T 0197/88 (Fortsetzung des Einspruchsverfahrens) of 2.8.1988

European Case Law Identifier: ECLI:EP:BA:1988:T019788.19880802
Datum der Entscheidung: 02 August 1988
Aktenzeichen: T 0197/88
Anmeldenummer: 79300234.6
IPC-Klasse: C07D 213/64
Verfahrenssprache: EN
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Fassungen: OJ
Bezeichnung der Anmeldung: -
Name des Anmelders: ICI
Name des Einsprechenden: -
Kammer: 3.3.02
Leitsatz: 1. Wird ein Einspruch nach Absendung der Mitteilung nach Regel 58(4) EPÜ zurückgenommen, so sollte die Einspruchsabteilung das Einspruchsverfahren im Interesse der Öffentlichkeit grundsätzlich von Amts wegen fortsetzen (im Anschluss an die Entscheidung T 156/84, "Druckwechseladsorption/AIR PRODUCTS", Nr. 3.5 der Entscheidungsgründe, ABl. EPA 1988,372).
2. Die Beschwerdegebühr muss zurückgezahlt werden, wenn einem Beteiligten keine Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben worden ist und dies einer Verletzung des Artikels 113(1) EPÜ gleichkommt.
Relevante Rechtsnormen:
European Patent Convention 1973 Art 113(1)
European Patent Convention 1973 Art 114(1)
European Patent Convention 1973 R 58(4)
European Patent Convention 1973 R 60(2)
European Patent Convention 1973 R 67
Schlagwörter: Einspruchsverfahren - Fortsetzung im Interesse der Öffentlichkeit nach Zurücknahme des Einspruchs
Rückzahlung der Beschwerdegebühr (bejaht)
Beschwerdegebühr - Rückzahlung bejaht
Verletzung des rechtlichen Gehörs
Orientierungssatz:

-

Angeführte Entscheidungen:
-
Anführungen in anderen Entscheidungen:
T 0634/91
T 0504/92
T 0958/92
T 0252/93
T 0487/93
T 0558/95
T 0656/96
T 0283/02
T 0336/10
T 1500/10
T 1866/13
T 0228/14

Sachverhalt und Anträge

I. Das europäische Patent Nr. 3 890 wurde am 26. Januar 1983 erteilt. Am 19. August 1983 wurde dagegen Einspruch eingelegt. Die Einsprechende beantragte den Widerruf des Patents mit der Begründung, daß dessen Gegenstand die Erfordernisse der Patentierbarkeit nach den Artikeln 52 bis 57 EPÜ nicht erfülle.

II. Am Ende der mündlichen Verhandlung vom 26. Juni 1985 teilte der Vorsitzende den Beteiligten mit, daß die Einspruchsabteilung das Patent in geändertem Umfang auf der Grundlage der am 14. Juni 1985 eingereichten und in der mündlichen Verhandlung geänderten Hilfsansprüche aufrechtzuerhalten beabsichtige. Die Patentinhaberin wurde aufgefordert, eine an die neuen Ansprüche angepaßte Beschreibung einzureichen. Sie kam dieser Aufforderung nach und reichte zur Beschreibung geänderte Seiten ein.

III. Am 10. Januar 1986 erging eine Mitteilung nach Regel 58 (4) EPÜ. Die Einsprechende teilte der Einspruchsabteilung daraufhin mit, daß die neuen Ansprüche die Erfordernisse des Artikels 100 b) EPÜ nicht erfüllten, während die Patentinhaberin der geänderten Fassung des Patents zustimmte. Wegen der Einwände der Einsprechenden setzte die Einspruchsabteilung das Einspruchsverfahren mit einem Bescheid nach Artikel 101 (2) und Regel 58 (1) bis (3) EPÜ fort. Die Patentinhaberin wurde aufgefordert, zu den Einwänden der Einsprechenden Stellung zu nehmen; sie kam dieser Aufforderung mit Schreiben vom 9. Dezember 1986 nach.

IV. Am 5. November 1986 nahm die Einsprechende ihren Einspruch schriftlich zurück. Am 26. Januar 1988 stellte die Einspruchsabteilung das Einspruchsverfahren mit der Begründung ein, daß die Einsprechende den Einspruch zurückgenommen habe und das Europäische Patentamt somit beim gegenwärtigen Stand der Dinge keine Veranlassung sehe, das Verfahren von Amts wegen fortzusetzen. Gegen diese Entscheidung legte die Patentinhaberin am 15. März 1988 unter Entrichtung der entsprechenden Gebühr eine begründete Beschwerde ein. Sie sei nämlich sehr daran interessiert, daß das Patent im geänderten Umfang aufrechterhalten werde, weil sie sichergehen wolle, daß die Ansprüche rechtlich Bestand hätten, und sie eine Überschneidung oder Kollision mit ihrer europäischen Patentanmeldung EP-A-1 473 ausschließen wolle.

Entscheidungsgründe

1. Die Beschwerde ist zulässig.

2. Gemäß Regel 60 (2) Satz 2 EPÜ kann das Einspruchsverfahren auch von Amts wegen fortgesetzt werden, wenn der Einspruch zurückgenommen wird. Der Wortlaut dieser Bestimmung zeigt in allen drei Fassungen, daß es im Ermessen des Europäischen Patentamts liegt, ein Einspruchsverfahren nach Zurücknahme des Einspruchs fortzusetzen. Bei der Ausübung dieses Ermessens ist den Interessen der Öffentlichkeit, des Patentinhabers und des Europäischen Patentamts angemessen Rechnung zu tragen.

3.1. In der angefochtenen Entscheidung hat die Einspruchsabteilung die Auffassung vertreten, daß nach Lage der Dinge für das Amt keine Veranlassung bestehe, das Verfahren von Amts wegen fortzusetzen. Diese Feststellung wurde nicht näher begründet. Im Gegensatz zur Einspruchsabteilung ist die Kammer der Auffassung, daß im vorliegenden Fall ausreichende Gründe für eine Fortsetzung des Verfahrens gegeben sind.

3.2. Nach Zurücknahme eines Einspruchs sollte das Verfahren fortgesetzt werden, wenn es dem Verfahrensstand nach voraussichtlich ohne zusätzliche Hilfe des Einsprechenden und ohne aufwendige Ermittlungen der Einspruchsabteilung zu einer Beschränkung oder zum Widerruf des europäischen Patents führen wird (s. Richtlinien für die Prüfung im Europäischen Patentamt, D-VII, 6.2 und 6.3). Unter diesen Umständen fällt die Fortsetzung des Einspruchsverfahrens unter die allgemeine Verpflichtung des Europäischen Patentamts gegenüber der Öffentlichkeit, keine Patente aufrechtzuerhalten, von denen es überzeugt ist, daß sie nicht oder nur mit den erforderlichen Beschränkungen rechtsbeständig sind (s. T 156/84, Druckwechseladsorption/AIR PRODUCTS, Nummer 3.5, ABl. EPA 1988, 372).

3.3. Angesichts dieser Verpflichtung sollte das Europäische Patentamt das Einspruchsverfahren grundsätzlich fortsetzen, wenn vor der Zurücknahme des Einspruchs bereits eine Mitteilung nach Regel 58 (4) EPÜ an die Beteiligten ergangen ist. Diese Mitteilung beweist nämlich, daß die Einspruchsabteilung der festen Überzeugung war, daß das europäische Patent in der erteilten Fassung nicht aufrechterhalten werden könne. Unter diesen Umständen liegt es im Interesse der Öffentlichkeit, das Einspruchsverfahren nach einer Zurücknahme des Einspruchs auch dann fortzusetzen, wenn der Patentinhaber mit der vom Europäischen Patentamt vorgeschlagenen geänderten Fassung nicht einverstanden ist; dies gilt um so mehr, wenn der Patentinhaber - wie im vorliegenden Fall - seine Zustimmung dazu ausdrücklich erklärt hat.

3.4. Deshalb muß die angefochtene Entscheidung, mit der das Einspruchsverfahren eingestellt wurde, aufgehoben und die Sache an die Vorinstanz zurückverwiesen werden.

4. Gemäß Regel 67 EPÜ wird die Rückzahlung der Beschwerdegebühr angeordnet, wenn der Beschwerde durch die Beschwerdekammer stattgegeben wird und "die Rückzahlung wegen eines wesentlichen Verfahrensmangels der Billigkeit entspricht". Die Einspruchsabteilung hat der Patentinhaberin keine Möglichkeit zur Stellungnahme gegeben, bevor sie die Entscheidung zur Einstellung des Einspruchsverfahrens verkündete. Dies kommt einer Verletzung des Artikels 113 (1) EPÜ gleich, weil sich die angefochtene Entscheidung auf Gründe stützte, zu denen sich die Patentinhaberin nicht hatte äußern können. Die Überrumpelung eines Beteiligten stellt einen wesentlichen Verfahrensmangel im Sinne der Regel 67 EPÜ dar. Die Kammer hält es daher für billig, die Rückzahlung der Beschwerdegebühr anzuordnen.

ENTSCHEIDUNGSFORMEL

Aus diesen Gründen wird entschieden:

1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.

2. Die Sache wird an die erste Instanz mit der Auflage zurückverwiesen, das Einspruchsverfahren fortzusetzen.

3. Die Rückzahlung der Beschwerdegebühr wird angeordnet.

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