T 0051/87 (Ausgangsverbindungen) of 8.12.1988

European Case Law Identifier: ECLI:EP:BA:1988:T005187.19881208
Datum der Entscheidung: 08 Dezember 1988
Aktenzeichen: T 0051/87
Anmeldenummer: 78300831.1
IPC-Klasse: C07D 493/22
Verfahrenssprache: EN
Verteilung:
Download und weitere Informationen:
PDF nicht verfügbar
Alle Dokumente zum Beschwerdeverfahren finden Sie im Register
Bibliografische Daten verfügbar in: DE | EN | FR
Fassungen: OJ
Bezeichnung der Anmeldung: -
Name des Anmelders: Merck
Name des Einsprechenden: -
Kammer: 3.3.02
Leitsatz: 1. Ist ein für die Durchführung der Erfindung erforderliches Dokument in der ursprünglich eingereichten Fassung der Anmeldung nicht erwähnt, so kann die Erfindung dennoch ausreichend offenbart sein (Art. 83 EPÜ), wenn das Dokument zum allgemeinen Wissensstand gehört (im Anschluß an die Entscheidung T 11/82, "Steuerschaltung/LANSING BAGNALL", ABl. EPA 1983, 479 - 492, Nr. 22).
2. Sind die Ausgangsverbindungen hochentwickelte mikrobielle Metaboliten, die ein Forschungsgebiet erschließen, das so neu ist, daß die Lehrbücher noch kein technisches Fachwissen darüber vermitteln, dann gelten für die Frage, ob eine Patentschrift zum allgemeinen Wissensstand des Fachmanns gehört oder nicht, besondere Überlegungen (anders als auf klassischen Gebieten wie in den Fällen T 171/84, "Redox-Katalysator", ABl. EPA 1986, 95 und T 206/83, "Herbizide", ABl. EPA 1987, 5).
3. Gehört ein Dokument zum allgemeinen Fachwissen und stellt es den nächstliegenden Stand der Technik dar, so muß es unter Umständen in die Beschreibung aufgenommen werden (R. 27 (1) c) EPÜ). Dies stellt keinen Verstoß gegen Artikel 123 (2) EPÜ dar (im Anschluß an die Entscheidung T 11/82).
Relevante Rechtsnormen:
European Patent Convention 1973 Art 83
European Patent Convention 1973 Art 123(2)
European Patent Convention 1973 R 27(1)(c)
Schlagwörter: Maßgebender Stand der Technik - Aufnahme in die Beschreibung
Orientierungssatz:

-

Angeführte Entscheidungen:
-
Anführungen in anderen Entscheidungen:
T 0475/88
T 0772/89
T 0148/91
T 0676/94
T 0450/97
T 0469/99
T 0890/02
T 0412/03
T 0596/11
T 1347/11
T 1000/12
T 1449/17
T 1017/20

Sachverhalt und Anträge

I. Das europäische Patent Nr. 0 002 615 wurde am 5. Oktober 1983 mit zwölf Ansprüchen auf die am 15. Dezember 1978 unter Inanspruchnahme der Priorität der beiden amerikanischen Voranmeldungen Nr. 861 810 und 861 919 vom 19. Dezember 1977 eingereichte europäische Patentanmeldung Nr. 78 300 831.1 erteilt. Der unabhängige Anspruch 1 des Patents in der erteilten Fassung lautet wie folgt:

1. Verbindung, die durch Umsetzung einer der Verbindungen C- 076 A1a, C-076 A2a, C-076 B1a, C-076 B2a, C-076 A1b, C-076 A2b, C-076 B1b und C-076 B2b auf folgende Weise hergestellt werden kann:

(a) Die |-L-Oleandrosyl-|-L-Oleandrose-Gruppe wird durch Hydrolyse entfernt.

(b) Die in Stufe a erhaltene 13-Hydroxy-Gruppe wird mittels Umsetzung mit einem ausreichend reaktiven Benzolsulfonylhalogenid in Gegenwart einer Base durch eine 13-Halogen-Gruppe ersetzt.

(c) Gegebenenfalls wird die 13-Halogen-Gruppe mit einem selektiven Reduktionsmittel entfernt.

(d) Gegebenenfalls wird die 22,23-Doppelbindung an den A1a-, B1a-, A1b- und B1b-Verbindungen durch Hydrieren zu einer Einfachbindung reduziert, wobei ein Lösungsmittel und ein Katalysator mit der Formel [(R5)3P]3RhX verwendet wird, worin R5 ein Niederalkyl, ein Phenyl oder ein durch Niederalkyl substituiertes Phenyl und X ein Halogen ist.

(e) Gegebenenfalls wird die 5- oder 23-Hydroxy-Gruppe der A2a-, B1a-, A2b- oder B1b-Verbindung oder eine oder beide der 5- und 23-Hydroxy-Gruppen in der B2a- oder B2b-Verbindung C2-6- alkyliert.

(f) Gegebenenfalls wird ein 23-(C1-6-Alkoxy)- oder 23-(C1-6- Alkylthio)-Derivat der Verbindungen des Typs A1a, B1a, A1b oder B1b durch Umsetzung mit einem C1-6-Alkanol oder C1-6-Alkylthiol in Gegenwart einer Säure hergestellt.

(g) Gegebenenfalls wird ein in Schritt f hergestelltes 23-(C1-6- Alkylthio)-Derivat zu einer C1-6-Alkylsulfinyl- oder einer C1-6- Alkylsulfonylgruppe oxidiert.

II. Am 3. Juli 1984 legte die Beschwerdegegnerin (Einsprechende) gegen das europäische Patent mit der Begründung Einspruch ein, daß es die Erfindung nicht so deutlich und vollständig offenbare, daß ein Fachmann sie ausführen könne.

Zur Stützung des Einspruchs reichte die Beschwerdegegnerin eidesstattliche Erklärungen von Prof. A. T. Bull vom 9. Juli 1984 und 15. August 1985 sowie eine eidesstattliche Erklärung von Prof. L. Hough vom 25. Juli 1985 ein.

III. Die Beschwerdeführerin (Patentinhaberin) bestritt die Behauptung, die Offenbarung sei unzureichend, und stützte sich dabei unter anderem auf das Dokument DE-A-2 717 040 (5) sowie auf eine eidesstattliche Erklärung von Prof. S. V. Ley vom 7. Februar 1985, daß es ihm keine unzumutbaren Schwierigkeiten bereitet hätte, die beschriebene Erfindung anhand des ihm zum maßgeblichen Zeitpunkt zur Verfügung stehenden allgemeinen Fachwissens nachzuarbeiten.

IV. Die Einspruchsabteilung hielt sich an die Aussage von Prof. Bull, daß er die erforderlichen Ausgangsprodukte anhand des ihm zum betreffenden Zeitpunkt zu Gebote stehenden allgemeinen Fachwissens nicht hätte herstellen und trennen können, und widerrief das Patent mit Entscheidung vom 1. Dezember 1986; sie vertrat dabei unter anderem die Auffassung, daß die Beschreibung keine allgemeine Lehre zur Trennung, Isolierung und Identifizierung der acht Ausgangsverbindungen C-076 enthalte. Die Beschreibung offenbare lediglich ein Verfahren zur Herstellung von C-076-Verbindungen durch Fermentierung, jedoch keinen Weg zur Trennung und Erkennung der einzelnen Ausgangsverbindungen.

Die Einspruchsabteilung vertrat ferner die Auffassung, daß Patentschriften - wie den Entscheidungen T 171/86 und T 206/83 zu entnehmen sei - generell nicht zum allgemeinen Fachwissen gehörten und daher nicht zur Behebung eines prima facie erkennbaren Offenbarungsmangels herangezogen werden könnten. Sie sei deshalb zu der Schlußfolgerung gelangt, daß das Dokument 5 nicht zu dem dem erfahrenen Leser zu Gebote stehenden allgemeinen Fachwissen gehöre, das Patent mithin unzureichend offenbart sei (Art. 83 EPÜ).

V. Die Beschwerdegegnerin legte am 23. Januar 1987 gegen diese Entscheidung Beschwerde ein. Die Beschwerdegebühr wurde rechtzeitig entrichtet; am 9. April 1987 wurde eine vom 7. April 1987 datierte Beschwerdebegründung eingereicht.

VI. Nachdem sich die Beteiligten gegenseitig über ihr Vorbringen unterrichtet hatten, fand am 8. Dezember 1988 eine mündliche Verhandlung statt. Dabei brachten die Beteiligten im wesentlichen folgendes vor:

(i) Die Beschwerdeführerin war der Ansicht, man könne das allgemeine Fachwissen nicht auf gewöhnliche chemische Literatur beschränken. Es stehe fest, daß der Fachmann auf speziellen, sich neu entwickelnden Forschungsgebieten wie dem der C-076- Chemie sein Wissen nicht nur aus Lehrbüchern beziehe, welche immer um einige Jahre hinter dem neuesten Stand der Forschung herhinkten. Außerdem habe es zum betreffenden Zeitpunkt kein anerkanntes Lehrbuch auf diesem Gebiet gegeben, so daß die Fachleute zur Vervollständigung ihres "allgemeinen Fachwissens" nicht nur die chemische Standardliteratur, sondern auch aktuelle Fachveröffentlichungen wie kürzlich veröffentlichte Patentliteratur herangezogen hätten, um nur ein Beispiel zu nennen. Das Dokument 5 habe demnach zum betreffenden Zeitpunkt zum allgemeinen Fachwissen gehört.

Andernfalls müsse das Dokument 5, das die Herstellung der C-076- Ausgangsprodukte eindeutig offenbare und mehr als einen Monat vor dem Prioritätstag des angefochtenen Patents veröffentlicht worden sei, als weiterer Stand der Technik im Sinne der Regel 27 (1) c) EPÜ angesehen werden.

(ii) Die Beschwerdegegnerin bestritt dies mit dem Hinweis, die Beschwerdeführerin habe nicht glaubhaft gemacht, daß der Durchschnittsfachmann vor dem Prioritätstag des angefochtenen Patents von dem Dokument 5 gewußt haben konnte, geschweige denn, daß das Dokument zum allgemeinen Fachwissen gehört habe. Veröffentlichte Patentdokumente könnten - wie andere Schriftstücke auch - in bestimmten Fällen zum allgemeinen Fachwissen gehören; demnach könne auch eine richtungweisende Patentschrift zu diesem Wissen gehören, doch seien diese Fälle zwangsläufig äußerst selten. Solange nicht der Gegenbeweis erbracht worden sei, sei davon auszugehen, daß das Dokument 5 am Prioritätstag des angefochtenen Patents nicht zum einschlägigen allgemeinen Fachwissen gehört habe.

Diese Vermutung dränge sich auf, weil das angefochtene Patent keinerlei Hinweise auf das Dokument 5 enthalte und auch keine Literatur vorhanden sei, welche den Durchschnittsfachmann hätte darauf aufmerksam machen können, daß er das Dokument 5 heranziehen müsse.

(iii) Außerdem könne die dem Patent zugrunde liegende Erfindung nicht ohne Hinweis auf andere Quellen anhand der Lehre des Patents ausgeführt werden, da zur Herstellung der Ausgangsverbindungen, welche im angefochtenen Patent nirgends erwähnt sei, die Lehre des genannten Dokuments erforderlich sei. Dieser Mangel könne nicht durch die Aufnahme des Dokuments in die Beschreibung behoben werden, ohne daß gegen Artikel 123 (2) EPÜ verstoßen werde.

(iv) Die Beschwerdeführerin beantragte die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und die Aufrechterhaltung des Patents; als ersten Hilfsantrag beantragte sie die Aufrechterhaltung des Patents in geändertem Umfang durch Aufnahme eines Hinweises auf das Dokument 5 entsprechend Regel 27 (1) c) EPÜ. Als zweiten Hilfsantrag forderte sie für den Fall der Zurückweisung der Beschwerde, daß der Großen Beschwerdekammer folgende Frage vorgelegt wird: "Gehören veröffentlichte Patentdokumente auf neuen, sich rasch entwickelnden Gebieten der Technik, in denen dem Fachmann noch keine einschlägigen Lehrbücher zur Verfügung stehen, zum allgemeinen Fachwissen?"

(v) Die Beschwerdegegnerin beantragte die Zurückweisung der Beschwerde.

Entscheidungsgründe

1. Die Beschwerde entspricht den Artikeln 106 bis 108 und Regel 64 EPÜ; sie ist somit zulässig.

2. Sie befaßt sich mit der Frage der ausreichenden Offenbarung nach Artikel 83 EPÜ, welche im Einspruchsverfahren aufgrund von Artikel 100 b) EPÜ zulässigerweise aufgeworfen worden war.

3. Nach dem EPÜ muß die Erfindung so deutlich und vollständig offenbart sein, daß ein Fachmann sie ausführen kann (Art. 83 EPÜ). Im vorliegenden Fall besteht die im Hauptanspruch enthaltene Erfindung in chemischen Umsetzungen einer Reihe von 8 Ausgangsverbindungen (C-076-Verbindungen), die mindestens die folgenden beiden Schritte umfassen müssen:

(a) Entfernen der |-L-Oleandrosyl-|-L-Oleandrose-Gruppe durch Hydrolyse;

(b) Ersetzen der in Schritt (a) erhaltenen Hydroxygruppe durch einen Halogenrest mittels Reaktion mit einem ausreichend reaktiven Benzolsulfonylhalogenid in Gegenwart einer Base.

Aus dem Wortlaut der Ansprüche und der Beschreibung geht eindeutig hervor, daß die Erfindung als solche die Herstellung der Ausgangsverbindungen nicht einschließt, da diese alle als bekannt vorausgesetzt werden. Dies deckt sich völlig mit Absatz 7 von Prof. Leys eidesstattlicher Erklärung, wo er unter anderem folgendes feststellte: "Wenn die genannten Ausgangsverbindungen vorhanden sind, so sind die anschließenden chemischen Verarbeitungsschritte im einzelnen mehr als ausreichend beschrieben, so daß ein erfahrener Synthesechemiker die Umsetzungen nacharbeiten kann." Dieser Feststellung wird in den eidesstattlichen Erklärungen von Prof. Bull und Prof. Hough nicht widersprochen. In beiden heißt es, daß es einem Fachmann - wenn ihm die Ausgangsverbindungen erst einmal vorliegen - keine praktischen Schwierigkeiten bereiten würde, diese weiter umzusetzen, so daß die Offenbarung des angefochtenen Patents in dieser Hinsicht nicht als unzureichend betrachtet werden kann.

Demnach dürften die Erfordernisse des Artikels 83 erfüllt sein; zu diesem Schluß war auch die Prüfungsabteilung gelangt, da sie das Patent erteilte, ohne die Hinlänglichkeit der Offenbarung in Frage zu stellen. Es ist bezeichnend, daß in diesem Punkt sogar die Beschwerdegegnerin am Ende des Beschwerdeverfahrens nicht mehr bestritt, daß die oben definierte Offenbarung der Erfindung tatsächlich ausreicht.

4. Der Einwand der Beschwerdegegnerin geht allerdings darüber hinaus. Sie behauptet, daß die Ausgangsverbindungen in der ursprünglich eingereichten Beschreibung überhaupt nicht beschrieben seien, der Fachmann also nicht in der Lage sei, die beanspruchte Erfindung auszuführen.

Im vorliegenden Fall umfassen die zu verwendenden Ausgangsverbindungen eine Reihe von 8 chemisch verwandten Verbindungen, die sog. C-076-Verbindungen, bei denen es sich um |-Oleandrosyl-|-Oleandrosid-Derivate 16-gliedriger pentacyklischer Lactonen handelt, die mit den Milbemycinen verwandt sind und wie folgt mit A1a bis B2b bezeichnet werden: C- 076 A1a, C-076-A1b, C-076 A2a, C-076 A2b, C-076 B1a, C-076 B1b, C-076 B2a; C-076 B2b. Die Herstellung, Isolierung und Charakterisierung dieser acht Verbindungen ist in Dokument 5 genau beschrieben.

Die Beschwerdegegnerin räumte ein, daß die in Dokument 5 enthaltene Information ausreiche, um alle acht Ausgangsverbindungen herzustellen, und daß diese Information in Verbindung mit der im angefochtenen Patent enthaltenen ausgereicht hätte, um mit allen bei der Ausführung der beanspruchten Erfindung auftretenden praktischen Schwierigkeiten fertig zu werden. Allerdings war dieses Dokument weder in den Prioritätsunterlagen noch in der ursprünglich eingereichten Fassung der Anmeldung, noch im angefochtenen Patent zu diesem Zweck erwähnt worden. So stellt sich lediglich die Frage, ob das genannte Dokument in Hinblick auf Artikel 123 (2) EPÜ im Beschwerdeverfahren in die Beschreibung aufgenommen werden darf oder nicht.

5. Dokument 5 bezieht sich auf eine neue Familie von acht chemisch verwandten Mitteln mit anthelmintischer Wirksamkeit und der Sammelbezeichnung C-076-Verbindungen, welche von einer bis dato unbeschriebenen Spezies der Gattung Streptomyces mit dem Namen Streptomyces avermitilis erzeugt werden. In dem Dokument wird auch ein Verfahren zur Wiedergewinnung und Reinigung dieser Verbindungen angegeben, die mit der Strukturformel beschrieben werden können, die im einleitenden Teil des angefochtenen Patents genannt ist, wo alle acht Verbindungen im einzelnen beschrieben sind (s. S. 2, Zeile 44 ff.).

Bei einem Vergleich der diese bekannten Verbindungen beschreibenden Strukturformel mit derjenigen der nunmehr beanspruchten Verbindungen (s. S. 4, Zeile 1 - 41 der Beschreibung) zeigt sich, daß die C-076-Ausgangsverbindungen zweifellos zu den Verbindungen gehören, welche mit den Derivaten, die mit dem im angefochtenen Patent beschriebenen Verfahren erzielt werden, strukturell am nächsten verwandt sind. Daher gehört Dokument 5 zu den Dokumenten, die bei der Prüfung auf erfinderische Tätigkeit in Betracht gezogen werden müssen, wie dies die erste Instanz gleich am Anfang dieses Verfahrens auch getan hat. So hatte die Prüfungsabteilung dieses Dokument bei der Prüfung auf erfinderische Tätigkeit zu Recht berücksichtigt, obwohl sie ein anderes Dokument als nächsten Stand der Technik ausgewählt hatte (s. Bescheid vom 6.5.82, letzter Absatz).

Nach Auffassung der Beschwerdekammer hätte ein Hinweis auf Dokument 5 in diesem frühen Verfahrensstadium nicht nur ohne jede Schwierigkeit aufgenommen werden können, sondern angesichts der offenkundigen Relevanz dieses Dokuments auch aufgenommen werden müssen.

Es ist für die Beschwerdekammer nicht einsichtig, weshalb dieses Dokument im europäischen Recherchenbericht nicht konkret erwähnt worden war, da

- sowohl die Ausgangsverbindungen als auch deren Derivate nach der Hierarchie der Internationalen Patentklassifikation derselben Untergruppe, also der kleinsten Klassifizierungseinheit, die bei der Recherche abgesucht wird, angehören;

- die Beschwerdeführerin bei der Vertretung ihrer Sache vor der Prüfungsabteilung wiederholt auf dieses Dokument hingewiesen hat (s. Schreiben vom 28.1.82 und vom 18.10.82).

Somit gehört das Dokument 5, abgesehen davon, daß es die für die Ausführung der beanspruchten Erfindung notwendige Information enthält, zweifellos zum Stand der Technik und stellt wahrscheinlich sogar den nächsten Stand der Technik dar.

6. Die Beschwerdekammer vertritt daher die Auffassung, daß die Aufnahme des Dokuments 5 in die Beschreibung nach Regel 27 (1) c) EPÜ zulässig ist und in Einklang mit einer früheren Entscheidung steht, wonach die spätere Aufnahme eines Dokuments des Stands der Technik in eine Beschreibung keinen Verstoß gegen Artikel 123 (2) EPÜ darstellt (siehe Entscheidung T 11/82, "Steuerschaltung/LANSING BAGNALL", ABl. EPA 1983, 479, Nr. 22).

7. Unter diesen Umständen überrascht es, daß der Prüfungsabteilung die in der Beschreibung in der eingereichten Fassung enthaltene Information völlig genügte, obwohl sie in mehreren kritischen Einwendungen nach Artikel 115 EPÜ eindeutig auf die Relevanz des Dokuments 5 hingewiesen worden war. Wie dem auch sei, die Prüfungsabteilung hat diese Gelegenheit nicht wahrgenommen, um an geeigneter Stelle der Beschreibung einen Hinweis auf dieses Dokument aufzunehmen. Ein Grund hierfür mag darin liegen, daß in der ursprünglichen Fassung der Beschreibung eine die Herstellung der Ausgangsverbindungen betreffende technische Information enthalten war (siehe Seite 47 - 51), welche in den Prioritätsunterlagen nicht erwähnt war. Im Prüfungsstadium der Anmeldung wurde allerdings kein Versuch unternommen, den Ursprung dieser Information aufzuklären. Diese Frage wurde erst im Einspruchsstadium aufgeworfen; dies könnte eine Erklärung dafür sein, weshalb das Dokument 5 von der ersten Instanz nicht als einschlägiger Stand der Technik im Sinn der Regel 27 (1) c) EPÜ erkannt worden war. Wäre dies schon zu Anfang geschehen, so hätte die Sache gleich zu Beginn des Verfahrens richtiggestellt werden können; so hätte sich später die Frage nach Artikel 83 EPÜ gar nicht gestellt.

8. Obwohl daraus folgt, daß die Aufnahme eines Hinweises auf das Dokument 5 in die Beschreibung nach Regel 27 (1) c) EPÜ erforderlich und nach Artikel 123 (2) EPÜ auch zulässig ist, will die Beschwerdekammer auch auf die sich in diesem Verfahren stellende Frage nach dem allgemeinen Fachwissen eingehen.

Die Beschwerdegegnerin vertrat die Auffassung, daß die zweite der beiden im Laufe des Verfahrens erwähnten früheren Entscheidungen T 171/84 "Redox-Katalysator" und T 206/83 "Herbizide" auf den vorliegenden Fall nicht anwendbar sei. In den beiden von derselben Kammer getroffenen Entscheidungen wurde die Auffassung vertreten, daß Patentschriften in der Regel nicht zum allgemeinen Wissensstand des Durchschnittsfachmanns gehörten.

9. Die C-076-Ausgangsverbindungen, um die es hier geht, stellen hochentwickelte mikrobielle Metaboliten dar, die ein vollkommen neues Forschungsgebiet erschließen; daher hatte sich das durch Grundlagenforschung erworbene erste technische Wissen auf diesem Gebiet noch nicht in Form von Lehrbüchern niedergeschlagen. Der der früheren Entscheidung T 206/83 zugrunde liegende Fall war hingegen ganz anders gelagert; dort war der Fachmann auf dem Gebiet der klassischen Herbizidchemie tätig, das nicht zu den neuen, noch in der Entwicklung begriffenen Gebieten wie das der C-076-Verbindungen gehört. Man kann deshalb in diesen beiden Fällen beim Fachmann nicht den gleichen allgemeinen Wissensstand voraussetzen. Dementsprechend ist die Sachlage bei den früheren Entscheidungen nicht mit der im vorliegenden Fall vergleichbar, der notfalls für sich allein entschieden werden könnte, und zwar dahingehend, daß das Dokument 5 als Bestandteil des einschlägigen allgemeinen Fachwissens anzusehen ist, womit der Einwand der unzureichenden Offenbarung aufgrund von Artikel 83 EPÜ entkräftet wäre.

10. Daraus folgt, daß Dokument 5 in die Beschreibung des angefochtenen Patents aufzunehmen ist.

Der Hauptantrag der Beschwerdeführerin, das Patent in unveränderter Form aufrechtzuerhalten, muß also zurückgewiesen werden.

Da die Beschreibung noch nicht - wie gefordert - abgeändert worden ist, wird die Aufrechterhaltung des Patents davon abhängig gemacht, daß die Beschwerdeführerin eine entsprechend geänderte Beschreibung einreicht.

Damit ist der zweite Hilfsantrag der Beschwerdeführerin gegenstandslos geworden.

ENTSCHEIDUNGSFORMEL

Aus diesen Gründen wird entschieden:

- Die Entscheidung der Einspruchsabteilung wird aufgehoben.

- Die Sache wird an die Einspruchsabteilung mit der Auflage zurückverwiesen, das Patent in geändertem Umfang aufrechtzuerhalten, wobei die Änderung darin besteht, daß entsprechend Regel 27 (1) c) EPÜ ein Hinweis auf die Druckschrift DE-A-2 717 040 in das Patent aufgenommen wird.

Quick Navigation