European Case Law Identifier: | ECLI:EP:BA:1987:T001986.19871015 | ||||||||
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Datum der Entscheidung: | 15 October 1987 | ||||||||
Aktenzeichen: | T 0019/86 | ||||||||
Anmeldenummer: | 82200705.0 | ||||||||
IPC-Klasse: | A61K 39/245 | ||||||||
Verfahrenssprache: | EN | ||||||||
Verteilung: | |||||||||
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Bezeichnung der Anmeldung: | - | ||||||||
Name des Anmelders: | Duphar | ||||||||
Name des Einsprechenden: | - | ||||||||
Kammer: | 3.3.01 | ||||||||
Leitsatz: | 1. Unter den Begriff "therapeutische Behandlung" im Sinne des Artikels 52 (4) EPÜ fallen sowohl prophylaktische Behandlungen als auch Heilbehandlungen. 2. Wird ein Impfstoff, dessen Verwendung bei der Behandlung einer bestimmten Tiergruppe (hier: seronegative Schweine) bekannt ist, bei einer neuen, unterschiedlichen Gruppe derselben Tierfamilie (hier: seropositive Schweine) therapeutisch angewandt, dann liegt eine zweite medizinische Indikation entsprechend dem in der Entscheidung Gr 01/83 (ABl. EPA 1985, 60) dargelegten Grundsatz vor, die patentfähig ist, wenn sie erfinderisch ist. |
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Relevante Rechtsnormen: |
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Schlagwörter: | Bekannte therapeutische Behandlung - Anwendung bei anderer Tiergruppe Weitere medizinische Indikation |
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Orientierungssatz: |
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Angeführte Entscheidungen: |
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Anführungen in anderen Entscheidungen: |
Sachverhalt und Anträge
I. Die am 9. Juni 1982 unter Inanspruchnahme einer niederländischen Priorität vom 10. Juni 1981 eingereichte und am 12. Januar 1983 unter der Nummer 0 069 407 veröffentlichte europäische Patentanmeldung Nr. 82 200 705.0 wurde mit Entscheidung der Prüfungsabteilung vom 21. August 1985 zurückgewiesen. Der Entscheidung lagen die am 11. März 1985 eingereichten Ansprüche 1 bis 5 zugrunde, die wie folgt lauten:
(1) Verwendung von lebenden, abgeschwächten Aujeszky-Viren zur Herstellung eines Impfstoffes, um vom Muttertier her immune Schweine intranasal gegen die Aujeszky-Krankheit zu schützen
(2) Verwendung nach Anspruch 1, dadurch gekennzeichnet, daß das Virus des Bartha-Stammes in eine für die intranasale Verabreichung geeignete Form gebracht wird
(3) Verwendung nach Anspruch 1, dadurch gekennzeichnet, daß das in sekundären Schweinenierenzellen oder in einer kontinuierlichen Schweinenierenzellinie kultivierte Virus in eine für die intranasale Verabreichung geeignete Form gebracht wird
(4) Verwendung nach Anspruch 3, dadurch gekennzeichnet, daß eine Virusmenge von 104 - 107 TCID50 in eine für die intranasale Verabreichung geeignete Form gebracht wird
(5) Verwendung nach Anspruch 4, dadurch gekennzeichnet, daß eine Menge von 106 TCID50 in eine für die intranasale Verabreichung geeignete Form gebracht wird
II. Die oben genannte Entscheidung wurde im wesentlichen aus folgenden Gründen getroffen:
(i) Das lebende, abgeschwächte Aujeszky-Virus, das erfindungsgemäß zur Herstellung eines Impfstoffes zur intranasalen Verabreichung bei vom Muttertier her immunen (d. h. seropositiven) Ferkeln verwendet werde, unterscheide sich nicht von dem lebenden, abgeschwächten Aujeszky-Virus, das im Stand der Technik verwendet werde, um seronegative Ferkel durch intranasale Verabreichung zu schützen.
(ii) Zweck eines Impfstoffes (therapeutische Anwendung) sei es, einen Immunisierungszustand hervorzurufen und damit Schutz gegen eine bestimmte Krankheit (hier die Aujeszky-Krankheit) zu gewähren. Dieser Zweck werde sowohl von den bekannten Impfstoffen als auch von den erfindungsgemäßen in gleicher Weise erfüllt. Die therapeutische Anwendung sei deshalb nicht neu.
(iii) Ob die Anwendung eines bekannten Arzneimittels zur Behandlung derselben Krankheit bei einer immunologisch verschiedenen Tierpopulation derselben Art als neu und erfinderisch gelten könne, sei von der Großen Beschwerdekammer in der oben genannten Entscheidung nicht geklärt worden. Nach Auffassung der Prüfungsabteilung seien somit die Ansprüche 1 und 2 nicht neu, und die Ansprüche 3, 4 und 5 enthielten keine Merkmale, die patentierbar wären.
III. Am 18. Oktober 1985 legte die Beschwerdeführerin gegen diese Entscheidung unter Entrichtung der vorgeschriebenen Gebühr Beschwerde ein.
Die Beschwerdebegründung wurde am 21. Dezember 1985 nachgereicht; die Beschwerdeführerin behauptete darin, sie habe überraschenderweise festgestellt, daß die Impfung junger seropositiver, d. h. vom Muttertier her noch immuner Ferkel durch intranasale Verabreichung einen guten Schutz gegen die Aujeszky-Krankheit biete. Dieses Ergebnis stehe im Gegensatz zu dem, was nach der bisherigen Erfahrung mit Injektionsimpfstoffen zu erwarten gewesen sei, und sei deshalb neu und erfinderisch. Die Frage sei nur, wie diese Erfindung durch gewährbare Ansprüche geschützt werden könne.
Die Beschwerdeführerin beantragte die Erteilung eines Patents auf der Grundlage der am 11. März 1985 eingereichten Ansprüche 1 bis 5; sie bezog sich dabei auf die Entscheidung der Großen Beschwerdekammer Gr 05/83**), die ihres Erachtens nicht so eng angelegt sei, daß sie die Patentierbarkeit der beanspruchten Erfindung ausschließe.
(...)
Entscheidungsgründe
(...)
4. Der vorliegenden Erfindung liegt somit die technische Aufgabe zugrunde, ein Verfahren zur Immunisierung seropositiver Ferkel anzugeben. Zur Lösung dieser Aufgabe schlägt die Beschwerdeführerin vor, daß die Ferkel so früh wie möglich, d. h. in einem Alter, in dem sie gewöhnlich noch vom Muttertier her immun sind, mit einem lebenden, abgeschwächten Aujeszky-Virus intranasal gegen die Aujeszky-Krankheit geimpft werden.
5. Die Ansprüche 1 bis 5 des Hauptantrags entsprechen der von der Großen Beschwerdekammer in der Entscheidung Gr 05/83**) (ABl. EPA 1985, 64) und in sechs anderen damit zusammenhängenden Entscheidungen zugelassenen Formulierung. Die Große Beschwerdekammer hat entschieden, daß Ansprüche, die auf die Verwendung eines Stoffes oder Stoffgemisches zur Herstellung eines Arzneimittels für eine bestimmte neue, erfinderische therapeutische Anwendung gerichtet seien, selbst dann gewährbar seien, wenn sich das Arzneimittel in keiner Weise von einem bekannten unterscheide.
In jedem der Fälle, mit denen die Große Beschwerdekammer befaßt war, ging es bei der jeweiligen neuen therapeutischen Anwendung des Arzneimittels um die Behandlung einer anderen Krankheit als der früher offenbarten. Die Kammer stellte fest, daß die Ansprüche in diesen Fällen nicht gegen die Artikel 52 (4) und 57 EPÜ verstießen; jedoch könne es ihnen im Hinblick auf die Bestimmung in Artikel 54 (5) EPÜ ("sofern ... ihre Anwendung zu einem dieser [in Artikel 52 (4) EPÜ genannten] Verfahren nicht zum Stand der Technik gehört") an Neuheit mangeln.
Obwohl der Stand der Technik bereits eine therapeutische Verwendung des Arzneimittels enthielt, erschien es der Großen Beschwerdekammer gerechtfertigt, die Neuheit der Herstellung des Arzneimittels aus seinem neuen therapeutischen Gebrauch abzuleiten; auf dieser Grundlage seien Ansprüche mit dieser besonderen Formulierung patentierbar.
Die Große Beschwerdekammer wies jedoch nachdrücklich darauf hin, "daß der hier festgelegte Grundsatz der Beurteilung der Neuheit der Herstellung nur für die Erfindungen bzw. Patentansprüche gerechtfertigt ist, die sich auf die Verwendung eines Stoffes oder Stoffgemisches für ein in Artikel 52 (4) EPÜ genanntes Verfahren beziehen."
6. Im vorliegenden Fall wird nicht vorgeschlagen, das bekannte Arzneimittel - den Impfstoff - zur Behandlung einer anderen Krankheit als der früher offenbarten zu verwenden. Es wird dieselbe Krankheit, nämlich die Aujeszky-Krankheit, behandelt. Somit liegt hier - anders als im Fall vor der Großen Beschwerdekammer - keine neue therapeutische Verwendung des Impfstoffes vor, also keine Anwendung bei einer anderen Krankheit. Es wird jedoch gelehrt, daß der bekannte Impfstoff bei einer neuen Gruppe von Schweinen, nämlich seropositiven Schweinen, die noch vom Muttertier her immun sind, wirksam eingesetzt werden kann. Nun stellt sich die Frage, ob die Anwendung des Impfstoffes bei dieser neuen Schweinegruppe als neue therapeutische Anwendung gelten kann, aus der die Neuheit der Ansprüche entsprechend den in der Entscheidung der Großen Beschwerdekammer aufgestellten Grundsätzen abgeleitet werden kann.
7. Wie bereits unter Nummer 5 erwähnt, ist diese besondere Ableitung der Neuheit nur im Zusammenhang mit Ansprüchen möglich, die eine Verwendung im Sinne des Artikels 52 (4) EPÜ zum Gegenstand haben. Im vorliegenden Fall handelt es sich eher um eine prophylaktische Behandlung der Schweine als um eine Heilbehandlung. Nach Ansicht der Kammer fallen sowohl prophylaktische Behandlungen als auch Heilbehandlungen unter den in Artikel 52 (4) EPÜ verwendeten Begriff der "therapeutischen Behandlung", da sie beide demselben Zweck dienen, nämlich der Erhaltung oder Wiederherstellung der Gesundheit. Diese Auslegung des Artikels 52 (4) EPÜ entspricht den Grundsätzen, auf denen er beruht - siehe hierzu die Entscheidung T 116/85 vom 14. Oktober 1987. Sie entspricht ferner einem Urteil des Patentgerichts des Vereinigten Königreichs in der Sache Unilever Limited (Davis') Application, 1983 RPC, S. 219, in dem ausführlich erörtert wird, wie 4 (2) des Patentgesetzes (UK) von 1977, der auf Artikel 52 (4) EPÜ zurückgeht und dieselbe Wirkung entfalten soll, in diesem Zusammenhang richtig auszulegen ist. Die Auslegung steht ferner in Einklang mit dem Kommentar von Bruchhausen, 5, Randnummer 11 in Benkard, Patentgesetz und Gebrauchsmustergesetz, 7. Auflage, München 1981. Eine ähnliche Auffassung wird in den "Richtlinien für die Prüfung im EPA", C-IV, 4.3 vertreten.
8. Der Begriff der Patentierbarkeit der Verwendung eines Stoffes oder Stoffgemisches zur Herstellung eines Arzneimittels für eine neue, erfinderische therapeutische Anwendung, der entsprechend der Entscheidung der Großen Beschwerdekammer (Gr 05/83**)) auch für Stoffe und Stoffgemische gilt, deren therapeutische Verwendung bereits bekannt ist, ist weit auszulegen. Eine solche neue Verwendung ist nicht nur dann wertvoll, wenn ein neues therapeutisches Einsatzgebiet, d. h. eine neue medizinische Indikation, gegeben ist, sondern auch dann, wenn eine neue Tiergruppe durch ein Medikament, auf das sie bisher nicht angesprochen hat, von einer Krankheit geheilt oder dagegen geschützt wird.
Die Frage, ob eine neue therapeutische Verwendung im Sinne der Entscheidung Gr 05/83**) vorliegt, ist nicht nur aufgrund der zu behandelnden Krankheit, sondern auch aufgrund des zu behandelnden Subjekts (hier der neuen Schweinegruppe) zu entscheiden. Eine therapeutische Anwendung ist unvollständig, wenn das zu behandelnde Subjekt nicht bezeichnet wird; eine technische Lehre ist nur dann vollständig, wenn sowohl die Krankheit als auch das zu behandelnde Subjekt offenbart werden.
Wie bereits erwähnt, hat die Anmelderin nachgewiesen, daß seropositive Ferkel bisher nicht gegen die Aujeszky-Krankheit geschützt werden konnten. Die in der Anmeldung vorgeschlagene Lösung, diesen Tieren zum Schutz gegen diese Krankheit ein bekanntes Serum intranasal zu verabreichen, war im Stand der Technik nicht offenbart und stellt daher eine neue therapeutische Anwendung im Sinne der oben genannten Entscheidung dar.
9. Es steht außer Zweifel, daß die besondere Verwendung des Impfstoffes zur intranasalen Immunisierung seropositiver Schweine neu ist. Bei der Beantwortung der Frage nach der erfinderischen Tätigkeit dieser besonderen Verwendung ist die Entgegenhaltung 1 als nächstliegender Stand der Technik anzusehen. Sie offenbart, daß die intranasale Verabreichung dieses Impfstoffes an seronegative Ferkel nur eine sehr geringe Wirkung zeigt, obwohl es nach der Exposition zu weniger klinischen Erkrankungen kommt als nach einer intramuskulären Impfung. Die Verfasser führen aus, daß dieser geringfügige Vorteil gegen die Gefahr einer Ausscheidung des Impfstoffvirus durch die intranasal geimpfte Gruppe sowie gegen die Schwierigkeiten bei der intranasalen Verabreichung abgewogen werden muß. Nach Auffassung der Kammer hätte insbesondere der erstgenannte Nachteil den Fachmann nicht dazu bewogen, die intranasale Impfung bei seropositiven Ferkeln anzuwenden, weil die Ansteckungsgefahr innerhalb einer Population mit unterschiedlichen mütterlichen Antikörpertitern sofort nach der Impfung sehr groß ist. Es scheint auch, daß bei intranasaler Impfung seropositiver Ferkel die Immunität sehr langsam aufgebaut wird, was einen optimalen Schutz gegen die Krankheit bringt (vgl. Tabellen A und B auf S. 4 der Anmeldung), und daß die intranasale Impfung seropositiver Ferkel eine umfassendere Wirkung hat (vgl. Tabelle C, wo ein Tier auch nach der Impfung seronegativ blieb, mit Tabelle D auf S. 4 der vorliegenden Anmeldung).
10. Unter Nummer 21 ihrer Entscheidung stellt die Große Beschwerdekammer fest, daß Artikel 52 (1) EPÜ den allgemeinen Grundsatz enthält, daß Erfindungen, die gewerblich anwendbar, neu und erfinderisch sind, zu patentieren sind, daß also dementsprechend die neue Verwendung eines bekannten Erzeugnisses in allen Bereichen der gewerblichen Tätigkeit, außer im Falle der Verwendung bei chirurgischen, therapeutischen oder diagnostischen Verfahren als solchen (auf die Artikel 52 (4) EPÜ anzuwenden ist), durch Patentansprüche geschützt werden kann, die auf diese Verwendung gerichtet sind, sofern diese neu und erfinderisch ist. Nach Auffassung der Kammer (s. Nr. 9) stellt die intranasale Verabreichung des Impfstoffes an seropositive Schweine eine überraschend wirksame Lösung der unter Nummer 4 dargelegten Aufgabe dar und ist deshalb als erfinderisch anzusehen.
ENTSCHEIDUNGSFORMEL
11. Im vorliegenden Fall hält die Kammer, wie oben dargelegt, die beanspruchte Verwendung des Impfstoffes aus lebenden abgeschwächten Aujeszky-Viren für neu und erfinderisch. Dementsprechend ist Anspruch 1 des Hauptantrags zusammen mit den abhängigen Ansprüchen 2 bis 5 patentierbar.