T 2968/19 () of 28.3.2023

European Case Law Identifier: ECLI:EP:BA:2023:T296819.20230328
Datum der Entscheidung: 28 März 2023
Aktenzeichen: T 2968/19
Anmeldenummer: 15718770.9
IPC-Klasse: F25J 3/04
G05B 13/04
Verfahrenssprache: DE
Verteilung: D
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Bibliografische Daten verfügbar in: DE
Fassungen: Unpublished
Bezeichnung der Anmeldung: VERFAHREN UND VORRICHTUNG ZUR TIEFTEMPERATURZERLEGUNG VON LUFT
Name des Anmelders: Linde GmbH
Name des Einsprechenden: -
Kammer: 3.2.03
Leitsatz: -
Relevante Rechtsnormen:
European Patent Convention Art 84
Rules of procedure of the Boards of Appeal 2020 Art 013(2)
European Patent Convention Art 97(1)
European Patent Convention Art 113(2)
Schlagwörter: Patentansprüche - Deutlichkeit (nein)
Patentansprüche - wesentliche Merkmale fehlen
Patentansprüche - Auslegung mittels Rückgriff auf Defition in der Beschreibung (nein)
Änderung nach Ladung - außergewöhnliche Umstände (nein)
Änderung nach Ladung - berücksichtigt (nein)
Orientierungssatz:

-

Angeführte Entscheidungen:
T 1646/12
T 1473/19
T 0169/20
Anführungen in anderen Entscheidungen:
T 0438/22
T 1256/22

Sachverhalt und Anträge

I. Die Europäische Patentanmeldung mit der Nummer EP 15 718 770 betrifft ein Verfahren und eine Vorrichtung zur Tieftemperaturzerlegung von Luft in einem Destillationssäulen-System, in der die Steuerung mindestens eines Prozessparameters durch eine Kombination aus einer "ALC-Steuerung" und einem MPC-Regler vorgenommen wird.

II. Die Prüfungsabteilung hat die Anmeldung mit der angefochtenen Entscheidung zurückgewiesen. In ihrer Entscheidung vertrat die Prüfungsabteilung die Auffassung, dass der Gegenstand der Ansprüche 1 und 6 gemäß des Hauptantrags nicht neu ist und der Gegenstand der Ansprüche 1 bis 5 nicht den Erfordernissen des Artikels 84 EPÜ genügt. Gegen diese Entscheidung wendet sich die Anmelderin ("Beschwerdeführerin") mit der Beschwerde.

III. Am 28. März 2023 fand eine mündliche Verhandlung vor der Beschwerdekammer statt.

IV. Die Schlussanträge lauten wie folgt:

Die Beschwerdeführerin beantragte, die angefochtene Entscheidung aufzuheben und ein Patent auf der Grundlage der Ansprüche des Hauptantrags, eingereicht mit der Beschwerdebegründung (entsprechend den Ansprüchen wie ursprünglich eingereicht), oder eines der Hilfsanträge 1 oder 2, eingereicht mit Schreiben vom 16. Januar 2023, zu erteilen.

V. Auf die folgenden, bereits im Prüfungsverfahren verwendeten Dokumente wird in dieser Entscheidung verwiesen:

D1: US 2002/017113 A1

D2: Zuhua Xu et al: "Automatic Load Change System of

Cryogenic Air Separation Process", Separation and

Purification Technology, Band 81 (2011),

Seiten 451-465

VI. Anspruchsfassungen, soweit relevant für die Entscheidung

a) Der unabhängige Verfahrensanspruchs 1 des Hauptantrags lautet (Merkmalsgliederung der Steuerung in "[]" hinzugefügt):

"Verfahren zur Tieftemperaturzerlegung von Luft in einem Destillationssäulen-System, das mindestens eine Trennsäule aufweist, bei dem

- Einsatzluft in einem Hauptluftverdichter verdichtet wird,

- verdichtete Einsatzluft in einem Hauptwärmetauscher abgekühlt wird,

- abgekühlte Einsatzluft in das Destillationssäulen-System eingeleitet wird und

- mindestens ein Produktstrom aus dem Destillationssäulen-System abgezogen, im Hauptwärmetauscher angewärmt und als gasförmiges Endprodukt abgezogen wird,

- [A] wobei mindestens ein Prozessparameter durch einen Basisregler eingestellt wird,

dadurch gekennzeichnet, dass

- [B] die Steuerung des Prozessparameters durch eine Kombination aus einer ALC-Steuerung und einem MPC-Regler vorgenommen wird,

- [C] wobei die ALC-Steuerung einen Satz von Messwerten des Parameters enthält, die bei einem Probebetrieb der Anlage aufgenommen wurden und die verschiedenen Lastfällen und den Übergängen zwischen diesen Lastfällen entsprechen, wobei ferner

- [D]die ALC-Steuerung einen ersten Zielwert an den MPC-Regler ausgibt,

- [E]der MPC-Regler aus dem ersten Zielwert einen Sollwert oder eine Sollwertänderung für einen von der ALC-Steuerung ausgegebenen primären Sollwert berechnet und

- [F] der vom MPC-Regler ermittelte Sollwert oder ein sekundärer Sollwert, der aus dem von der ALC-Steuerung ausgegebenen primären Sollwert und der Sollwertänderung berechnet wird, an den Basisregler übergeben wird."

b) Anspruch 1 des Hilfsantrags 1 weist gegenüber Anspruch 1 des Hauptantrags folgende Änderungen in den Merkmalsgruppen [C] und [D] auf (fett und durchgestrichen hervorgehoben):

"...

- [C'] wobei die ALC-Steuerung einen Satz von Messwerten des Parameters enthält, die bei einem Probebetrieb der Anlage über deren gesamten Betriebsbereich aufgenommen wurden und die verschiedenen Lastfällen und den Übergängen zwischen diesen Lastfällen entsprechen,

- diese Messwerte in einem mathematischen Modell im ALC hinterlegt werden,

- wobei ferner beim Anfahren eines neuen Lastfalls in der ALC-Steuerung mindestens ein erster Zielwert vorgerechnet und dann mit einer synchronisierten Rampe angefahren wird,

- [D']die ALC-Steuerung [deleted: einen] den ersten Zielwert an den MPC-Regler ausgibt,..."

c) Anspruch 1 des Hilfsantrags 2 weist gegenüber Anspruch 1 des Hilfsantrags 1 folgende Änderungen in der Merkmalsgruppe [C'] auf (fett und durchgestrichen hervorgehoben):

"...

- [C''] wobei die ALC-Steuerung einen Satz von Messwerten des Parameters enthält, die bei einem Probebetrieb der Anlage über deren gesamten Betriebsbereich aufgenommen wurden und die verschiedenen Lastfällen und den Übergängen zwischen diesen Lastfällen entsprechen,

- diese Messwerte in einem mathematischen Modell im ALC hinterlegt werden,

- wobei ferner beim Anfahren eines neuen Lastfalls in der ALC-Steuerung mindestens [deleted: ein erster Zielwert] die Zielsollwerte der einzelnen Basisregler des Leitsystems vorgerechnet, wobei die Zielsollwerte einen ersten Zielwert umfassen und dann mit einer synchronisierten Rampe angefahren wird,..."

VII. Das Vorbringen der Beschwerdeführerin lässt sich, soweit es für diese Entscheidung relevant ist, wie folgt zusammenfassen:

a) Hauptantrag - Artikel 84 EPÜ

Der Gegenstand der Ansprüche des Hauptantrags erfülle die Erfordernisse von Artikel 84 EPÜ. Die Ansprüche seien im Lichte der Beschreibung zu lesen, insbesondere weil der Grundsatz gelte, dass die Anmeldung ihr eigenes Wörterbuch darstelle. Somit erkenne die Fachperson direkt und unmittelbar, was unter dem Begriff "ALC-Steuerung" zu verstehen sei, und wie diese in das beanspruchte Regelkonzept eingebunden sei. Auch sei durch die Anspruchsfassung den in Artikel 84 EPÜ genannten Anforderungen an die Knappheit genüge getan. Bei einer abwägenden Gesamtschau der genannten rechtlichen Erfordernisse des Artikels 84 EPÜ erweise sich der Anspruchswortlaut somit als gewährbar. Zudem berge die Einführung von Änderungen zur Klarstellung das Risiko neu entstehender, weiterer Einwände, beispielsweise bezüglich einer unzulässigen Erweiterung des Gegenstandes.

b) Zulassung der Hilfsanträge 1 und 2

Die Hilfsanträge 1 und 2 seien unter Artikel 13(2) VOBK 2020 in das Verfahren zuzulassen, da außergewöhnliche Umstände vorlägen. Durch den Ladungsbescheid der Kammer sei der Einwand unter Artikel 84 EPÜ gegen den Hauptantrag erstmals verständlich und für die Beschwerdeführerin nachvollziehbar begründet worden. Daher müsse sie eine Gelegenheit bekommen, die im Bescheid von der Kammer konkretisierten Mängel auszuräumen. Zudem sei es eine Verletzung des Grundsatzes des Vertrauensschutzes, mit dem Ladungsbescheid notwendige Änderungen für einen gewährbaren Gegenstand aufzuzeigen, die auf diese Änderungen gerichteten Hilfsanträge jedoch nicht mehr in das Verfahren zuzulassen. In Hinblick auf die Ausführungen der Kammer im Ladungsbescheid sei es weiterhin geboten, der Beschwerdeführerin die Möglichkeit einzuräumen, verbliebene kleinere Klarheitsmängel in den Hilfsanträgen 1 und 2 mit entsprechenden Änderungen zu beheben.

Entscheidungsgründe

1. Artikel 84 EPÜ

Anspruch 1 des Hauptantrags erfüllt nicht die Erfordernisse von Artikel 84 EPÜ.

1.1 Die Prüfungsabteilung kommt in der angefochtenen Entscheidung zu dem Schluss, dass die Ansprüche 1 bis 5 durch die Verwendung des "vagen und unklaren" Merkmals "ALC-Steuerung" nicht den Erfordernissen von Artikel 84 EPÜ genügen. Die Fachperson sei bezüglich dessen Bedeutung im Ungewissen, insbesondere da der Begriff im Stand der Technik, etwa in D2, mit unterschiedlicher Bedeutung verwendet werde. Das Merkmal sei jedoch - wie es auch die Richtlinien für die Prüfung, F-IV, 4.2 verlangten - so im Anspruch zu definieren, dass die Bedeutung aus dem Wortlaut des Patentanspruchs allein deutlich werde.

Dieser Auffassung widerspricht die Beschwerdeführerin. Zwar werde der "Begriff 'ALC' für alles Mögliche verwendet, was nichts mit der 'ALC-Steuerung' der Patentanmeldung zu tun hat", die zutreffende Bedeutung des im Anspruch verwendeten Merkmals "ALC-Steuerung" erschließe sich jedoch hinreichend deutlich aus der Beschreibung. Dies sei im Hinblick auf die Anforderungen von Artikel 84 EPÜ ausreichend, da gemäß allgemeiner Auslegungsgrundsätze und in Analogie zu Artikel 69 EPÜ die Beschreibung zur Auslegung heranzuziehen sei. Dies entspreche zudem dem allgemeinen Grundsatz, dass "die Patentanmeldung ihr eigenes Wörterbuch" darstelle.

Die Beschwerdeführerin vertritt zudem die Auffassung, dass gemäß "eines Verhältnismäßigkeitsprinzips" der Wunsch nach einer "umfangreichen Definition" des Gegenstandes im Anspruch abzuwägen sei mit anderen Rechtserfordernissen. Dies seien im vorliegenden Fall insbesondere das in Artikel 84 EPÜ genannte Kriterium der Knappheit der Ansprüche, sowie potentielle rechtliche Probleme unter Artikel 123 (2) EPÜ, die aus von der Prüfungsabteilung geforderten Änderungen folgen könnten.

Die Kammer kommt jedoch ebenso wie die Prüfungsabteilung zu dem Schluss, dass die Erfordernisse von Artikel 84 EPÜ nicht erfüllt sind. Die Argumente der Beschwerdeführerin sind aus folgenden Gründen nicht überzeugend:

1.2 Rechtliche Anforderungen an das zu erteilende Patent

1.2.1 Artikel 84 EPÜ lautet: "Die Patentansprüche müssen den Gegenstand angeben, für den Schutz begehrt wird. Sie müssen deutlich und knapp gefasst sein und von der Beschreibung gestützt werden". Hierin sind somit für die Angabe des zu schützenden Gegenstandes die folgenden drei Erfordernisse an die Patentansprüche und die hieran vorgenommen Änderungen definiert:

- Deutlichkeit

- Knappheit

- Stützung des Gegenstandes durch die Beschreibung

Gemäß Artikel 97 (1) EPÜ ist die Voraussetzung zur Erteilung eines europäischen Patents, dass die europäische Patentanmeldung und die Erfindung, die sie zum Gegenstand hat, den Erfordernissen des EPÜ, also allen Anforderungen, genügen.

Dabei sind sämtliche dieser rechtlichen Anforderungen, auch die an die Deutlichkeit und Knappheit und ggf. auch an die Erfordernisse von Artikel 123(2) EPÜ, einzeln und unabhängig voneinander zu erfüllen.

1.2.2 Soweit die Beschwerdeführerin sich darauf berufen möchte, dass eine Klarstellung von Ansprüchen ein Risiko im Hinblick auf etwaige neu entstehende Einwände, insbesondere im Hinblick auf Artikel 123(2) EPÜ und - erneut - Artikel 84 EPÜ, birgt, so ändert dies nichts daran, dass sämtliche bestehenden Mängel durch sachgerechte Änderungen der Formulierungen vor einer möglichen Erteilung auszuräumen sind (vgl. Artikel 97(1) EPÜ).

1.3 Artikel 84 EPÜ - Deutlichkeit

1.3.1 Nach ständiger Rechtsprechung der Beschwerdekammern sollen die Patentansprüche in sich in einer Weise deutlich sein, dass eine Fachperson nicht den Inhalt der Beschreibung hinzuziehen muss, um ihren Gegenstand zu verstehen (Rechtsprechung der Beschwerdekammern, 10.Auflage 2022, II.A.3.1). In der Entscheidung der Großen Beschwerdekammer G 1/04, Gründe 6.2, wird hierzu ausgeführt, dass im Sinne der Erfordernisse von Artikel 84 EPÜ und zur Wahrung der Rechtssicherheit

- alle wesentlichen Merkmale, die zur Definition der Erfindung erforderlich sind, in einem unabhängigen Anspruch ausdrücklich angegeben sein sollen und

- die Bedeutung dieser Merkmale für die Fachperson aus dem Wortlaut des Anspruchs allein klar hervorgehen sollte.

1.3.2 Die Beschwerdeführerin beruft sich auf einen "allgemeinen Grundsatz", gemäß dem die Patentanmeldung ihr eigenes Wörterbuch darstelle. Sie argumentiert weiter, dass Artikel 69 (1) EPÜ und dessen Auslegungsprotokoll analog im Prüfungsverfahren anzuwenden seien. Aus alledem folge, dass das Merkmal "ALC-Steuerung" in Zusammenschau mit der Beschreibung hinreichend deutlich sei.

1.3.3 Artikel 69 (1) EPÜ bezieht sich auf die Ermittlung des Schutzbereichs des erteilten Patents und findet damit in Verfahren vor dem EPA im Wesentlichen in Zusammenhang mit Artikel 123 (3) EPÜ Anwendung. Artikel 69 (1) EPÜ kann daher die Ansicht der Beschwerdeführerin nicht stützen.

1.3.4 Trotzdem bleibt die Beschreibung zur Auslegung von Anspruchsmerkmalen nicht grundsätzlich unberücksichtigt. In der Entscheidung T 1646/12, Gründe 2.1 wird in diesem Zusammenhang (zur Auslegung von erteilten Patentansprüchen im Lichte der Beschreibung) Folgendes festgestellt:

"In diesem Zusammenhang gilt es zwei Extreme zu meiden. Zum einen ist es nicht zulässig, die Ansprüche und die Beschreibung gewissermaßen als kommunizierende Gefäße zu betrachten, zum Beispiel, indem man einschränkende Merkmale, die zwar in der Beschreibung beschrieben sind, aber nicht in den Ansprüchen, in letztere hineinliest. Eine solche Übertragung von einschränkenden Merkmalen kann nicht durch Auslegung, sondern nur durch eine Änderung der Ansprüche erreicht werden. Zum anderen kann man den Anspruch auch nicht als von der Beschreibung völlig getrennt betrachten. Der Fachmann, der einen Anspruch auslegt, muss sich zumindest vergewissern, ob die Ausdrücke des Anspruchs ihrem üblichen Wortsinn nach zu verstehen sind oder ob die Beschreibung für diese Ausdrücke eine besondere Bedeutung definiert."

Diese Abwägung ist in analoger Weise auch auf die Überprüfung der Kriterien von Artikel 84 EPÜ bei Änderungen der Ansprüche anzuwenden. Allerdings ist hier, im Gegensatz zur Auslegung erteilter Patentansprüche, zunächst dem Grundsatz genüge zu tun, dass die fehlenden wesentlichen Merkmale in den Anspruch aufzunehmen sind und die Bedeutung der Merkmale für die Fachperson aus dem Wortlaut des Anspruchs allein klar hervorgehen sollte (vgl. G 1/04, supra).

1.3.5 Wird, wie im vorliegenden Fall, ein komplexes technisches Merkmal (ALC-Steuerung) durch lediglich einen schlagwortartigen Begriff im Anspruch wiedergegeben, so sind die Untermerkmale, die dieses komplexe Merkmal möglicherweise bestimmen, zumindest nicht expliziter Teil des Anspruchswortlauts. Zur Beurteilung der Deutlichkeit ist zwischen Untermerkmalen zu unterscheiden, die sich für die Fachperson aus der im Anspruch verwendeten Begrifflichkeit bereits aus dem allgemeinen Fachwissen in dem technischen Kontext des Patents direkt und unmittelbar erschließen, und die somit implizit Teil des Anspruchsgegenstandes sind, sowie anderen Untermerkmalen, die zwar in der Beschreibung als wesentlicher Teil des komplexen Merkmals dargestellt werden, sich jedoch für die Fachperson nicht unmittelbar und eindeutig aus dem Fachwissen als implizit offenbart ergeben. Das Fehlen der letztgenannten Untermerkmale kann einen Mangel an Deutlichkeit begründen.

1.3.6 Der von der Beschwerdeführerin angeführte Rückgriff auf die Beschreibung im Sinne eines eigenen Wörterbuchs kann zur Auslegung der Ansprüche eines Patents im Einspruchsverfahren zulässig sein, wenn Merkmale einem Einwand unter Artikel 84 EPÜ nicht mehr zugänglich sind, jedoch trotzdem ausgelegt werden müssen (vgl. Rechtsprechung der Beschwerdekammern, a.a.O., II.A.6.3.3; G 3/14, Gründe 55, "must be lived with"). Jedoch sind einem solchen Rückgriff bei der Anspruchsauslegung Grenzen gesetzt (vgl. "primacy of the claim": T 1473/19, Gründe 3.16.2 oder T 0169/20, Gründe 1.3.4), insbesondere in der Weise, dass im Anspruch fehlende (und nicht aus dem fachgerechten Verständnis der im Anspruch verwendeten Begrifflichkeiten implizit definierte) Merkmale nicht in den Anspruch hineinzulesen sind.

Analog gilt auch im Prüfungsverfahren, dass das Fehlen solcher wesentlicher und nicht bereits aufgrund allgemeinen Fachwissens betreffend die im Anspruch verwendete Begrifflichkeit unmittelbar und eindeutig implizit als zugehörig erkennbarer Merkmale als Mangel unter Artikel 84 EPÜ zu beanstanden ist.

Nichts anderes ergibt sich auch aus den von der Beschwerdeführerin zitierten Richtlinien für die Prüfung im Europäischen Patentamt (2023, F-IV, 4.2).

1.3.7 Unklarer Anspruchswortlaut

Im vorliegenden Fall steht der Begriff "ALC-Steuerung" gemäß Seite 2 der Beschreibung für "Automatic Load Change - Steuerung".

Während eine Suche nach dem ebenfalls in Anspruch 1 verwendeten Begriff des "MPC-Reglers" rasch zu Standard-Lexika oder Werken aus dem Bereich der Regelungstechnik mit einer ausreichenden Definition des Begriffes führt, ist dies für den Begriff der "ALC-Steuerung" nicht der Fall. Dass es sich hierbei also nicht um einen allgemein üblichen Fachbegriff handelt, bestreitet auch die Beschwerdeführerin nicht.

In D2 wird zwar der Begriff "ALC-System" tatsächlich im Sinne eines "automatic load change" verwendet. Dieses System ist jedoch nach Auffassung der Beschwerdeführerin gerade nicht als eine ALC-Steuerung im Sinne der Erfindung anzusehen.

Es handelt sich - soweit unstreitig - bei dem Begriff ALC-Steuerung also nicht um einen stehenden Fachbegriff, dessen Bedeutung für die Fachperson aus dem Wortlaut des Anspruchs allein klar hervorgeht. Somit fehlen in Anspruch 1 wesentliche Merkmale zur Definition der spezifischen, in der Anmeldung beschriebenen ALC-Steuerung, die die Fachperson gerade nicht implizit mit der im Anspruch verwendeten Begrifflichkeit mitliest. Eine Klarstellung z.B. auf Basis der funktionellen Definition in der Beschreibung der Anmeldung ist daher geboten.

1.3.8 Fehlende wesentliche Merkmale

Unter einer Automatic-Load-Change-Steuerung versteht die Fachperson zwar grundsätzlich, dass bei einem Wechsel zwischen verschiedenen Lastfällen der Tieftemperatur-Luftzerlegungsanlage jeweils automatisch zu einem anderen Lastfall mit einem anderen stationären Betriebspunkt gewechselt wird, der eine Neuparametrierung der Regelkreise unter Rückgriff auf zuvor für den neuen Lastfall ermittelte Parameter erfordert, und dass diese in der dynamischen Übergangsphase der Anlage auf die neuen Sollwerte zu führen sind.

Anspruch 1 definiert jedoch zusätzlich einen Satz von Messwerten aus dem Probebetrieb (Merkmal [C]), die in der ALC-Steuerung enthalten sind. Damit fällt die ALC-Steuerung gemäß Anspruch 1 nicht mehr in die breite funktionelle Definition. Auch dies ist unstreitig, da die Beschwerdeführerin selbst zur Auslegung des Merkmals auf weitere spezifische Definitionen auf Seite 2, Zeile 15 bis Seite 3, Zeile 5 der Anmeldungsunterlagen verweist.

In dem in Anspruch 1 definierten Verfahren zur Luftzerlegung wird mindestens ein Prozessparameter durch einen Basisregler eingestellt (Merkmal [A]). Dabei wird der Prozessparameter (gemeint ist wohl der Sollwert des Prozessparameters, vgl. Merkmal [B] - der Prozessparameter selbst wird durch den Basisregler eingestellt, vgl. Merkmal [A]) mittels ALC-Steuerung und MPC-Regler gesteuert. Aus Anspruch 1 ergibt sich zur Einbindung der ALC-Steuerung in das Steuerungskonzept Folgendes:

- Die ALC-Steuerung gibt einen ersten Zielwert an den MPC-Regler aus (Merkmal [D]).

- Die ALC-Steuerung gibt optional einen primären Sollwert aus (der mit einem von dem MPC-Regler ermittelten Sollwertänderung zu einem sekundären Sollwert korrigiert und an den Basisregler übergeben wird; Merkmale [E] und [F])

- Alternativ kann der MPC-Regler auch direkt aus dem ersten Zielwert einen Sollwert für den Basisregler berechnen, der dann an den Basisregler übergeben wird.

Zur eigentlichen Funktion bzw. zum Aufbau der ALC-Steuerung selbst findet sich allerdings lediglich eine Angabe in Anspruch 1:

- Die ALC-Steuerung enthält einen Satz von Messwerten des (Prozess)Parameters, die bei einem Probebetrieb der Anlage aufgenommen wurden und die verschiedenen Lastfällen und den Übergängen zwischen diesen Lastfällen entsprechen (Merkmal [C]).

Wie in dieser ALC-Steuerung aus einem Satz von Messwerten bei Auswahl eines bestimmten Lastfalls nun ein Zielwert und ggf. ein primärer Sollwert ermittelt werden, und wie Zielwert und Sollwert in Beziehung stehen, darüber finden sich im Anspruch keine Hinweise. Anders ausgedrückt fehlt im Anspruch eine Verbindung zwischen dem beim Probebetrieb aufgenommenen Satz von Messwerten des Parameters und der Ausgabe des ersten Zielwerts (vgl. diesbezüglich auch Punkt 1.4). Dies ist jedoch ein wesentliches Merkmal der Erfindung. Auch daher wird der Schlussfolgerung in der angefochtenen Entscheidung zugestimmt, dass die Erfordernisse von Artikel 84 EPÜ bezüglich der Deutlichkeit nicht erfüllt sind.

1.4 Artikel 84 EPÜ - Knappheit

Das Erfordernis der Knappheit in Artikel 84 EPÜ ist eine eigenständige Bedingung, gemäß der verhindert werden soll, dass die eindeutige Auslegbarkeit des Anspruchs beispielsweise durch redundante Merkmale kompromittiert wird. Sie ist, wie zuvor ausgeführt (vgl. Punkt 1.2.1), jedoch nicht so anzuwenden, dass hierdurch die Erfordernisse an die Deutlichkeit gemäß Artikel 84 EPÜ eingeschränkt werden.

Die Beschwerdeführerin ist der Ansicht, der von der Prüfungsabteilung erhobene Klarheitseinwand bezüglich des Merkmals "ALC-Steuerung" ließe sich nur ausräumen, wenn "längere Passagen aus der Beschreibung" in den Anspruch aufgenommen würden, was dem Gebot der Knappheit widerspräche.

Unabhängig von der zuvor ausgeführten Notwendigkeit, zur Wahrung der erforderlichen Deutlichkeit die erfindungswesentlichen Merkmale in den Anspruch aufzunehmen, hat die Beschwerdeführerin auch nicht vorgetragen, welche in dem diskutierten Abschnitt der Anmeldung auf Seite 2, Zeile 15 bis Seite 3, Zeile 5, enthaltenen Formulierungen ggf. in den Anspruch aufzunehmen wäre, um die ALC-Steuerung im Anspruch klar zu definieren. Somit bleibt das Argument, die notwendige Knappheit und Verständlichkeit des Anspruchs wäre durch eine entsprechende "umfangreiche Definition" nicht mehr gewahrt, lediglich eine nicht näher begründete und nicht ohne weiteres nachvollziehbare Behauptung.

Beispielsweise verweist die Beschwerdeführerin selbst in der Neuheitsdiskussion zur Abgrenzung von D1 auf die Offenbarung auf Seite 3, erster Absatz der Anmeldung, um aufzuzeigen, wodurch sich die erfindungsgemäße ALC-Steuerung von dem "advanced process controller 330" in D1 unterscheidet. Diese Merkmale sind somit nach dem Verständnis der Beschwerdeführerin als in deren eigener ALC-Steuerung vorhanden anzusehen. In dem genannten Absatz wird z.B. beschrieben, dass im Probebetrieb Lastfälle über den gesamten Betriebsbereich erfasst und in einem mathematischen Modell (beruhend wohl auf einer Interpolation, siehe Seite 2, Absatz 4) in der ALC-Steuerung hinterlegt werden. Um einen neuen Lastfall anzufahren, werden die Zielsollwerte der einzelnen (also mehrerer) Basisregler des Leitsystems vorgerechnet und dann mit einer synchronisierten Rampe angefahren (Anmeldung, Seite 2, Absatz 4).

Es ist daher keineswegs überzeugend, dass entsprechende Klarstellungen den Anspruch zu Lasten der Deutlichkeit "überfrachten" würden.

2. Hilfsanträge 1 und 2

Die Hilfsanträge 1 und 2 werden unter Artikel 13(2) VOBK 2020 nicht in das Beschwerdeverfahren zugelassen.

2.1 Die Beschwerdeführerin hat die Hilfsanträge 1 und 2 erstmalig in Erwiderung des Ladungsbescheides im Beschwerdeverfahren eingereicht. Sie stellen somit eine Änderung des Beschwerdevorbringens unter Artikel 13(2) VOBK 2020 da. Entsprechende Änderungen bleiben grundsätzlich unberücksichtigt, es sei denn, es werden stichhaltige Gründe für das Vorliegen außergewöhnlicher Umstände aufgezeigt.

2.2 Soweit die Beschwerdeführerin zu ihren Gunsten außergewöhnliche Umstände geltend machen will, die die Zulassung des späten Vorbringens rechtfertigen sollen, kann ihr nicht gefolgt werden.

2.2.1 Zum einen hat die Kammer mit dem Ladungsbescheid entgegen der Auffassung der Beschwerdeführerin keine neuen Klarheitseinwände erhoben. Sie hat lediglich detailliert auseinandergesetzt, warum die von der Prüfungsabteilung festgestellten Mängel unter Artikel 84 EPÜ gegen den Hauptantrag voraussichtlich durchgreifen. Somit war die Beschwerdeführerin mit dem Ladungsbescheid nicht vor eine neue und überraschende Situation gestellt, auch wenn sie anführt, von der Berechtigung der Einwände erst durch die detaillierten Ausführungen der Kammer überzeugt worden zu sein. Vielmehr musste sie jederzeit, insbesondere auch schon vor Zugang des Ladungsbescheids, damit rechnen, dass der Einwand der Prüfungsabteilung durch die Kammer bestätigt würde, und einer solchen Bestätigung ggf. durch Einreichung entsprechender Hilfsanträge bereits mit der Beschwerdebegründung begegnen.

2.2.2 Entgegen der Auffassung der Beschwerdeführerin liegt deswegen in der mangelnden Zulassung der Hilfsanträge auch keine Verletzung des Grundsatzes des Vertrauensschutzes vor. Zwar hat die Kammer in ihrem Ladungsbescheid im Rahmen ihrer Ausführungen zum Einwand unter Artikel 84 EPÜ unter anderem auf fehlende wesentliche Merkmale hingewiesen. Hiermit hat sie aber einerseits keinen Vorschlag für eine Fassung des Anspruchs unterbreitet, von dessen Gewährbarkeit die Beschwerdeführerin hätte ausgehen dürfen, und andererseits auch nicht in Aussicht gestellt, weitere Anträge zuzulassen. Die Angabe möglicher wesentlicher Merkmale im Ladungsbescheid ist vielmehr im Zusammenhang mit dem schon zuvor geäußerten Einwand der Beschwerdeführerin zu sehen, dass der Patentanspruch durch eine derart umfassende Definition überlastet werde. Auf die Notwendigkeit, die Ansprüche so zu ändern, dass die Bedeutung aus dem Wortlaut des Patentanspruchs allein deutlich wird, hatte bereits die Prüfungsabteilung in der angefochtenen Entscheidung hingewiesen. Auch dies hatte die Beschwerdeführerin nicht veranlasst, schon damals Hilfsanträge zur Entscheidung zu stellen.

2.2.3 Es ist zum anderen auch nicht die Aufgabe der Kammer, eine gewährbare Fassung zu erarbeiten und vorzuschlagen. Die Vorlage einer solchen Fassung obliegt gemäß Artikel 113(2) EPÜ der Beschwerdeführerin. Zudem hat die Beschwerdeführerin auch nicht alle Punkte aus dem Einwand des Ladungsbescheids aufgegriffen, denn die Hilfsanträge 1 und 2 umfassen weiterhin Ausführungsformen mit lediglich einem Basisregelkreis zur Regelung nur einer Prozessgröße.

2.2.4 Zumindest aus diesem Grund sind die Hilfsanträge 1 und 2 auch prima facie unter Artikel 84 und 123(2) EPÜ nicht gewährbar. Der jeweilige Anspruch 1 definiert nun zwar eine "sychronisierte Rampe". Eine "Synchronisation" erfordert jedoch eine Mehrzahl an "gerampten" Prozessparametern und steht somit im Widerspruch zu der von Anspruch 1 von Hilfsantrag 1 und 2 noch immer umfassten Ausführungsform mit nur einem Basisregelkreis für nur einen Prozessparameter.

Dazu konsistent erfolgt die Offenbarung des "synchronen Verstellens" (Seite 3, vorletzter Absatz), bzw. einer "synchronisierten Rampe" in der Anmeldung jeweils nur in Zusammenhang mit mehreren Basisreglern (vgl. "Verstellen aller relevanter unterlagerter Basisregler"; "Zielsollwerte der einzelnen Basisregler"), so dass dieses Merkmal auch nur für mehrere Basisregler (und nicht nur einen) als ursprünglich offenbart gelten kann.

Dies ist seitens der Beschwerdeführerin auch nicht bestritten worden. Eine Zulassung der Hilfsanträge 1 und 2 ist somit selbst unter Rückgriff auf die Kriterien des Artikels 13(1) VOBK 2020 nicht geboten (vgl. ABl. 2020, Zusatzpublikation 2: VOBK, Seite 32).

2.2.5 Der Ansicht der Beschwerdeführerin, zur Ausräumung dieser weiter bestehenden Mängel in den Hilfsanträgen 1 und 2 hätten ihr von der Kammer weitere Änderungen erlaubt werden müssen, z. B. mittels Fristsetzung schon vor der mündlichen Verhandlung, stimmt die Kammer nicht zu.

Gemäß Artikel 12(2) VOBK 2020 ist das vorrangige Ziel des Beschwerdeverfahrens, die angefochtene Entscheidung gerichtlich zu überprüfen. Im vorliegenden Fall betrifft dies also die von Prüfungsabteilung in der angefochtenen Entscheidung festgestellte mangelnde Gewährbarkeit des Hauptantrags.

Zur Begegnung sowie ggf. Behebung der von der Prüfungsabteilung vorgebrachten Einwände sind der Beschwerdeführerin bereits erstinstanzlich eine Reihe von prozeduralen Möglichkeiten an die Hand gegeben, wie die Vorlage von Hilfsanträgen, die Beantragung einer Rücksprache (siehe Richtlinien für die Prüfung, 2023, C-VII.2) oder einer mündlichen Verhandlung unter Artikel 116 (1) EPÜ. Keine dieser Möglichkeiten wurden seitens der Beschwerdeführerin erstinstanzlich in Anspruch genommen. Hilfsanträge, die auf eine möglicherweise die Einwände der Prüfungsabteilung überwindende Definition der beanstandeten Merkmale gerichtet gewesen wären, wurden auch nicht mit der Beschwerdebegründung vorgelegt. Erst in Antwort auf die Ladung der Kammer hat die Beschwerdeführerin erstmals überhaupt zwei Hilfsanträge vorgelegt.

Es ist jedoch nicht Sinn und Zweck des Beschwerdeverfahrens, insbesondere nach der Ladung zu einer mündlichen Verhandlung, erstmalig im gesamten Prüfungsbeschwerdeverfahren ggf. iterativ - d. h. in Form der Überprüfung von immer neuen Anspruchsfassungen - eine unter Artikel 84 EPÜ gewährbare Anspruchsfassung zu ermitteln.

Noch weitere Hilfsanträge hat die Beschwerdeführerin im Beschwerdeverfahren im Übrigen gar nicht vorgelegt.

3. Da der Hauptantrag nicht die Erfordernisse des Artikels 84 EPÜ erfüllt und die Hilfsanträge 1 und 2 unter Artikel 13 (2) VOBK 2020 nicht in das Verfahren zugelassen werden, liegt kein gewährbarer Anspruchssatz vor. Daher ist die Beschwerde nicht begründet.

4.

Entscheidungsformel

Aus diesen Gründen wird entschieden:

Die Beschwerde wird zurückgewiesen.

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