T 0059/87 (Reibungsverringernder Zusatz/MOBIL II) of 26.4.1988

European Case Law Identifier: ECLI:EP:BA:1988:T005987.19880426
Datum der Entscheidung: 26 April 1988
Aktenzeichen: T 0059/87
Entscheidung der Großen Beschwerdekammer: G 0002/88
Anmeldenummer: 81300717.6
IPC-Klasse: C10M 1/54
Verfahrenssprache: EN
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Fassungen: OJ | OJ v2
Bezeichnung der Anmeldung: -
Name des Anmelders: Mobil Oil Corporation
Name des Einsprechenden: -
Kammer: 3.3.01
Leitsatz: Der Grossen Beschwerdekammer werden folgende Rechtsfragen von grundsätzlicher Bedeutung zur Entscheidung vorgelegt:
1. Nach welchen Überlegungen soll im Hinblick auf Artikel 123(3) EPÜ über die Zulässigkeit von Anspruchsänderungen entschieden werden, die im Einspruchsverfahren vorgeschlagen werden und eine Änderung der Anspruchskategorie mit sich bringen (hier: von einem "Stoffanspruch" in einen Anspruch auf eine "Verwendung dieses Stoffes in einem Stoffgemisch für einen bestimmten Zweck")? Inwieweit sind insbesondere die nationalen Verletzungsvorschriften der Vertragsstaaten zu berücksichtigen?
2. Darf ein Patent mit Ansprüchen, die auf einen "Stoff" oder einen "diesen Stoff enthaltendes Stoffgemisch" gerichtet sind, im Einspruchsverfahren so geändert werden, dass die Ansprüche auf die "Verwendung dieses Stoffes in einem Stoffgemisch" für einen bestimmten Zweck gerichtet sind?
3. Ist ein Anspruch auf die Verwendung eines Stoffes für einen bestimmten nichtmedizinischen Zweck neu im Sinne des Artikels 54 EPÜ gegenüber einer Vorveröffentlichung, die die Verwendung dieses Stoffes für einen anderen nichtmedizinischen Zweck offenbart, so dass das einzige neue Merkmal des Anspruchs der Zweck ist, für den der Stoff verwendet wird?
Relevante Rechtsnormen:
European Patent Convention 1973 Art 54
European Patent Convention 1973 Art 64
European Patent Convention 1973 Art 91
European Patent Convention 1973 Art 112
European Patent Convention 1973 Art 123
Schlagwörter: Änderung im Einspruchsverfahren
Änderung der Anspruchskategorie (hier: von "Stoff" u. "Stoffgemischen"
Verwendung eines Stoffes für einen bestimmten Zweck
Neuheit dieses "Verwendungsanspruchs" gegenüber bekannten Verwendung
Befassung der Grossen Beschwerdekammer/Anspruchsänderung/Neuheit
Orientierungssatz:

-

Angeführte Entscheidungen:
-
Anführungen in anderen Entscheidungen:
T 1016/92
T 0254/93
T 0279/93
T 0892/94
T 1073/96
T 0579/01
T 0589/01
T 0411/02
T 1085/02
T 0406/06
T 1865/07
T 1898/07
T 0511/09
T 1047/12
T 2090/15
T 1338/18
T 3272/19
T 1504/21

Sachverhalt und Anträge

I. Gegen das europäische Patent Nr. 36 708 wurde am 4. Dezember 1984 Einspruch eingelegt; in der Einspruchsschrift wurde insbesondere behauptet, dem beanspruchten Gegenstand mangle es entweder an Neuheit oder aber an erfinderischer Tätigkeit im Hinblick auf eine Reihe von Entgegenhaltungen, insbesondere

(1) US-Patent Nr. 2 795 548 und

(2) US-Patent Nr. 3 117 089.

Die Patentinhaberin reichte daraufhin geänderte Ansprüche ein.

In ihrer Entscheidung vertrat die Einspruchsabteilung die Auffassung, die geänderten Ansprüche im Hauptantrag seien nach Artikel 123 EPÜ zulässig und neu, wiesen jedoch keine erfinderische Tätigkeit auf.

II. Die Patentinhaberin legte dagegen ordnungsgemäß Beschwerde ein. Sie hielt den Hauptantrag aufrecht und reichte im Beschwerdeverfahren außerdem einen Hilfsantrag ein.

III. Gegenstand des Patents ist ein Zusatz für ein Schmieröl. Er enthält borierte Hydroxyester-Verbindungen entsprechend der allgemeinen Strukturformel in der Beschreibung und den Ansprüchen. Der Zusatz hat hauptsächlich den Zweck, die Reibung zwischen sich bewegenden Flächen in Motoren, insbesondere Kraftfahrzeugmotoren, zu verringern.

Das Patent in der erteilten Fassung enthielt Ansprüche, die auf die Verbindungen gerichtet waren, sowie einen Anspruch auf ein Schmiermittel, das diese Verbindungen enthielt.

Der Hauptanspruch des Hauptantrags ist auf "ein Schmiermittel" mit

a) einem Hauptanteil Schmieröl und

b) mindestens 1 Gew.-% Zusatz

gerichtet.

Die Beispiele in der Beschreibung offenbaren die Verwendung von 1, 2 und 4 % Zusatz. Aus der Beschreibung in der ursprünglich eingereichten und erteilten Fassung geht hervor, daß der Anteil des Zusatzes 0,1 bis etwa 10 %, vorzugsweise 0,5 bis 5 %, betragen kann.

IV. Die Entgegenhaltung 2 offenbart insbesondere die Verwendung derselben oder verwandter Stoffe als Zusatz für Öle, einschließlich Schmierölen, um Rostbildung zu verhindern, wenn die Öle mit Eisenmetall in Berührung kommen. Die Beispiele in Entgegenhaltung 2 offenbaren die Verwendung von 0,1 bis 0,5 % Zusatz. Der Beschreibung zufolge ist es vorteilhaft, wenn ca. 0,001 bis ca. 10 %, vorzugsweise bis ca. 2 % Zusatz verwendet werden; es können jedoch auch größere oder kleinere Mengen verwendet werden, je nachdem, welche Menge jeweils zur Verhinderung der Rostbildung erforderlich ist.

V. Am Ende der mündlichen Verhandlung wies die Beschwerdekammer den Hauptantrag der Beschwerdeführerin zurück. Diese behauptete, der im Hauptantrag beanspruchte Gegenstand sei im Anschluß an die Entscheidung T 198/84 "Thiochlorformiate" (ABl. EPA 1985, 209) als "Auswahl" aus dem in Entgegenhaltung 2 offenbarten Bereich patentierbar.

Nach Auffassung der Kammer ist der Hauptanspruch des Hauptantrags im Hinblick auf das in Entgegenhaltung 2 offenbarte Schmiermittel mit einem Zusatz von mindestens 1 Gew.-% derselben Stoffe nicht neu.

Eine entsprechende Entscheidung ist von der Kammer am 26. April 1988 getroffen worden.

VI. Im Hauptanspruch des Hilfsantrags der Beschwerdeführerin wird der Gegenstand des Schutzbegehrens wie folgt definiert:

"Verwendung von mindestens 1 Gew.-% ... (Verbindungen entsprechend den Strukturformeln), bezogen auf das Gesamtgewicht des Gemisches, als reibungsverringernder Zusatz in einem Schmiermittel mit einem Hauptanteil Schmieröl"

VII. Vor einer Entscheidung über den Hilfsantrag muß die Kammer zunächst feststellen,

(i) ob der Anspruch nach einer solchen Änderung, die eine Änderung der Anspruchskategorie mit sich bringt, im Hinblick auf Artikel 123 (3) EPÜ zulässig ist;

(ii) ob der beanspruchte Gegenstand im Hinblick auf Artikel 54 EPÜ neu ist;

(iii) ob der beanspruchte Gegenstand im Hinblick auf Artikel 56 EPÜ auf einer erfinderischen Tätigkeit beruht.

Entscheidungsgründe

1. Artikel 112 (1) a) EPÜ ermächtigt die Beschwerdekammern, von Amts wegen die Große Beschwerdekammer zu befassen, wenn sie zu einer Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung eine Entscheidung für erforderlich halten.

2. Im Zusammenhang mit dem Hilfsantrag stellt sich zunächst die Frage, ob der Anspruch nach einer solchen Änderung, die eine Änderung der Anspruchskategorie mit sich bringt, im Hinblick auf Artikel 123 (3) EPÜ zulässig ist; dort heißt es: "Im Einspruchsverfahren dürfen die Patentansprüche ... nicht in der Weise geändert werden, daß der Schutzbereich erweitert wird."

Aus Kapitel III EPÜ, insbesondere den Artikeln 64 und 69, geht hervor, daß der Schutzbereich des europäischen Patents in erster Linie durch die Patentansprüche bestimmt wird; außerdem wird er durch das nationale Recht der benannten Vertragsstaaten bestimmt, soweit er sich mit den Rechten aus dem Patent deckt.

Demnach hat Artikel 123 (3) EPÜ vor allem auch den Zweck, eine Änderung der Patentansprüche eines europäischen Patents im Einspruchsverfahren vor dem EPA zu verhindern, wenn sie bewirken würde, daß eine Handlung zur Patentverletzung würde, die vorher keine war.

Das EPA und die Beschwerdekammern haben über Änderungen, die eine Änderung der Anspruchskategorie nach sich ziehen, bisher in der Regel von Fall zu Fall entschieden, so daß zur richtigen Auslegung des Artikels 123 (3) EPÜ kaum eine eindeutige Rechtsprechung vorliegt. Nach Ansicht der Kammer handelt es sich hier um eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung.

3. Die zweite Frage, die im Zusammenhang mit dem Hilfsantrag zu klären ist, nämlich die der Neuheit, stellt sich nur, wenn die Änderung im Hinblick auf Artikel 123 (3) EPÜ zulässig ist.

Was den Wortlaut des Hauptanspruchs des Hilfsantrags (s. Nr. VI) anbelangt, so geht aus der Zusammenfassung der Entgegenhaltung 2 in Nummer IV hervor, daß diese die Verwendung von Mengen größer als 1 Gew.-% der beanspruchten Verbindungen als Zusatz zu einem Schmiermittel offenbart, das überwiegend aus Schmieröl besteht. In der Entgegenhaltung 2 wurde, wie unter Nummer IV dargelegt, der Zusatz zur Verhinderung von Rostbildung verwendet. In den vorliegenden Ansprüchen wird er jedoch "als reibungsverringernder Zusatz" verwendet.

Nun stellt sich die Frage, ob die beanspruchte Verwendung des definierten Zusatzes "als reibungsverringernder Zusatz" insbesondere im Hinblick auf die Offenbarung der Entgegenhaltung 2 neu ist.

4. In der Entscheidung T 231/85 hat diese Kammer in anderer Besetzung entschieden, daß ein Anspruch auf eine neue Verwendung (als Fungizid) eines bekannten Stoffes, der bereits als Wachstumsregulator für Pflanzen bekannt war, für die Zwecke des Artikels 54 EPÜ neu sei, obwohl die neue Verwendung (Besprühen von Pflanzen) keiner anderen technischen Realisierung bedurfte.

Wenn das dieser Entscheidung zugrunde liegende Prinzip im vorliegenden Fall angewandt würde, so müßten die vorliegenden Ansprüche als neu gelten.

Andererseits wäre den vorliegenden Ansprüchen nach dem nationalen Recht vieler Vertragsstaaten die Neuheit vor allem mit der Begründung abzusprechen, daß die früher offenbarte Verwendung des Zusatzes in einem Schmierölgemisch trotz der ausdrücklichen Angabe, daß er die Rostbildung verhindern soll, zwangsläufig auch die Verwendung als reibungsverringernder Zusatz einschließen würde.

In der Entscheidung Gr 01/83 "zweite medizinische Indikation" (ABl. EPA 1985, 60) verwies die Große Beschwerdekammer darauf, daß Artikel 52 (1) EPÜ einen "allgemeinen [Patentierungs-] Grundsatz" enthält und daß "unbestritten [ist], daß die neue Verwendung eines bekannten Erzeugnisses in allen Bereichen der gewerblichen Tätigkeit, außer im Falle der Verwendung bei chirurgischen, therapeutischen oder diagnostischen Verfahren als solchen, durch Patentansprüche geschützt werden kann, die auf die Verwendung gerichtet sind" (Nr. 21).

Die Große Beschwerdekammer spricht anschließend davon, daß Artikel 54 (5) EPÜ hinsichtlich der ersten Verwendung als Arzneimittel insofern eine Ausnahme von diesem allgemeinen Grundsatz macht, als die erforderliche Neuheit des Arzneimittels von der neuen pharmazeutischen Verwendung abgeleitet wird; analog dazu leitete sie die Neuheit der zweiten und jeder weiteren medizinischen Verwendung im Einzelfall von der neuen pharmazeutischen Verwendung ab. Die Kammer erklärte jedoch auch, daß "der hier festgelegte Grundsatz der Beurteilung der Neuheit der Herstellung nur für die Erfindungen bzw. Patentansprüche gerechtfertigt ist, die sich auf die Verwendung eines Stoffes oder Stoffgemisches für ein in Artikel 52 (4) EPÜ genanntes Verfahren beziehen" (Nr. 21).

5. Offensichtlich kann eine neue Verwendung eines bekannten Stoffes oder Stoffgemisches durchaus ein erfinderischer Beitrag zum Stand der Technik sein, und zwar unabhängig davon, ob es sich dabei um eine pharmazeutische Verwendung handelt. Ob ein Anspruch auf die Verwendung eines bekannten Stoffgemisches für einen neuen Zweck auch dann neu ist, wenn diese neue Verwendung keiner neuen Realisation bedarf, ist eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung, die die Industrie generell berührt.

6. Was die Frage der erfinderischen Tätigkeit im vorliegenden Fall anbelangt, so besteht die technische Aufgabe, die dem im Hilfsantrag beanspruchten Gegenstand zugrunde liegt, im Vorschlag eines weiteren Zusatzes zu einem Schmiermittel, der die Reibung zwischen sich bewegenden Flächen in Motoren unmittelbar verringern soll. Nach Auffassung der Kammer ist in keinem der im Einspruchsverfahren angezogenen Dokumente des Stands der Technik diese Aufgabe angesprochen, so daß der Fachmann, der nach ihrer Lösung sucht, diesen Dokumenten keine einschlägige Lehre entnehmen könnte. Nach Auffassung der Kammer ist vor allem die Tatsache von Bedeutung, daß der Fachmann wissen dürfte, daß Schmieröl für Verbrennungskraftmaschinen in der Regel nicht nur rosthemmende und reibungsverringernde, sondern auch eine Reihe anderer Zusätze, zum Beispiel Verschleißschutzmittel, aschenfreie Dispergiermittel, Tenside, Detergentien, Antioxidantien, Korrosionsschutzmittel und viskositätsverbessernde Mittel enthält. Somit beruht der beanspruchte Gegenstand des Hilfsantrags nach Auffassung der Kammer auf einer erfinderischen Tätigkeit im Sinne des Artikels 56 EPÜ.

ENTSCHEIDUNGSFORMEL

Aus diesen Gründen wird entschieden:

Der Großen Beschwerdekammer werden folgende Rechtsfragen von grundsätzlicher Bedeutung zur Entscheidung vorgelegt:

(i) Nach welchen Überlegungen soll im Hinblick auf Artikel 123 (3) EPÜ über die Zulässigkeit von Anspruchsänderungen entschieden werden, die im Einspruchsverfahren vorgeschlagen werden und eine Änderung der Anspruchskategorie mit sich bringen (hier: von einem "Stoffanspruch" in einen Anspruch auf eine "Verwendung dieses Stoffes in einem Stoffgemisch für einen bestimmten Zweck")? Inwieweit sind insbesondere die nationalen Verletzungsvorschriften der Vertragsstaaten zu berücksichtigen?

(ii) Darf ein Patent mit Ansprüchen, die auf einen "Stoff" oder ein "diesen Stoff enthaltendes Stoffgemisch" gerichtet sind, im Einspruchsverfahren so geändert werden, daß die Ansprüche auf die "Verwendung dieses Stoffes in einem Stoffgemisch" für einen bestimmten Zweck gerichtet sind?

(iii) Ist ein Anspruch auf die Verwendung eines Stoffes für einen bestimmten nichtmedizinischen Zweck neu im Sinne des Artikels 54 EPÜ gegenüber einer Vorveröffentlichung, die die Verwendung dieses Stoffes für einen anderen nichtmedizinischen Zweck offenbart, so daß das einzige neue Merkmal des Anspruchs der Zweck ist, für den der Stoff verwendet wird?

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