T 1409/05 (Folge von Teilanmeldungen/SEIKO) of 30.3.2006

European Case Law Identifier: ECLI:EP:BA:2006:T140905.20060330
Datum der Entscheidung: 30 März 2006
Aktenzeichen: T 1409/05
Entscheidung der Großen Beschwerdekammer: G 0001/06
Anmeldenummer: 01128824.8
IPC-Klasse: G09G 3/36
Verfahrenssprache: EN
Verteilung: A
Download und weitere Informationen:
Text der Entscheidung in DE (PDF, 59 KB)
Alle Dokumente zum Beschwerdeverfahren finden Sie im Register
Bibliografische Daten verfügbar in: DE | EN | FR
Fassungen: OJ
Bezeichnung der Anmeldung: -
Name des Anmelders: SEIKO EPSON CORPORATION
Name des Einsprechenden: -
Kammer: 3.4.03
Leitsatz: Der Großen Beschwerdekammer werden folgende Fragen vorgelegt:
1) Ist es bei einer Folge von Anmeldungen bestehend aus einer (ursprünglichen) Stammanmeldung und darauf folgenden Teilanmeldungen, von denen jede einzelne aus der jeweiligen Vorgängerin ausgeschieden wurde, eine notwendige und hinreichende Bedingung dafür, dass eine Teilanmeldung dieser Folge den Erfordernissen des Artikels 76 (1) Satz 2 EPÜ genügt, dass sich die gesamte Offenbarung dieser Teilanmeldung unmittelbar, eindeutig und einzeln aus dem Offenbarungsgehalt jeder vorangehenden Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung ableiten lässt?
2) Falls diese Bedingung nicht hinreichend ist, wird mit diesem Satz dann zusätzlich verlangt,
a) dass der Anspruchsgegenstand dieser Teilanmeldung in den Anspruchsgegenständen der vorangehenden Teilanmeldungen verschachtelt sein muss
oder
b) dass sämtliche dieser Teilanmeldung vorangehenden Teilanmeldungen das Erfordernis des Artikels 76 (1) EPÜ erfüllen müssen?
Relevante Rechtsnormen:
European Patent Convention 1973 Art 76(1)
European Patent Convention 1973 Art 1
European Patent Convention 1973 Art 54(2)
European Patent Convention 1973 Art 54(3)
European Patent Convention 1973 Art 63(1)
European Patent Convention 1973 Art 64(1)
European Patent Convention 1973 Art 80
European Patent Convention 1973 Art 90(1)(a)
European Patent Convention 1973 Art 90(2)
European Patent Convention 1973 Art 96(2)
European Patent Convention 1973 Art 97(1)
European Patent Convention 1973 Art 100(c)
European Patent Convention 1973 Art 111(1)
European Patent Convention 1973 Art 112(1)(a)
European Patent Convention 1973 Art 123(2)
European Patent Convention 1973 R 25(1)
European Patent Convention 1973 R 39
European Patent Convention 1973 R 86(3)
Schlagwörter: Erfüllung von Artikel 76 (1) EPÜ bei einer Folge von Teilanmeldungen
Zuerkennung eines Anmeldetag
Inhalt der Anmeldung
Vorlage an die Große Beschwerdekammer
Orientierungssatz:

-

Angeführte Entscheidungen:
G 0004/98
G 0001/05
J 0013/85
J 0011/91
T 0260/85
T 0514/88
T 0441/92
T 0545/92
T 0211/95
T 0276/97
T 0904/97
T 1008/99
T 0555/00
T 1176/00
T 1158/01
T 0643/02
T 0720/02
T 0797/02
T 0039/03
T 0090/03
T 0655/03
T 0873/04
Anführungen in anderen Entscheidungen:
G 0001/05
J 0019/13
T 0313/05
T 1409/05
T 0025/09

Sachverhalt und Anträge

I. Die Beschwerde richtet sich gegen die Zurückweisung der europäischen Patentanmeldung 01 128 824.8 wegen Verstoßes gegen Artikel 76 (1) EPÜ.

II. Die vorliegende Anmeldung (A3) ist die dritte in einer Folge von Teilanmeldungen A1, A2, A3, die aus der jeweiligen Vorgängerin ausgeschieden wurden und auf eine (ursprüngliche) Stammanmeldung A0 (89 304 929.6) zurückgehen. Auf die Stammanmeldung und auf die erste Teilanmeldung A1 (94 106 661.5) wurde ein Patent erteilt. Die zweite Teilanmeldung A2 (97 200 954.2) wurde ebenso wie ihre Geschwister B2 (97 200 955.9) und C2 (97 200 957.5) wegen Verstoßes gegen Artikel 76 (1) EPÜ zurückgewiesen.

III. Anspruch 1 von A3 in der ursprünglich eingereichten Fassung hat denselben Wortlaut wie Anspruch 1 von A2 in der ursprünglich eingereichten Fassung und lautet wie folgt:

"1. Flüssigkristallvorrichtung für eine elektrooptische Vorrichtung mit einer Mehrzahl von Flüssigkristallzellen, wobei Datensignale an die Flüssigkristallzellen über eine Mehrzahl von Feldeffekttransistoren übermittelt werden, die als eine Mehrzahl von Bildelementen (292) angeordnet sind, wobei die Flüssigkristallvorrichtung umfasst:

ein Substrat (71, 86) mit einer Pixelregion und mindestens einer Treiberregion;

eine Mehrzahl erster Leitungen und eine Mehrzahl zweiter Leitungen, die in einer Matrix in der Pixelregion angeordnet und mit den Feldeffekttransistoren verbunden sind;

Treiberschaltungen (21, 12), die in mindestens einer Treiberregion ausgebildet und mit einer der ersten Leitungen und zweiten Leitungen verbunden sind;

Ausgangsanschlüsse der Treiberschaltungen, die mit einer der besagten Mehrzahl von ersten Leitungen und zweiten Leitungen verbunden sind, und

mindestens eine Treiber-Prüfschaltung (283, 288) umfassend Transistoren, wobei die genannten Transistoren der mindestens einen Treiber-Prüfschaltung (283, 288) an einen Prüfsignal-Eingangsanschluss (284; 289), einen Prüfsignal-Ausgangsanschluss (285; 290) und eine der genannten ersten und zweiten Leitungen angeschlossen sind,

wobei über den Prüfsignal-Eingangsanschluss (284; 289) eingehende Prüfsignale über die genannten Transistoren durch Betrieb der genannten Treiberschaltung an den genannten Prüfsignal-Ausgangsanschluss (285; 290) übermittelt werden."

IV. Anspruch 1 von A1 in der ursprünglich eingereichten Fassung lautet wie folgt:

"1. Aktivmatrixtafel, umfassend eine Bildelementenmatrix (22), welche auf einem transparenten Substrat (71, 86) angebracht ist und eine Mehrzahl von Gate-Leitungen (24, 25), eine Mehrzahl von Source-Leitungen (26, 27, 28) und eine Mehrzahl von Bildelementen (32, 33) aufweist, wobei jedes der Bildelemente einen Dünnfilmtransistor (29, 101) aufweist, wobei die Aktivmatrixtafel ferner eine Gate-Leitungs-Treiberschaltung (21) und eine Source-Leitungs-Treiberschaltung (12) umfasst und dadurch gekennzeichnet ist, dass die Gate-Leitungs-Treiberschaltung oder/und die Source-Leitungs-Treiberschaltung eine Mehrzahl von auf dem transparenten Substrat vorgesehenen komplementären Dünnfilmtransistoren (47 bis 56; 58, 59; 99, 100) aufweist, deren Gate-Länge kürzer als diejenige der Dünnfilmtransistoren der Bildelementenmatrix ist."

V. In der angefochtenen Zurückweisungsentscheidung stellte die Prüfungsabteilung fest, dass die Anmeldung A2, die selbst schon eine Teilanmeldung war, wegen Verstoßes gegen Artikel 76 (1) EPÜ zurückgewiesen worden war. Ausgehend davon, was sie als ratio decidendi der Entscheidung T 555/00 betrachtete, dass nämlich im Falle einer Teilanmeldung, die in der ursprünglich eingereichten Fassung gegen Artikel 76 (1) EPÜ verstößt, zwangsläufig auch eine daraus ausgeschiedene weitere Teilanmeldung gegen diesen Artikel verstößt, befand sie, dass die vorliegende Anmeldung A3 das Erfordernis des Artikels 76 (1) EPÜ nicht erfülle. Da zudem der Anspruchsgegenstand derselbe sei wie der von A2 in der ursprünglich eingereichten Fassung, gälten die Gründe für die Zurückweisung von A2 (s. u. Nr. VI) mutatis mutandis auch in Bezug auf die Offenbarung von A1.

VI. Die Gründe für die Zurückweisung von A2, der Vorgängerin der vorliegenden Anmeldung A3, waren im Wesentlichen folgende:

In der Anmeldung A1, aus der A2, B2 und C2 ausgeschieden wurden, werde sowohl in Anspruch 1 als auch in der Darstellung des Erfindungsgedankens in der Beschreibungseinleitung Folgendes definiert: eine Aktivmatrixtafel, umfassend Dünnfilmtransistoren (TFTs), wobei die TFTs der Gate- und der Source-Leitungs-Treiberschaltung komplementär sind und eine Gate-Länge haben, die kürzer als diejenige der TFTs der Bildelementenmatrix ist (vgl. A1 in der veröffentlichten Fassung, S. 3, Zeilen 46 bis 52). Der Fachmann würde also aus der Beschreibung von A1 in der ursprünglich eingereichten Fassung schließen, dass diese Merkmale wesentlich für die (Offenbarung der) Erfindung sind. Da Anspruch 1 von A2 nicht alle diese Merkmale umfasste, lasse sich sein Gegenstand nicht unmittelbar und eindeutig aus A1 in der ursprünglich eingereichten Fassung ableiten.

Die vorerwähnten Merkmale wurden als wesentlich (für die Offenbarung) erachtet, da sie in der Darstellung des Erfindungsgedankens in A1 enthalten waren. Da sich diese Darstellung von derjenigen in A2 in der ursprünglich eingereichten Fassung unterscheide, sei der gesamte Informationsgehalt dieser Anmeldungen verschieden.

Die Gründe für die Zurückweisung von B2 und C2 waren im Wesentlichen dieselben wie im Fall von A2.

VII. Gegen die Zurückweisung von A2 wurde keine Beschwerde eingelegt. Gegen die Zurückweisung von B2 und C2 wurden Beschwerden eingelegt, die die Technische Beschwerdekammer 3.4.02 in den Entscheidungen T 797/02 bzw. T 720/02 mit ein und derselben, im Wesentlichen wie folgt lautenden Begründung zurückgewiesen hat:

a) B2 und C2 seien Teilanmeldungen einer Teilanmeldung (A1). Der wesentliche Inhalt von A1 werde durch die in ihren Ansprüchen definierte Erfindung oder Gruppe von Erfindungen bestimmt. Damit weitere Teilanmeldungen, hier B2 und C2, das Erfordernis des Artikels 76 (1) EPÜ erfüllten, müssten sie auf einen Gegenstand gerichtet sein, der von dieser Erfindung oder Gruppe von Erfindungen umfasst sei (Nr. 2.2 der Entscheidungsgründe).

b) Dürfte ein Gegenstand aus der Stammanmeldung A0, der in die Beschreibung der ersten Teilanmeldung A1 aufgenommen werde, aber nicht von der tatsächlich aus der Stammanmeldung ausgeschiedenen Erfindung umfasst sei, zu einem späteren Zeitpunkt wiederum aus der ersten Teilanmeldung ausgeschieden werden, so könnten Anmelder durch Einreichung einer Folge von Teilanmeldungen, die aus der jeweiligen Vorgängerin ausgeschieden würden, die Öffentlichkeit über einen Großteil der Laufzeit eines Patents hinweg völlig im Ungewissen darüber lassen, wie viel vom Gegenstand der Stammanmeldung noch beansprucht werden könnte. Damit würde einem potenziellen Missbrauch der vom EPÜ eingeräumten Möglichkeit zur Einreichung von Teilanmeldungen seitens des Anmelders Tür und Tor geöffnet (Nr. 2.2 der Entscheidungsgründe).

VIII. Die Beschwerdeführende Anmelderin beantragt die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und die Erteilung eines Patents auf der Grundlage der Anmeldung in der eingereichten Fassung.

IX. Die von der Beschwerdeführerin zur Stützung ihrer Anträge vorgebrachten Argumente lassen sich wie folgt zusammenfassen:

Die Prüfungsabteilung habe die Formulierung "Inhalt der früheren Anmeldung" in Artikel 76 (1) EPÜ falsch ausgelegt. Gemäß der Rechtsprechung der Beschwerdekammern, beispielsweise in den Entscheidungen T 260/85, ABl. EPA 1989, 105; T 514/88, ABl. EPA 1992, 570; T 441/92 und T 1008/99, seien damit die gesamten technischen Informationen gemeint, die dem Fachmann offenbart würden.

Entscheidungsgründe

1. Die Beschwerde ist zulässig.

2. Die angefochtene Entscheidung wurde allein auf Artikel 76 (1) EPÜ gestützt; nach Aktenlage hat die Prüfungsabteilung keine anderen materiellrechtlichen Patentierungserfordernisse geprüft. Wird der Beschwerde also stattgegeben, so wäre gemäß Artikel 111 (1) EPÜ die Angelegenheit zur weiteren Entscheidung an die Prüfungsabteilung zurückzuverweisen.

3. Anwendung von Artikel 76 (1) EPÜ auf eine Folge von Teilanmeldungen, die aus der jeweiligen Vorgängerin ausgeschieden wurden

In der Entscheidung T 39/03 legte die Technische Beschwerdekammer 3.4.02 der Großen Beschwerdekammer folgende Rechtsfragen vor (Vorlageentscheidung G 1/05):

1. Kann eine Teilanmeldung, die den Erfordernissen des Artikels 76 (1) EPÜ nicht genügt, weil sie zum Zeitpunkt ihrer Einreichung über den Inhalt der früheren Anmeldung hinausgeht, später geändert werden, um sie zu einer gültigen Teilanmeldung zu machen?

2. Falls die Frage 1 bejaht wird, ist dies auch dann noch möglich, wenn die frühere Anmeldung nicht mehr anhängig ist?

3. Falls die Frage 2 bejaht wird, unterliegt diese Möglichkeit weiteren sachlichen Einschränkungen, die über die Auflagen der Artikel 76 (1) und 123 (2) EPÜ hinausgehen? Kann die berichtigte Teilanmeldung insbesondere auf Aspekte der früheren Anmeldung gerichtet werden, die nicht von den Aspekten umfasst werden, auf die die Teilanmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung gerichtet war?

Da die vorliegende Anmeldung A3 gegenüber der ursprünglich eingereichten Fassung unverändert bleibt, betreffen die vorstehenden Rechtsfragen die jetzige Beschwerde nicht unmittelbar.

Während es in der Vorlageentscheidung G 1/05 darum geht, von welchem Zeitpunkt im Verfahren an die Erfordernisse des Artikels 76 (1) Satz 2 EPÜ erfüllt sein müssen, dreht sich die vorliegende Beschwerde um die Frage, worin diese Erfüllung besteht.

3.1 Wie ist die Formulierung "Inhalt der früheren Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung" in Artikel 76 (1) EPÜ auszulegen?

3.1.1 Der Gegenstand von Anspruch 1 sowohl der vorliegenden Anmeldung A3 als auch ihres Vorgängers A2 (in der ursprünglich eingereichten Fassung) geht unbestreitbar über den Umfang des Anspruchs 1 von A1 hinaus. In Anbetracht der Entscheidungen T 720/02, T 797/02 und - aus jüngerer Zeit - T 90/03 stellt sich die Frage, ob diese Tatsache allein eine Zurückweisung der vorliegenden Anmeldung rechtfertigt. Diesen Entscheidungen zufolge wird der Inhalt einer Teilanmeldung im Sinne von Artikel 76 (1) EPÜ - oder sogar im Sinne von Artikel 123 (2) EPÜ - durch die Ansprüche der Teilanmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung (Hervorhebung durch die Kammer) bestimmt. Demnach darf der beanspruchte Gegenstand der Teilanmeldung einer Teilanmeldung nicht über den beanspruchten Gegenstand ihres Vorgängers in der ursprünglich eingereichten Fassung hinausgehen. Der Kürze halber sei diese Bedingung als "Erfordernis der Anspruchsverschachtelung" bezeichnet.

3.1.2 Die in Artikel 76 (1) EPÜ gebrauchte Formulierung "Inhalt der früheren Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung" kommt auch in mehreren anderen Artikeln des EPÜ vor, insbesondere in Artikel 100 c) und 123 (2) EPÜ. Die gesetzgeberische Absicht, die der Formulierung zugrunde liegt, wird deutlich aus der Debatte um "prior claim approach" versus "whole contents approach" im Zusammenhang mit der Formulierung des Artikels 54 (3) EPÜ, die in der Entstehungsphase des EPÜ geführt wurde. In der Rechtsprechung der Beschwerdekammern des EPA über Teilanmeldungen hat sich der Konsens herausgebildet, dass unter "Inhalt der Anmeldung" der "gesamte technische Informationsgehalt der Offenbarung" zu verstehen ist, sei es in der Beschreibung oder in den Ansprüchen (T 514/88, ABl. EPA 1992, 570, Nr. 2.2 der Entscheidungsgründe; "Rechtsprechung der Beschwerdekammern des EPA", 4. Auflage 2001, Kapitel III.A.2; Singer-Stauder, "Europäisches Patentübereinkommen", 2. Auflage, Art. 76 Rdn. 20). Der ständigen Rechtsprechung der Beschwerdekammern entspricht auch, dass Artikel 123 (2) EPÜ und Artikel 76 (1) Satz 2 EPÜ in dieser Hinsicht gleich auszulegen sind (s. o. und T 276/97, Nr. 2.4 und 4.2 der Entscheidungsgründe).

In T 873/04, Nummer 1 der Entscheidungsgründe, wurden die vorstehenden Grundsätze auf eine Folge von Teilanmeldungen angewandt, bei denen schon die vorangehende Anmeldung eine Teilanmeldung war.

3.1.3 Die vorstehenden Grundsätze sind zwar fest verankert, wurden aber in den Entscheidungen T 720/02 und T 797/02 (mit im Wesentlichen identischer Begründung) in Frage gestellt, wo es um eine Kette von (zwei) aus einer Ursprungsanmeldung hervorgegangenen Teilanmeldungen ging, deren letztere aus der ersten ausgeschieden wurde. Diesen Entscheidungen zufolge ist das Erfordernis des Artikels 76 (1) EPÜ nur erfüllt, wenn alle nachfolgenden Teilanmeldungen auf Gegenstände gerichtet sind, die von der Erfindung bzw. der Gruppe von Erfindungen umfasst sind, die aus der Ursprungsanmeldung in der ersten Teilanmeldung ausgeschieden wurde; d. h. der Gegenstand der Teilanmeldung muss unter den Schutzumfang der Ansprüche der früheren Teilanmeldung fallen (s. Nr. 2.2 der Entscheidungsgründe). In der jüngeren Entscheidung T 90/03 wurden diese Grundsätze offenbar auch auf die erste Teilanmeldung angewandt (Nr. 2 der Entscheidungsgründe).

3.1.4 Die Kammer erachtet diese in den Entscheidungen T 720/02, T 797/02 und T 90/03 unlängst entwickelte Rechtsprechungslinie für problematisch, da das EPÜ weder explizite noch implizite Hinweise darauf enthält, dass Artikel 76 (1) EPÜ anders auszulegen ist, wenn sich der Begriff "frühere Anmeldung" auf eine Teilanmeldung bezieht. Insbesondere gibt es keinen Hinweis darauf, dass in einem solchen Fall der Begriff "Inhalt" mit dem (bei der Einreichung beanspruchten) "Gegenstand des Schutzbegehrens" gleichgesetzt werden sollte - eine Auslegung, die der üblichen Bedeutung des Begriffs zuwiderliefe.

3.1.5 Die Kammer kann auch keine diesbezügliche gesetzgeberische Absicht erkennen. Festzustellen ist, dass bei der letzten Änderung der Regel 25 (1) EPÜ durch die Neuformulierung "jede anhängige Patentanmeldung" verdeutlicht werden sollte, dass die Vorgängerin zu einer Teilanmeldung selbst bereits eine Teilanmeldung sein kann; vgl. "Mitteilungen des EPA", ABl. EPA 2002, 112. Offensichtlich hat der zuständige Gesetzgeber, hier der Verwaltungsrat, also erkannt, dass Folgen von Teilanmeldungen gebildet werden können, die aus der jeweiligen Vorgängerin ausgeschieden werden, und er hat erkannt, dass ein Regelungsbedarf bestand, aber dennoch darauf verzichtet, zwischen "normalen" und Teilanmeldungen zu unterscheiden, und keine weiteren Sonderregeln für Teilanmeldungen über das besondere materiellrechtliche Erfordernis des Artikels 76 (1) EPÜ hinaus aufgestellt. Solange keine gegenteiligen Hinweise vorliegen, ist somit anzunehmen, dass der Gesetzgeber keine unterschiedlichen Rechtsnormen für die Prüfung von normalen und von Teilanmeldungen aufstellen wollte, ob es sich dabei nun um eine erste Teilanmeldung oder um die Teilanmeldung einer Teilanmeldung handelt.

3.1.6 In T 720/02 und T 797/02 wurde die engere Auslegung der Formulierung "Inhalt der früheren Anmeldung" damit begründet, dass die Öffentlichkeit sonst über einen Großteil der Laufzeit eines Patents völlig im Ungewissen darüber bliebe, wie viel vom Gegenstand der ersten (Ursprungs-)Anmeldung noch beansprucht werden könnte, und dass damit einem potenziellen Missbrauch der vom EPÜ eingeräumten Möglichkeit zur Einreichung von Teilanmeldungen seitens des Anmelders Tür und Tor geöffnet würde (Nr. 2.2 der Entscheidungsgründe).

3.1.7 Die jetzt befasste Kammer bezweifelt, dass es gerechtfertigt wäre, unter Hinweis auf eine als ungerecht wahrgenommene Rechtsvorschrift oder ein Missbrauchspotenzial zu einer Auslegung contra legem zu gelangen, insbesondere, wenn ein tatsächlicher Missbrauch weder behauptet noch bewiesen wird. Erstens ist die Gesetzesauslegung und -anwendung keine Ermessenssache, außer wenn dies durch das Gesetz selbst ausdrücklich gestattet wird, wie etwa in Artikel 96 (2) EPÜ oder Artikel 114 (2) EPÜ. Zweitens liegt ein gewisses Maß an Ungewissheit für die Öffentlichkeit im Patentsystem selbst begründet. Es ist schwer nachzuvollziehen, warum die Ungewissheit für die Öffentlichkeit bei einer Folge von Teilanmeldungen, die aus der jeweiligen Vorgängerin ausgeschieden werden, wesentlich größer sein sollte als bei "normalen" Anmeldungen. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt sind beim EPA rund einhunderttausend - unveröffentlichte - Patentanmeldungen anhängig. Eine unveröffentlichte Patentanmeldung dürfte wohl eine Quelle viel größerer Ungewissheit sein als eine veröffentlichte, zumindest, was den Gegenstand betrifft, der "noch beansprucht werden könnte". Ebenso gibt es ein manifestes öffentliches Interesse daran, dass veröffentlichte Anmeldungen rasch zum Patent führen. Da jedoch Verzögerungen im Erteilungsverfahren und die Verlängerung des "Zustands der Ungewissheit" teilweise auch dem EPA selbst zuzuschreiben sind, wäre es kaum gerechtfertigt, die Rechte der Anmelder auf dieser Grundlage einzuschränken.

3.1.8 Es ist allgemein anerkannt, dass der primäre Gesetzeszweck von Teilanmeldungen darin besteht, eine Schutzmöglichkeit für nicht einheitliche Erfindungen zu eröffnen. Dasselbe sollte für Folgen von Teilanmeldungen gelten. Demnach sollten die Vorschriften des EPÜ nicht so ausgelegt werden, dass Anmeldern diese Möglichkeit effektiv verwehrt wird. Die Kammer stellt fest, dass das Prinzip der Anspruchsverschachtelung zwar in Bezug auf Folgen von aus der jeweiligen Vorgängerin ausgeschiedenen Teilanmeldungen aufgebracht wurde, aber dennoch auch Auswirkungen auf Teilanmeldungen der ersten Generation hätte, wie T 90/03 belegt. Insbesondere wenn man davon ausginge, dass die restriktive Auslegung des Begriffs "Inhalt der Anmeldung" für jede Teilanmeldung - und nicht nur für eine "frühere Anmeldung" und ausschließlich im Sinne des Artikels 76 (1) EPÜ - gilt, wäre es für Anmelder äußerst riskant, wenn nicht unmöglich, Ansprüche mit einem akzeptablen Schutzumfang abzufassen. Dieses Konzept würde dazu zwingen, den Begriff "Inhalt" im Sinne des Artikels 123 (2) EPÜ ebenso restriktiv auszulegen. Zum Beispiel könnte ein Anmelder, der in einem eindeutigen Fall mangelnder Einheitlichkeit eine noch nicht recherchierte zweite Erfindung in der Teilanmeldung verfolgen möchte, daran gehindert werden, ein Merkmal aus der Beschreibung in die Ansprüche aufzunehmen - was normalerweise Routine ist -, da dies als Verstoß gegen Artikel 123 (2) EPÜ angesehen werden könnte. Anders ausgedrückt, würden dadurch nicht nur "missbräuchliche", sondern auch völlig "legitime" Teilanmeldungen beeinträchtigt, bei denen der Gegenstand der Teilanmeldung von Anfang an in der Ursprungsanmeldung beansprucht wurde, so dass die Öffentlichkeit in Kenntnis gesetzt war.

3.1.9 Die Kammer räumt ein, dass die systematische Einreichung ganzer Folgen von Teilanmeldungen, die aus dem jeweiligen Vorgänger ausgeschieden wurden und sich in ihrem Gegenstand kaum oder überhaupt nicht unterscheiden, durchaus einen Missbrauch des Patentverfahrens darstellen könnte. Dadurch könnte die abschließende Zurückweisung einer Patentanmeldung vereitelt und somit Regel 86 (3) EPÜ letzter Satz wirksam umgangen werden, der die Prüfungsabteilung rechtlich befugt, die Dauer des Erteilungsverfahrens unter Kontrolle zu halten. Doch selbst dieses Missbrauchspotenzial kann nicht rechtfertigen, dass eine andere Vorschrift des EPÜ auf eine Art und Weise ausgelegt wird, die ihrem unstrittigen Hauptzweck zuwiderläuft, denn damit würden selbst die Grenzen einer zweckgerichteten Auslegung überschritten. Dies käme nämlich einem legislativen Akt gleich, der dem Gesetzgeber vorbehalten ist, d. h. dem Verwaltungsrat oder einer Diplomatischen Konferenz der Vertragsstaaten.

3.2 Vererbt sich in einer Folge von Teilanmeldungen, die aus der jeweiligen Vorgängerin ausgeschieden wurden, der Verstoß gegen Artikel 76 (1) EPÜ weiter?

3.2.1 Die Anmeldung A2 wurde wegen Verstoßes gegen Artikel 76 (1) EPÜ zurückgewiesen. Im Lichte der Entscheidungen T 904/97 und T 555/00 - vgl. die Interpretation von T 555/00 durch die Prüfungsabteilung in der angefochtenen Entscheidung und später in T 1158/01, ABl. EPA 2005, 110 - wirft dies die Frage auf, ob der vorliegenden Anmeldung A3 überhaupt ein "gültiger" Anmeldetag zuerkannt werden kann. In diesen Entscheidungen wurde die Auffassung vertreten, dass man der Teilanmeldung einer Teilanmeldung nicht den Anmeldetag der Ursprungsanmeldung zuerkennen kann, wenn dieser Anmeldetag nicht als der ersten Teilanmeldung zuerkannt gilt. Stillschweigend akzeptiert wurde diese Auslegung von Artikel 76 (1) EPÜ auch in der Vorlageentscheidung T 39/03, Nummer 3.3 der Entscheidungsgründe und Frage 1 der Entscheidungsformel. Dieser Einwand wurde auch in der angefochtenen Entscheidung geltend gemacht. Der Kürze halber sei diese Bedingung als "Erfordernis des makellosen Stammbaums" bezeichnet. Aus den nachstehend erläuterten Gründen hat die Kammer Schwierigkeiten, sich der Begründung der genannten Entscheidungen anzuschließen.

3.2.2 Zunächst stellt die Kammer fest, dass es im EPÜ keine Grundlage für das Konzept einer "ungültigen" Anmeldung gibt und es nicht angebracht erscheint, rechtliche Konsequenzen aus den mutmaßlichen Eigenschaften nicht existenter Rechtskategorien zu ziehen. Die Begriffe "gültig" bzw. "ungültig" kommen im EPÜ nicht vor. Dennoch verwendet die Kammer im Folgenden der Einfachheit halber - insbesondere, wenn auf dieses in früheren Entscheidungen eingeführte Konzept verwiesen wird - den Begriff "ungültige" Teilanmeldung für eine Teilanmeldung, die nicht den Erfordernissen des Artikels 76 (1) EPÜ entspricht, und zwar in dem Sinne, dass ihr Anspruchsgegenstand - zumindest in der ursprünglich eingereichten Fassung - über den Inhalt der früheren (Ursprungs- oder Stamm-)Anmeldung hinausgeht.

3.2.3 Auf den ersten Blick mag der Wortlaut von 76 (1) EPÜ tatsächlich eine Auslegung nahelegen, nach der eine "ungültige" Teilanmeldung von Anfang an keinen Anmeldetag hat (vgl. T 904/97, Nr. 4.1.2 der Entscheidungsgründe). Diese Auslegung wird gestützt durch die Formulierung "gilt die Teilanmeldung als an dem Anmeldetag der früheren Anmeldung eingereicht" (Hervorhebung durch die Kammer), d. h. ein Anmeldetag gilt als der Teilanmeldung zuerkannt. Im Umkehrschluss hätte ein Verstoß gegen Artikel 76 (1) EPÜ dann zur Folge, dass kein Anmeldetag zuerkannt werden kann, denn die Zuerkennung eines anderen Anmeldetags als desjenigen der früheren (Ursprungs- oder Vorgänger-)Anmeldung ist im EPÜ nicht vorgesehen (J 11/91, ABl. EPA 1994, 28, Nr. 4.2 der Entscheidungsgründe).

3.2.4 Der Satz "gilt die Teilanmeldung als an dem Anmeldetag … eingereicht" könnte aber auch so verstanden werden, dass die Betonung auf dem "Anmeldetag" liegt, d. h. dass es sich nicht um die Einreichung als Rechtsakt dreht, sondern um den Tag, der ein Ereignis markiert.

3.2.5 Der Gesetzeszweck von Artikel 76 (1) EPÜ besteht eindeutig darin, eine Rechtswirkung zu erzielen, die mit den Rechtswirkungen eines Anmeldetags zusammenhängt. Deshalb ist es angebracht, das Konzept und die Rechtswirkungen eines Anmeldetags im Sinne des EPÜ genauer zu untersuchen.

3.2.6 Ein rechtswirksamer - nach der Terminologie des EPÜ ein zuerkannter - Anmeldetag hat mehrere verschiedene Rechtswirkungen, unter anderem folgende:

a) er markiert den Beginn der Anhängigkeit einer europäischen Patentanmeldung, Artikel 80 EPÜ in Verbindung mit Artikel 90 (1) a), 90 (2) EPÜ;

b) er markiert den theoretischen Tag, für den der Anmelder formell den Anspruch erhebt, seine Erfindung beim EPA hinterlegt zu haben, und

c) der Anmeldetag bestimmt den Stand der Technik und damit den Umfang von Recherche und Prüfung im Sinne von Artikel 54 (2) und (3) EPÜ.

Die Rechtswirkungen a bis c treten unmittelbar mit der Zuerkennung des Anmeldetags ein. Weitere Rechtswirkungen des Anmeldetags werden bei Veröffentlichung der Patentanmeldung ausgelöst:

d) der Anmeldetag markiert den Stichtag, der sich im Sinne von Artikel 54 (3) EPÜ auf andere Anmeldungen auswirkt.

Bei der Patenterteilung entfaltet der Anmeldetag noch weitere Rechtswirkungen:

e) er markiert den Beginn des nach Artikel 64 (1) EPÜ erteilten Schutzrechts, vgl. Artikel 63 (1) EPÜ, und

f) er markiert den rechtlich bestätigten Tag, an dem der Anmelder die Erfindung, für die Schutz gewährt wurde, hinterlegt hatte, womit der Anspruch unter b) anerkannt wird.

Der Unterschied zwischen den rechtserheblichen Tagen a bis f wird dadurch verdeutlicht, dass diese rein logisch nicht auf denselben Tag fallen müssen, auch wenn dies die Grundannahme in dem durch das EPÜ geschaffenen Patenterteilungssystem ist.

3.2.7 Einer "normalen" Anmeldung wird ein Anmeldetag zuerkannt, sobald - neben sonstigen, z. B. sprachenbezogenen Formerfordernissen - die Erfordernisse des Artikels 80 EPÜ erfüllt sind.

3.2.8 Steht fest, dass einer Anmeldung ein Anmeldetag zuerkannt wurde, so existiert diese Anmeldung. Anders ausgedrückt: es ist eine Anmeldung anhängig, und die vorstehend unter Nummer 3.2.6 erläuterten Rechtswirkungen a bis c treten ein.

3.2.9 Umgekehrt muss bei jeder anhängigen Anmeldung ein Anmeldetag feststehen. Gewiss kennt das EPÜ das Konzept einer Anmeldung, der kein Anmeldetag zuerkannt wurde; vgl. Artikel 90 (2) EPÜ. Eine solche angebliche Anmeldung ist rechtlich aber niemals anhängig, da ja überhaupt keine Anmeldung vorliegt, vgl. Artikel 90 (2) letzter Satz EPÜ. Eine solche angebliche Anmeldung wird weder recherchiert noch geprüft, und es sind keinerlei Anmelde-, Recherchen-, Prüfungs- oder Jahresgebühren zu entrichten. Eine angebliche Anmeldung ohne Anmeldetag existiert ganz einfach nicht als echte Anmeldung im Sinne des EPÜ. Dies zeigt, dass sich eine anhängige Anmeldung ohne Anmeldetag in einem rechtlichen Niemandsland befinden würde. Anders ausgedrückt ist die Zuerkennung eines Anmeldetags gleichbedeutend mit der rechtlichen Anerkennung der Existenz einer anhängigen europäischen Patentanmeldung.

3.2.10 Somit muss eine anhängige Teilanmeldung auch einen Anmeldetag haben. Die Erklärung des Anmelders bei der (physischen) Einreichung der Unterlagen, dass die Anmeldung eine Teilanmeldung ist, ist denn auch Ausdruck seiner Absicht, die bereits bestehenden Rechtswirkungen der früheren (Ursprungs- oder Vorgänger-)Anmeldung aufrechtzuerhalten, nämlich die Existenz einer vor dem EPA anhängigen Anmeldung und die jeweils ein Ereignis markierenden Tage a, b und c, die den Umfang von Recherche und Prüfung bestimmen. Die Rechtswirkung a tritt ein, sobald die Eingangsstelle der Teilanmeldung einen Anmeldetag zuerkannt hat. Die Rechtswirkung b bleibt ein Anspruch auf den das Ereignis markierenden Tag, der in die Rechtswirkung e übergeht, sobald erwiesen ist, dass dem Erfordernis des Artikels 76 (1) EPÜ entsprochen wird. Natürlich können zum Zeitpunkt der physischen Einreichung der Teilanmeldung dem Anmelder - noch - keine Rechtswirkungen des Anmeldetags wie e und f zugutekommen, die in der früheren (Ursprungs- oder Vorgänger-)Anmeldung noch nicht eingetreten sind.

3.2.11 Das Vorstehende entspricht der eigentlichen Bedeutung einer Teilung, denn geteilt werden kann nur etwas Bestehendes. Dies spiegelt sich auch im Erfordernis der Regel 25 (1) EPÜ in der Auslegung durch die ständige Rechtsprechung wider, wonach einer Teilanmeldung nur dann ein Anmeldetag zuerkannt werden kann, wenn die Stammanmeldung anhängig ist, d. h. zum Zeitpunkt der (physischen) Einreichung der Teilanmeldung noch existiert. Ebenso nachvollziehbar ist, dass die Rechtswirkungen b und c des Anmeldetags der Stammanmeldung fortbestehen. Erstens ist der Fortbestand der Rechtswirkung b nicht von einer äußeren Bedingung abhängig, da er sich aus dem Begriff des Anspruchs ergibt. Zweitens geht die Prüfung der Anmeldung von diesem beanspruchten Anmeldetag aus, der den Stand der Technik bestimmt, denn sonst würde die Prüfung überhaupt keinen Sinn ergeben. Dies entspricht der ständigen Praxis des Europäischen Patentamts.

3.2.12 Dafür, dass einer Teilanmeldung ein Anmeldetag zuerkannt wird, kann es keine weiteren materiellrechtlichen Erfordernisse geben. Die Bedingung des Artikels 76 (1) EPÜ kann mit Sicherheit kein solches Erfordernis sein, denn ob sie erfüllt ist, erweist sich erst während der Sachprüfung der Anmeldung (J 13/85, Nr. 7 der Entscheidungsgründe), die - wie vorstehend erläutert - ohne eine anhängige Anmeldung nicht durchgeführt werden kann.

3.2.13 Dies führt zu dem Schluss, dass die Erfüllung von Artikel 76 (1) EPÜ keine Bedingung dafür ist, dass einer Teilanmeldung ein Anmeldetag zuerkannt wird, sondern ein Erfordernis, das erfüllt sein muss, um eine andere Rechtswirkung hervorzurufen. In diesem Licht betrachtet und unter Berücksichtigung der Erwägungen unter Nummer 3.2.6 ist die Formulierung "gilt … als an dem Anmeldetag der früheren Anmeldung eingereicht" als Wunsch des Gesetzgebers zu verstehen, dass der Teilanmeldung der Anmeldetag der früheren (Ursprungs- oder Stamm-)Anmeldung als maßgeblicher Kalendertag für alle Rechtswirkungen des Anmeldetags zukommen soll, die nach Einreichung der Anmeldung eintreten, die wichtigsten davon nach der Patenterteilung. Gleichzeitig bleibt offen, was das rechtliche Schicksal von Anmeldungen ist, die Artikel 76 (1) EPÜ nicht entsprechen.

3.2.14 Bevor jedoch ein Anmeldetag durch die Patenterteilung rechtlich bestätigt werden kann, muss er beansprucht werden. Anders ausgedrückt weist die Formulierung von Artikel 76 (1) EPÜ der Teilanmeldung nicht nur die Rechtswirkungen des Anmeldetags der Ursprungsanmeldung zu, sondern eröffnet den Anmeldern wirksam die verfahrensrechtliche Möglichkeit, Teilanmeldungen einzureichen und den Anmeldetag der Ursprungsanmeldung formell zu beanspruchen. Ohne diese Vorschrift wäre nicht klar, auf welcher materiellen Grundlage Teilanmeldungen geprüft werden sollten.

3.2.15 Die Rechtswirkungen eines erteilten Patents sind jedoch unteilbar, d. h. es ist im EPÜ nicht vorgesehen, bei teilweiser Erfüllung der materiellrechtlichen Erfordernisse ein "mangelhaftes" Patent mit nur einigen seiner Rechtswirkungen zu erteilen. Damit also die vom Gesetzgeber gewollten Rechtswirkungen eintreten, muss auf die Anmeldung ein Patent erteilt werden. Das setzt voraus, dass alle materiellrechtlichen Patentierungserfordernisse erfüllt sind. Insoweit ist Artikel 76 (1) EPÜ eigentlich nur eine weitere Bedingung für die Patenterteilung. Um es in der Sprache des englischen Vertragsrechts auszudrücken, handelt es sich dabei eher um eine "condition subsequent" (Bedingung für den Aufrechterhalt) als um eine "condition precedent" (Vorbedingung). Daraus ergibt sich die Auslegung, dass auf eine Anmeldung, die die Erfordernisse des Artikels 76 (1) EPÜ nicht erfüllt, kein Patent erteilt werden darf. Diese Auslegung stimmt überein mit der Argumentation in T 555/00, Nummer 1.6 der Entscheidungsgründe, und entspricht voll und ganz der materiellrechtlichen Natur dieses Erfordernisses, die sich z. B. in dessen allgemein anerkannter Analogie zu Artikel 123 (2) EPÜ äußert. Sie fügt sich auch genau in die bestehende Praxis des Europäischen Patentamts bei der Anwendung von Artikel 97 (1) EPÜ ein, wonach nämlich eine anhängige Anmeldung bei Nichterfüllung eines materiellrechtlichen Erfordernisses nicht den Anmeldetag verliert, sondern nach Artikel 97 (1) EPÜ zurückgewiesen wird.

3.2.16 Das lässt den Schluss zu, dass der rechtswirksame Anmeldetag einer Teilanmeldung - der eine anhängige Anmeldung begründen soll - darauf basiert, dass die Vorgängerin anhängig ist, und nicht darauf, dass die Teilanmeldung materiellrechtliche Erfordernisse wie etwa Artikel 76 (1) EPÜ oder sonstige materiellrechtliche Patentierungserfordernisse erfüllt. Dasselbe gilt zwangsläufig für die Teilanmeldung einer Teilanmeldung. Das bedeutet, dass das einzige weitere Erfordernis für die rechtswirksame Einreichung der Teilanmeldung einer Teilanmeldung neben Artikel 80 EPÜ die Anhängigkeit - d. h. die Existenz - der vorangehenden Teilanmeldung zum Zeitpunkt der Einreichung der nachfolgenden Teilanmeldung gemäß Regel 25 (1) EPÜ ist. Dieses Konzept ermöglicht es auch der Eingangsstelle des EPA, unmittelbar zu entscheiden, ob einer Teilanmeldung ein Anmeldetag zuzuerkennen ist ( R. 39 EPÜ).

3.2.17 Nun kann zwar die Erfüllung von Artikel 76 (1) EPÜ kein Erfordernis für die Zuerkennung des Anmeldetags sein, doch könnte ein Verstoß dagegen als Ursache für den nachträglichen Verlust des zuerkannten Anmeldetags ausgelegt werden. Da es nicht möglich ist, die Rechtswirkungen eines Anmeldetags voneinander zu trennen, würde dieser Fall zum Verlust der gesamten Anmeldung führen. Die eigentliche Frage würde dann lauten, ob dieser angenommene Verlust des Anmeldetags ex tunc oder ex nunc einträte, was die Gültigkeit der Verfahrenshandlungen anbelangt, die während der Anhängigkeit der Anmeldung vorgenommen wurden.

3.2.18 Würde Artikel 76 (1) EPÜ so ausgelegt, dass er den Verlust des Anmeldetags ex nunc bewirkt, so würde dies nicht den zuerkannten Anmeldetag einer Teilanmeldung beeinträchtigen, weil nach der Einreichung der Teilanmeldung die beiden Anmeldungen völlig unabhängig voneinander bestehen (vgl. T 1176/00, Nr. 2.1 Satz 1 der Entscheidungsgründe). Zum Zeitpunkt der Einreichung der Teilanmeldung hat die Vorgängerin einen wirksamen - zuerkannten und bestehenden - Anmeldetag, den die Teilanmeldung wirksam beanspruchen und der ihr somit zuerkannt werden kann. Die Rechtsfolgen eines Ex-nunc-Verlusts des Anmeldetags lassen sich denn auch nicht von denjenigen einer Zurückweisung der Anmeldung unterscheiden.

3.2.19 Das entspricht der geltenden Praxis. Wie unter Nummer 3.2.15 vermerkt, verlieren Patentanmeldungen nicht den Anmeldetag, sondern werden zurückgewiesen. Eine Zurückweisung zieht nicht den rückwirkenden Verlust eines Anmeldetags nach sich. Anerkanntermaßen hat die Zurückweisung einer Patentanmeldung Ex-nunc-Wirkung, was die Gültigkeit der während der Anhängigkeit der Anmeldung vorgenommenen Verfahrenshandlungen, einschließlich der Einreichung einer Teilanmeldung, anbelangt; vgl. Kraßer, Patentrecht (5. Auflage) § 29 V. 4. Tatsächlich sieht Artikel 97 (1) letzter Satz EPÜ außer der Zurückweisung auch noch andere mögliche Rechtsfolgen vor, wie etwa den Eintritt der Rücknahmefiktion. In Artikel 76 (1) EPÜ werden andere Rechtsfolgen jedoch nicht ausdrücklich genannt.

3.2.20 Eine Analyse der Entstehungsgeschichte von Artikel 76 (1) EPÜ stützt die Auslegung, dass es nicht um die Zuerkennung eines Anmeldetags, sondern die Bestimmung des maßgeblichen Kalendertags geht. Die problematische Formulierung "gilt ... als ... eingereicht" erschien bereits 1961 in den vorbereitenden Arbeiten und ist seither im Wesentlichen unverändert geblieben. Damals gab es jedoch mindestens zwei nationale Patentsysteme, nämlich das der Bundesrepublik Deutschland und das des Vereinigten Königreiches, in denen Teilanmeldungen nicht unbedingt zurückgewiesen wurden, wenn sie unzulässige Erweiterungen enthielten, sondern mit einem anderen Anmeldetag zu einem Patent führen konnten (s. BPatG 20.12.1965, E 8, 23 und R. 13 (2) der Patentausführungsbestimmungen 1968 gemäß dem Patentgesetz (UK) von 1949). Unter diesen Umständen war der Gebrauch des strittigen Wortlauts vollauf gerechtfertigt. In diesem Licht betrachtet wird klarer, dass der "als Anmeldetag geltende Tag" tatsächlich ein Erfordernis für die Erteilung ist. Der rechtliche Gehalt dieser Vorschrift besteht nicht in der Zuerkennung des Anmeldetags, sondern vielmehr in einer Bestätigung des - bereits beanspruchten und zuerkannten - Anmeldetags. Anders ausgedrückt wird mit dieser Vorschrift anerkannt, dass die Anmeldung wirklich mit dem beanspruchten Anmeldetag zu einem Patent führen kann und nicht mit einem anderen - gleichwohl bestehenden und anerkannten - Anmeldetag. Es gibt hingegen keinerlei Hinweis in den vorbereitenden Arbeiten, dass die gewollte Rechtswirkung bei Nichterfüllung der Verlust des Anmeldetags sein sollte, und erst recht nicht der Ex-tunc-Verlust der Anmeldung insgesamt.

3.2.21 Für die hier entscheidende Kammer ist die andere mögliche Auslegung, nämlich die Annahme des rückwirkenden (Ex-tunc-)Verlusts eines Anmeldetags, unhaltbar. Sie würde unweigerlich zum Problem für das reibungslose Funktionieren des EPA. Auch wenn die Kammer zugesteht, dass der Wunsch nach einem bequemen internen Verwaltungssystem für das EPA keine Rechtsquelle ist, so ist doch die schiere Praktikabilität des "Rechts für die Erteilung von Erfindungspatenten" als Hauptzweck des EPÜ (Art. 1 EPÜ) ein gewichtiger Aspekt. Dass eine gegenseitige Abhängigkeit von Teilanmeldungen und ihren Vorgängerinnen aus rein praktischen Erwägungen unerwünscht ist, wurde deutlich in G 4/98, ABl. EPA 2001, 131, Nummer 5 der Entscheidungsgründe, abschließende Sätze: "Auch wenn es gemeinsame Anknüpfungspunkte zwischen den zwei Verfahren gibt (etwa in Bezug auf Fristen), haben Handlungen, die nach Einreichung einer Teilanmeldung im Verfahren zur Vorgängerin vorgenommen (oder unterlassen) werden, keinen Einfluss auf das die Teilanmeldung betreffende Verfahren. … Außerdem werden schwierige Fragen vermieden, die sich stellen würden, wenn im Wege der beschleunigten Bearbeitung ein Patent auf eine Teilanmeldung vor Ablauf der Frist für die Zahlung der Benennungsgebühren zur Vorgängerin erteilt worden ist" (Hervorhebung durch die Kammer).

3.2.22 Die Annahme des rückwirkenden Verlusts des Anmeldetags einer Teilanmeldung würde genauso schwierige Fragen aufwerfen wie die rückwirkende Zurücknahme von Benennungen. Sie würde zu zahlreichen Widersprüchen führen und hätte umgangssprachlich ausgedrückt ein heilloses juristisches Durcheinander zur Folge. Wäre die Große Beschwerdekammer im Fall G 4/98 nämlich zu dem Schluss gekommen (vgl. Nr. 5 der Entscheidungsgründe), dass eine Benennung mit Ex-tunc-Wirkung zurückgenommen wird, hätte dies auch den rückwirkenden Verlust des Anmeldetags nach sich gezogen; vgl. Artikel 80 b) EPÜ.

3.2.23 Einer dieser Widersprüche bestünde darin, dass ein rückwirkender Verlust des Anmeldetags unmittelbar die Frage nach der Rechtsgrundlage der für die Teilanmeldung entrichteten Jahresgebühren aufwerfen würde.

3.2.24 Ein weiteres Problem im Zusammenhang mit dem Konzept des rückwirkenden Verlusts des Anmeldetags tritt zutage, wenn eine vorangehende Teilanmeldung erlischt, ohne dass darüber entschieden wurde, ob sie Artikel 76 (1) EPÜ erfüllt. Gibt es eine solche abschließende Entscheidung im Verfahren der Vorgängerin, so ist die Frage geklärt. Wird darüber nicht abschließend entschieden, z. B. bei Zurückweisung aus anderem Grund, Zurücknahme oder Eintritt der Rücknahmefiktion, so bleibt dies ohne rechtliche Auswirkungen, was bedeutet, dass die Vorgängerin ihren Anmeldetag nicht verliert, selbst wenn er Artikel 76 (1) EPÜ nie erfüllte. Das führt zu dem überraschenden Ergebnis, dass die Rechtsgrundlage für den Anmeldetag und damit die "Existenz" der nachfolgenden Anmeldung nicht nur von materiellrechtlichen Kriterien, sondern auch von Verfahrensschritten im Verfahren der Vorgängerin abhängt, die unternommen wurden, nachdem die Anmeldungen voneinander unabhängig wurden.

3.2.25 Auf den ersten Blick erscheint es, als führte die Theorie des rückwirkenden Verlusts des Anmeldetags zum selben Ergebnis wie die Theorie der ungültigen Anmeldung, die sich aus dem Grundsatz des makellosen Stammbaums herleitet. Wie nachstehend dargelegt wird, ist dies nicht der Fall.

3.2.26 Die Dispositionsmaxime verwehrt es einem Organ des EPA, über eine nicht anhängige Anmeldung zu entscheiden. Das heißt, dass die die Teilanmeldung prüfende Abteilung nicht das Verfahren der früheren Anmeldung "wieder eröffnen" kann, um über die Existenz des Anmeldetags zu befinden. Somit lässt sich das unter Nummer 3.2.24 dargelegte Problem nicht beheben. Dies scheint für die Theorie der ungültigen Anmeldung, zumindest in der Auslegung in T 1158/01, nicht zu gelten.

3.2.27 Nach der Theorie der ungültigen Anmeldung muss eine Abteilung oder Kammer der Entscheidung T 1158/01 zufolge bei der Prüfung einer Teilanmeldung die "Gültigkeit" aller früheren Teilanmeldungen (Vorgängerin und alle vorangegangenen Generationen) prüfen und kann aufgrund dieser Prüfung zu dem Schluss kommen, dass die Anmeldung de facto keinen Anmeldetag hat. Nun kann die Tatsache, dass die nicht anhängige Anmeldung auf ihren Anmeldetag hin geprüft werden könnte, nur bedeuten, dass der Anmeldetag als eine objektiv existierende "Eigenschaft" der Anmeldung betrachtet wird, und nicht als Rechtsfolge einer Entscheidung im Verfahren der Vorgängerin. Es ist unklar, wie dieses Konzept eines Anmeldetags mit dem Grundsatz zu vereinbaren ist, dass der Anmeldetag von der Eingangsstelle zuerkannt wird.

3.2.28 Abgesehen von diesen konzeptionellen Problemen fällt es der Kammer schwer, eine plausible Erklärung dafür zu finden, warum eine Abteilung eine Anmeldung prüfen sollte, für die gar keine Prüfungsgebühr (bzw. nicht einmal eine Recherchengebühr) entrichtet wurde. Dass diese Prüfung zudem von der für die nachfolgende Teilanmeldung zuständigen Abteilung durchgeführt werden sollte, erscheint noch absonderlicher. Es sei daran erinnert, dass im Zuge der Prüfung, ob die vorangehende Teilanmeldung Artikel 76 (1) EPÜ erfüllt, der Anspruchsgegenstand dieser Teilanmeldung wiederum im Hinblick auf ihre Vorgängerin untersucht werden muss. Somit müsste eine Abteilung, die feststellen will, ob die vorangehende Anmeldung im Sinne des Grundsatzes des makellosen Stammbaums "gültig" war, einen Gegenstand prüfen, der sich unter Umständen völlig von dem in der ihr vorliegenden Anmeldung unterscheidet. Theoretisch könnte die Abteilung einen Gegenstand zu prüfen haben, der unter eine ganz andere IPC-Klasse fällt als diejenige, mit der sie normalerweise befasst ist, zumal ja die Möglichkeit der Teilanmeldung in erster Linie für uneinheitliche Erfindungen geschaffen wurde.

3.2.29 Ein ähnlicher Widerspruch ergibt sich im Hinblick auf Beschwerden: unter den vorstehend beschriebenen Umständen müsste eine Beschwerde gegen die Feststellung der Ungültigkeit der Stammanmeldung im Verfahren der Teilanmeldung eingelegt werden, obwohl die zugrunde liegenden Fragen und Sachverhalte ein anderes Verfahren betreffen, nämlich das der Vorgängerin.

3.2.30 Das Konzept des rückwirkenden Verlusts eines Anmeldetags ist - ebenso wie das Konzept der "Ungültigkeit" - nicht nur unpraktikabel, sondern auch überflüssig. Der unstrittige Rechtszweck von Artikel 76 (1) EPÜ, nämlich zu verhindern, dass für einen über eine Folge von Anmeldungen "eingeschmuggelten" zusätzlichen Gegenstand Schutz gewährt wird, lässt sich auf einfache und direkte Weise erreichen. Die Offenbarung in der Teilanmeldung der jüngeren Generation muss daraufhin geprüft werden, ob sie in allen früheren Anmeldungen in der ursprünglich eingereichten Fassung enthalten war, d. h. in allen vorangegangenen Generationen. Dieser Grundsatz wurde im Wesentlichen in den Entscheidungen T 655/03, Nummer 3.3.1 der Entscheidungsgründe, T 643/02, Nummer 2.1 der Entscheidungsgründe, und selbst T 555/00, Nummer 1.5 der Entscheidungsgründe, formuliert. Hierfür muss nur der Gegenstand geprüft werden, mit dem die zuständige Abteilung ohnehin befasst ist, und es ist keine Post-mortem-Analyse des Rechtsstands der früheren Anmeldungen erforderlich. So lässt sich auch eine gegenseitige Abhängigkeit der Anmeldungen vermeiden.

3.2.31 Aufgrund der vorstehenden Überlegungen kann sich die Kammer nicht der in T 1158/01 vertretenen Theorie anschließen. Das Verfahrenssystem des EPÜ lässt nämlich das Konzept rückwirkend "ungültiger" Patentanmeldungen oder Patente gar nicht zu. Ohne dieses Konzept bleibt die angenommene "Gültigkeit" einer Teilanmeldung jüngerer Generation von der "Gültigkeit" ihrer Vorgängerinnen unberührt. Da die Theorie des "makellosen Stammbaums" auf einer bestimmten Auslegung von Artikel 76 (1) EPÜ basiert, obliegt es den Kammern, Artikel 76 (1) EPÜ so auszulegen, dass er mit dem Verfahrenssystem des EPÜ in Einklang steht.

3.2.32 Wie vorstehend ausgeführt, fasst die Kammer die Bedingung "kann … für einen Gegenstand eingereicht werden, der nicht über den Inhalt der früheren Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung hinausgeht" als Voraussetzung für die Erteilung auf. Ist diese Bedingung erfüllt, so kann die Teilanmeldung zum Patent führen, und der "als Anmeldetag geltende Tag" (d. h. der Anmeldetag der Stammanmeldung) wird bestätigt. Ist die Bedingung nicht erfüllt, so ist die Teilanmeldung nach Artikel 97 (1) EPÜ in Verbindung mit Artikel 76 (1) EPÜ zurückzuweisen. Die Rechtswirkung der Zurückweisung ist dieselbe wie bei einer Zurückweisung wegen Nichterfüllung eines anderen materiellrechtlichen Erfordernisses und erstreckt sich nicht auf einen rückwirkenden Verlust des Anmeldetags.

3.2.33 Des Weiteren kann Artikel 76 (1) EPÜ nach dieser Auslegung auch bei der Bestimmung des maßgeblichen Tags im Sinne von Artikel 54 (3) EPÜ in Bezug auf spätere Anmeldungen eine Rolle spielen (Rechtswirkung d). Dieser Auslegung zufolge kann die Abteilung, die die spätere Anmeldung prüft, einen Gegenstand der früheren Anmeldung als Stand der Technik in Betracht ziehen oder ausschließen, ohne über die "Gültigkeit" der früheren Anmeldung befinden zu müssen, die den strittigen Gegenstand enthält. Es reicht aus, den als Anmeldetag geltenden Tag der früheren Anmeldung festzustellen, die den Gegenstand der späteren Anmeldung vorwegnimmt.

4. In den folgenden Absätzen wird aufgezeigt, dass für die vorliegende Beschwerde die Beantwortung der Frage entscheidend ist, ob man bei der Prüfung der Erfüllung von Artikel 76 (1) EPÜ eher der vorstehenden Auslegung dieses Artikels durch die Kammer zuneigt oder den Interpretationen in den Entscheidungen T 904/97 und T 1158/01 (makelloser Stammbaum) bzw. T 720/02, T 797/02 und T 90/03 (Anspruchsverschachtelung).

Dabei sollte im Übrigen nicht vergessen werden, dass die vorliegende Anmeldung gegenüber der ursprünglich eingereichten Fassung unverändert bleibt. Es obliegt der Großen Beschwerdekammer, im Fall G 1/05 (Vorlageentscheidung T 39/03) zu entscheiden, ob eine Teilanmeldung die Erfordernisse des Artikels 76 (1) EPÜ zum Zeitpunkt ihrer Einreichung erfüllen muss.

5. Nach Auslegung der hier entscheidenden Kammer wäre es für die Erfüllung von Artikel 76 (1) EPÜ hinreichend, dass sich die Offenbarung der Anmeldung unmittelbar, eindeutig und einzeln aus dem Offenbarungsgehalt jeder vorangehenden Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung ableiten lässt.

5.1 Der Gegenstand der vorliegenden Anmeldung A3 war unbestreitbar in A2 in der ursprünglich eingereichten Fassung offenbart, da A3 und A2 in der ursprünglich eingereichten Fassung identisch sind.

5.2 Zur Frage, ob sich der Gegenstand der vorliegenden Anmeldung A3 unmittelbar und eindeutig aus A1 und A0 ableiten lässt, ist festzustellen, dass Anspruch 1 der vorliegenden Anmeldung auf der Ausführungsform in Abbildung 14 basiert. Diese Ausführungsform beschreibt eine Schaltung zur Prüfung des Ausgangssignals von Source- und Gate-Leitungs-Treiberschaltungen (veröffentlichte Anmeldung, Absätze [0044] bis [0046]). Dieser Passus der Beschreibung ist identisch mit den entsprechenden Teilen von A1 und A0 (vgl. A1 in der veröffentlichten Fassung, S. 10, Zeilen 32 bis 50; A0 in der veröffentlichten Fassung, S. 9, Zeile 56 bis S. 10, Zeile 15).

5.3 Die Prüfungsabteilung erhob in diesem Zusammenhang den folgenden Einwand: Da in A1 in der ursprünglich eingereichten Fassung eine Aktivmatrixtafel mit Dünnfilmtransistoren (TFTs) beansprucht wurde, in der die TFTs der Gate- und der Source-Leitungs-Treiberschaltung komplementär sind und eine Gate-Länge haben, die kürzer als diejenige der TFTs der Bildelementenmatrix ist (vgl. A1 in der veröffentlichten Fassung, S. 3, Zeilen 46 bis 52), schlösse der Fachmann aus A1, dass sich die Ausführungsform in Abbildung 14 von A1 auf eine solche Aktivmatrixtafel bezieht. Da in Anspruch 1 der vorliegenden Anmeldung A3 die Gate-Länge der Transistoren nicht festgelegt ist, vertrat die Prüfungsabteilung die Auffassung, dass der Gegenstand der vorliegenden Anmeldung A3 über den von A1 in der ursprünglich eingereichten Fassung hinausgehe.

5.4 Die Kammer ist von dieser Analyse nicht überzeugt, denn dem Fachmann ist bei der Lektüre von A1 klar, dass mit der in der Ausführungsform der Abbildung 14 beschriebenen Schaltung nur geprüft wird, ob korrekte Ausgangssignale an den Source- und Gate-Leitungen vorliegen, und dass es demnach im Hinblick auf die Prüfung der Source- und Gate-Leitungen irrelevant ist, welcher Art die in den Treiberschaltungen und der Bildelementenmatrix verwendeten Transistoren sind (vgl. T 545/92, Nr. 3.1 der Entscheidungsgründe; T 211/95, Nr. 4.4 der Entscheidungsgründe).

5.5 Somit gelangt die Kammer zu dem Schluss, dass sich der Gegenstand der vorliegenden Anmeldung A3 unmittelbar und eindeutig aus A0, A1 und A2 in der ursprünglich eingereichten Fassung ableiten lässt. Nach Maßgabe der Auslegung der Kammer, die vorstehend unter Nr. 3 ausgeführt wurde, wäre Artikel 76 (1) EPÜ erfüllt, und der Fall wäre gemäß Artikel 111 (1) EPÜ an die erste Instanz zurückzuverweisen.

6. Würde hingegen die Theorie des makellosen Stammbaums aus den Entscheidungen T 904/97 und T 555/00 angewandt (und zwar gemäß der - nach Ansicht dieser Kammer falschen - Interpretation von T 555/00 durch die Prüfungsabteilung in der angefochtenen Entscheidung und später in T 1158/01), so hätte dies zur Folge, dass die Beschwerde zurückzuweisen wäre.

Da die vorangehende Anmeldung A2 wegen Verstoßes gegen Artikel 76 (1) EPÜ zurückgewiesen und diese Entscheidung nicht angefochten wurde, müsste die vorliegende Anmeldung gleichfalls als "ungültig" gelten (vgl. T 904/97, Nr. 4.1.2 der Entscheidungsgründe, und T 1158/01, Nr. 3.2.1 der Entscheidungsgründe).

7. Die Beschwerde müsste auch zurückgewiesen werden, wenn das in den Entscheidungen T 720/02 und T 797/02 entwickelte Erfordernis der Anspruchsverchachtelung als zwingende Konsequenz einer richtigen Auslegung des Artikels 76 (1) EPÜ erachtet würde.

Wie vorstehend unter Nummer 5.3 erwähnt, werden in Anspruch 1 der vorliegenden Anmeldung A3 anders als in Anspruch 1 von A1 in der ursprünglich eingereichten Fassung nicht die relativen Gate-Längen verschiedener Transistoren festgelegt. Damit ist der Gegenstand der vorliegenden Anmeldung A3 nicht vom Anspruchsgegenstand von A1 umfasst bzw. verschachtelt (vgl. T 797/02, Nr. 2.2 der Entscheidungsgründe).

8. Nach Artikel 112 (1) a) EPÜ befasst die Beschwerdekammer, bei der ein Verfahren anhängig ist, zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsanwendung oder wenn sich eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung stellt, von Amts wegen … die Große Beschwerdekammer, wenn sie hierzu eine Entscheidung für erforderlich hält.

Unter den vorstehenden Nummern 5 bis 7 wurde gezeigt, dass die richtige Auslegung von Artikel 76 (1) EPÜ in Bezug auf Teilanmeldungen jüngerer Generation eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung darstellt, die für die vorliegende Beschwerde entscheidend ist. Da die hier entscheidende Kammer die ratio decidendi mehrerer jüngerer Entscheidungen anderer Beschwerdekammern nicht teilt, hält sie es für angebracht, zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsanwendung die Große Beschwerdekammer mit dieser Frage zu befassen.

ENTSCHEIDUNGSFORMEL

Aus diesen Gründen wird entschieden:

Der Großen Beschwerdekammer werden folgende Fragen vorgelegt:

1) Ist es bei einer Folge von Anmeldungen bestehend aus einer (ursprünglichen) Stammanmeldung und darauf folgenden Teilanmeldungen, von denen jede einzelne aus der jeweiligen Vorgängerin ausgeschieden wurde, eine notwendige und hinreichende Bedingung dafür, dass eine Teilanmeldung dieser Folge den Erfordernissen des Artikels 76 (1) Satz 2 EPÜ genügt, dass sich die gesamte Offenbarung dieser Teilanmeldung unmittelbar, eindeutig und einzeln aus dem Offenbarungsgehalt jeder vorangehenden Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung ableiten lässt?

2) Falls diese Bedingung nicht hinreichend ist, wird mit diesem Satz dann zusätzlich verlangt,

a) dass der Anspruchsgegenstand dieser Teilanmeldung in den Anspruchsgegenständen der vorangehenden Teilanmeldungen verschachtelt sein muss

oder

b) dass sämtliche dieser Teilanmeldung vorangehenden Teilanmeldungen das Erfordernis des Artikels 76 (1) EPÜ erfüllen müssen?

Quick Navigation