T 0495/95 () of 10.4.1997

European Case Law Identifier: ECLI:EP:BA:1997:T049595.19970410
Datum der Entscheidung: 10 April 1997
Aktenzeichen: T 0495/95
Anmeldenummer: 86100467.9
IPC-Klasse: E02D 19/16
E02D 29/00
E02D 31/02
E02D 05/18
E02D 03/12
Verfahrenssprache: DE
Verteilung: C
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Bibliografische Daten verfügbar in: DE
Fassungen: Unpublished
Bezeichnung der Anmeldung: Abdichtung und deren Herstellungsverfahren zur Schaffung tragfähiger, abbaufähiger Bodenmassen für die Ausführung von Untertagebauwerken, wie Hohlraumbauten oder dergleichen
Name des Anmelders: Keller Grundbau GmbH
Name des Einsprechenden: Hochtief Aktiengesellschaft
Kammer: 3.2.03
Leitsatz: -
Relevante Rechtsnormen:
European Patent Convention 1973 Art 83
European Patent Convention 1973 Art 100(b)
Schlagwörter: Ausreichende Offenbarung (nein)
Orientierungssatz:

-

Angeführte Entscheidungen:
T 0226/85
T 0409/91
T 0435/91
Anführungen in anderen Entscheidungen:
-

Sachverhalt und Anträge

I. Die vorliegende Beschwerde, die am 12. Juni 1995 unter gleichzeitiger Entrichtung der entsprechenden Gebühr eingelegt wurde, richtet sich gegen die am 7. Februar 1995 verkündete und am 11. April 1995 schriftlich begründete Entscheidung der Einspruchsabteilung. Mit dieser Entscheidung wurde das europäische Patent 0 188 282 in geändertem Umfang aufrechterhalten. Der Entscheidung lagen die am 31. Januar 1995 eingereichten Ansprüche 1 und 2 sowie die am 4. Oktober 1993 vorgelegte Beschreibung und die Zeichnungen in erteilter Fassung zugrunde. Der Anspruch 1 lautete wie folgt:

"1. Abdichtung zur Schaffung tragfähiger, abbaufähiger Bodenmassen für die Ausführung von Untertagebauwerken, wie Hohlraumbauten oder dgl., in geschlossener Bauweise, die aus als Umschließung von in Form eines Dachs oder dgl. in den Boden eingebrachten Dichtwänden (2) gebildet ist und die abzubauenden Bodenmassen hermetisch gegen Grundwasser abdichtet, wobei die Dichtwände (2) der Abdichtung aus einem durch Injizieren unter Druck einbringbaren Gemisch bestehen,

dadurch gekennzeichnet,

daß das Gemisch auf der Basis Bentonit/Füller/Zement die Dichtwände als derart elastisch verformbare Abdichthülle (3) in Feinsand oder Schluff ausbildet, daß ein zusätzlicher Verdichtungseffekt durch den Druck des von außen anstehenden Grundwassers auf die entwässerten, von den Dichtwänden (2) eingeschlossenen Bodenmassen (5) erzielt wird, und daß die Abdichthülle (3) für eine Vakuumbeaufschlagung des umschlossenen Bodens (5) luftdicht ausgebildet ist."

II. Die Einspruchsabteilung hielt das Erfordernis einer ausreichenden Offenbarung für erfüllt, weil die Beschreibung und die Ansprüche des Streitpatents ihres Erachtens genügend Angaben enthielten, um die Erfindung auszuführen. Der Fachmann war durch die Lehre des Streitpatents in der Lage, die gewünschte "elastische Verformbarkeit" der Abdichthülle, die den angestrebten "zusätzlichen Verdichtungseffekt" erlauben sollte, sowohl durch statische Berechnungen als auch durch auf seinem allgemeinen Wissen basierende routinegemäße Erprobung zu ermitteln und zu beeinflussen, indem er zum Beispiel eine bestimmte Zusammensetzung des Gemischs und einen bestimmten Füller wählte.

III. Die Beschwerdebegründung ging am 10. August 1995 ein. Am 10. April 1997 fand eine mündliche Verhandlung statt.

IV. Die Beschwerdeführerin (Einsprechende) machte in ihren Schriftsätzen und in der mündlichen Verhandlung, in der sie sich auch auf ein am 13. März 1997 vorgelegtes Gutachten von Frau Dr.-Ing. M. Geil berief, geltend, daß die Lehre nach dem Streitpatent nicht so deutlich und vollständig offenbart sei, daß ein Fachmann sie ausführen könne.

Nach Patentanspruch 1 sollten die Dichtwände elastisch verformbar ausgebildet sein. In der gesamten Streitpatentschrift finde sich hierzu lediglich die Information, daß die Dichtwände auf der Basis von Bentonit/Füller/Zement ausgeführt werden sollten. Es finde sich keinerlei Hinweis darauf, mit welchem Füller gearbeitet werden solle und es finde sich auch keinerlei Angabe dazu, in welchem Anteil die drei Komponenten vorliegen sollten. Da Abdichtwände auf der Basis von Bentonit/Füller/Zement grundsätzlich aber nicht als elastisch verformbare Dichtwände vor dem Anmeldetag des Streitpatents bekannt gewesen seien, müsse sich der Fachmann fragen, wie er die elastische Verformbarkeit erreichen solle. Die Streitpatentschrift liefere ihm dazu weder explizit noch implizit irgendwelche Hinweise. Daraus schloß die Beschwerdeführerin, daß der Fachmann keinesfalls im Rahmen einfacher Versuche ermitteln könne, wie die Dichtwände elastisch verformbar einzurichten seien. Mit zumutbarem Aufwand und ohne erfinderisches Zutun sei es jedenfalls nicht möglich.

V. Die Beschwerdegegnerin (Patentinhaberin) stützte sich auf die Beschreibung des Streitpatents in Spalte 1, Zeilen 32 bis 41, Spalte 2, Zeilen 35 bis 43 sowie Spalte 3, Zeilen 26 bis 38 und argumentierte, der Gegenstand des geltenden Anspruchs 1 sei in der Beschreibung sehr wohl so offenbart, daß ein Fachmann die Erfindung ausführen könne. Sie brachte weiter vor, daß die Erfindung nicht angemessen geschützt werden könne, wenn man bei ihrer Beschreibung auf eine "funktionelle" Definition verzichte, da die "elastische Verformbarkeit" der Abdichthülle in Verbindung mit dem "zusätzlichen Verdichtungseffekt" zu lesen sei und nur so verstanden werden könne, daß die mögliche Verformbarkeit der Abdichthülle größer sei als diejenige, die für bekannte Bauteile üblich sei, bei denen es auf größtmögliche Starrheit ankomme. Die Frage, ob weiteres erfinderisches Handeln notwendig sei, um die Erfindung in einigen unter den Anspruch fallenden, aber außerhalb des Ausführungsbeispiels liegenden Bereichen auszuführen, sei zu verneinen, da der Fachmann auf dem Gebiet des Spezialtiefbaus wisse, daß je nach den Bodeneigenschaften und der Abdichthüllengeometrie unterschiedliche Gemische verwendet werden müßten, um die gewünschte Elastizität der Abdichthülle nach der Verdichtung der eingeschlossenen Bodenmassen zu erreichen. Es sei deshalb nicht erforderlich, den Patentanspruch 1 auf ein ganz bestimmtes Gemisch zu beschränken oder die Art des Füllers genau anzugeben, da dieser von den tatsächlichen Bodenverhältnissen abhänge und vom Fachmann, der ja Routineversuche vor Ort beherrsche, mit Hilfe seines Fachwissens bestimmt werden könne.

VI. Die Beschwerdeführerin beantragte die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und den Widerruf des Patents.

Die Beschwerdegegnerin beantragte, die Beschwerde zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

1. Die Beschwerde ist zulässig.

2. Die Anfechtung des Patents wegen unzureichender Offenbarung gemäß Artikel 100 b) EPÜ bedingt eine behauptete Verletzung von Artikel 83 EPÜ, der vorschreibt, daß die Erfindung "so deutlich und vollständig zu offenbaren [ist], daß ein Fachmann sie ausführen kann".

Strittig ist, ob der gesamte Gegenstand des Anspruchs 1 vom Fachmann nachgearbeitet werden kann, da eines seiner wesentlichen technischen Merkmale, die aus einem Gemisch auf der Basis Bentonit/Füller/Zement ausgebildeten Dichtwände durch seine Funktion definiert ist.

3. Nach der Praxis der Beschwerdekammern (vgl. T 226/85, ABl. EPA 1988, 336 und T 435/91, ABl. 1995, 188) ist die Frage der ausreichenden Offenbarung bei allen - wie auch immer definierten - Erfindungen nach denselben Maßstäben zu beurteilen; es spielt keine Rolle, ob die Erfindung durch strukturelle Merkmale oder aber durch ihre Funktion definiert wird. In beiden Fällen kann das Erfordernis der ausreichenden Offenbarung nur so zu verstehen sein, daß der Fachmann in der Lage sein muß, den gesamten Gegenstand der Ansprüche ohne unzumutbares Herumexperimentieren und ohne eigenes erfinderisches Zutun auszuführen.

4. Die Besonderheit der "funktionellen" Definition einer Komponente eines Merkmals besteht darin, daß diese Komponente nicht durch Strukturmerkmale, sondern durch ihre Wirkung definiert wird. Eine solche Definition bezieht sich also nicht auf eine konkrete Komponente oder Komponentengruppe, sondern ganz abstrakt auf eine unbestimmte Vielzahl möglicher Alternativen, die ganz unterschiedlich zusammengesetzt sein können, solange sie das gewünschte Ergebnis liefern. Konsequenterweise müssen dem Fachmann all diese Alternativen auch zur Verfügung stehen, wenn die Definition und der Anspruch, in dem sie enthalten ist, den Erfordernissen der Artikel 83 bzw. 100 b) EPÜ genügen sollen.

Diesem Gedanken liegt der allgemeine Rechtsgrundsatz zugrunde, daß der Schutzbereich eines Patents dem technischen Beitrag entspricht, den die Offenbarung der darin beschriebenen Erfindung zum Stand der Technik leistet; daher darf sich das mit dem Patent verliehene Monopol nicht auf Gegenstände erstrecken, die dem Fachmann auch nach der Lektüre der Patentschrift noch nicht zur Verfügung stehen (siehe auch T 409/91, ABl. EPA 1994, 653, Pkt. 3.4 und 3.5).

5. Auf die Frage, wieviele Einzelheiten in der Patentschrift notwendig sind, damit ihre praktische Umsetzung im gesamten, umfassenden Anspruchsbereich gewährleistet ist, gibt es keine einheitliche Antwort, da hierüber nur nach Sachlage des jeweiligen Einzelfalls entschieden werden kann. Es liegt jedoch auf der Hand, daß die vorhandenen Informationen den Fachmann in die Lage versetzen müssen, das angestrebte Ergebnis im gesamten Bereich des Anspruchs, der die betreffende "funktionelle" Definition enthält, ohne unzumutbaren Aufwand zu erreichen, und daß die Beschreibung daher, gelesen mit dem einschlägigen allgemeinen Fachwissen, eine in sich geschlossene technische Lehre vermitteln muß, wie man zu diesem Ergebnis gelangt.

6. In der Regel sollte sich bei Ausführung der Lehre nach den wesentlichen, konkreten technischen Merkmalen der Ansprüche der Erfolg einstellen, sofern sich der Fachmann genau an die Anweisungen in der Beschreibung hält und sein Fachwissen richtig einsetzt, um das gewünschte Ziel zu erreichen. Wo es wirklich schwierig ist, die Erfindung nur durch ihre Bestandteile zu definieren, kann die Definition durch funktionelle Begrenzungen "abgerundet" werden. Die angegebenen Ergebnisse müssen unmittelbar durch einfache Erprobung erreicht werden können.

7. Deshalb muß geprüft werden, ob die vorliegende Patentschrift eine Lehre offenbart, die dem Fachmann das ganze Variantenspektrum, das unter die "funktionelle" Definition des betreffenden Anspruchs fällt, zugänglich macht. Bezüglich der zu erreichenden funktionellen Merkmale erfährt der Fachmann aus dem Patentanspruch und aus der gesamten Streitpatentschrift lediglich, daß ein zusätzlicher Verdichtungseffekt durch den Druck des Grundwassers auf die eingeschlossenen Bodenmassen erzielt wird, und zwar dadurch, daß die dachförmig angeordneten Dichtwände durch Zugabe eines Füllers zu dem auf der Basis Bentonit/Zement gefertigten Gemisch als elastisch verformbare ausgebildet sind.

8. Somit steht fest, daß die vorliegende Definition des Gemischs nicht mehr ist, als eine Aufforderung zur Durchführung einer Untersuchung zur Ermittlung von Gemischen, die die in Anspruch 1 angegebenen "funktionellen" Erfordernisse erfüllen. Die Beschwerdegegnerin versucht also mit anderen Worten, durch die im vorliegenden Anspruch gewählte Definition nicht nur die Lösung der technischen Aufgabe zu beanspruchen, die in der Bereitstellung der dem Fachmann durch die Offenbarung der Patentschrift tatsächlich zugänglich gemachten Abdichtungen besteht, sondern darüber hinaus auch alle anderen möglichen Lösungen dieser Aufgabe, die auf dem Prinzip der Bentonit/Zement- Mischung mit einem "geeigneten Füller" basieren, wobei es keine brauchbare technische Anleitung dafür gibt, wie man mit hinreichender Aussicht auf Erfolg zu geeigneten "Füllern" gelangt, die den Abdichtwänden nicht nur neue elastisch verformbare Eigenschaften, sondern darüber hinaus auch noch eine im Anspruch 1 beanspruchte Luftdichtheit verleihen. Weder der Stand der Technik, bei dem es bei Abdichtungen auf der Basis von Bentonit/Zement normalerweise auf größtmögliche Starrheit angekommen war, noch die Patentschrift und, in Anbetracht des vorgelegten Gutachtens (siehe Punkt 4.3, Seite 8 bis 10; Punkt 6, Seite 13), noch das einschlägige allgemeine Fachwissen mit Kenntnissen über Eigenschaften der zu durchbrechenden Bodenmassen geben Auskunft darüber, wie solche "geeignete Füller" ausfindig gemacht oder nach welchen Kriterien sie ausgewählt werden könnten. Ein Herumexperimentieren in gewissen Grenzen wäre dem Fachmann nur dann zuzumuten, wenn ihm die Beschreibung oder sein allgemeines Fachwissen eine brauchbare Anleitung liefern würde, die ihn nach Auswertung anfänglicher Fehlschläge zwangsläufig und ohne Umwege zum Erfolg führen würde (vgl. T 0226/85, ABl. EPA 1988, 336). An einer derartigen Anleitung fehlt es hier jedoch.

Daher ist die Kammer zu dem Ergebnis gekommen, daß das Streitpatent die mit den vorgelegten Ansprüchen angegebene Erfindung nicht in der in Artikel 83 EPÜ vorgeschriebenen Weise offenbart, so daß das Patent keinen Bestand haben kann.

ENTSCHEIDUNGSFORMEL

Aus diesen Gründen wird entschieden:

1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.

2. Das europäische Patent Nr. 0 188 282 wird widerrufen.

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