T 0220/89 () of 7.10.1992

European Case Law Identifier: ECLI:EP:BA:1992:T022089.19921007
Datum der Entscheidung: 07 October 1992
Aktenzeichen: T 0220/89
Anmeldenummer: 80103866.2
IPC-Klasse: C25B 1/00
C01G 56/00
C01G 43/00
Verfahrenssprache: DE
Verteilung: A
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Bibliografische Daten verfügbar in: DE
Fassungen: OJ | Unpublished
Bezeichnung der Anmeldung: Verfahren zur elektrochemischen Einstellung der Pu(VI)-Oxidationsstufe
Name des Anmelders: Siemens AG
Name des Einsprechenden: Kernforschungszentrum Karlsruhe GmbH
Kammer: 3.4.02
Leitsatz: -
Relevante Rechtsnormen:
European Patent Convention 1973 Art 56
Schlagwörter: Erfinderische Tätigkeit (nein)
Inventive step (no)
Orientierungssatz:

-

Angeführte Entscheidungen:
G 0001/91
Anführungen in anderen Entscheidungen:
-

Sachverhalt und Anträge

I. Die Beschwerdegegnerin ist Inhaberin des einen unabhängigen und vier davon abhängige Ansprüche umfassenden europäischen Patents Nr. 23 585 mit der Anmeldenummer 80 103 866.2

II. Die Beschwerdeführerin (Einsprechende) erhob gegen das Patent wegen mangelnder erfinderischer Tätigkeit seines Gegenstandes im Hinblick auf folgende Dokumente Einspruch:

D1: J. Inorg. Nucl. Chem., London 1958, Band 7, S. 245 - 256,

D2: H. Schmieder, F. Baumgärtner, H. Goldacker und H. Hausberger: "Elektrolytische Verfahren im Purex- Prozeß", Bericht der Kernforschungszentrum Karlsruhe GmbH Nr. KfK 2082, Dez. 1974, S. 4 -10, 75 - 84 und 97,

D3: G. Kortüm: Lehrbuch der Elektrochemie, 3. Aufl., Weinheim/Bergstraße, 1962, S. 398.

Zum Nachweis, daß D2 eine öffentliche Druckschrift ist, führte sie unter anderem aus, daß D2 im Halbjahresverzeichnis Januar - Juni 1975 der Deutschen Bibliothek in Frankfurt/M. in der Druckschrift "Deutsche Bibliographie" 1976 auf Seite 544 referiert wäre und reichte eine Kopie ein.

III. Nach Zwischenbescheiden, in denen auf das Dokument

D4: BE-A-874 887

hingewiesen wurde, und nach mündlicher Verhandlung wurde von der Einspruchsabteilung in einer Zwischenentscheidung beschlossen, das Patent in geändertem Umfang - und zwar mit drei unabhängigen Verfahrensansprüchen und einem abhängigen Anspruch - aufrechtzuerhalten. Dies wurde damit begründet, daß die Gegenstände der unabhängigen Ansprüche im Hinblick auf die Entgegenhaltungen neu wären und die notwendige erfinderische Tätigkeit aufwiesen.

IV. Gegen diese Entscheidung legte die Beschwerdeführerin (Einsprechende) Beschwerde ein.

V. In einem nach der Einspruchsfrist eingegangenen Schreiben vertrat die Beschwerdeführerin die Ansicht, daß die Ansprüche zurückzuweisen wären, weil die Ansprüche 1, 3 und 4 nicht einheitlich wären.

VI. Die Kammer legte daraufhin mit einer Zwischenentscheidung die folgende Rechtsfrage der Großen Beschwerdekammer vor:

Führt die Anwendung von Regel 61 a EPÜ (vgl. insbesondere Regel 27, 29 und 30 EPÜ) im Falle einer geänderten Fassung des europäischen Patents zu dem Schluß, daß die gemäß Artikel 82 EPÜ erforderliche Einheitlichkeit der Erfindung unter die in Artikel 102 (3) EPÜ genannten "Erfordernisse dieses Übereinkommens" fällt, denen das in geändertem Umfang aufrechterhaltene Patent genügen muß, auch wenn sich Artikel 82 EPÜ auf eine europäische Patentanmeldung bezieht und Artikel 100 EPÜ die Einheitlichkeit der Erfindung nicht als Einspruchsgrund vorsieht?

VII. Die Große Beschwerdekammer beantwortete diese Rechtsfrage mit ihrer Entscheidung G 01/91 wie folgt:

"Die Einheitlichkeit der Erfindung (Artikel 82 EPÜ) gehört nicht zu den Erfordernissen, denen ein europäisches Patent und die Erfindung, die es zum Gegenstand hat, bei Aufrechterhaltung in geändertem Umfang nach Artikel 102 Absatz 3 EPÜ zu genügen hat. Dementsprechend ist es im Einspruchsverfahren unbeachtlich, wenn das europäische Patent in der erteilten Fassung oder nach Änderung dem Erfordernis der Einheitlichkeit nicht entspricht."

VIII. Die Ansprüche sind gegenüber den der Zwischenentscheidung der Einspruchsabteilung zugrundeliegenden Ansprüchen nicht verändert worden. Die unabhängigen Ansprüche lauten wie folgt:

"1. Verfahren zur elektrochemischen Einstellung der Pu(VI)-Oxidations-Stufe in einer salpetersauren U6+/Pu4+- Nitrat-Ausgangslösung, dadurch gekennzeichnet, daß die Ausgangslösung im ständigen Kreislauf bei einer Elektrodenspannung bei 3 Volt durch den Anodenraum einer Elektrolysezelle geführt wird, während der vom Anodenraum durch ein Diaphragma getrennte Kathodenraum von 2 - 3 molarer HNO3 im Kreislauf durchströmt wird, wobei bei einer Temperatur von etwa 70°C die Stromdichten an der Anode auf 20 bis 100 mA/cm2 und an der Kathode auf 100 bis 500 mA/cm2 eingestellt werden."

"3. Verfahren zur elektrochemischen Einstellung der Pu(VI)-Oxidations-Stufe in einer salpetersauren U6+/Pu4+- Nitrat-Ausgangslösung, dadurch gekennzeichnet, daß die Ausgangslösung im ständigen Kreislauf bei einer Elektrodenspannung bei 3 Volt durch eine Elektrolysezelle ohne Diaphragma geführt wird, der kathodenseitig HNO3 zugeführt und die kathodenseitig gekühlt wird, mit einer Betriebstemperatur von 85°C und Stromdichten im Kathodenbereich von 100 mA/cm2 sowie im Anodenbereich von 50 mA/cm2."

"4. Verfahren zur elektrochemischen Einstellung der Pu(VI)-Oxidations-Stufe in einer salpetersauren U6+/Pu4+- Nitrat-Ausgangslösung, dadurch gekennzeichnet, daß die Ausgangslösung im ständigen Kreislauf bei einer Elektrodenspannung bei 3 Volt durch eine Elektrolysezelle geführt wird, deren Anode mit einer Umdrehungszahl von 10 bis 100 U/min rotiert, wobei die Anodenstromdichte bei einer Arbeitstemperatur von ca. 70°C etwa 200 mA/cm2 beträgt."

Der Anspruch 2 ist vom Anspruch 1 abhängig.

IX. Zur Stützung ihres Antrags trug die Beschwerdeführerin im wesentlichen folgende Argumente vor:

Der Fachmann könne durch Optimierung eines an sich bekannten Verfahrens und Auswahl von Parametern aus einer begrenzten Anzahl von Möglichkeiten mittels routinemäßiger Erprobung zur vermeintlichen Erfindung gelangen. Sie hat dabei - im Einspruchsschriftsatz S. 7 unten - auf S. 5 Abs. 1 der Zwischenentscheidung der Einspruchsabteilung verwiesen, wonach die dem Patent zugrundeliegenden Aufgabe darin gesehen wurde, das aus D4 bekannte Verfahren zu optimieren. Diese Optimierung könne zwar aufwendig sein, begründe aber keine erfinderische Tätigkeit. Die Verwendung rotierender Elektroden sei in der Elektrochemie allgemein bekannt.

Darüber hinaus gäben ihm u. a. D2 und D3 Hinweise, um zur Lösung zu gelangen. D2 beschreibe die elektrochemischen Grundlagen des sogenannten Purex-Prozesses (Purex = Plutonium and Uranium Recovery by Extraction), bei dem Pu(III) elektrochemisch zu Pu(IV) oxidiert werde, wobei eine weitergehende Oxidation zu Pu(VI) vermieden werde. Aus den Bedingungen für eine solche Verhinderung der Pu(VI)-Bildung aus Pu(IV) ergäben sich für den Fachmann im Umkehrschluß Hinweise, wie die Bedingungen für die elektrochemische Oxidation von Pu(IV) zu Pu(VI) zu wählen seien. Er könne D2 u. a. entnehmen, daß für diese Oxidation die Elektrodenspannung über 1,6 V liegen müsse, Stromdichten über 30 mA/cm2 zu benutzen, die Elektrolysezelle ohne Diaphragma als einfachen Durchflußreaktor auszubilden und das Oberflächenverhältnis von Anode zu Kathode möglichst groß zu wählen. Eine effektive Durchmischung der Lösung und eine kontinuierliche Zuführung neuer Lösung zu den Elektroden sei nach D3 durch Rühren der Lösung oder mit Hilfe rotierender Elektroden erreichbar. Rotierende Anoden seien deshalb nahegelegt, weil die Oxidation des Pu(IV) dort stattfinde. Da das Rühren der Lösung in der Zelle aus Raumgründen schwierig sein könne, werde in D2 die Lösung im Kreislauf geführt, denn dann könne die Vermischungsvorrichtung (Pumpe) außerhalb der Zelle angeordnet werden.

X. Die Beschwerdegegnerin hat hierzu im wesentlichen folgende Argumente vorgetragen:

Beim Verfahren nach D2 werde Pu3+ in Gegenwart von Hydrazin zu Pu4+ oxidiert, die Bildung von Pu(VI) solle verhindert werden und ein Kreislauf der Lösung sei nur bei Experimenten vorgesehen, bei denen die Elektrolysezelle abgeschaltet sei. Damit weise dieses Verfahren so wesentliche Unterschiede gegenüber dem Streitpatent auf, daß der Fachmann diese Druckschrift für die Lösung der Aufgabe nicht in Betracht zöge.

Bei D3 seien rotierende Elektroden beim elektrolytischen Abscheiden von Silber vorgesehen, während beim Verfahren nach dem Streitpatent Pu4+ oxidiert werde.

XI. Die Beschwerdeführerin beantragte die Aufhebung der Zwischenentscheidung der Einspruchsabteilung und den Widerruf des Streitpatents.

Für den Fall, daß die Kammer der Argumentation zur Druckschrift D2 im Einspruchsschriftsatz nicht zustimmte, beantragte die Beschwerdeführerin hilfsweise nach Art. 112 EPÜ, der Großen Beschwerdekammer die folgende Frage zur Klärung vorzulegen: "Ist davon auszugehen, daß der Fachmann gemäß Art. 56 EPÜ einen Stand der Technik berücksichtigt und ihm wesentliche Hinweise entnimmt, der auf dem selben technischen Gebiet liegt und dessen Lehre darin besteht, einen dort angesprochenen Vorgang zu verhindern, dessen Durchführung er beabsichtigt?".

XII. Die Beschwerdegegnerin beantragte, die Beschwerde zurückzuweisen und das Patent mit den Unterlagen gemäß der Zwischenentscheidung der Einspruchsabteilung aufrechtzuerhalten.

XIII. Nur die Beschwerdegegnerin beantragte eine mündliche Verhandlung. Sie stellte aber später den Antrag, das Verfahren schriftlich fortzusetzen.

Entscheidungsgründe

1. Die Beschwerde ist zulässig.

2. Nach der Entscheidung G 01/91 der Großen Beschwerdekammer (vgl. VII.) braucht die in Art. 82 EPÜ geforderte Einheitlichkeit der geänderten Ansprüche nicht untersucht zu werden.

3. Die gültigen Ansprüche stimmen mit den der Zwischenentscheidung zugrundeliegenden Ansprüchen überein. Die Kammer sieht keinen Anlaß, an der (in der Zwischenentscheidung vertretenen) Ansicht der Einspruchsabteilung zu zweifeln, daß die Ansprüche 1, 3 und 4, Artikel 123 (2) und (3) EPÜ nicht verletzen.

4. Die Kammer ist ferner der Ansicht, daß D2 als öffentliche Druckschrift anzusehen ist; dies wurde von der Beschwerdegegnerin nach dem von der Beschwerdeführerin vorgelegten Nachweis (vgl. II.) auch nicht mehr bestritten.

5. Neuheit

5.1. D4 betrifft ein Verfahren zur Herstellung von salpetersäurelöslichen (U/Pu)O2-Mischkristallen, wobei eine salpetersaure U(VI)-Nitrat-und eine Pu(IV)-Nitrat- Lösung gemischt und oxidiert werden, bis beide Metalle die Wertigkeit VI erreicht haben (vlg. Den Anspruch 1, S. 2, Z. 38 bis S. 3, Z. 9 und S. 3, Z. 34 bis S. 4, Z. 4). Die Oxidation erfolgt durch Überhitzen und Einengen der Ausgangslösung. Es sei jedoch auch möglich, die Oxidation auf elektrolytischem Weg durchzuführen. Einzelheiten für diesen Weg sind D4 jedoch nicht zu entnehmen.

5.2. D1 betrifft die Untersuchung der Absorptionsspektren und Verteilungsdaten für Plutonylnitrat in wäßrigen und organischen Medien und beschreibt im experimentellen Teil die elektrolytische Oxidation von salpetersaurem Pu(IV)- Nitrat zu Pu(VI)-Nitrat in einer Elektrolysezelle. Die Ausgangslösung enthält 0,4- bis 1-molare Salpetersäure. Bei diesem Oxidationsverfahren wird im durch eine Sinterscheibe abgetrennten Kathodenraum reine Salpetersäure dergleichen Normalität wie die Pu(IV)-Nitrat-Lösung verwendet. Die Umwandlung findet bei einem konstanten Strom von 10 mA statt. Angeben über eine erzwungene Konvektion, die Elektrodenspannung, die Elektrodenstromdichten und die Arbeitstemperatur werden nicht gemacht bzw. sind D1 nicht entnehmbar.

5.3. In D2 werden im Kapitel "Elektrolytische Oxidation im Purex-Prozeß" (S. 78 - 84) Kreislaufexperimente mittels Schlauchpumpe bei Raumtemperatur zur Untersuchung des zeitlichen Verlaufs der anodischen Oxidation von Hydrazin, Pu(III) (zu Pu(IV)) und U(IV) beschrieben. Die Oxidationsstufen von Pu und U wurden in einer Durchflußküvette spektralfotometrisch bestimmt.

Bei anderen Versuchen, bei denen der Elektrolyt HN03 und Pu(III) enthielt, lagen die Stromdichten über dem Sauerstoffentwicklungspotential, und es wurde in geringen Mengen Pu(VI) gebildet.

Bei Untersuchungen über die Temperaturabhängigkeit der Hydrazinzerstörung wurden Zelltemperaturen von 20 bis 70°C untersucht.

Als Konstruktionsprinzipien der elektrolytischen Oxidationszelle wird u. a. angegeben, daß sie ohne Diaphragma als Durchflußreaktor ausgebildet werden könne. Das Oberflächenverhältnis von Anode zu Kathode solle möglichst groß gewählt werden, um eine erneute Reduktion des bereits gebildeten Pu(IV) an der Kathode zu vermeiden. Stromdichten größer als 30 mA/cm2 führten nach der Zerstörung der Hauptmenge der Hydrazins zur Bildung von Pu(VI).

Auf S. 97 (Anhang III) werden in einer Tabelle berechnete und gemessene Grenzstromdichten und Diffusionsschichtdicken für verschiedene Arten der Konvektion "in einigen typischen Fällen" angegeben, z. B. für natürliche Konvektion und rotierende Elektroden. Welche Elektrolyte dabei verwendet wurden, wird dort nicht erwähnt.

Die in allen unabhängigen Ansprüchen des Streitpatents angegebene spezielle Ausgangslösung und Elektrodenspannung sind in D2 nicht erwähnt.

5.4. Im Abschnitt "Diffusionspolarisation" des Kapitels "Elektrische Polarisation und Kinetik von Elektrodenvorgängen" der Druckschrift D3 wird erwähnt, daß insbesondere im Falle hoher Stromdichten häufig für die Geschwindigkeit des Elektrodenvorgangs ausschließlich Transportvorgänge maßgebend seien. Wenn man einen stationären Zustand erreichen wolle, so müsse man für definierte Konvektion sorgen, was im allgemeinen durch Rührung des Elektrolyten mit konstanter Geschwindigkeit oder mit Hilfe rotierender Elektroden erreicht werde. Anschließend wird angegeben, daß dieser Fall zuerst bei der Silberabscheidung untersucht worden sei.

5.5. Die Gegenstände der Ansprüche 1, 3 und 4 sind daher zweifellos neu.

6. Erfinderische Tätigkeit

6.1. D4 repräsentiert nach der Meinung der Kammer den nächsten Stand der Technik. Die unabhängigen Ansprüche gehen im Oberbegriff von diesem Stand der Technik aus (vgl. die Beschreibung des Streitpatents in Sp. 1, Z. 18 bis 21). In D4 ist nicht näher angegeben, wie das elektrochemische Verfahren praktisch, d. h. insbes. großtechnisch, ausgeführt werden soll. Daher sind zwar die Merkmale des Oberbegriffs der unabhängigen Ansprüche aus D4 bekannt, jedoch stellen die Merkmale der Kennzeichen Überschußmerkmale gegenüber diesem Stand der Technik dar (vgl. auch 5.4).

6.2. Die objektive technische Aufgabe, die allen unabhängigen Ansprüchen zugrundeliegt, ist es daher, das in D4 empfohlene Verfahrensprinzip der Einstellung der Pu(VI)- Oxidationsstufe in einer salpetersauren U6+/Pu4+-Nitrat- Ausgangslösung auf elektrochemischem Weg für die praktische, also insbes. großtechnische Anwendung mit einfachen Mitteln zu realiseren und zu optimieren.

Aufgaben dieser Art stellen sich dem Fachmann - also der Elektrochemiker, der spezielle Kenntnisse auf dem Gebiet der Plutonium-Elektrochemie besitzt - regelmäßig, wenn in der Forschung entwickelte Verfahren in die Praxis umgesetzt werden sollen, so daß die Stellung der oben genannten Aufgabe nichts zur erfinderischen Tätigkeit des Streitpatents beitragen kann.

6.3. Erfinderische Tätigkeit des Anspruchs 4

Vor die Lösung dieser Aufgabe gestellt, weiß der Fachmann, daß er zunächst die Parameter und Verfahrensbedingungen bestimmen muß, die eine schnelle und vollständige Einstellung der Pu(VI)-Oxidationsstufe bei hoher Stromausbeute ermöglichen. Derartige Parameter sind bei solchen Reaktionen insbes. die Elektrodenspannung, die Elektrodenstromdichten und die Arbeitstemperatur, deren optimalen Werte oder Wertebereiche in einfachen Versuchen ermittelt werden können. Dies mag zwar zeit- und arbeitsaufwendig sein, begründet aber nach Ansicht der Kammer keine erfinderische Tätigkeit.

Darüber hinaus gibt D2 zu der Wahl der Elektrodenspannung und der Stromdichten wichtige Hinweise: Auf S. 10, Abs. 2 wird angegeben, daß Pu(III) und Pu(IV) nicht anodisch zu Pu(VI) oxidiert werden könne ohne die gleichzeitige Entwicklung von Sauerstoff. Auf S. 80 letzte Zeile und S. 82, Z. 1 und 2 wird bekräftigt, daß Pu(VI) gebildet werde bei einer Spannung, die größer ist als die, bei der Sauerstoff entsteht. Diese Spannung ist gemäß S. 78, Z. 6 u. f. größer als 1,6 V. Ferner sollen nach S. 84 Stromdichten größer als 30 mA/cm2 zur Bildung von Pu(VI) führen.

Es gehört ferner zum Grundwissen des Elektrochemikers, daß bei Vorliegen nur der natürlichen Konvektion an der für die maßgebende Reaktion entscheidenden Elektrode - hier der Anode - der Stofftransport durch die dann relativ ausgedehnte Diffusionsgrenzschicht nur zur Aufrechterhaltung von sehr kleinen Stromdichten ausreicht. Da hohe Anodenstromdichten für eine rasche und vollständige Oxidation und damit für die praktische Anwendung erforderlich sind, wird er in jedem Falle eine Beschleunigung des Stofftransportes durch erzwungene Konvektion an der Anode ins Auge fassen müssen. Hierfür sind erstens eine Bewegung des Elektrolyten relativ zur Anode, also insbesondere ein ständiger Kreislauf des Elektrolyten (hier der Ausgangslösung) durch die Elektrolysezelle, z. B. durch Rühren des Elektrolyten oder - insbes. wenn beengte Raumverhältnisse in der Zelle vorliegen - durch eine außerhalb der Zelle angeordnete Umwälzpumpe und/oder zweitens eine ständige Bewegung der Anode relativ zum Elektrolyten, insbesondere durch eine rotierende Anode, für den Fachmann gängige Maßnahmen. Die Zirkulation des Elektrolyten hat den Zweck, neue Lösung in die nähere Umgebung der Anode zu transportieren, die Anodenrotation dient insbes. dazu, Pu(IV) in die unmittelbare Umgebung der Anode zu transportieren.

Es wird hierzu auch auf D3, ein Standardlehrbuch der Elektrochemie verwiesen, in dem im Kapitel "Elektrische Polarisation und Kinetik von Elektrodenvorgängen" erwähnt ist, daß insbes. bei hohen Stromdichten eine definierte Konvektion mittels Rührung des Elktrolyten mit konstanter Geschwindigkeit oder mit Hilfe rotierender Elektroden für die Geschwindigkeit der Elektrodenreaktion maßgebend sei. Der geeignete Drehzahlbereich einer solchen rotierenden Anode hängt von ihrer Geometrie, der Geometrie der Zelle und den Verfahrensbedingungen ab, und es ist für den Fachmann selbstverständlich, daß er den geeigneten Drehzahlbereich bestimmen muß. Dies kann mittels einfacher Versuche geschehen.

6.4. Erfinderische Tätigkeit des Anspruchs 3

In gleicher Weise gelangt der Fachmann zu den entsprechenden Lösungsmerkmalen des Anspruchs 3 betreffend die Führung der Lösung im ständigen Kreislauf durch die Zelle, die Elektrodenspannung, die Stromdichten und die Arbeitstemperatur.

Die noch verbleibenden Merkmale des Anspruchs 3, nämlich die kathodenseitige Zuführung der Salpetersäure und die kathodenseitige Kühlung ergeben sich für den Fachmann in trivialer Weise aus der Arbeitsweise der Zelle: Es ist selbstverständlich, daß man Maßnahmen ins Auge fassen muß um die unerwünschte Reduzierung des gebildeten Pu(VI) and der Kathode zu verhindern. Dazu ist es erforderlich, daß die Konzentration des die Kathodenreaktion tragenden und die Pu(VI)-Wanderung an die Kathode unterdrückenden Ions, nämlich des Protons, nicht absinkt. Da dort ständig Protonen verbraucht werden, ist es naheliegend, kathodenseitig Salpetersäure zuzuführen (vgl. auch Sp. 2, Z. 28 bis 31 des Streitpatents).

Wegen der hohen Stromwärme wird - je nach der Konstruktion der Zelle - an eine Kühlung der Zelle zur Einstellung der optimalen Arbeitstemperatur notwendig sein. Da die größere Stromwärme an der Kathode entsteht, wird man eine solche Kühlung dort vorsehen (vgl. auch Sp. 2, Z. 59 bis 61 des Streitpatents).

Eine solche Reduzierung an der Kathode wird auch behindert, wenn das Verhältnis von Anoden- zu Kathodenfläche groß gewählt wird, also bei einem großen Verhältnis von Kathoden- zu Anodenstromdichte. In D2 wird dies für die Verhinderung der Reduzierung von Pu(IV) zu Pu(III) empfohlen, und es ist klar, daß dies auch für die oben genannte Reduzierung von Pu(VI) zu erwarten ist.

Nur falls alle diese Maßnamen nicht genügen, um eine zu große Wanderung des an der Anode gebildeten Pu(VI) zu unterdrücken, wird der Fachmann ein Diaphragma in der Zelle in Betracht ziehen. Wegen des Aufwandes hierfür wird er möglichst versuchen - wie beim Verfahren nach Anspruch 3 - , ohne es auszukommen.

6.5. Der Einwand der Beschwerdegegnerin, daß D2 so große Unterschiede zum Steitpatent aufweise, daß der Fachmann diese Druckschrift nicht für die Lösung der Aufgabe in Betracht zöge, ist nicht überzeugend, da der Fachmann wegen des eng umgrenzten Sachgebiets alle Druckschriften auf dem Gebiet der Pu-Elektrochemie genau kennt und er für die Lösung der Aufgabe alle für die Pu-Oxidation relevanten Informationen dieser Druckschriften in Betracht ziehen wird.

Auch der weitere von der Beschwerdegegnerin vorgebrachte Einwand, daß bei D3 rotierende Elektroden beim elektrolytischen Abscheiden von Silber vorgesehen seien, kann die Kammer nicht von der Patentwürdigkeit der Gegenstände der Ansprüche 3 und 4 überzeugen. In D3 ist nämlich die Silberabscheidung lediglich als Beispiel angeführt. Es ist offensichtlich, daß die das Rühren des Elektrolyten und die Elektrodenrotation betreffende Passage Aussagen von allgemeiner Gültigkeit beinhalten (vgl. auch 5.4).

6.6. Zusammenfassend ist festzustellen, daß die Ansprüche 3 und 4 zwar mehrere Merkmale aufweisen, die dem nächstkommenden Stand der Technik aus D4 nicht zu entnehmen sind, daß aber alle diese Merkmale für den Fachmann auf dem Gebiet der Plutonium-Elektrochemie selbstverständliche Maßnahmen darstellen, wenn er daran geht, die gestellte Aufgabe zu lösen. Für mehrere Maßnahmen erhält er überdies wichtige Anregungen aus D2 und D3.

Daher sind die Gegenstände der Ansprüche 3 und 4 nicht das Ergebnis erfinderischer Tätigkeit im Sinne von Artikel 56 EPÜ und wegen Artikel 52 (1) EPÜ sind die Ansprüche 3 und 4 nicht gewährbar.

7. Aus diesen Gründen genügt das geänderte Patent - unabhängig von der Gewährbarkeit der Ansprüche 1 und 2 - nicht den Erfordernissen des Übereinkommens, so daß die von der Beschwerdegegnerin beantragte Aufrechterhaltung des Patents in geändertem Umfang nicht möglich ist.

8. Da die Kammer dem Antrag der Beschwerdeführerin folgte, ist der Antrag auf Befassung der Großen Beschwerdekammer mit der in XI. angeführten Frage gegenstandslos.

ENTSCHEIDUNGSFORMEL

Aus diesen Gründen wird entschieden:

1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.

2. Das Patent wird widerrufen.

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