. Deshalb lies die Einspruchsabteilung den verspäteten Hilfsantrag nicht in das Verfahren zu.

IV. In ihrer Beschwerde beantragte die Patentinhaberin (Beschwerdeführerin) hilfsweise eine mündliche Verhandlung. Die Einsprechende 1 (Beschwerdegegnerin 1) beantragte ebenfalls eine mündliche Verhandlung. Die Einsprechende 2 (Beschwerdegegnerin 2) beteiligte sich nicht am Beschwerdeverfahren.

V. Am 26. Juli 2011 fand eine mündliche Verhandlung statt, an deren Ende die Kammer ihre Entscheidung verkündete. In der mündlichen Verhandlung beantragte die Beschwerdeführerin die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und die Aufrechterhaltung des Patents in der erteilten Fassung (Hauptantrag) oder hilfsweise auf der Grundlage eines der folgenden Hilfsanträge: Hilfsanträge 1 und 2, eingereicht mit der Beschwerdebegründung; Hilfsantrag 3, eingereicht mit Schreiben vom 24. Juni 2011; Hilfsantrag 4, eingereicht in der mündlichen Verhandlung vom 26. Juli 2011. Außerdem stellte sie während der mündlichen Verhandlung einen Antrag auf Vorlage an die Große Beschwerdekammer.

Die Beschwerdegegnerin (Einsprechende 1) beantragte die Zurückweisung der Beschwerde.

Die Beschwerdegegnerin 2 (Einsprechende 2) war nicht an der mündlichen Verhandlung vertreten.

VI. Anspruch 1 gemäß Hauptantrag (Anspruch 1 des erteilten Patents) lautet wie folgt:

"Abtastkopf (100) für eine Winkel- oder Weg-Messvor­richtung, mit mindestens einem ersten Sensor (141) zur Ermittlung von Absolutwerten von Winkeln oder Wegen und mindestens einem zweiten Sensor (142) zur Ermittlung von zwischen zwei aufeinanderfolgenden Absolutwerten liegenden Inkrementalwerten von Winkeln oder Wegen,

gekennzeichnet durch im Abtastkopf (100) befind­liche Mittel (105) zur Bildung eines Gesamtabsolutwerts aus einem von dem mindestens einen ersten Sensor (141) ermittelten Absolutwert und einem von dem mindestens einen zweiten Sensor (142) ermittelten Inkrementalwert und zur Bereitstellung dieses Gesamtabsolutwerts in Binär-/Digitalform ".

Die unabhängigen Ansprüche 1 der Hilfsanträge 1 und 2 stimmen inhaltlich mit Anspruch 1 des erteilten Patents überein, abgesehen vom Verzicht auf die zweiteilige Form (Weglassen des Ausdrucks "gekennzeichnet durch").

Anspruch 1 gemäß Hilfsantrag 3 lautet wie folgt:

"Abtastkopf (100) für eine Winkel- oder Weg-Messvor­richtung, mit mindestens einem ersten Sensor (141) zur Ermittlung von Absolutwerten von Winkeln oder Wegen und mindestens einem zweiten Sensor (142) zur Ermittlung von zwischen zwei aufeinanderfolgenden Absolutwerten liegenden Inkrementalwerten von Winkeln oder Wegen,

im Abtastkopf (100) befindliche Mittel (105) zur Bildung eines Gesamtabsolutwerts aus einem von dem mindestens einen ersten Sensor (141) ermittelten Absolutwert und einem von dem mindestens einen zweiten Sensor (142) ermittelten Inkrementalwert und zur Bereitstellung dieses Gesamtabsolutwerts in Binär-/Digitalform

wobei jeder erste und jeder zweite Sensor und die Mittel zur Bildung und zur Bereitstellung des Gesamtabsolutwerts in einem ASIC integriert sind".

Anspruch 1 gemäß Hilfsantrag 4 lautet wie folgt:

"Abtastkopf (100) für eine Winkel- oder Weg-Messvor­richtung, mit mindestens einem ersten Sensor (141) zur Ermittlung von Absolutwerten von Winkeln oder Wegen und mindestens einem zweiten Sensor (142) zur Ermittlung von zwischen zwei aufeinanderfolgenden Absolutwerten liegenden Inkrementalwerten von Winkeln oder Wegen,

im Abtastkopf (100) befindliche Mittel (105) zur Bildung eines Gesamtabsolutwerts aus einem von dem mindestens einen ersten Sensor (141) ermittelten Absolutwert und einem von dem mindestens einen zweiten Sensor (142) ermittelten Inkrementalwert und zur Bereitstellung dieses Gesamtabsolutwerts in Binär-/Digitalform,

der Abtastkopf enthaltend eine serielle Schnitt­stelle, vorzugsweise eine SSI-Schnittstelle, für die Ausgabe des Gesamtabsolutwerts und Mittel zur Verar­beitung von Pegeln über die serielle Schnittstelle, welche von einer externen Steuerung (301) vorgegeben werden,

enthaltend zusätzliche Mittel (105) zur Steuerung einer synchronen Zusammensetzung der ermittelten Inkrementalwerte zur Gesamtabsolutwert und

zusätzliche Mittel (105) zur Einbeziehung einer Signalverzögerung der Messvorrichtung bei der Bildung des Gesamtabsolutwertes in der Signalverarbeitung".

VII. Die Argumente der Beschwerdeführerin lassen sich wie folgt zusammenfassen:

In Bezug auf die Neuheit der Vorrichtung des erteilten Patentanspruchs 1 (Hauptantrag) gegenüber dem Stand der Technik offenbart das Dokument D1 eine Messvorrichtung, die ein Skalenelement 3, einen Abtastkopf 5 mit zwei Sensoren 4 und 6 und ein Signalverarbeitungssystem 7 aufweist (Sp. 2, Z. 51 bis 54 unter Bezugnahme auf Figur 1). Aus dieser Figur 1 und der zitierten Beschreibung geht klar hervor, dass der Abtastkopf 5 und das Signalverarbeitungssystem 7 zwei voneinander unabhängige Komponenten sind, und dass sich das Signal­verarbeitungssystem 7 insbesondere nicht im Abtastkopf 5 befindet. Ein Abtastkopf in Form einer baulichen Ein­heit der beiden Sensoren und des Signalver­arbeitungs­systems — wie sie der erteilte Patentanspruch 1 fordert — ist in Dokument D1 somit nicht offenbart. Dem steht auch nicht entgegen, dass D1 als Möglichkeit offenbart (jedoch mit dem Verweis "not shown"), dass ein Teil des Signalverarbeitungssystems auf einer gewöhnlichen Leiterplatte montiert werden kann (Sp. 6, Z. 9 bis 12). Denn eine solche gewöhnliche Leiterplatte kann nicht mit einem Abtastkopf nach Anspruch 1 verglichen werden, der in einer baulichen Einheit einen ersten und zweiten Sensor sowie ein Signalverarbeitungssystem umfasst. Insbesondere kann eine derartige Leiterplatte auch nicht zu den Vorteilen der beanspruchten Vorrichtung führen, da sie gerade eine Peripherie-Elektronik darstellt, die nicht die erfindungsgemäßen Vorteile, nämlich eine geringe Störanfälligkeit, hohe Verar­beitungsgeschwindigkeit, die Beherrschung von Signal­verzögerungen sowie präzise Feinwertinterpolation, aufweist. Zudem müssen von der Leiterplatte verursachte Signalverzögerungen berücksichtigt werden. Dokument D1 offenbart lediglich, dass ein Teil des Signalverar­beitungs­systems zusammen mit den Sensoren auf einer gemeinsamen Leiterplatte montiert sein können. Eine eindeutige und unzweifelhafte Offenbarung dafür, dass sich das gesamte Signalverarbeitungssystem auf der Leiterplatte befindet, gibt es in der D1 nicht. Außer­dem findet sich in der D1 keine Offenbarung, dass ein Absolutwert und getrennt davon ein Inkrementalwert ermittelt werden. Vielmehr werden in der D1 lediglich die Signale kombiniert. Patentanspruch 1 gemäß Haupt­antrag ist somit neu gegenüber der Offenbarung in D1.

Die Druckschrift D4 offenbart einen optischen Messgeber mit einem Absolutmesssystem mit geringer Auflösung und ein inkrementales Messsystem mit hoher Auflösung. Für die Absolutspur wird ein Code und für die Inkremental­spur ein äquidistantes Gitter verwendet (Sp. 5, Z. 4 bis 10). Das aus der Absolutspur gewonnene Absolut­signal wird mit einem Inkrementalsignal zum Signalwert der Absolutposition kombiniert (Sp. 5, Z. 10 bis 12). Es handelt sich dabei um einen Signalwert der Absolut­position und nicht um einen Gesamtabsolutwert in Binär-/Digitalform. Wie auch aus Fig. 3.1 und 3.2 in D4 hervorgeht sind dies analoge Signale. Die in Spalte 5, Zeilen 27 bis 51 beschriebene "Binarisierung" betrifft lediglich die Ermittlung der Absolutposition des Absolutcodes (Grobspur). Die als "binär" bezeichneten Werte PD1 und PD2, welche die Information für die Absolutmessung darstellen, haben gemäß Fig. 3.6 einen offensichtlichen nicht-binären/nicht-digitalen Verlauf. Für die Inkrementalmessung wird auch die Phasenfunktion benötigt, die gemäß Fig. 3.5 offensichtlich eine "Säge­zahnkurve" ist, also ebenfalls nicht-binär/nicht-digitaler Natur ist. Weiterhin geht aus D4 nicht hervor, ob die Kombination zum Signalwert der Absolut­position im Abtastkopf erfolgt. Im Abtastkopf befind­liche Mittel zur Bereitstellung eines Gesamtabsolut­werts in Binär/Digitalform, sind aus D4 nicht bekannt. Das Argument der Beschwerdegegnerin dass die mit "1C" bezeichneten Einheiten auf dem ASIC in Figur 1 der D4 eine solche Funktion haben würden wird durch den Fach­artikel D6 widerlegt: diese Schrift stammt von den in der D4 genannten Erfindern und betrifft, wie die über­einstimmenden Figuren 1 von D4 und D6 zeigen, dieselbe Erfindung. In der D6 sind auf dem Photo-ASIC lediglich "transimpedance amplifiers" vorgesehen (Seite 205, rechte Spalte, letzter Absatz). Die Bildung eines Inkrementalwertes oder gar eines Gesamtabsolutwertes ist damit nicht möglich. Demzufolge ist der Gegenstand des erteilten Patentanspruchs 1 neu gegenüber der Offenbarung des Dokuments D4.

Zur erfinderischen Tätigkeit von Anspruch 1 gemäß Hauptantrag wurde ausgeführt, dass keines der genannten Dokumente D1 und D4 im Abtastkopf befindliche Mittel zur Bereitstellung eines Gesamtabsolutwerts aus ermit­telten Absolutwerten und ermittelten Inkrementalwerten in Binär-/Digitalform offenbart. Folglich konnte der Fachmann nicht in naheliegender Weise unter Berück­sichtigung dieser Dokumente Dl oder D4 zum Gegenstand des erteilten Patenspruchs 1 gelangen. Demzufolge beruht der erteilte Patentanspruch 1 auf einer erfinderischen Tätigkeit.

Die unabhängigen Patentansprüche der Hilfsanträge 1 und 2 entsprechen Anspruch 1 gemäß Hauptantrag. Deshalb ist ihr Gegenstand aus den genannten Gründen neu und beruht auf einer erfinderischen Tätigkeit.

Zur Frage der Zulassung des 3. Hilfsantrags in das Beschwerdeverfahren führte die Beschwerde­führerin aus, dass dem Beschwerdeverfahren gemäß Artikel 12 (1) und (2) VOBK der vollständige Sachvortrag der Be­teiligten, der die Beschwerdebegründung und die Erwide­rung der Gegenpartei umfasst, zugrunde zu legen ist. Der 3. Hilfs­antrag wurde mit der Beschwerdebegründung zusammen mit dem Hauptantrag und den weiteren Hilfs­anträgen 1, 2, 4 und 5 als Teil des Parteivor­bringens der Beschwerdeführerin neu eingereicht und war damit Gegenstand des Beschwerdeverfahrens. Nach Auffassung der Beschwerdeführerin darf dem nicht entgegenstehen, dass der 3. Hilfsantrag in der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung nicht zugelassen worden war, da das Beschwerdeverfahren nicht lediglich ein auf Überprüfung von Rechtsfragen gerichtetes Revisions­verfahren ist, sondern auch eine inhaltliche Über­prüfung der vorgelegten Antragssätze zum Zweck hat. Davon abgesehen lag der Antrag mit der Beschwerde­begründung, d.h. seit 10. November 2008, vor und wurde von der Beschwerdegegnerin in ihren Stellungnahmen nie als verspätet gerügt. Vielmehr hat die Beschwerde­gegnerin inhaltlich dagegen argumentiert und sich damit rügelos auf den Antrag eingelassen. Da ein Nichtzu­lassen eines mit der Beschwerdebegründung neu einge­reichten Antrags aus formellen Gründen nicht mit dem Europäischen Patentübereinkommen im Einklang steht und der ständigen Rechtsprechung der Beschwerdekammern widerspricht, stellte die Beschwerdeführerin folgenden Antrag auf Vorlage an die Große Beschwerdekammer:

" Das Beschwerdeverfahren ist ein vom erst­instanz­lichen Verfahren vollständig getrenntes, unabhängiges Verfahren. Seine Aufgabe besteht darin, ein gericht­liches Urteil über die Richtigkeit einer davon strikt zu trennenden früheren Entscheidung der erstinstanz­lichen Stelle zu fällen (T 34/90, ABl. 1992, 454; G 9/91, ABl. 1993, 408; G 10/91, ABl. 1993, 420; T 534/89, ABl. 1994, 464; T506/91). In T 501/92 (ABl. 1996, 261) leitete die Kammer aus diesem Grundsatz ab, dass prozessuale Anträge oder Verfahrenserklärungen eines Beteiligten während des erstinstanzlichen Ver­fahrens nicht für ein anschließendes Beschwerdever­fahren gelten und im Beschwerdeverfahren selbst wieder­holt werden müssen, um dort eine prozessuale Wirkung zu entfalten.

Ist im Beschwerdeverfahren ein mit der Beschwerde­begründung gestellter Antrag, der im Einspruchsver­fahren als verspätet zurückgewiesen wurde, als neuer Antrag im Beschwerdeverfahren zu werten, für den der Einwand des verspäteten Vorbringens in der ersten Instanz nicht mehr gilt?

Ist eine rügelose, sachliche Einlassung der Ein­sprechenden zu diesem Antrag im weiteren Beschwerde­verfahren vor der mündlichen Verhandlung dahingehend zu werten, dass in der mündlichen Verhandlung der Einwand des verspäteten Vorbringens nicht mehr erhoben werden kann?".

Der in der mündlichen Verhandlung eingereichte Hilfs­antrag 4 ersetzte den Hilfsantrag 5, eingereicht mit dem Schreiben vom 24. Juni 2011. Dieser wurde geändert um die Einwände der Beschwerdegegnerin und der Beschwerde­kammer während der mündlichen Verhandlung auszuräumen. Wie in Punkt 6 der Eingabe vom 10. November 2008 erläutert wurde (damaliger Hilfsantrag 4), ist der Patentanspruch 1 eine Kombination der Merkmale der erteilten Ansprüche 1 und 12. Außerdem wurden die Merkmale der ursprünglichen (=erteilten) Ansprüche 2 und 4 aufgenommen (siehe Schreiben vom 28. Juni 2011, Punkt VII.1). Mit diesen Änderungen gehe nach Auffassung der Beschwerdeführerin Anspruch 1 nicht über das hinaus, was in den ursprünglichen Unterlagen offenbart sei. Ebenso sei der Schutzbereich nicht erweitert, weshalb die Erfordernisse der Artikel 123 (2) und (3) EPÜ erfüllt seien.

VIII. Die Argumente der Beschwerdegegnerin 1 lassen sich wie folgt zusammenfassen:

Dem Gegenstand des Anspruchs 1 gemäß Hauptantrag fehlt die Neuheit gegenüber der Druckschrift D1: Gemäß Sp. 2, Z. 51 bis 54 betrifft die D1 einen Abtastkopf für eine Winkel- oder Weg-Messvorrichtung, wobei der Abtastkopf als "pick-up device 5" bezeichnet ist. Der Abtastkopf 5 weist einen ersten Sensor 6 zur Ermittlung von Absolut­positionen auf, wozu dieser Sensor die Absolutspur 13 abtastet, und ebenso einen zweiten Sensor 4 zur Ermitt­lung von Inkrementalwerten. Diese Inkrementalwerte sind Positionswerte zwischen zwei aufeinander folgenden Absolutwerten, siehe Sp. 3, Z. 57 bis Spalte 4, Zeile 6, offenbart durch den Ausdruck "within a pitch". Im Abtastkopf sind Mittel in Form von "processing systems 7" vorgesehen, welche den vom ersten Sensor 6 ermittel­ten Absolutwert und den vom zweiten Sensor 4 ermittel­ten Inkrementalwert zu einem Gesamtabsolutwert kombi­niert, wie in Sp. 6, Z. 2 bis 6 angegeben. Der Gesamt­absolutwert wird als "parallel or serial output signal" am Ausgang des "processing system 7" zur Verfügung ge­stellt, wie in Sp. 6, Z. 6 bis 9 offenbart ist. Es ist unstrittig, dass es sich dabei um den Gesamtabsolutwert in Binär-/Digitalform handelt. Dass das "processing system 7", also die Mittel zur Bildung des Gesamt­absolutwertes im Abtastkopf enthalten sind, geht aus Spalte 2, Zeilen 51 bis 54 durch die Angabe "a pick-up device 5 comprising two sensing elements 4, 6 and a signal processing system 7" eindeutig hervor. D1 offenbart somit eindeutig einen Abtastkopf in Form einer baulichen Einheit welche die beiden Sensoren und das Signalverarbeitungssystem beinhaltet, wie im An­spruch 1 des Hauptantrags gefordert. Weitere Angaben, wie diese bauliche Einheit gemäß D1 konkret ausgebildet sein kann, finden sich in Sp. 6, Z. 9 bis 12 der D1, wo angegeben ist, dass die Sensoren 4 und 6 sowie das "signal processing system 7" auf einer gemeinsamen Leiterplatte montiert sein können. Der Hinweis der Beschwerdeführerin, dass eine Leiterplatte gemäß D1 nicht mit einem Abtastkopf gemäß Anspruch 1 verglichen werden kann, geht ins Leere, da der Anspruch den Aufbau des Abtastkopfes völlig offen lässt. Demnach kann der Abtastkopf auch aus einer Vielzahl von elektrischen Bauelementen und Platinen bestehen. Gefordert wird nur eine bauliche Einheit, welche an eine Peripherie-Elektronik angeschlossen werden kann und welche einen Gesamtabsolutwert bildet. Bestätigt ist dies durch die in der Streitpatentschrift insbesondere anhand der Figuren 4 und 5 und der in den Absätzen [0043] und [0044] erläuterten Ausführung. Demnach ist die Schal­tung 105 dem ASIC 104 nachgeschaltet, also über eine Verbindungsleitung an das ASIC 104 angeschlossen. Diese in der Streitpatentschrift erläuterte Ausführung ent­spricht somit exakt der in D1 offenbarten Konstruktion. Damit hat auch die Konstruktion gemäß D1 zwangsläufig die gleichen Vorteile.

Zudem fehlt dem Gegenstand dieses Anspruchs die Neuheit gegenüber der Druckschrift D4, welche einen optischen Messgeber betrifft (siehe Titel). Weiter heißt es im Anspruch 1 der D4, dass diese Vorrichtung eine Ver­schiebung eines Abtastkopfes gegenüber einer Maßver­körperung misst. Dieser Abtastkopf weist ein ASIC auf, das einen "Absolutmessbereich 1B" zur Ermittlung von Absolutwerten eines Weges und auch einen "Inkremental­messbereich 1A" zur Ermittlung von inkrementalen Positionswerten umfasst (Sp. 3, Z. 35-36). Bei diesen inkrementalen Positionswerten handelt es sich um Positionswerte, die eine Periode der Inkrementalspur unterteilen. So hat die Detektorspur für die Inkrementalwerte in Figur 2 der D4 die gleiche Form und Funktionsweise wie die in der Figur 3 des Streitpatents gezeichnete Spur 142. Im ASIC des Abtastkopfes sind weiter Mittel 1C vorgesehen, die die Positionswerte von 1A und 1B miteinander zu einem "gemeinsamen Stell­signal" kombinieren (Sp. 5, Z. 10 bis 12). Dieses gemeinsame Stellsignal am Ausgang der mit 1C bezeich­neten Mittel wird am Ausgang des ASIC und somit am Ausgang des Abtastkopfes bereitgestellt, wie in Figur 1 dargestellt ist. Wie die Figur 3.7 für den Fachmann zeigt, handelt es sich dabei um ein binäres Signal. Die Aussage der Beschwerdeführerin, dass es sich bei dieser Absolutposition nicht um einen Gesamtabsolutwert han­delt, geht ins Leere, da das in Figur 3.7 dargestellte Signal eindeutig binär ist. Hinsichtlich der Kombina­tion im Abtastkopf wird auf die Offenbarung in der D4, insbesondere auf Anspruch 14 und Figur 1, hingewiesen, wo erläutert ist, dass die Mittel 1C zur Kombination im ASIC und somit im Abtastkopf enthalten sind.

Auf jeden Fall ist dem Fachmann aus der Druckschrift D1 die Integration der Sensoren für die absoluten und inkrementalen Positionswerte und des Signalverar­beitungs­systems zur Erhaltung des Gesamtwertes in parallelen oder seriellen Format bekannt, weshalb er diese Maßnahme ohne einer erfinderischen Tätigkeit ebenso in der Vorrichtung aus der Druckschrift D4 vorsehen würde. Anspruch 1 gemäß Hauptantrag ist des­halb nicht patentfähig. Dies gilt ebenso für den Anspruch 1 der Hilfsanträge 1 und 2.

Zum Hilfsantrag 3 führte die Beschwerdegegnerin 1 aus, dass dieser erstmals während der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung eingereicht wurde, und dass, außer einer Einschätzung über die Erfordernisse des Artikel 123 (2) EPÜ vonseiten der Einspruchsab­teilung, die Frage der Neuheit und erfinderischen Tätigkeit nicht erörtert wurde. Da die Frage der Patentfähigkeit für die Gültigkeit des Patents aber entscheidend ist, muss diese durch zwei Instanzen ge­prüft werden. Da allerdings diese Frage wegen des ver­späteten Vorbringens des Antrags in der ersten Instanz nicht diskutiert wurde und deshalb nicht Bestandteil der beschwerdefähigen Entscheidung ist, ist der Antrag auch im Beschwerdeverfahren nicht zuzulassen. Im Übrigen ist die Ergänzung in Anspruch 1 dieses Antrags "wobei jeder erste und jeder zweite Sensor und die Mit­tel zur Bildung und zur Bereitstellung des Gesamt­absolut­werts in einem ASIC integriert sind" in den ursprünglich eingereichten Unterlagen nicht offenbart. Die diesbezüglichen Verweise der Beschwerdeführerin auf diese Unterlagen gehen fehl, da die ursprüngliche Offenbarung lediglich einige konkrete Ausführungs­varian­ten enthält, die jedoch eine Verallgemeinerung wie im vorliegenden geänderten Antrag nicht zulässt, insbesondere nicht in diesem späten Stadium des Verfahrens.

Der neu eingereichte Hilfsantrag 4 ist nicht zuzulas­sen, da er verspätet ist und zudem aufgrund der Kombination von Merkmalen aus früheren Ansprüchen, die teilweise einen "Abtastkopf", teilweise eine "Winkel- oder Weg-Messvorrichtung" betreffen, nicht klar ist, auf was sich diese Merkmale in der ursprünglichen Offenbarung beziehen. Die Beschwerde ist somit zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

1. Die Beschwerde ist zulässig.

2. Hauptantrag - Anspruch 1

2.1 Nach Auffassung der Beschwerdegegnerin 1 fehlt dem Gegenstand des Anspruchs 1 gemäß Hauptantrag die Neuheit in Hinblick auf die Druckschrift D1 und ebenso auf die D4. Die weitere Publikation D6 stammt von den in der Offenlegungsschrift D4 benannten Erfindern und wurde zur Interpretation der Druckschrift D4 herangezogen.

2.2 Druckschrift D1

2.2.1 Die Druckschrift D1 offenbart eine Weg-Messvorrichtung ("measuring device for determining an absolute position") mit einem Aufnehmer 5 mit einem ersten Sensor 6 zur Ermittlung von Absolutwerten und einem zweiten Sensor 4 zur Ermittlung von Inkrementalwerten und einem Signalverarbeitungssystem 7 (siehe Figur 1 und Beschreibung).

2.2.2 Nach Meinung der Beschwerdeführerin enthält die Vor­richtung aus der D1 keinen "Abtastkopf" in Sinne "einer baulichen Einheit, der einen ersten und einen zweiten Sensor sowie ein Signalverarbeitungssystem umfasst". Der in dieser Druckschrift (Sp. 6, Z. 9 - 12) ange­deutete Vorschlag, dass die Sensoren 4, 6 zusammen mit dem Signalverarbeitungssystem 7 (bzw. einem Teil von diesem) auf einer gemeinsamen Leiterplatte montiert werden, kann ihrer Meinung nach nicht mit einem integrierten Aufbau innerhalb eines Abtastkopfes ver­glichen werden, da ein Aufbau auf einer Leiterplatte nicht die Vorteile der beanspruchten Vorrichtung erzielen würde (geringere Störanfälligkeit und hohe Verarbeitungsgeschwindigkeit, siehe [0011] und [0012] der publizierten Patentanmeldung).

2.2.3 Es erscheint jedoch, dass der Begriff "Abtastkopf" in der ursprünglichen Patentanmeldung mehrere Ausführungs­möglichkeiten abdeckt: so wird in der Figur 4 der Be­griff "Abtastkopf" mit dem Bezugszeichen "100" angege­ben. Laut Absatz [0038] der publizierten Patentanmel­dung ist dieser Abtastkopf in einem Gehäuse 106 unter­gebracht. Weiter kann sich eine Massverkörperung 102 "innerhalb oder außerhalb des Gehäuses 106 befinden". Nach der letztgenannten Möglichkeit würden sich der Abtastkopf und zusätzlich eine Massverkörperung im Gehäuse 106 befinden. Im übernächsten Absatz [0040] wird dagegen offenbart: "Die Massverkörperung 102 kann sich innerhalb oder außerhalb des Abtastkopfes 100 be­finden". Deshalb beinhaltet nach Auffassung der Kammer im vorliegenden Fall der Begriff "Abtastkopf" lediglich eine Einheit mit Sensoren und eine Signalverarbeitungs­einheit welche zusammen in einem Gehäuse angeordnet sind. Da Anspruch 1 keine weiteren technischen Merkmale definiert, durch welche die aufgelisteten Vorteile (geringere Störanfälligkeit und hohe Verarbeitungsge­schwindigkeit) erzielt werden können, kann die Kammer dem Argument der Beschwerdeführerin bezüglich den Nach­teile einer Montierung auf einer Leiterplatte nicht zustimmen. Vielmehr würde nach einer (wie in der D1 vorgeschlagen) Montierung des Aufnehmers 5 mit dem Signalverarbeitungseinheit 7 auf einer gemeinsamen Leiterplatte diese gesamte Einheit in einem Gehäuse untergebracht werden welche Gesamteinheit, ähnlich wie die im Streitpatent abwechselnd benutzten Begriffe "Abtastkopf 100" und "Gehäuse 106", als "Abtastkopf" bezeichnet werden kann. Deshalb ist nach Auffassung der Kammer die Anordnung der Sensoren 4, 6 und der Signal­verarbeitungseinheit 7 in einem als "Abtastkopf" zu bezeichnenden Gehäuse aus der Druckschrift D1 bekannt.

2.2.4 Die Kammer stimmt der Beschwerdeführerin zu, dass der Druckschrift D1 nicht explizit zu entnehmen ist, dass die Signalverarbeitungseinheit 7 einen Gesamtabsolut­wert aus einem vom ersten Sensor 6 ermittelten Absolut­wert und einem vom zweiten Sensor 4 ermittelten Inkrementalwert bildet. Allerdings ist aus Spalte 6, Zeilen 5 - 9 ("… converted into a parallel or serial output signal") zu schließen, dass das kombinierte Absolut/Inkrementalsignal in Binär/Digitalform bereit­gestellt wird.

2.2.5 Deshalb ist der Gegenstand des Anspruchs 1 neu gegen­über der Offenbarung der Druckschrift D1.

2.3 Druckschrift D4

2.3.1 Diese Druckschrift D4 offenbart einen optischen Mess­geber mit einem Mess- oder Abtastkopf (Anspruch 1). Der Abtastkopf enthält eine integrierte Schaltung (ASIC) mit einem photoempfindlichen Inkrementalmessbereich 1A und einem photoempfindlichen Absolutmessbereich 1B (Sp. 3, Z. 29 - 36). Die Kammer stimmt der Beschwerde­gegnerin zu, dass die Detektorspur des Inkremental­messbereichs bei der Vorrichtung aus D4 (Fig. 2 und Sp. 4, Z. 29 - 51) auf dem gleichen Prinzip basiert wie bei der Inkrementalspur im Patent (Fig. 3 und Absatz [0037] der publizierten Patentanmeldung, wo ausdrücklich auf die D4 Bezug genommen wird).

2.3.2 Unter Bezugnahme auf Anspruch 14 dieser Druckschrift hat die Beschwerdegegnerin ausgeführt, dass die auf dem ASIC angeordneten Mittel 1C eine Kombination der Mess­signale im ASIC ermöglichen und dass damit diese den im erteilten Anspruch 1 definierten Mitteln zur Bildung eines Gesamtabsolutwerts entsprechen. Die Beschwerde­führerin ist der Auffassung, dass diese Mittel 1C lediglich Verstärker darstellen und hat diesbezüglich auf die Publikation D6, Seite 205 verwiesen ("trans­impedance amplifiers"). Tatsächlich offenbart das Beschreibungsteil der D4 lediglich, dass die in der Figur 1 mit den Bezugszeichen 1C dargestellten drei­eckigen Symbole "einen Schaltkreis zur Verarbeitung und Verstärkung" wiedergeben. Darüber hinaus ist es in der Schaltungstechnik üblich, Verstärker mittels solcher dreieckigen Symbole darzustellen. Folglich sind die auf dem ASIC 1 angeordneten Mittel 1C Verstärker, die zwar zum Zweck haben, die elektrischen Signale der licht­sensitiven Flächen zu kombinieren (und diese zu ver­stärken, bzw. die Photoströme in Spannungen umzuwan­deln, siehe dazu die genannte Stelle in der Publikation D6) aber nicht eine weitere Signalverarbeitung oder Digitalisierung beinhalten. Vielmehr findet eine solche in den Schnittstellenwandler 7 statt.

2.3.3 Deshalb offenbart die Druckschrift D4 nicht die Merk­male des kennzeichnenden Teil des Anspruch 1 des Streitpatents.

2.3.4 Diese Mittel aus dem kennzeichnenden Teil des Anspruchs sind auch nicht in der Druckschrift D6 offenbart. Die weiteren im Einspruch- und Beschwerdeverfahren aufge­führten Schriften sind weniger relevant.

2.4 Der Gegenstand des Anspruchs 1 gemäß Hauptantrag ist deshalb neu.

2.5 Erfinderische Tätigkeit

2.5.1 Nach Auffassung der Beschwerdekammer offenbart die Druckschrift D4 den nächstliegenden Stand der Technik, da diese einen Messaufnehmer oder Tastkopf mit auf einem ASIC angeordneten photoempfindlichen Bereiche zur Ermittlung von Absolut- und Inkrementalwerten offen­bart. Auf diese Druckschrift wird in Absatz [0015] des Streitpatents ausdrücklich Bezug genommen.

2.5.2 Die in Anspruch 1 gemäß Hauptantrag definierte Vor­richtung unterscheidet sich demnach von der Mess­an­ordnung aus der D4 durch die im Kennzeichen des An­spruchs definierten, im Abtastkopf befindlichen Mittel zur Bildung eines Gesamtabsolutwerts aus dem von mindestens einem ersten Sensor ermittelten Absolutwert und dem von mindestens einem zweiten Sensor ermittelten Inkrementalwert und zur Bereitstellung dieses Gesamt­absolutwerts in Binär-/Digitalform. In der D4 werden die Signale auf dem ASIC lediglich kombiniert und ver­stärkt und deren weitere Verarbeitung findet außerhalb des ASIC statt, wobei allerdings vermerkt wird, dass auch in dieser Vorrichtung letztendlich das Absolut­signal mit dem Inkrementsignal zum Signalwert der Absolutposition kombiniert wird (Sp. 5, Z. 10 - 12) und als Digitalsignal dargstellt wird (Sp. 3, Z. 59 und 60).

2.5.3 Die diesem Unterschied zugrunde liegende technische Aufgabe kann in einer weiteren Integration oder Miniaturisierung der Vorrichtung gesehen werden. Diese Aufgabe ist auch in der D4 angesprochen, z.B. Spalte 2, Zeilen 7 und 8; und Spalte 6, Zeile 21, und betrifft deshalb ein ständiges Anliegen des Fachmannes auf diesem Gebiet.

2.5.4 Wie oben in Punkt 2.2.3 dargelegt, wird in der Druck­schrift D1 vorgeschlagen, die jeweiligen Sensoren und das Signalverarbeitungssystem der Messvorrichtung auf einer Trägerplatte zu integrieren. Eine solche Maßnahme entspricht der in Spalte 2, Zeilen 7 und 8 der D4 auf­geführten systemtechnischen Integration und Miniaturi­sierung, weshalb der Fachmann ebenfalls in Erwägung ziehen wird, die Einheiten 1 und 7 in der Vorrichtung aus Figur 1 der D4 auf einer Trägerplatte zu integrie­ren. Auch wenn bei der Darstellung der "schematischen Anordnung" in Figur 1 der Druckschrift D4 kein Gehäuse abgebildet ist, dürfte es unzweifelhaft sein, dass ein solcher Mess- oder Abtastkopf bei einem industriellen Einsatz, z.B. an einer Maschine (D4, Sp. 6, Z. 20 - 29) in einem Gehäuse untergebracht ist.

2.5.5 Daher führt die Kombination der Lehren der Druck­schriften D4 und D1 den Fachmann zum Gegenstand des Anspruchs 1, ohne dass es einer erfinderischen Leistung bedurft hätte.

2.6 Der Hauptantrag ist deshalb im Hinblick auf Artikel 56 EPÜ nicht gewährbar.

3. Hilfsanträge 1 und 2

Wie in Punkt VI supra ausgeführt, stimmen die Ansprüche 1 dieser Anträge inhaltlich mit Anspruch 1 gemäß Haupt­antrag überein. Aus den vorstehenden Gründen sind die Hilfsanträge 1 und 2 ebenfalls nicht gewährbar.

4. Hilfsantrag 3

4.1 Anspruch 1 gemäß Hilfsantrag 3 ist identisch mit Anspruch 1 des Hilfsantrags der während der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung eingereicht wurde. Die Einspruchsabteilung hatte diesen Antrag nicht zugelassen und dies in Punkt 3 der Entscheidungs­gründe begründet.

4.2 In der mündlichen Verhandlung vor der Beschwerdekammer argumentierte die Beschwerdeführerin unter Hinweis auf Artikel 12(1) und (2) VOBK, dass der nichtzugelassene Antrag mit der Beschwerdebegründung als Hilfsantrag 3 eingereicht worden und damit Gegenstand des strikt vom erstinstanzlichen Verfahren zu trennenden Be­schwerde­verfahrens geworden sei. Der Hilfsantrag 3 sei als neuer Antrag im Beschwerdeverfahren zu werten, für den der Einwand des verspäteten Vorbringens in der ersten Instanz nicht mehr gelte. Wenn Anträge, die in erster Instanz nicht in das Verfahren zugelassen und daher auch nicht berücksichtigt wurden, keiner inhalt­lichen Beurteilung mehr zugänglich seien, werde das recht­liche Gehör beschnitten. Die Tendenz der Beschwerde­kammern, den Gegenstand des Beschwerde­verfahrens auf den faktischen und rechtlichen Rahmen des Einspruchsver­fahrens einschließlich der darin befindlichen Anspruch­sätze zu beschränken, sei verfassungsrechtlich bedenk­lich, da das Beschwerdeverfahren damit den Charakter eines Revisionsverfahrens annehme.

4.3 Artikel 12(1) und (2) der Verfahrensordnung der Be­schwerdekammern (VOBK, siehe ABl. EPA 2007, 536) statuiert zunächst den Grundsatz, dass die Beschwerde­begründung und die Erwiderung der Gegenpartei den voll­ständigen Sachvortrag der Beteiligten enthalten müssen, der dann dem Beschwerdeverfahren als Streitstoff zu­grunde liegt. Abweichend hiervon bestimmt Artikel 12(4) VOBK, dass die Beschwerdekammer das Vorbringen eines Beteilig­ten unberücksichtigt lassen kann, das in erster Instanz als verspätet nicht zugelassen worden ist oder schon in erster Instanz veranlasst gewesen wäre. Schon allein gestützt auf den Wortlaut von Artikel 12(4) VOBK ist daher auf die erste Frage der Beschwerdeführerin zu antworten, dass verfahrenssäumiges Vorbringen vor der Einspruchsabteilung nicht infolge Einführung mit der Beschwerde als rechtzeitiges Vorbringen dem Beschwerde­verfahren zugrunde zu legen ist. Die Argumente der Beschwerde­führerin sind indes dahingehend zu verstehen, dass Artikel 12(4) VOBK mit dem Geist und Ziel des Beschwerdeverfahrens unvereinbar ist. Soweit die Kammer zur Überprüfung der Verfahrensordnung befugt ist (dazu R 1/10 vom 22. Februar 2011, Nr. 1.3.3 der Ent­scheidungs­gründe), greifen die Argumente der Beschwerde­führerin jedoch nicht durch.

4.3.1 Artikel 12(4) VOBK steht im Einklang mit den von der Großen Beschwerde­kammer zu den Artikeln 113 und 114 EPÜ entwickelten Grundsätzen zum Einspruchsbe­schwerde­ver­fahren (G 10/91, ABl. EPA 1993, 420; G 8/91, ABl. EPA 1993, 346; G 1/99, ABl. EPA 2001, 381). Der Hauptzweck des Einspruchsbeschwerdever­fahrens besteht demnach darin, der unterlegenen Partei die Möglichkeit zu geben, die ihr nachteilige Entscheidung sachlich anzu­fechten und ein gerichtliches Urteil über die Richtig­keit einer erstinstanzlichen Entscheidung zu erwirken (G 10/91, ABl. EPA 1993, 408, Nr. 18 der Entscheidungs­gründe). Das Rechtsmittel der Beschwerde knüpft mithin an die Beschwer einer oder mehrerer Parteien durch eine administrative Entscheidung des Europäischen Patentamts und eröffnet deren Überprüfung sowohl in tatsächlicher wie auch materiell- und verfahrensrechtlicher Hinsicht (vgl. T 1685/07 vom 4. August 2010, Nr. 6.1 der Ent­scheidungsgründe). Aus dem auf Überprüfung gerichteten Zweck des verwaltungs­gerichtlichen Einspruchs­beschwerde­verfahrens folgt, dass die Entscheidungen der Beschwerdekammern im Prinzip auf der Basis des Streit­stoffes vor der Einspruchsabteilung ergehen. Die Parteien können daher den Streitstoff im Beschwerde­ver­fahren gegenüber dem Einspruchsverfahren nicht beliebig ändern (T 1067/08 vom 10. Februar 2010, Nr. 7.1 der Entscheidungsgründe; T 356/08 vom 7. Juli 2009, Nr. 2.1.1 unter Hinweis auf B. Günzel, Die Behandlung verspäteten Vorbringens in den Verfahren vor den Beschwerdekammern des Europäischen Patentamts, Sonderausgabe ABl. EPA 2007, 30, Nr. 5).

Einschränkungen in Bezug auf neues Vorbringen ergeben sich zudem daraus, dass die Parteien in ihrer Ver­fahrensführung gewissen Grenzen unterworfen sind, die sich im mehrseitigen (streitigen) Verfahren namentlich aus dem Prinzip der Fairness gegenüber der anderen Partei sowie generell aus den Anforderungen an ein ordnungsgemäßes Verfahren er­geben (T 1685/07 vom 4. August 2010, Nr. 6.1 der Ent­scheidungsgründe). Insbesondere trifft die Parteien im mehrseitigen Verfahren auch eine Pflicht zur sorg­fältigen und beförderlichen Verfahrensführung. Diese findet Ausdruck in den Vorschriften des EPÜ, die die Behandlung von verspätetem Vorbringen regeln: generell Artikel 114 (2) EPÜ, im Erteilungsverfahren Regel 137 EPÜ (Regel 86 EPÜ 1973), im Einspruchsverfahren Regeln 76(2)(c) und 116 EPÜ (Regeln 55(c) und 71a EPÜ 1973). Die Artikel 12 und 13 VOBK sind ebenfalls Ausdruck hiervon. Diese Bestim­mungen zielen im Wesentlichen darauf ab, das Partei­vorbringen auf ein frühes Verfahrensstadium zu konzen­trieren. Das Verfahren soll berechenbar sein und inner­halb einer angemessenen Verfahrensdauer zu einer sach­gerechten Entscheidung führen. Artikel 12 (4) VOBK sanktioniert dabei die Verletzung der Pflicht zur Ver­fahrens­beförderung

in erster Instanz

, d.h. der bis zu einem bestimmten Verfahrenszeitpunkt gebotenen, aber unter­bliebenen Mitwirkung durch Vorlage von Tatsachen, Beweismitteln oder Anträgen, und dient daher sowohl dem Gebot eines fairen Verfahrens als auch der Verfahrens­beschleunigung.

Der Ausschluss verspäteten Vorbringens aus dem Ver­fahren steht indes in einem Spannungsverhältnis zum Anspruch auf rechtliches Gehör, insoweit das verspätete Vorbringen einer Partei im weiteren Verfahren nicht berücksichtigt wird. Dennoch steht es dem Gesetzgeber anerkanntermaßen offen, im Interesse der Verfahrens­beschleunigung die Gelegenheit zur Äußerung einzu­schränken, indem der Sachvortrag einer Partei, die gegen ihre Pflicht zur Prozessbe­förderung verstoßen hat, ganz oder teilweise außer Betracht gelassen wird. Vorausgesetzt ist, dass die betroffene Partei insgesamt ausreichend Gelegenheit hatte, sich zu allen für sie wichtigen Punkten zur Sache zu äußern. Artikel 12(4) VOBK genügt diesen Anforderungen, da nur solches Partei­vor­bringen, das schon von der Prüfungs- oder Einspruchs­abteilung als verspätet angesehen und daher nicht berücksichtigt wurde, oder zu dessen Einführung eine Partei objektiv gesehen die Möglichkeit und Ver­anlassung hatte, nicht in das Beschwerdeverfahren zugelassen werden kann. Die damit einhergehende Ein­schränkung des rechtlichen Gehörs ist auf das zur Verfahrensbeschleunigung Erforderliche beschränkt und sachlich vertretbar: Würde das Einspruchsbeschwerde­verfahren den Parteien, wie dies die Beschwerdeführerin geltend macht, die Einführung von in erster Instanz bereits veranlassten oder nicht zugelassenen Vorbringen eröffnen, würden die erstinstanzliche Prozess­förderungs­pflicht, die in Regel 71a EPÜ 1973 (Regel 116 EPÜ) eine aus­drückliche Grundlage hat, unterlaufen (siehe zum Norm­zweck von Regel 71a EPÜ 1973 die Entscheidung T 755/96, ABl. EPA 2000, 174, Nr. 2 und 3 der Entscheidungs­gründe). Darüber hinaus könnten die Parteien dem Beschwerde­verfahren einen gegenüber dem Verfahren vor der Einspruchs­abteilung anderen Streit­stoff zugrunde legen und so einen gänzlich neuen Fall schaffen, der das Verfahren aus sachfremden Erwägungen zum Nachteil der Gegenseite in die Länge zieht (T 1067/08 vom 10. Februar 2010, Nr. 7.2 und 7.4 der Entscheidungsgründe). Artikel 12(4) VOKB steht mithin einem nachlässigen, unvollständigen Vortrag der Parteien in erster Instanz, nicht aber einem redlichen Bemühen der Parteien, die relevanten Anträge, Tatsachen und Beweismittel in dem bei sachgemäßer und sorgfältiger Verfahrensführung gebotenen Zeitpunkt einzubringen, entgegen.

4.3.2 Artikel 12(4) VOKB behandelt gleiche, verspätetes Vor­bringen betreffende Sachverhalte auch nicht willkürlich und systemwidrig ungleich. Die Pflicht zur Verfahrens­beförderung trifft die Einsprechenden (in Bezug auf die Vorlage der Angriffsmittel) und den Patentinhaber (in Bezug auf die Verteidigungsmittel) gleichermaßen. Dafür, dass die Beschwerdekammern gegenüber dem Patent­inhaber eine größere Toleranz zu üben hätten als gegen­über den Einsprechenden, etwa um dem Erfinder seinen gerechten Lohn zu sichern, gibt es im EPÜ und im Ver­fahrensrecht der Beschwerdekammern keine Stütze. Eine solche Auffassung wäre im Gegenteil mit dem im Ein­spruchsbeschwerde­verfahren als streitigem Gerichts­verfahren (G 10/91, ABl. EPA 1993, 420, Nr. 2 der Erwägungsgründe) geltenden Grundsatz der "Waffen­gleichheit im Prozess" ("principle of equality of arms") und der Verpflichtung der Beschwerdekammern zur Objektivität und Unparteilichkeit unvereinbar.

4.3.3 Aus der Trennung und Unabhängigkeit von Einspruchs- und Einspruchsbe­schwerdever­fahren sowie aus der von der Beschwerdeführerin herangezogenen Entscheidung T 501/92 (ABl. 1996, 261) ergibt sich keine abweichende Be­urteilung. Die Entscheidung T 501/92 befasste sich mit der Frage, ob ein von einem Beteiligten im Einspruchs­verfahren gestellter Antrag, der im Beschwerdeverfahren nicht wiederholt wird, für ein späteres Beschwerde­verfahren wirksam ist. Die Kammer zog aus dem Grund­satz, dass das Einspruchsbeschwerdeverfahren ein vom erstinstanzlichen Verfahren getrenntes, unabhängiges Verfahren darstellt, den Schluss, dass prozessuale Anträge oder Verfahrenserklärungen eines Beteiligten während des erstinstanzlichen Verfahrens nicht für ein anschließendes Beschwerdeverfahren gelten und im Beschwerdeverfahren selbst wiederholt werden müssen, um dort eine prozessuale Wirkung zu entfalten (Nr. 1.1 der Entscheidungsgründe). Der Schluss, dass das Beschwerde­verfahren für verfahrenstechnische Belange vom Ver­fahren in erster Instanz getrennt und unabhängig ist, impliziert nicht, dass das Beschwerdeverfahren ein in Bezug auf den Streitstoff eigenständiges Verfahren darstellt, dem auch ein gänzlich neuer Fall zugrunde­gelegt werden kann. Solches stünde im Wiederspruch zu den von der Großen Beschwerde­kammer entwickelten Grundsätzen zum Einspruchsbe­schwerde­ver­fahren. Auch Nr. 1.2 der Entscheidungsgründe der Entscheidung T 501/92 ist nicht zu entnehmen, dass der faktische und rechtliche Rahmen des Einspruchs­ver­fahrens nicht für ein anschließendes Beschwerdever­fahren bestimmend wäre. In diesem Punkt findet sich im Gegenteil die Aussage, dass die angefochtene Ent­scheidung Gegenstand der Beschwerde sei und der Beschwerdeführer anzugeben habe, in welchem Umfang er diese anfechte. T 501/92 kann mithin nicht die Auffassung der Beschwerdeführerin stützen, dass ein in erster Instanz als verspätet zurückgewiesener Anspruchssatz zum Streitstoff des Beschwerdeverfahrens wird, sofern er spätestens mit der Beschwerdebegründung eingelegt wird.

4.3.4 Nach Auffassung der Kammer führt die Anwendung von Artikel 12(4) VOBK nach dem Gesagten nicht zu einem mit dem Geist und Ziel des Übereinkommens unvereinbaren Ergebnis und widerspricht auch nicht der Rechtsprechung der Beschwerdekammern, so dass diese Vorschrift als verbindlich zu betrachten ist (Artikel 23 VOBK).

4.4 Soweit nach Artikel 12(4) VOBK im Beschwerdeverfahren über die Zulassung von Vorbringen zu entscheiden ist, das bereits im erstinstanzlichen Verfahren nicht zu­gelassen wurden, läuft dies vorliegend auf eine Über­prüfung der auf Regel 71a EPÜ 1973 (Regel 116 EPÜ) ge­stützten Ermessensentscheidung der Einspruchsabteilung hinaus.

Wird die Art und Weise der Ermessensausübung durch das erstinstanzliche Organ des Europäischen Patentamts mit Beschwerde angefochten, so ist es nach der Entscheidung G 7/93 (ABl. EPA 1994, 775, Nr. 2.6 der Entscheidungs­gründe), nicht Aufgabe der Beschwerdekammer, die Sach­lage des Falls nochmals wie ein erstinstanz­liches Organ zu prüfen, um zu entscheiden, ob sie das Ermessen in derselben Weise ausgeübt hätte. Ein erst­instanzliches Organ, das nach dem EPÜ unter bestimmten Umständen Ermessensentscheidungen zu treffen habe, müsse nämlich bei der Ausübung dieses Ermessens einen gewissen Frei­raum haben, in den die Beschwerdekammern nicht ein­greifen. In solchen Fällen sollte sich eine Beschwerde­kammer nur dann über die Art und Weise, in der die erste Instanz ihr Ermessen ausgeübt hat, hinwegsetzen, wenn sie zu dem Schluss gelange, dass die erste Instanz ihr Ermessen nicht nach Maßgabe der richtigen Kriterien oder in unangemessener Weise ausgeübt und damit den ihr ein­geräumten Ermessensspielraum überschritten hat.

Wiewohl sich die Entscheidung die Auslegung der Regel 51 (6) EPÜ zum Gegenstand hatte, sind die Ausführungen zur Über­prüfung von Ermessensentscheidungen von genereller Be­deutung. Es stellt sich daher die Frage, ob sie bei der Anwendung von Artikel 12(4) VOBK zu berücksich­tigen sind. Demnach müsste sich die Kammer auf eine Überprüfung der Ausübung des Ermessens durch die Einspruchsabteilung bei ihrer Entscheidung über die Nichtzulassung des verspäteten Antrags zu beschränken und wäre in dem ihr nach Artikel 12(4) VOBK zustehenden Ermessen eingeschränkt. Diese Frage kann vorliegend allerdings offen bleiben, da kein Grund besteht, die angefochtene Entscheidung in diesem Punkt umzustoßen.

4.5 Die Einspruchsabteilung hat insbesondere festgestellt, (siehe Niederschrift über die mündliche Verhandlung, Nr. 4 S. 3 f.; Entscheidungsgründe, Nr. 3, S. 5 f.) dass der Hilfsantrag nach der in Regel 116(1) EPÜ genannten Zeitpunkt eingereicht wurde, und dass sich der dem Verfahren zugrunde liegende Sachverhalt nicht geändert hatte. Nach Regel 71a(2) EPÜ 1973 und Regel 71a(1), Satz 4 EPÜ 1973, bräuchte der Antrag deshalb nicht berücksichtigt zu werden.

Weiter hat sie ausgeführt, dass ein verspätet einge­reichter Antrag dann zugelassen würde, wenn er als prima facie relevant anzusehen sei. Dafür sei es (unter anderem) erforderlich, dass die dem Antrag zugrundeliegenden geänderten Ansprüche nicht gegen die Erfordernisse des Artikel 123(2) EPÜ verstoßen. Die Einspruchsabteilung fand, dass dies im vorliegenden Fall nicht zutraf, da die Ergänzung in den Anspruch "wobei jeder erste und jeder zweite Sensor und die Mittel zur Bildung und zur Bereitstellung des Gesamtabsolutwerts in einem ASIC integriert sind" nicht durch den von der Patentinhaberin genannten Absatz [0015] der Patentschrift gestützt war.

4.6 Die Beschwerdekammer stellt fest, dass die Entscheidung der Einspruchsabteilung, den Hilfsantrag nicht in das Verfahren zuzulassen, nicht lediglich damit begründet wurde, dass der Antrag nach Regel 71a(2) EPÜ 1973 ver­spätet eingereicht worden war. Vielmehr berücksichtigte die Einspruchsabteilung auch, dass der Antrag nicht durch eine Änderung des Streitstoffs veranlasst war, und setzte sich in sachlicher Hinsicht mit dem Wortlaut des eingereichten, geänderten Patentanspruchs auseinan­der, bevor sie den Antrag schließlich als nicht zuläs­sig verwarf. Die Einspruchsabteilung hat ihr Ermessen mit­hin nicht rein formalistisch ausgeübt, sondern an sach­liche Gründe geknüpft. Diese Gründe für die Ermes­sens­ausübung sind vertretbar, da die Beschwerdeführerin im schriftlichen Verfahren und auch in der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung ausreichend Gelegenheit hatte, die erhobenen Einwände gegen das Patent durch geänderte Ansprüche auszuräumen. Ein Ermessensfehler ist nicht zu erkennen. Dass die Behand­lung des Antrags keine Vertagung der mündlichen Ver­handlung erfordert hätte, trug die Beschwerdeführerin laut Niederschrift der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung nicht vor. Davon abgesehen ist dies lediglich ein Kriterium bei der Ausübung des Ermessens, das vor dem Hintergrund der konkreten Sachumstände zu würdigen ist.

4.7 Die Beschwerdeführerin macht geltend, die Beschwerde­gegnerin habe durch rügeloses Einlassen auf den Hilfs­antrag 3 ihr Recht verloren, die Verspätung dieses Antrags geltend zu machen.

4.7.1 Von rügelosem Einlassen ist im nationalen Prozessrecht im weitesten Sinn die Rede, wenn eine Partei in einem streitigen Verfahren die Verletzung eines Verfahrens­mangels, der ihr bekannt war oder bekannt sein musste, bis zu einem bestimmten Verfahrenszeitpunkt nicht rügt und stattdessen Ausführungen zur Sache macht. An diese Säumnis knüpft das nationale Prozessrecht die Folge des Rügeverlusts (auch im Rechtszug), sei es durch Fiktion der Heilung des Verfahrensmangels oder durch Annahme einer impliziten Zustimmung (siehe beispielsweise § 39, §°295, § 534, § 556 der deutschen Zivilprozessordnung in der Fassung der Bekanntmachung vom 5. Dezember 2005, BGBl. I S. 3202, ber. 2006 I S. 431, 2007 I S. 1781). In Europa ist das Prinzip des rügelosen Einlassens im internationalen Zivilprozess verankert (siehe Artikel 24 und 26 der Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates vom 22. Dezember 2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil? und Handelssachen, ABl. 2001, L 12, S. 1; Artikel 24 und 26 des Übereinkommens vom 30. Oktober 2007 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Ent­scheidungen in Zivil- und Handelssachen, Lugano-Übereinkommen; EuGH, Urteil vom 20. Mai 2010, Rs. C-111/09). Die Begründung der Zuständigkeit eines Gerichts steht vorliegend indes nicht zur Diskussion.

In den für die Beschwerdekammern maßgebenden Rechtsvorschriften des EPÜ ist das rügelose Einlassen - im Unterscheid zur und losgelöst von der Behandlung verspäteten Vorbringens - einzig in Artikel 23(4), Satz 2 EPÜ 1973 (Artikel 24(3), Satz 2 EPÜ) zu finden. Darüber hinaus ist es im EPÜ nicht verankert. Ob sich die Auffassung der Beschwerde­führerin, dass verspätetes Vorbringen durch rügeloses Einlassen zur Hauptsache geheilt werden kann, auf einen allgemein anerkannten Grundsatz im Sinn von Artikel 125 EPÜ stützen läßt, kann aus nachstehenden Gründen offen gelassen werden.

4.7.2 Selbst wenn sich aus den in den Vertragsstaaten im All­gemeinen anerkannten Grundsätze des Verfahrensrechts herleiten ließe, dass Verstöße von Verfahrensvor­schrif­ten durch rügeloses Einlassen geheilt werden könnten, wäre (abgesehen von anderen, positiv zu normierenden Voraussetzungen wie namentlich die obliegende, aber unterlassene recht­zeitige Rüge und die Einlassung zur Sache) in jedem Fall erforderlich, dass die Befolgung der verletzten Vorschrift insoweit der Disposition der betroffenen Partei unterliegt, als diese auf die Ein­haltung der Verfahrensvorschrift wirksam verzichten kann. Dies ist bei Verfahrensvor­schriften auszu­schließen, die im öffentlichen Interesse an einer geordneten Rechtspflege bestehen oder dem Schutz einer anderen Partei dienen. Zu diesen gehören auch Artikel 12(4) und Artikel 13 VOBK. Wegen der mit dem Ausschluss verspäteten Vorbringens verbundenen Ein­schränkung des rechtlichen Gehörs und der Bedeutung für ein faires Verfahren (siehe oben Punkt 4.3.1) kann die Anwendung dieser Vorschriften nicht der Disposition der Parteien überlassen werden. Die Beschwerdekammer muss das Vorbringen der Parteien vielmehr von sich aus daraufhin prüfen, ob es berücksichtigt werden kann, und die Einhaltung der Voraussetzung für eine Zurückweisung verspäteten Vorbringens sicherstellen. Im Rahmen ihres Ermessens kann die Beschwerdekammer allerdings dem Um­stand Rechnung tragen, dass sich die Gegenpartei einem verspäteten Vorbringen nicht widersetzt. Ein rügeloses Einlassen kann die Verspätung von Parteivorbringen indes nicht heilen.

5. Vorlage an die Große Beschwerdekammer

5.1 Nach Artikel 112(1) EPÜ 1973 steht die Vorlage an die Große Beschwerdekammer im Ermessen der Beschwerdekammern, wenn sie für die Sicherung einer einheitlichen Rechtsanwendung erforderlich erscheint oder wenn sich eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung stellt.

5.2 Wie sich aus den vorstehenden Abschnitten 4.3 bis 4.7 ergibt, steht die Kammer mit der vorliegenden Entscheidung im Einklang mit der Rechtsprechung der Beschwerdekammern. Über die vom Vertreter übergebenen Fragen zur Befassung der Großen Beschwerdekammer konnte die Kammer ohne Zweifel selbst entscheiden.

5.3 Die Voraussetzungen zur Vorlage von Rechtsfragen an die Große Beschwerdekammer entsprechend Artikel 112(1) EPÜ 1973 lagen mithin nicht vor. Die darauf gerichteten Anträge der Beschwerdeführerin waren daher zurückzuweisen und bildeten auch keine Grundlage für eine Vorlage von Amts wegen.

6. Hilfsantrag 4

6.1 Dieser Hilfsantrag wurde während der mündlichen Ver­handlung vor der Beschwerdekammer von der Beschwerde­führerin eingereicht, d.h. nach der im Ladungsbescheid vom 13. April 2011 gestellten Frist. Seine Zulassung in das Verfahren unterliegt daher den Bedingungen des Artikels 13 VOBK. Nach Artikel 13(1) VOBK steht es "im Ermessen der Kammer, Änderungen des Vorbringens eines Beteiligten nach Einreichung seiner Beschwerdebe­gründung oder Erwiderung zuzulassen und zu berücksich­tigen. Bei der Ausübung des Ermessens werden insbeson­dere die Komplexität des neuen Vorbringens, der Stand des Verfahrens und die gebotene Verfahrensökonomie berücksichtigt." Ergänzend zu den in Artikel 13 VOBK erwähnten Kriterien für die Ausübung des Ermessens, einen neuen Antrag in einem späten Verfahrensstadium zuzulassen, können nach ständiger Rechtsprechung unter anderem auch die Erfolgsaussichten des Antrags sowie die Frage bedeutsam werden, ob dessen Inhalt bereits diskutierte Sachverhalte konvergent fortführt oder sich der Schwerpunkt auf im vorausgegangenen Verfahren nicht diskutierte Sachverhalte verschiebt (T 1474/06 vom 10. Januar 2008, Nr. 4.1.1 der Entscheidungsgründe).

6.2 Die Beschwerdegegnerin wandte sich gegen die Zulassung des Hilfsantrags mit der Begründung, dass durch die Kombination von Merkmalen in Anspruch 1 aus früheren Ansprüchen die teilweise einen "Abtastkopf", teilweise eine "Winkel- oder Weg-Messvorrichtung" betrafen, nicht klar ist, ob und wodurch die Merkmale dieses Anspruchs durch die ursprüngliche Offenbarung gedeckt sind. Nach Auffassung der Beschwerdegegnerin schafft der Hilfsantrag 4 einen neuen Sachverhalt, der in einem derart fortgeschrittenen Stadium nicht zulässig ist.

6.3 Zur Offenbarung des unabhängigen Anspruchs 1 in den ursprünglich eingereichten Unterlagen (Artikel 123(2) EPÜ), bzw. zur Erweiterung des Schutzbereichs im Hinblick auf den erteilten Anspruch (Artikel 123(3) EPÜ) verwies die Beschwerdeführerin auf die erteilten Ansprüche 1 und 12 und zusätzlich die ursprünglichen Ansprüche 2 und 4, die mit den erteilten Ansprüchen identisch sind. Weiter machte die Beschwerdeführerin geltend, dass die Einsprechende bereits mit Schreiben vom 19. Mai 2008 sowie vom 4. März 2009 Gelegenheit gehabt hätte, zur beanspruchten Kombination Stellung zu nehmen.

6.4 In der ursprünglichen Patentanmeldung findet sich für die Merkmale "…eine serielle Schnittstelle, vorzugs­weise eine SSI-Schnittstelle, für die Ausgabe des Gesamt­absolutwerts und Mittel zur Verarbeitung von Pegeln über die serielle Schnittstelle, welche von einer externen Steuerung vorgegeben werden" aus­schließlich eine Basis in Anspruch 10, der eine "Vorrichtung nach einem der Ansprüche 1-9" definiert und damit einen von Anspruch 1 abhängigen Anspruch darstellt. Anspruch 1 betrifft jedoch eine "Winkel- oder Messvorrichtung, beinhaltend einen Abtastkopf". Deshalb sind die genannten Merkmale Teil einer "Winkel- oder Messvorrichtung". Ob diese Merkmale tatsächlich wie in Anspruch 1 dieses Hilfsantrags in einem Abtast­kopf integriert sind, ist der ursprünglichen Patent­anmeldung nicht zu entnehmen. Anspruch 1 gemäß Hilfs­antrag 4 definiert mithin prima facie einen Gegenstand, der ursprünglich nicht offenbart ist, weshalb der An­spruch unter Artikel 123(2) EPÜ Bedenken aufwarf. Es bestand daher eine geringe Aussicht der Beschwerde­führerin mit Hilfsantrag 4 durchzudringen. Zudem führte der Inhalt des Hilfsantrags bereits diskutierte Sach­verhalte nicht konvergent fort, sondern brachte neue Aspekte in das Verfahren ein.

7. Hilfsantrag 4 wurde aus den vorstehenden Gründen gestützt auf Artikel 13 (1) VOBK nicht in das Verfahren zugelassen.

8. Parteistellung der Einsprechenden 2

8.1 In einer am 7. bzw. 10 Oktober 2010 zur Post gegebenen Mitteilung warf die Kammer die Frage der Parteistellung der bis dahin als Beschwerdegegnerin 2 am Beschwerde­verfahren beteiligten Firma auf. Sie wies die Beteilig­ten an, sich zu dieser Frage zu äußern. Der Ein­sprechenden 2 im Einspruchsverfahren wurden mit der Mitteilung zudem

- die Entscheidung der Einspruchs­abteilung vom 30. Juni 2008 betreffend den Widerruf des europäischen Patents Nr. 1 102 039,

- die Beschwerdebegründung der Beschwerdeführerin vom 10. November 2008 und

- die Erwiderung der Ein­sprechen­den 1 vom 4. März 2009

zugestellt. Für eine eventuelle Erwiderung auf die Be­schwerde­be­gründung wurde eine Frist von vier Monaten ab Zustellung der Mitteilung gesetzt.

8.2 Mit der Ladung zur mündlichen Verhandlung wurden die Parteien in Kenntnis gesetzt, dass das Beschwerdever­fahren anstelle der irrtümlich als Rechtsnachfolgerin der Einsprechenden 2 geführten Firma mit der Ein­sprechenden 2 als notwendiger Verfahrensbeteiligten im Sinne von Artikel 107 EPÜ 1973 fortgeführt wird.

8.3 In der Eingabe eines Dritten vom 4. Mai 2011 erhielt die Kammer Kenntnis davon, dass die Einsprechende 2 am 12. Juni 2007 Teilbetriebe im Wege der Umwandlung auf zwei neu gegründete Firmen übertragen habe. Da die Eingabe keinen Beleg für den Untergang der Einsprechen­den 2 lieferte und der Kammer auch kein Antrag auf Übertragung der Einsprechendenstellung vorlag, sah sich die Kammer nicht veranlasst die Parteistellung der Einsprechenden 2 in Frage zu ziehen.

Entscheidungsformel

Aus diesen Gründen wird entschieden:

Die Beschwerde wird zurückgewiesen.

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