T 1487/16 (HÖCHSTDISPERGIERBARE SILICAS/EVONIK DEGUSSA) of 12.6.2019

European Case Law Identifier: ECLI:EP:BA:2019:T148716.20190612
Datum der Entscheidung: 12 Juni 2019
Aktenzeichen: T 1487/16
Anmeldenummer: 04700701.8
IPC-Klasse: B82Y30/00
C01B33/193
C08K3/36
Verfahrenssprache: DE
Verteilung: D
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Bibliografische Daten verfügbar in: DE
Fassungen: Unpublished
Bezeichnung der Anmeldung: HÖCHSTDISPERGIERBARE SILICAS FÜR GUMMIANWENDUNGEN
Name des Anmelders: Evonik Degussa GmbH
Name des Einsprechenden: Grace GmbH & Co. KG
Kammer: 3.3.05
Leitsatz: -
Relevante Rechtsnormen:
European Patent Convention Art 54(3) (2007)
European Patent Convention Art 56 (2007)
European Patent Convention Art 87 (2007)
European Patent Convention Art 88 (2007)
Schlagwörter: Priorität - dieselbe Erfindung (nein)
Erfinderische Tätigkeit - (ja)
Erfinderische Tätigkeit - unerwartete Verbesserung
Orientierungssatz:

-

Angeführte Entscheidungen:
G 0002/98
G 0001/15
T 0301/87
T 0355/97
T 0379/13
Anführungen in anderen Entscheidungen:
-

Sachverhalt und Anträge

I. Die Beschwerde der Patentinhaberin (Beschwerdeführerin) richtet sich gegen die Zwischenentscheidung der Einspruchsabteilung, dass das Europäische Patent EP 1 585 704 B1 auf der Basis des zweiten Hilfsantrages die Erfordernisse des EPÜ erfüllt.

II. Im Einspruchsverfahren wurden unter anderem die folgenden Dokumente genannt:

D0 |DE 103 02 300.3 (erste Priorität des Streitpatents) |

D1D2D9|EP 0 901 986 A1EP 0 983 966 A1WO 2004/065443 A2 |

D9a|DE 103 02 301.1 (erste Priorität der D9) |

D13|DIN 53 504 "Prüfung von Kautschuk und Elastomeren: Bestimmung von Reißfestigkeit, Zugfestigkeit, Reißdehnung und Spannungswerten im Zugversuch", Mai 1984|

III. Mit der Beschwerdebegründung reichte die Beschwerdeführerin einen Hauptantrag sowie einen ersten Hilfsantrag ein, die jeweils identisch mit dem am 4. März 2015 eingereichten Haupt- bzw. Hilfsantrag 1 des Einspruchsverfahrens sind.

IV. Die unabhängigen Ansprüche des Hauptantrags lauten:

"1. Fällungskieselsäure, gekennzeichnet durch folgende physikalisch-chemische Parameter:

CTAB-Oberfläche|100-160 m**(2)/g, gemessen mit modifizierter ASTM 3765, bzw. NFT 45-007 (Kapitel 5.12.1.3);|

BET-Oberfläche |100-190 m**(2)/g, gemäß ISO 5794-1/Annex D; |

DBP-Zahl |180-300 g/(100 g), gemessen mit modifizierter Norm DIN 53601; |

Searszahl V2 |15-28 ml/(5g) |

Feuchte |4-8 %, gemessen mit modifizierter ISO 787-2. |

Verhältnis Searszahl V2 zu BET-Oberfläche 0,150 bis 0,280 ml (5m**(2))."

"9. Verfahren zur Herstellung von Fällungskieselsäuren nach einem der Ansprüche 1 bis 8, wobei

a) eine wässrige Lösung eines Alkali- oder Erdalkalisilikats und/oder einer organischen und/oder anorganischen Base mit einer Alkalizahl von 7 bis 30 vorgelegt,

b) in diese Vorlage unter Rühren bei 55 bis 95 °C für 10 bis 120 min gleichzeitig Wasserglas und ein Säuerungsmittel derart zudosiert werden, dass während der Fällung die AZ-Zahl konstant zwischen 7 bis 30 bleibt,

c) mit einem Säuerungsmittel auf einen pH-Wert von ca. 2.5 bis 6 angesäuert und

d) filtriert, gewaschen und getrocknet wird."

"17. Verfahren zur Herstellung der Kieselsäuren gemäß Anspruch 15 oder 16, dadurch gekennzeichnet, dass man die Fällungskieselsäuren mit Organosilanen in Mischungen von 0.5 bis 50 Teilen, bezogen auf 100 Teile Fällungskieselsäure, insbesondere 1 bis 15 Teile, bezogen auf 100 Teile Fällungskieselsäure modifiziert, wobei die Reaktion zwischen Fällungskieselsäure und Organosilan während der Mischungsherstellung (in situ) oder außerhalb durch Aufsprühen und anschließendes Tempern der Mischung, durch Mischen des Organosilans und der Kieselsäuresuspension mit anschließender Trocknung und Temperung durchgeführt wird."

"18. Verwendung von Kieselsäuren gemäß einem der Ansprüche 1 bis 17 in Elastomerenmischungen, vulkanisierbaren Kautschukmischungen und/oder sonstigen Vulkanisaten, wie Luftreifen, Reifenlaufflächen, Kabelmänteln, Schläuchen, Treibriemen, Förderbändern, Keilriemen, Walzenbelägen, Reifen, Schuhsohlen, Dichtungen und Dämpfungselementen."

"19. Verwendung von Kieselsäuren nach einem der Ansprüche 1 bis 17 in Batterieseparatoren, als Anti-Blocking-Mittel, als Mattierungsmittel in Farben und Lacken, als Träger von Agrarprodukten und Nahrungsmitteln, in Beschichtungen, in Druckfarben, in Feuerlöschpulvern, in Kunststoffen, im Bereich Non impact printing, in Papiermasse, im Bereich Personal care."

Die Ansprüche 2 bis 8, 10 bis 16 und 20 beschreiben bevorzugte Ausführungsformen und beziehen sich direkt oder indirekt auf die zuvor beschriebenen Ansprüche.

V. Die Argumente der Beschwerdeführerin können wie folgt zusammengefasst werden :

Die Auffassung der Einspruchsabteilung, wonach sowohl die Beispiele KSIb und KSII als auch die generische Offenbarung in den Ansprüchen 1-5 der D9 die Priorität bzw. Teilpriorität der D9a genössen, sei nicht korrekt, da in der D9a das Verhältnis Searszahl V2 zu BET-Oberfläche mit keinem Wort erwähnt sei. Somit sei die D9 nicht Stand der Technik nach Artikel 54(3) EPÜ.

Angesichts der D2 sei der Gegenstand der Ansprüche zudem erfinderisch.

VI. Die Argumente der Einsprechenden (Beschwerdegegnerin) können wie folgt zusammengefasst werden:

In der Entgegenhaltung D9 hätten sowohl die generische Offenbarung in den Ansprüchen 1-5 (bzw. die entsprechende Passage in der Beschreibung auf Seite 3 Zeile 25 - Seite 4 Zeile 3) als auch die Beispiele KSIb und KSII in Übereinstimmung mit der G 2/98 den Zeitrang des Prioritätsdokumentes D9a und stellten Stand der Technik nach Artikel 54(3) EPÜ dar. Die Verhältnisse von Searszahl V2 zu BET-Oberfläche würden in der D9a zwar nicht explizit genannt, seien aber inhärent vorhanden, und es handele sich daher um "dieselbe Erfindung" im Sinne von G 2/98. Sowohl diese generische Offenbarung als auch diese Beispiele seien zudem neuheitsschädlich für den Gegenstand von Anspruch 1 des Hauptantrags im Sinne von Artikel 54(1) und (3) EPÜ.

Außerdem könnten die Tabellen 2.4 und 2.8 des Streitpatents keinen Effekt belegen, insbesondere angesichts der aus der D13 bekannten Messtoleranzen. Gegenüber der D2 sei daher keine erfinderische Tätigkeit im Sinne von Artikel 56 EPÜ anzuerkennen.

VII. Die Beschwerdeführerin beantragt, die Entscheidung der Einspruchsabteilung aufzuheben und das Patent auf der Basis des Hauptantrages aufrechtzuerhalten, hilfsweise auf der Basis des Hilfsantrags, jeweils eingereicht am 4. März 2015, erneut eingereicht mit der Beschwerdebegründung.

Die Beschwerdegegnerin beantragt, die Beschwerde zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

1. Priorität

1.1 Sowohl das Streitpatent als auch die Entgegenhaltung D9 haben als Anmeldedatum den 8. Januar 2004 und beanspruchen jeweils eine erste Priorität, D0 beziehungsweise D9a, vom 22. Januar 2003, sowie eine zweite Priorität vom 13. Dezember 2003. Es ist nicht strittig, dass sowohl das Streitpatent als auch die D9 Anspruch auf die jeweils zweite Priorität haben.

1.2 Die von der Beschwerdegegnerin zitierten Ansprüche 1-5 der Entgegenhaltung D9 und des Prioritätsdokuments D9a sind jeweils fast wortgleich. Das Verhältnis Searszahl V2 zu BET-Oberfläche wird jedoch in keinem dieser Ansprüche erwähnt, weder in der D9, noch in der D9a. Es werden lediglich Bereiche für die Searszahl V2 und die BET-Oberfläche jeweils für sich offenbart.

Die Beschreibung der D9 auf Seite 3, Zeile 25 - Seite 5, Zeile 3 hat einen ähnlichen Offenbarungsgehalt wie der der D9a auf Seite 3, Zeile 27 bis Seite 4, Zeile 15, mit dem Unterschied, dass die D9 zusätzlich das Verhältnis Searszahl V2 zu BET-Oberfläche und den damit verbundenen Effekt anspricht (Seite 4, Zeilen 12-16 und 22-26, sowie Seite, 4 Zeile 31 - Seite 5, Zeile 3). Dagegen wird in der gesamten D9a das Verhältnis Searszahl V2 zu BET-Oberfläche mit keinem Wort erwähnt.

Ähnliches gilt für die Beispiele der D9 und der D9a: Die Beispiele KSIb und KSII der D9 (Seite 28) sowie die Beispiele KSI und KSII der D9a (Seite 26) ähneln sich zwar sehr, aber auch hier wird das Verhältnis Searszahl V2 zu BET-Oberfläche nur in der D9, nicht aber im Prioritätsdokument D9a genannt.

1.3 Der vorliegende Fall ist eng mit dem Fall T 379/13 verbunden, der von der gleichen Kammer in unterschiedlicher Besetzung entschieden wurde.

Dort ging es um den umkehrten Fall: Beim Streitpatent in T 379/13 handelte es sich um das aus der vorliegenden Entgegenhaltung D9 hervorgegangene europäische Patent EP 1 590 297 B1, welches als erste Priorität die vorliegende D9a beanspruchte. Bei der Entgegenhaltung handelte es sich um die internationale Anmeldung, aus der das Streitpatent im vorliegenden Fall hervorging, und welche die Priorität der vorliegenden D0 beanspruchte.

Auch in T 379/13 wurde erörtert, ob die Entgegenhaltung die Priorität für eine generische Offenbarung und/oder für spezifische Beispiele beanspruchen kann. Die Kammer erachtete in diesem Fall, dass es im Prioritätsdokument der Entgegenhaltung keinerlei Hinweise darauf gab, dass das Verhältnis von Searszahl V2 zu BET-Oberfläche von Bedeutung ist. Es sei zwar theoretisch möglich gewesen, dieses Verhältnis zu berechnen, aber eine solche rein hypothetische Ableitung wäre dem Fachmann im Verborgenen geblieben (siehe die Entscheidungsgründe 3.1.4 und 3.1.5).

Daher kam die Kammer in T 379/13 zum Schluss, dass es sich bei der Entgegenhaltung und dessen Prioritätsdokument nicht um "dieselbe Erfindung" im Sinne der G 2/98 handelte und dass weder die speziellen Beispiele noch die generische Offenbarung in den Ansprüchen und in der Beschreibung der Entgegenhaltung die Priorität beanspruchen konnten. Die Entgegenhaltung gehörte daher nicht zum Stand der Technik nach Artikel 54(3) EPÜ.

1.4 Auch im vorliegenden Fall kann die Priorität der Entgegenhaltung D9 aus den folgenden Gründen nicht anerkannt werden kann:

1.4.1 Die Entscheidung der großen Beschwerdekammer G 2/98 hat klargestellt, dass das in Artikel 87 (1) EPÜ für die Inanspruchnahme einer Priorität genannte "Erfordernis derselben Erfindung" eng auszulegen ist (Punkt 9 der Entscheidungsgründe) und bedeutet, "daß die Priorität einer früheren Anmeldung für einen Anspruch in einer europäischen Patentanmeldung gemäß Artikel 88 EPÜ nur dann anzuerkennen ist, wenn der Fachmann den Gegenstand des Anspruchs unter Heranziehung des allgemeinen Fachwissens unmittelbar und eindeutig der früheren Anmeldung als Ganzes entnehmen kann" (Leitsatz).

Laut ständiger Rechtsprechung ist es für Prioritätszwecke zudem nicht ausreichend, wenn ein Gegenstand im Prioritätsdokument nicht unmittelbar und eindeutig als solcher bezeichnet wird und es erheblicher Nachforschungen bedarf, um seine Identität festzustellen (siehe beispielsweise T 301/87, OJ 1990, 335, Punkt 6.3 der Entscheidungsgründe). Insbesondere wesentliche Bestandteile der Erfindung, die in der früheren Anmeldung fehlen und erst später als wesentlich erkannt werden, sind nicht Bestandteil der Voranmeldung. In diesem Fall besteht kein Prioritätsanspruch (Rechtsprechung der Beschwerdekammern des EPA, 8. Auflage 2016, II.D.3.1.5. a)).

Für den vorliegenden Fall folgt daraus folgendes:

Die D9a nennt in den Beispielen eine Anzahl von Parametern. Die Auswahl zweier dieser Paramter, die Bildung eines Quotienten um die Parameter miteinander in Verhältnis zu setzen und die Erkenntnis, dass damit ein bestimmter Effekt erzielt werden kann, stellt eine neue Lehre dar, die im Prioritätsdokument nicht vorhanden ist. Aus den in den Beispielen KSIb und KSII des Prioritätsdokumentes D9a angegebenen Werten für die Searszahlen V2 und den BET-Oberfläche könnten zwar theoretisch jeweils Verhältnisse berechnet werden, die im beanspruchten Bereich von Anspruch 1 des Streitpatents liegen, aber da die D9a dieses Verhältnis mit keinem Wort offenbart, ganz zu schweigen vom Einfluss auf die resultierende Kautschukmischung, handelt es sich bei den Beispielen KSIb und KSII der D9 einerseits und den Beispielen KSI und KSII der D9a andererseits nicht um "dieselbe Erfindung".

Die gleiche Argumentation gilt für die generische Offenbarung in den Ansprüchen 1-5 der D9 und der D9a, bzw. in den entsprechenden Passagen der Beschreibung. Zudem stellt die Angabe des in der D9 beschriebenen V2 zu BET Verhältnisses von 0.140-0.370 durch Quotientenbildung der für V2 (10-30 ml/(5g)) und BET (80-210 m**(2)/g) angegebenen Wertebereiche (siehe beispielsweise Seite 4 Zeilen 1, 7 und 12) eine nicht im Prioritätsdokument D9a genannte Auswahl gegenüber dem theoretisch möglichen Bereich von 0,048-0,375 (berechnet aus 10/210-30/80) dar.

1.4.2 Nach Ansicht der Beschwerdeführerin habe, gemäß der G 2/98, die Prüfung einer Priorität und die Prüfung von Änderungen nach Artikel 123(2) EPÜ nach den gleichen Maßstäben zu erfolgen, d.h. der Gegenstand des Anspruchs müsse unter Heranziehung des allgemeinen Fachwissens eindeutig und unmittelbar der früheren Anmeldung als Ganzes entnehmbar sein.

Nun wäre aber nach Auffassung der Beschwerdeführerin ein fiktives Hinzufügen des Verhältnisses Searszahl V2 zu BET-Oberfläche weder in den Beispielen, in der Beschreibung noch in den Ansprüchen in der D9a konform mit Artikel 123(2) EPÜ. Aus diesem Grund könne der Meinung der Beschwerdeführerin nach die D9 nicht die Priorität der D9a in Anspruch nehmen. Da die Gültigkeit der Priorität der D9 aber eine Vorbedingung sei, bevor überhaupt überprüft werden kann, ob Neuheit des Gegenstandes von Anspruch 1 des Hauptantrages gegenüber der D9 vorliegt, sei es unerheblich, ob die Beispiele KSIb und KSII der D9 den Gegenstand von Anspruch 1 des Hauptantrags neuheitsschädlich vorwegnehmen oder nicht.

Die Beschwerdegegnerin führte dazu mit Verweis auf G 1/15 (letzter Abschnitt von Punkt 5.2.1) lediglich an, dass die Erfordernisse bzgl. der Artikel 87-89 und 123(2) EPÜ nicht völlig identisch seien und dass eine implizite Offenbarung im vorliegenden Fall gegeben sei.

In Anbetracht der vorgetragenen Argumente kommt die Kammer zu folgendem Schluss: In der G 1/15 (OJ 2017, A82) wird festgestellt, dass für die Klärung der Frage, ob es sich um "dieselbe Erfindung" handelt, ebenso wie in den vorherigen Entscheidungen der Großen Beschwerdekammer G 2/98 und G 1/03, die Kriterien zur Bestimmung der Erfordernisse des Artikels 123(2) EPÜ Anwendung finden (Punkt 6.2 der Entscheidungsgründe).

Lediglich bei der Frage der Teilpriorität, d.h. wenn nur ein Teil des beanspruchten Gegenstands der Folgeanmeldung in der Erstanmeldung offenbart ist, können andere Kriterien Anwendung finden (Punkt 6.3 der Entscheidungsgründe: "...the expression "partial priority" being understood to refer to the situation in which only a part of the subject-matter encompassed by a generic "OR"-claim is entitled to the priority date of an earlier application"). So wird nach Punkt 6.4 der G 1/15 für die Gültigkeit einer Teilpriorität geprüft, ob der im Prioritätsdokument offenbarte Gegenstand vom Anspruch der Anmeldung bzw. des Patents umfasst wird, was nicht gleichbedeutend ist mit dem Kriterium aus G 2/98 "unter Heranziehung des allgemeinen Fachwissens unmittelbar und eindeutig der früheren Anmeldung als Ganzes entnehm[bar]".

Für die Frage, ob die Beispiele KSIb und KSII der D9 die Priorität der Beispiele KSI und KSII der D9a gültig beanspruchen dürfen, ist die Einschränkung im Hinblick auf die Teilpriorität aber nicht von Relevanz, da es im vorliegenden Fall nicht um einen breiter beanspruchten Gegenstand im Vergleich zu einem ursprünglich enger beanspruchten Gegenstand geht. Sinngemäßes gilt auch für die allgemeine Offenbarung.

Somit sind im vorliegenden Fall die in den Entscheidungen G 2/98 und G 1/03 dargelegten Grundsätze anzuwenden. Im vorliegenden Fall hat die Beschwerdegegnerin jedoch nicht bestritten, dass ein fiktives Hinzufügen des Verhältnisses Searszahl V2 zu BET-Oberfläche zur D9a nach Artikel 123(2) EPÜ nicht zulässig wäre. Dieser Schlussfolgerung ist zuzustimmen.

1.4.3 Aus den obengenannten Gründen kann die D9 nicht die Priorität der D9a beanspruchen, da weder die generische Offenbarung in den Ansprüchen 1-5 (bzw. in den entsprechenden Passagen der Beschreibung Seite 3, Zeile 25 - Seite 5, Zeile 3), noch die konkreten Beispiele KSIb und KSII auf Seite 28 dieselbe Erfindung beschreiben.

Damit gehört die D9 nicht zum Stand der Technik nach Artikel 54(3) EPÜ.

2. Hauptantrag: Erfinderische Tätigkeit

2.1 Das Patent

Das Streitpatent betrifft eine durch mehrere Parameter gekennzeichnete Fällungskieselsäure, ein Verfahren zu deren Herstellung sowie deren Verwendung.

2.2 Nächstliegender Stand der Technik

Nach Auffassung der Beschwerdegegnerin ist die D2 als nächstliegender Stand der Technik anzusehen. Da sich die D2 ebenfalls mit durch mehrere Parameter charakterisierte Fällungskieselsäuren befasst, sieht die Kammer keinen Grund, von dieser Ansicht abzuweichen.

In den Beispielen 2 und 4 offenbart die D2 Fällungskieselsäuren, für die BET- und CTAB-Oberflächen sowie DBP- und Searszahlen im Bereich von Anspruch 1 des Streitpatents angegeben sind. Andererseits werden keine Angaben zur Feuchte getroffen.

Das Verhältnis Searszahl zu BET-Oberfläche kann aus diesen Angaben berechnet werden, liegt jedoch mit 0.126 (Beispiel 2) und 0.14 (Beispiel 4) unterhalb von 0.15, der unteren Grenze des Bereichs von Anspruch 1 des Streitpatents. Bei der Fällungskieselsäure aus Beispiel 4 handelt es sich laut Beschwerdeführerin um Ultrasil VN2 GR. Dies wurde nicht bestritten.

2.3 Zu lösende Aufgabe

Laut Streitpatent ist die zu lösende Aufgabe das Bereitstellen von leicht dispergierbaren Fällungskieselsäuren, deren Einarbeitung in Kautschukvulkanisaten deren Eigenschaften bzgl. Vulkanisationszeit und Verstärkung verbessert (siehe beispielsweise die Abschnitte [1, 6 und 60]).

2.4 Lösung

Das Streitpatent schlägt vor, diese Aufgabe durch Fällungskieselsäuren nach Anspruch 1 zu lösen, die durch Verhältnisse von Searszahl V2 zu BET-Oberfläche in einem bestimmten Bereich gekennzeichnet sind.

2.5 Erfolg der Lösung

Die Referenzkieselsäure Ultrasil VN2 GR aus Beispiel 2.1 des Streitpatents mit den Tabellen 2.1 und 2.4 entspricht laut Beschwerdeführerin der Kieselsäure aus Beispiel 4 der D2, was von der Beschwerdegegnerin nicht bestritten wurde. Das aus den dortigen Informationen ableitbare Verhältnis Searszahl V2 zu BET-Oberfläche liegt mit 0.14 unterhalb des Bereichs aus Anspruch 1 des Streitpatents.

Laut Tabelle 2.4 des Streitpatents führen die erfindungsgemäßen Kieselsäuren nach den Beispielen 1.1 und 1.3 in den Mischungen A und B zu einer schnelleren Vulkanisation (Abnahme des t90%-Wertes), zu erhöhten Spannungswerten 500% sowie zu einer erhöhten Verstärkung (Spannungswert 500%/100%), verglichen zur Referenzkieselsäure.

Nach Auffassung der Beschwerdegegnerin seien diese Verbesserungen nur marginal. Die Verbesserungen bzgl. Spannungswert und Verstärkungsfaktor lägen ihrer Meinung nach innerhalb der Toleranz bei Wiederholungen, die in der D13 angegeben sind (siehe Punkt 9 auf Seite 5).

Dazu merkt die Kammer jedoch an, dass sich die in Tabelle 4 der D13 angegebenen Daten nur auf den Spannungswert 100% beziehen, nicht auf den Spannungswert 500%, auf dem die Verbesserungen basieren.

Für die Vulkanisationszeit t90% liefert die D13 überhaupt keine Werte.

Somit wurde seitens der Beschwerdegegnerin nicht glaubhaft nachgewiesen, dass keine Verbesserung vorliegt.

Daher ist die Kammer überzeugt, dass die Aufgabe durch die erfindungsgemäßen Fällungskieselsäuren erfolgreich gelöst wird.

Da im vorliegenden Fall ein Effekt anerkannt wird, steht er, entgegen der Ansicht der Beschwerdegegnerin, auch nicht im Widerspruch zur T 355/97, wonach jede Partei die Beweislast für die von ihr geltend gemachten Tatsachen trägt.

2.6 Naheliegen

Da weder in der D2 noch im im Verfahren genannten Stand der Technik, wie beispielsweise der D1, das Verhältnis Searszahl V2 zu BET-Oberfläche erwähnt wird, und es keinerlei Hinweis darauf gibt, dass Fällungskieselsäuren mit dem beanspruchten Verhältnis positive Auswirkung auf Vulkanisate haben, wird die erfinderische Tätigkeit des Gegenstandes von Anspruch 1 anerkannt.

2.7 Nach Auffassung der Beschwerdegegnerin würde das in der D9 kompilierte Fachwissen einen Hinweis auf die beanspruchte Lösung liefern. Da die D9 aber nicht zum Stand der Technik gehört, kann auch nicht die Zusammenschau des dort präsentierten allgemeinen Fachwissens herangezogen werden, um die erfinderische Tätigkeit infrage zu stellen. In der Tat ist in der D9 selektiv nur solches Fachwissen offenbart, welches für die Lehre der D9 relevant ist.

2.8 Die zuvor gemachten Ausführungen bezüglich der erfinderischen Tätigkeit im Hinblick auf Anspruch 1 des Hauptantrags gelten sinngemäß auch für die weiteren Ansprüche.

Entscheidungsformel

Aus diesen Gründen wird entschieden:

1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.

2. Die Angelegenheit wird mit der Anordnung an die erste Instanz zurückverwiesen, das Patent auf der Grundlage des Hauptantrags, eingereicht mit der Beschwerdebegründung, und einer noch anzupassenden Beschreibung aufrechtzuerhalten.

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