T 1175/17 () of 25.1.2021

European Case Law Identifier: ECLI:EP:BA:2021:T117517.20210125
Datum der Entscheidung: 25 Januar 2021
Aktenzeichen: T 1175/17
Anmeldenummer: 06011177.0
IPC-Klasse: C09D175/04
C08L75/04
Verfahrenssprache: DE
Verteilung: D
Download und weitere Informationen:
Text der Entscheidung in DE (PDF, 330 KB)
Alle Dokumente zum Beschwerdeverfahren finden Sie im Register
Bibliografische Daten verfügbar in: DE
Fassungen: Unpublished
Bezeichnung der Anmeldung: Oligocarbonat-haltige Beschichtungsmittel für kratzfeste Decklacke
Name des Anmelders: Covestro Deutschland AG
Name des Einsprechenden: Perstorp AB
Kammer: 3.3.02
Leitsatz: -
Relevante Rechtsnormen:
European Patent Convention Art 123(2) (2007)
RPBA2020 Art 011 (2020)
Schlagwörter: Änderungen - zulässig (ja)
Zurückverweisung - besondere Gründe für Zurückverweisung
Orientierungssatz:

-

Angeführte Entscheidungen:
G 0003/89
G 0011/91
T 0246/86
T 1437/07
T 1966/16
T 0731/17
T 2450/17
Anführungen in anderen Entscheidungen:
-

Sachverhalt und Anträge

I. Diese Entscheidung betrifft die Beschwerde der Patentinhaberin (Beschwerdeführerin) gegen die Entscheidung der Einspruchsabteilung (angefochtene Entscheidung) über den Widerruf des europäischen Patents Nr. 1 731 582 (Streitpatent).

II. In ihrer Einspruchsschrift hatte die Einsprechende (Beschwerdegegnerin) den Widerruf des Streitpatents im gesamten Umfang basierend auf den Einspruchsgründen gemäß Artikel 100 a) EPÜ (mangelnde Neuheit und mangelnde erfinderische Tätigkeit), Artikel 100 b) EPÜ und Artikel 100 c) EPÜ beantragt.

III. Die Einspruchsabteilung entschied, dass keiner der vor ihr anhängigen Anträge die Erfordernisse von Artikel 123 (2) EPÜ erfüllt. Dabei vertrat sie in ihrer Begründung insbesondere die Auffassung, "dass der Titel des Patents kein Bestandteil der Offenbarung der ursprünglichen Anmeldung ist. Der Titel kann daher nicht als Basis im Sinne von Art. 123(2) EPÜ berücksichtigt werden" (angefochtene Entscheidung, Seite 8, vorletzter Absatz).

IV. Antragsgemäß wurden beide Parteien zu einer mündlichen Verhandlung geladen. Zu deren Vorbereitung erließ die Kammer eine Mitteilung gemäß Artikel 15 (1) VOBK 2020.

V. Mit Schreiben vom 27. Oktober 2020 kündigte die Beschwerdegegnerin an, dass sie nicht an der mündlichen Verhandlung teilnehmen werde.

VI. Mit Mitteilung vom 25. Januar 2021 wurde die Ladung zur mündlichen Verhandlung aufgehoben.

VII. Die für die vorliegende Entscheidung relevanten Argumente der Beschwerdeführerin können wie folgt zusammengefasst werden.

Maßgebend für den vorliegenden Fall sei die der ursprünglich eingereichten Beschreibung auf Seite 1 vorangestellte Überschrift. Diese könne als Basis für Änderungen im Sinne von Artikel 123 (2) EPÜ dienen. Die Ansprüche des Hauptantrags würden daher den Erfordernissen von Artikel 123 (2) EPÜ genügen.

VIII. Die für die vorliegende Entscheidung relevanten Argumente der Beschwerdegegnerin können wie folgt zusammengefasst werden.

Das Merkmal "Decklack" sei zwar in der der ursprünglich eingereichten Beschreibung auf Seite 1 vorangestellten Überschrift genannt, doch könne die Überschrift nicht als Basis für Änderungen im Sinne von Artikel 123 (2) EPÜ dienen. Dieses Merkmal könne auch nicht aus anderen Teilen der ursprünglich eingereichten Anmeldung abgeleitet werden. Folglich würden die Ansprüche des Hauptantrags nicht den Erfordernissen von Artikel 123 (2) EPÜ genügen.

IX. Die für die vorliegende Entscheidung relevanten Anträge lauteten wie folgt.

- Die Beschwerdeführerin beantragte die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und die Zurückverweisung des Streitpatents an die Einspruchsabteilung zur weiteren Prüfung auf Basis der mit ihrer Beschwerdebegründung eingereichten Anspruchsätze des Hauptantrags bzw. der Hilfsanträge 1 bis 3.

- Die Beschwerdegegnerin beantragte die Zurückweisung der Beschwerde.

Entscheidungsgründe

Hauptantrag - Änderungen (Artikel 100 c)/123 (2) EPÜ)

1. Die Ansprüche des Hauptantrags entsprechen in wesentlichen Teilen den Ansprüchen des siebten Hilfsantrags, auf dem die angefochtene Entscheidung basiert. Die Ansprüche des siebten Hilfsantrags erachtete die Einspruchsabteilung wegen Nichterfüllung der Erfordernisse von Artikel 123 (2) EPÜ als nicht gewährbar. Hierbei erachtete die Einspruchsabteilung unter anderem den "Titel des Patents" im Lichte der Entscheidung T 1437/07 nicht als geeignete Basis. In diesem Zusammenhang verwies die Einspruchsabteilung auf Regel 47 (1) EPÜ und die Abänderbarkeit durch das Europäische Patentamt. Die Einspruchsabteilung scheint mit dem "Titel des Patents" daher die auf dem Deckblatt des Streitpatents genannte "Bezeichnung der Erfindung" gemeint zu haben. Das auf die der ursprünglich eingereichten Beschreibung vorangestellte Überschrift gestützte Argument der Beschwerdeführerin scheint die Einspruchsabteilung dabei hingegen nicht berücksichtigt zu haben.

2. Der unabhängige Anspruch 1 hat folgenden Wortlaut (die Änderungen im Vergleich zum ursprünglich eingereichten Anspruch 1 sind durch Fettdruck (Hinzufügungen) bzw. durch Durchstreichung (Auslassungen) kenntlich gemacht):

"Verwendung eines Beschichtungsmittels, enthaltend

A) eine Polyolkomponente, die aus

a) 1 bis 50 Gew.-% an aliphatischen Oligocarbonatpolyolen mit einem zahlenmittleren Molekulargewicht Mn von 200 bis 2000 [deleted: 5000] g/mol und

b) 50 bis 99 Gew.-% an hydroxyfunktionellen Polyacrylatpolyolen

besteht und

B) ein oder mehrere gegenüber OH-Gruppen reaktive (Poly)Isocyanatvernetzer mit einer mittleren NCO-Funktionalität von >= 2,0,

zur Herstellung eines Decklacks."

3. Der Gegenstand der Ansprüche des Hauptantrags erfüllt die Erfordernisse von Artikel 123 (2) EPÜ.

3.1 Die Änderung des zahlenmittleren Molekulargewichts der Komponente a)

Gemäß Seite 3, Zeile 5 f. der ursprünglich eingereichten Anmeldung werden solche aliphatische Oligocarbonatpolyole bevorzugt eingesetzt, die ein zahlenmittleres Molekulargewicht von 200 bis 2000 g/mol aufweisen. Diese entsprechen der Komponente a) von Anspruch 1 des Hauptantrags.

3.2 Die Formulierung von Anspruch 1 als Verwendungsanspruch ("Verwendung [...] zur Herstellung eines Decklacks")

Seite 1, Zeile 1 der ursprünglich eingereichten Beschreibung, ihre Überschrift, lautet folgendermaßen:

"Oligocarbonat-haltige Beschichtungsmittel für kratzfeste Decklacke"

Die ursprünglich eingereichte Beschreibung und damit auch die zu ihr gehörende Überschrift gehören zu den Teilen einer Patentanmeldung, welche für die Offenbarung der Erfindung maßgebend sind und auf welche Änderungen im Sinne von Artikel 123 (2) EPÜ gestützt werden können (G 3/89 (ABl. 1993, 117) und G 11/91 (ABl. 1993, 125)). Aus dieser Überschrift geht unmittelbar und eindeutig hervor, dass die Beschichtungsmittel zur Verwendung als Decklack bzw. zu dessen Herstellung vorgesehen sind. Darüber hinaus folgt dies auch aus den Anwendungsbeispielen der ursprünglichen Anmeldung (Seite 18, Zeilen 3 ff.), da bei diesen die erfindungsgemäßen Beschichtungsmittel auf vorbeschichtete Bleche appliziert werden und keine weitere Beschichtung erfolgt.

Dass eine in den für die Offenbarung der Erfindung maßgebenden Teilen einer ursprünglich eingereichten Anmeldung enthaltene Überschrift als Basis für Änderungen dienen kann, wurde, entgegen dem Vorbringen der Beschwerdegegnerin, schon in der Entscheidung T 1437/07 (Nr. 3.2 der Entscheidungsgründe) festgestellt.

Dem steht auch nicht entgegen, dass die genannte Entscheidung in Nr. 3.1 der Entscheidungsgründe die "Bezeichnung der Erfindung" nicht als mögliche Basis einer Änderung ansieht. Auch wenn, wie im vorliegenden Fall, die der ursprünglich eingereichten Beschreibung vorangestellte Überschrift oftmals identisch mit der "Bezeichnung der Erfindung" ist, sind beide rechtlich unterschiedlich zu beurteilen. Die Bezeichnung der Erfindung ist im für den Erteilungsantrag vorgeschriebenen Formblatt einzutragen (vgl. Regel 41 (1) EPÜ in Verbindung mit Regel 41 (2) b) EPÜ) und ist auf dem Deckblatt einer veröffentlichten europäischen Patentanmeldung/Patentschrift unter dem INID-Code 54 aufgeführt. Im Gegensatz zu einer der ursprünglich eingereichten Beschreibung vorangestellten Überschrift gehört die Bezeichnung der Erfindung daher nicht zu den für die Offenbarung der Erfindung maßgebenden Bestandteilen der Anmeldung und kann folglich auch nicht als Basis für Änderungen im Sinne von Artikel 123 (2) EPÜ dienen. Dies gilt auch für die Zusammenfassung, welche gemäß Regel 47 (1) EPÜ die Bezeichnung der Erfindung enthalten muss (T 246/86, Leitsatz).

Somit ist, wie bereits im Bescheid der Kammer gemäß Artikel 15 (1) VOBK 2020 festgestellt und wie im Anschluss daran von der Beschwerdegegnerin nicht mehr bestritten, der Gegenstand von Anspruch 1 unmittelbar und eindeutig aus der ursprünglichen Anmeldung ableitbar. Die abhängigen Ansprüche 2 bis 7 basieren auf den ursprünglichen Ansprüchen 2 bis 4 und 6 bis 8.

Zurückverweisung

4. Von der Einspruchsabteilung wurde von den im Verfahren befindlichen Einspruchsgründen lediglich derjenige gemäß Artikel 100 c) EPÜ geprüft. Die weiteren Einspruchsgründe wurden in der angefochtenen Entscheidung nicht behandelt. Die Ermöglichung der Überprüfung auch dieser Einspruchsgründe durch zwei Instanzen ist ein besonderer Grund im Sinne von Artikel 11 VOBK 2020 (siehe beispielsweise Entscheidungen T 1966/16 (Nr. 2 der Entscheidungsgründe), T 731/17 (Nr. 7 der Entscheidungsgründe) und T 2450/17 (Nr. 4 der Entscheidungsgründe)). Die Angelegenheit wird deshalb im Einklang mit dem Antrag der Beschwerdeführerin an die Einspruchsabteilung zur weiteren Entscheidung zurückverwiesen.

Entscheidungsformel

Aus diesen Gründen wird entschieden:

1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.

2. Die Angelegenheit wird an die Einspruchsabteilung zur weiteren Entscheidung zurückverwiesen.

Quick Navigation