European Case Law Identifier: | ECLI:EP:BA:2020:T049819.20200622 | ||||||||
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Datum der Entscheidung: | 22 Juni 2020 | ||||||||
Aktenzeichen: | T 0498/19 | ||||||||
Antrag auf Überprüfung: | R 0012/20 | ||||||||
Anmeldenummer: | 13820710.5 | ||||||||
IPC-Klasse: | B66C23/88 B66C23/90 B66C15/06 |
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Verfahrenssprache: | DE | ||||||||
Verteilung: | D | ||||||||
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Bezeichnung der Anmeldung: | VERFAHREN ZUR MELDUNG VON KIPPGEFAHR EINES KRANS | ||||||||
Name des Anmelders: | Palfinger AG | ||||||||
Name des Einsprechenden: | HMF Group A/S | ||||||||
Kammer: | 3.2.01 | ||||||||
Leitsatz: | - | ||||||||
Relevante Rechtsnormen: |
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Schlagwörter: | Ausreichende Offenbarung - Ausführbarkeit (ja) Zurückverweisung an die erste Instanz - (ja) |
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Orientierungssatz: |
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Angeführte Entscheidungen: |
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Anführungen in anderen Entscheidungen: |
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Sachverhalt und Anträge
I. Die Patentinhaberin (Beschwerdeführerin) legte Beschwerde gegen die Entscheidung der Einspruchsabteilung ein, das europäische Patent Nr. EP-B-2 917 142 (nachstehend "Streitschrift") zu widerrufen.
II. Die Einspruchsabteilung hatte entschieden, dass die Streitschrift weder in seiner erteilten Fassung noch in einer Fassung gemäß einer der Hilfsanträge 1-3 vom 26. Juli 2018 die Erfindung so deutlich und vollständig offenbart, dass ein Fachmann sie ausführen könne.
III. Am 22. Juni 2020 fand eine mündliche Verhandlung vor der Beschwerdekammer des Europäischen Patentamts statt.
Die Beschwerdeführerin (Patentinhaberin) beantragte die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und die Aufrechterhaltung des Patents wie erteilt (Hauptantrag), hilfsweise die Aufrechterhaltung des Patents in geändertem Umfang auf der Grundlage eines der Hilfsanträge 1 bis 3 vom 26. Juli 2018 nochmals vorgelegt mit der Beschwerdebegründung.
Die Beschwerdegegnerin (Einsprechende) beantragte die Zurückweisung der Beschwerde.
IV. Die Merkmale des unabhängigen Anspruchs 1 des Hauptantrags lauten:
a1 Verfahren
b1 zur Meldung von Kippgefahr eines Krans,
c1 der über wenigstens drei Alarmsysteme
d1 zur Meldung von Kippwarnungen
e1 unter Verwendung je eines Sicherheitsprogramms verfügt,
f1 wobei am Kran wenigstens ein Messwert gewonnen wird,
dadurch gekennzeichnet, dass
g1/h1/i1 - in Abhängigkeit von dem wenigstens einen Messwert wenigstens zwei Alarmsysteme zur Meldung von Kippwarnungen ausgewählt werden und
j1 - bei Vorliegen von Meldungen von Kippwarnungen von wenigstens zwei der wenigstens zwei ausgewählten Alarmsysteme Kippgefahr gemeldet wird.
V. Die Begründung der Einspruchsabteilung sowie das Vorbringen der Beschwerdegegnerin lässt sich wie folgt zusammenfassen:
a) Die Einspruchsabteilung begründete den Widerruf vor allem damit, dass es der Streitschrift an jeglicher Information darüber fehle, wie die Auswahl der wenigstens zwei Alarmsysteme in Abhängigkeit von dem wenigstens einen Messwert erfolgen soll (Merkmal g1/h1/i1). Da die Alarmsysteme, wie in Absatz [0002-0004] dargelegt, per se aus dem Stand der Technik bekannt seien, war die Einspruchsabteilung der Ansicht, dass die Erfindung in eben dieser Auswahl in Abhängigkeit des wenigstens einen Messwerts liege. Wie diese Auswahl erfolgt, sei jedoch nicht offenbart.
b) Die Beschwerdegegnerin argumentierte entsprechend, dass die Streitschrift keinerlei Grundlagen einer Auswahllogik für eine automatische Auswahl von mindestes zwei der drei Alarmsysteme enthalte. Welche der Alarmsysteme aufgrund welcher Kriterien basierend auf dem einen Messwert ausgewählt werden sollen, sei nicht offenbart. Auch dem Absatz [0009] der Patentschrift seien keine Hinweise zu entnehmen. Weiterhin offenbare die Streitschrift in keinem einzigen Ausführungsbeispiel, wie die Auswahl erfolgen soll.
Während der mündlichen Verhandlung argumentierte die Beschwerdegegnerin zusätzlich, dass Anspruch 1 nicht über seine ganze beanspruchte Breite ausführbar sei. Die Beschreibung offenbare lediglich Kräne mit einem Trägerfahrzeug (z.B. in den Absätzen [0007, 0009, 0011, 0012, 0014]), so dass sich das beanspruchte Verfahren lediglich auf diese Art Kräne beziehen könne. Anspruch 1 beziehe sich jedoch allgemein auf Kräne. Das beschriebene Verfahren sei jedoch nicht z.B. auf Turmkräne anwendbar. Folglich fehle in Anspruch 1 ein wesentliches Merkmal.
VI. Das Vorbringen der Beschwerdeführerin lässt sich wie folgt zusammenfassen:
Die Patentinhaberin gab an, dass Absatz [0009] der Streitschrift ausreichend Information zu den Auswahlkriterien für die Alarmsysteme gebe. Zusammen mit den in den Ansprüchen 2-5 offenbarten möglichen Messwerten und den in den Ansprüchen 6-10 und den Absätzen [0012-0014] offenbarten Alarmsystemen, erhalte der Fachmann genügend Informationen zur Ausführung des beanspruchten Verfahrens. Mit der Anweisung, dass die Alarmsysteme auszuwählen sind, die für die momentan vorherrschende Elastizität des Trägerfahrzeugs geeignet sind, könne ein Fachmann, der ein in der Entwicklung und in der Konstruktion von Kranen tätiger Techniker oder Ingenieur sei, mit seinem Fachwissen die Erfindung ausführen.
Weiterhin sei das Verfahren durchaus auch bei anderen Kranarten anwendbar. Der Einwand, dass Anspruch 1 auf ein Verfahren für Kräne mit Trägerfahrzeug hätte beschränkt werden müssen, sei ein Einwand unter Artikel 84 EPÜ und kein Einspruchsgrund.
Entscheidungsgründe
1. Ausführbarkeit
1.1 Die im erteilten Anspruch 1 definierte Erfindung ist unter Berücksichtigung der Gesamtoffenbarung so deutlich und vollständig offenbart, dass ein Fachmann sie ausführen kann.
1.2 Die Streitschrift erkennt das Problem, dass ein einziges Alarmsystem nicht für alle Betriebssituationen optimal ist. Daher wird ein Verfahren beansprucht, in dem mindestens drei Alarmsysteme parallel wirksam sind. Die Alarmsysteme sind allgemein aus dem Stand der Technik bekannt und können z.B. gemäß der Absätze [0002-0004] bzw. [0012-0014] ausgeführt sein. Der Offenbarung ist zu entnehmen, dass die unterschiedlichen Alarmsysteme unterschiedliche Parameter berücksichtigen (siehe Absätze [0011-0014], Ansprüche 6, 8, 10), um auf eine Kippgefahr zu schließen. Diese Parameter können in Form von Messwerten in die Sicherheitsprogramme der Alarmsysteme eingehen.
1.3 Die Kammer ist der Ansicht, dass die Auswahl der Alarmsysteme somit lediglich abhängig vom Messwert selbst ist (Merkmal g1/h1/i1). Wird z.B. eine Abstützkraft in den Stützbeinen des Krans gemessen, wird das Alarmsystem nach Absatz [0004, 0014] gewählt. Wird die Neigung des Kransockels gemessen, wird das Alarmsystem nach Absatz [0003, 0013] gewählt. Dass eine solche Zuordnung eines Messwerts zu einem Alarmsystem mit einer einfachen Steuerung möglich ist, ist dem Fachmann aufgrund seines Fachwissens bekannt. Die Gesamtoffenbarung gibt nach Ansicht der Kammer keinerlei Anlass, für die Auswahl der Alarmsysteme andere Kriterien heranzuziehen.
1.4 Aus dieser Auslegung ergibt sich, wie von der Patentinhaberin bestätigt, die Schlussfolgerung, dass jedes Alarmsystem einen anderen systemspezifischen Messwert erfordert, wodurch nicht wie in Merkmal g1/h1/i1 beansprucht, bereits mit einem Messwert zwei Alarmsysteme ausgewählt werden können. Anspruch 1 in der Variante "genau ein Messwert" ist folglich nicht von der Beschreibung gestützt. Berücksichtigt man jedoch Absatz [0009] mit den Ansprüchen 2-5, erschließt sich dem Fachmann, dass sich Merkmal f1 auf "wenigstens zwei Messwerte" bzw. auf "verschiedene Messwerte" hätte richten müssen, in deren Abhängigkeit die wenigstens zwei Alarmsysteme nach Merkmal g1/h1/i1 ausgewählt werden können. Diese Interpretation wird gestützt durch den Wortlaut des Absatzes [0009], wonach "in Abhängigkeit von einzelnen Parametern [Plural] des Betriebszustands des Kranes Alarmsysteme bzw. Sicherheitsprogramme [...] ausgewählt werden" sowie durch den Wortlaut der Ansprüche 2-5 "als einer der Messwerte".
Da von einem Fachmann erwartet werden kann, dass er technisch unsinnige oder unlogische Auslegungen ausschließt, würde er folglich auch die Variante "genau ein Messwert" in Anspruch 1 nicht in betracht ziehen.
1.5 Auch sieht die Kammer im Bezug des Anspruchs 1 auf Kräne im allgemeinen keinen Grund für eine mangelnde Ausführbarkeit. Aus der Gesamtoffenbarung versteht der Fachmann z.B. anhand der in den Absätzen [0002]-[0004] genannten Alarmsysteme und den in den Absätzen [0011]-[0014] beschriebenen Beispielen, für welche Kranarten das Verfahren anwendbar ist. Weist ein Kran z.B. keine Stützbeine auf, kann auch kein Alarmsystem verwendet werden, das Kräfte in den Stützbeinen als grundlegenden Messwert verwendet.
1.6 Folglich ist die Kammer der Ansicht, dass Anspruch 1 zwar nicht klar ist, die Streitschrift jedoch in seiner Gesamtoffenbarung bzgl. der Frage, wie die Auswahl der Alarmsysteme in Abhängigkeit von Messwerten erfolgen soll und bzgl. der Frage, für welche Kranarten das Verfahren anwendbar ist, die Kriterien des Art. 83 EPÜ erfüllt.
2. Zurückverweisung
Gemäß Artikel 11 VOBK 2020 kann die Kammer an das Organ zurückverweisen, das die angefochtene Entscheidung erlassen hat, wenn besondere Gründe dafür sprechen.
Die Beschwerdegegnerin hatte im Einspruchsverfahren neben dem Einwand bzgl. Artikel 100(b) EPÜ auch Einwände bzgl. Artikel 100(a) EPÜ in Verbindung mit Artikel 54 EPÜ und Artikel 56 EPÜ erhoben. Im vorliegenden Fall hat sich die Einspruchsabteilung nur mit der Frage der mangelnden Ausführbarkeit befasst, nicht aber mit der Frage der Neuheit und der erfinderischen Tätigkeit. Im Hinblick auf das vorrangige Ziel des Beschwerdeverfahrens, die angefochtene Entscheidung gerichtlich zu überprüfen, ist die Kammer der Auffassung, dass hier ein besonderer Grund für eine Zurückverweisung vorliegt. Im übrigen wurde die Zurückverweisung von den Beteiligten nicht beanstandet.
Entscheidungsformel
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.
2. Die Angelegenheit wird an die Einspruchsabteilung zur weiteren Entscheidung zurückverwiesen.