T 0379/13 (Fällungskieselsäure/Evonik) of 8.1.2016

European Case Law Identifier: ECLI:EP:BA:2016:T037913.20160108
Datum der Entscheidung: 08 Januar 2016
Aktenzeichen: T 0379/13
Anmeldenummer: 04700700.0
IPC-Klasse: C01B 33/193
Verfahrenssprache: DE
Verteilung: D
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Bibliografische Daten verfügbar in: DE
Fassungen: Unpublished
Bezeichnung der Anmeldung: SPEZIELL GEFÜLLTE KIESELSÄUREN FÜR GUMMIANWENDUNGEN
Name des Anmelders: Evonik Degussa GmbH
Name des Einsprechenden: Grace GmbH & Co. KG
Kammer: 3.3.05
Leitsatz: -
Relevante Rechtsnormen:
European Patent Convention Art 87(1)(b)
European Patent Convention Art 54(1)
European Patent Convention Art 54(2)
European Patent Convention Art 54(3)
European Patent Convention Art 56
Schlagwörter: Priorität - Identität der Erfindung (nein)
Neuheit - (ja)
Erfinderische Tätigkeit - Hauptantrag (nein)
Erfinderische Tätigkeit - Hilfsantrag (ja)
Orientierungssatz:

-

Angeführte Entscheidungen:
G 0002/98
T 0146/07
T 0557/13
Anführungen in anderen Entscheidungen:
T 1487/16

Sachverhalt und Anträge

I. Die Beschwerden richten sich gegen die Entscheidung der Einspruchsabteilung, das Streitpatent in geändertem Umfang auf der Grundlage der Ansprüche des Hilfsantrags 1, eingereicht während der mündlichen Verhandlung am 20. November 2012, aufrechtzuerhalten.

II. Die unabhängigen Ansprüche 1 und 9 des erteilten Patents haben folgenden Wortlaut:

"1. Fällungskieselsäure gekennzeichnet durch folgende physikalisch-chemische Parameter:

CTAB-Oberfläche 100 - 200 m**(2)/g

BET/CTAB-Verhältnis 0.8 - 1.05

DBP-Zahl 210 - 280 g/(100g)

Searszahl V2 10 - 30 ml/(5g)

Feuchte 4 - 8%

Verhältnis Searszahl V2 zur BET-Oberfläche

0.150 bis 0.370 ml/(5m**(2))."

"9. Verfahren zur Herstellung von Fällungskieselsäuren, dadurch gekennzeichnet, dass nacheinander

a) eine wässrige Lösung eines Alkali- oder Erdalkalisilikats und/oder einer organischen und/oder anorganischen Base mit einem pH-Wert von 7 bis 14 vorgelegt,

b) in diese Vorlage unter Rühren bei 55 bis 95°C für 10 bis 120 Minuten gleichzeitig Wasserglas und ein Säuerungsmittel dosiert,

g) die erhaltene Suspension 1 bis 120 Minuten bei 80 bis 98°C nachgerührt,

h) mit einem Säuerungsmittel auf einen pH-Wert von 2.5 bis 5 angesäuert und

i) filtriert und getrocknet wird."

Die unabhängigen Ansprüche 1 und 9 des von der Einspruchsabteilung aufrecht erhaltenen Hilfsantrags haben folgenden Wortlaut:

"1. Fällungskieselsäure gekennzeichnet durch folgende physikalisch-chemische Parameter:

CTAB-Oberfläche 100 - 200 m**(2)/g

BET/CTAB-Verhältnis 0.8 - 1.05

DBP-Zahl 210 - 280 g/(100g)

Searszahl V2 10 - 30 ml/(5g)

Feuchte 4 - 8%

Verhältnis Searszahl V2 zur BET-Oberfläche

0.150 bis 0.370 ml/(5m**(2)),

wobei die folgenden Fällungskieselsäuren ausgenommen sind:

1) BET 123 m**(2)/g

CTAB 119 m**(2)/g

DBP 272 [g/(100g)]

Feuchte 4,8%

pH 5,6

Leitfähigkeit 610 [myS/cm]

Searszahl V2 24 [ml/(5g)]

Searszahl V2/BET 0,195 [ml/(5m**(2))]

2) BET 110 m**(2)/g

CTAB 108 m**(2)/g

DBP 271 [g/(100g)]

Feuchte 5,18%

pH 5,5

Leitfähigkeit 930 [myS/cm]

Searszahl V2 25 [ml/(5g)]

Searszahl V2/BET 0,227 [ml/(5m**(2))]."

"9. Verfahren zur Herstellung von Fällungskieselsäuren, nach den Ansprüchen 1 bis 8, dadurch gekennzeichnet, dass nacheinander

a) eine wässrige Lösung eines Alkali- oder Erdalkalisilikats und/oder einer organischen und/oder anorganischen Base mit einem pH-Wert von 7 bis 14 vorgelegt,

b) in diese Vorlage unter Rühren bei 55 bis 95 °C für 10 bis 120 Minuten gleichzeitig Wasserglas und ein Säuerungsmittel dosiert,

g) die erhaltene Suspension 1 bis 120 Minuten bei 80 bis 98 °C nachgerührt,

h) mit einem Säuerungsmittel auf einen pH-Wert von 2.5 bis 5 angesäuert und

i) filtriert und getrocknet wird."

III. Folgende Dokumente sind für die Entscheidung von Relevanz:

D1: DE 103 02301.1 (erste Priorität des Streitpatents)

D1a: DE 103 58 466 A1 (zweite Priorität des Streitpatents)

D2: WO 2004/065299 A1

D3: DE 103 02 300.3 (erste Priorität zu D2)

D3a: DE 103 58 449 A1 (zweite Priorität zu D2)

D4: EP 0 901 986 A1

D5: EP 0 983 966 A1

D6: EP 0 755 899 A2.

IV. In der angefochtenen Entscheidung wies die Einspruchsabteilung den Hauptantrag (Patent in der erteilten Fassung) mangels Neuheit der beanspruchten Fällungskieselsäure im Hinblick auf D2 und D3 zurück. Das Herstellverfahren nach Anspruch 9 war nicht neu im Hinblick auf D4, D5 und D6.

Den Hilfsantrag 1 betreffend wurde D5 als nächst­liegender Stand der Technik angesehen. Die Aufgabe bestand in der Bereitstellung verbesserter Kieselsäuren, die als Füllstoff in einer Kautschukmischung den Rollwiderstand von Reifen senkten. Da ein Zusammenhang zwischen solchen verbesserten Eigenschaften als Füllstoff bzw. einem geringerem Rollwiderstand von Reifen und dem Kieselsäureparameter V2/BET im Stand der Technik nicht bekannt war, hatte der Anspruchsgegenstand nicht nahegelegen. Entsprechendes galt für den Verfahrensanspruch 9.

V. Mit der Beschwerdebegründung vom 17. April 2013 beantragte die Patentinhaberin (Beschwerdeführerin I), das Patent in der erteilten Fassung aufrecht zu erhalten.

Zudem reichte sie einen Hilfsantrag 1 mit folgendem geänderten Anspruch 9 ein, welcher lautet:

"9. Verfahren zur Herstellung von Fällungskieselsäuren nach den Ansprüchen 1 bis 8, dadurch gekennzeichnet, dass nacheinander

a) eine wässrige Lösung eines Alkali- oder Erdalkalisilikats und/oder einer organischen und/oder anorganischen Base mit einem pH-Wert von 7 bis 14 vorgelegt,

b) in diese Vorlage unter Rühren bei 55 bis 95°C für 10 bis 120 Minuten gleichzeitig Wasserglas und ein Säuerungsmittel dosiert,

g) die erhaltene Suspension 1 bis 120 Minuten bei 80 bis 98°C nachgerührt,

h) mit einem Säuerungsmittel auf einen pH-Wert von 2.5 bis 5 angesäuert und

i) filtriert und getrocknet wird."

Weitere Argumente der Beschwerdeführerin I gingen mit Schriftsätzen vom 20 Juni 2013 und 11. Dezember 2013 ein.

VI. Die Beschwerde der Einsprechenden (Beschwerdeführerin II) wurde mit Schreiben vom 11. Februar 2013 eingelegt. Die Beschwerdebegründung vom 22. April 2013 enthielt die Argumente der Beschwerdeführerin. Weitere Argumente gingen mit Schreiben vom 6. November 2013 ein.

VII. Mit Schreiben vom 16. November 2015 reichte die Beschwerdeführerin I einen neuen Hilfsantrag 2 ein.

VIII. Der Kammer liegen auch Einwendungen Dritter gemäß Artikel 115 EPÜ vor. Da diese Einwendungen anonym eingegangen sind, wurden sie von der Kammer im Sinne der Entscheidung T 146/07 nicht in das Verfahren zugelassen.

IX. In der mündlichen Verhandlung vor der Kammer, die am 8. Januar 2016 stattfand, wurde die Gültigkeit der Prioritäten des Patents bzw. des Dokuments D2 und die Neuheit bzw. die erfinderische Tätigkeit der Anspruchsgegenstände diskutiert.

Die Beschwerdeführerin II beantragte die Aussetzung des Verfahrens im Hinblick auf die Vorlageentscheidung T 557/13.

Die Beschwerdeführerin I zog ihren im schriftlichen Verfahren gestellten Antrag zurück, der Grossen Beschwerdekammer zwei Fragen zur Stellungnahme vorzulegen. Außerdem überreichte sie eine Anpassung der Seite 4 der Beschreibung.

X. Die Beschwerdeführerin I argumentierte im Wesentlichen wie folgt:

Die erste Priorität D1 des Streitpatents sei nicht gültig, desgleichen die erste Priorität D3 des Dokuments D2, da das Verhältnis V2 zu BET-Oberfläche, das ein wesentliches Merkmal des Anspruchs 1 sei, nicht offenbart sei. D2 gehöre somit nicht zum Stand der Technik.

D4 sei nicht neuheitsschädlich, da keine der vorbekannten Fällungskieselsäuren ein V2/BET-Verhältnis bzw. eine Feuchtigkeit im beanspruchten Bereich aufwiesen. Weder D4, D5 noch D6 offenbarten den Verfahrensschritt g) des beanspruchten Verfahrens.

D5 könne nicht als nächstliegender Stand der Technik herangezogen werden, da es nur Kieselsäuren beschreibe, die Aluminiumoxid enthielten. Außerdem sei die Kautschukrezeptur eine andere.

XI. Die Beschwerdeführerin II argumentierte im Wesentlichen wie folgt:

Mindestens die in den Beispielen 1.1 und 1.5 aus D3 offenbarten Fällungskieselsäuren wiesen die Priorität vom 22. Januar 2003 auf, hätten also einen früheren Zeitrang als das Streitpatent. Sowohl diese zwei konkrete Fällungskieselsäuren als auch die anderen, gemäß der Lehre der D2 hergestellten Kieselsäuren würden den Gegenstand des erteilten Anspruchs 1 neuheitsschädlich vorwegnehmen. Ebenso würden die Dokumente D4 und D5 bereits Fällungskieselsäuren gemäß dem erteilten Anspruch 1 offenbaren.

Die Dokumente D4, D5 und D6 würden den Verfahrensschritt g) gemäß erteilten Anspruch 9 mindestens implizit offenbaren.

Im Übrigen beruhe der beanspruchte Gegenstand nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit gegenüber D5, insbesondere Beispiel 2. Der Unterschied zum Streitpatent bestünde in einem geringfügig höheren V2/BET Verhältnis. Aufgrund des gleichen Herstellverfahrens dürfte der Feuchtgrad der Fällungskieselsäure in den beanspruchten Bereich von Anspruch 1 des Streitpatents fallen. Eine überraschende Verbesserung gegenüber D5, das die Anwendung als Füllstoff für Reifengummi offenbarte, sei nicht plausibel gemacht worden.

XII. Anträge

Die Beschwerdeführerin I beantragte die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und die Aufrechterhaltung des Patents in der erteilten Fassung (Hauptantrag), hilfsweise die Aufrechterhaltung des Patents in geändertem Umfang auf der Basis der Ansprüche gemäß Hilfsantrag 1, eingegangen mit Schreiben vom 17. April 2013, weiter hilfsweise die Aufrechterhaltung des Patents auf der Basis der von der Einspruchsabteilung aufrechterhaltenen Ansprüche, weiter hilfsweise die Aufrechterhaltung des Patents auf der Basis der Ansprüche gemäß Hilfsantrag 2, eingereicht mit Schreiben vom 16. November 2015.

Die Beschwerdeführerin II beantragte die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und den Widerruf des europäischen Patents.

Entscheidungsgründe

1. Neuheit (Hauptantrag, Verfahrensanspruch 9)

1.1 Nach Auffassung der Kammer nimmt keines der Dokumente D4, D5 und D6 den Gegenstand des unabhängigen Verfahrensanspruchs 9 neuheitsschädlich vorweg, und zwar aus folgenden Gründen.

1.2 D4 offenbart auf Seite 3, Zeilen 9 bis 14, dass das Alkalisilikat mit Mineralsäuren unter kontinuierlichem Rühren umgesetzt werde bzw. dass die Zugabe der Säure und des Wasserglases für 30 bis 90 Minuten unterbrochen und anschließend wieder fortgesetzt werden könne. Dies bedeutet aber nach Ansicht der Kammer nicht notwendigerweise, dass während der Unterbrechung der Zugabe die Suspension weiter- oder nachgerührt wird.

1.3 Auch die Dokumente D5 und D6 offenbaren Herstell­verfahren, bei denen die Zugabe von Wasserglas und/oder Schwefelsäure unterbrochen wird (D5, Seite 5, Absatz [0022]; D6, Seite 3, Zeilen 2 bis 8). Auch hier folgt daraus aber nicht unmittelbar und eindeutig, dass während dieser Unterbrechung die Suspension weiter- oder nachgerührt wird.

1.4 Die Beschwerdeführerin II argumentierte, dass sich die Lösung auch ohne aktives Nachrühren noch eine Weile sozusagen "selbst umrührte", weil aufgrund der Trägheitskraft jede gerührte Lösung eine gewisse Zeit benötige, bis sie zum Stillstand komme. Auch wenn man dieser Überlegung folgte, so ist aus D4 jedoch nicht zweifelsfrei zu entnehmen, dass das passive Nachrühren der Lösung eine Minute oder mehr andauerte, wie es vom Anspruch gefordert wird.

1.5 Im Ergebnis erfüllt der Gegenstand von Anspruch 9 die Erfordernisse des Artikels 54(1) und (2) EPÜ.

2. Erfinderische Tätigkeit (Hauptantrag, Anspruch 9)

2.1 Die in Anspruch 9 definierte Erfindung betrifft ein Verfahren zur Herstellung von Fällungskieselsäuren.

2.2 Als nächstliegender Stand der Technik kommt nach Ansicht beider Parteien sowohl D4 als auch D5 oder auch D6 in Frage, da alle diese Dokumente Verfahren mit den Verfahrensschritten a), b), h) und i) gemäß erteiltem Anspruchs 9 aufweisen.

Zum Beispiel setzt man gemäß D4 (vgl. Anspruch 4) Alkalisilikat mit Mineralsäuren bei Temperaturen von 60 bis 95°C bei einem pH-Wert von 7 bis 11 unter kontinuierlichem Rühren um, setzt die Reaktion bis zu einer Feststoffkonzentration von 40 bis 110 g fort, stellt den pH-Wert auf einen Wert zwischen 3 und 5 ein, und gewinnt schließlich die Fällungskieselsäure durch Abfiltrieren, Waschen und Trocknen.

2.3 Aufgabe

Gemäß Streitpatent (Absatz [0010]) besteht die Aufgabe darin, ein Verfahren zur Herstellung von neuen, leicht dispergierbaren Fällungskieselsäuren bereitzustellen, welche in Elastomermischungen eingearbeitet werden können und deren Eigenschaften verbessern.

2.4 Lösung

Zur Lösung der obengenannten Aufgabe schlägt das Streitpatent ein Verfahren gemäß Anspruch 9 vor, welches dadurch gekennzeichnet ist, dass die in Schritt b) erhaltene Suspension 1 bis 120 Minuten bei 80 bis 98°C nachgerührt wird.

2.5 Erfolg der Lösung

Die Kammer kann der Ansicht der Beschwerdeführerin II folgen, wonach die in Punkt 2.3 definierte Aufgabe durch die in Anspruch 9 vorgeschlagenen Schritte nicht gelöst wird, nämlich dann nicht, wenn die Nachrührzeit nahe der beanspruchten Untergrenze von einer Minute beträgt. Wegen des in Punkt 1.4 beschriebenen "selbständigen" Nachrührens bei einem herkömmlichen Herstellverfahren ist es nicht glaubhaft, dass sich bereits durch eine minimale Verlängerung eine signifikante Verbesserung der Eigenschaften der Kieselsäure ergibt. Diese Schlussfolgerung wird durch die Beispiele - wo 60 Minuten lang nachgerührt wird - bekräftigt.

2.6 Neuformulierte Aufgabe

Da die ursprünglich formulierte Aufgabe nicht glaubhaft gelöst ist, muss sie umformuliert werden. Im vorliegenden Fall sieht die Kammer die Aufgabe in der Bereitstellung eines alternativen Verfahrens zur Herstellung von Fällungskieselsäuren.

2.7 Erfolg der Lösung

Die Kammer unterstellt zugunsten der Beschwerdeführerin I, dass die neuformulierte Aufgabe (siehe Punkt 2.6) erfolgreich gelöst wurde.

2.8 Naheliegen

Es bleibt zu untersuchen, ob die beanspruchte Lösung angesichts des Standes der Technik nahegelegen hat.

Nach Meinung der Kammer ist die Untergrenze der Nachrührzeit von einer Minute als ein willkürlicher Wert anzusehen, für den der Nachweis eines Effekt, der ab dieser Schwelle eintritt, fehlt und der nahe am Stand der Technik gemäß D4 liegt.

Außerdem wäre es für einen Fachmann auf der Hand liegend, das Rühren während einer Unterbrechung der Zugabe von Ausgangsmaterialien wie in einem aus D4 bekannten kontinuierlich gerührten Fällungsprozess fortzusetzen, weil das Rühren bekannterweise die Homogenität eines gefällten Stoffes verbessert.

Die in Anspruch 9 beanspruchte Lösung ist deshalb als naheliegend anzusehen. Die Erfordernisse des Artikels 56 EPÜ sind nicht erfüllt.

3. Hilfsantrag 1

Der Anspruchssatz gemäß Hilfsantrag 1 unterscheidet sich von dem der erteilten Fassung (Hauptantrag) darin, daß der Verfahrensanspruch 9 als von den Produktansprüchen 1 bis 8 abhängiger Anspruch formuliert ist, folglich auf die Herstellung von den in Ansprüchen 1 bis 8 spezifizierten Fällungskieselsäuren beschränkt ist.

3.1 Gültigkeit der Prioritäten

3.1.1 Im vorliegenden Fall besitzen sowohl das Streitpatent als auch das Dokument D2 den gleichen Anmeldetag und beanspruchen die gleichen Prioritätstage: eine erste Priorität vom 22. Januar 2003 und eine zweite Priorität vom 13. Dezember 2003. Somit ist es insbesondere für die Beurteilung der Neuheit notwendig zu prüfen, ob das Dokument D2 als Stand der Technik nach Artikel 54(3) EPÜ anzusehen ist oder nicht.

3.1.2 Artikel 87(1)(b) EPÜ bestimmt, dass ein Anmelder für die Anmeldung derselben Erfindung zum europäischen Patent während einer Frist von 12 Monaten nach dem Anmeldetag der ersten Anmeldung ein Prioritätsrecht genießt.

Die Kriterien für die Prüfung des Prioritätsanspruches wurden grundlegend in der Entscheidung G 0002/98 festgelegt. Unter Punkt 9 dieser Entscheidung wird ausgeführt, dass ein beanspruchter Prioritätstag nur gültig ist, wenn der Gegenstand des Patentanspruchs unmittelbar und eindeutig aus der Offenbarung der Erfindung in der Prioritätsunterlage herleitbar ist. Die Entscheidung stellt weiterhin klar, dass bei der Prüfung der Priorität der Grundsatz der Gleichbehandlung zwischen einem Anmelder und einem Dritten bestehen müsse. Dies bedeute, dass bei der Beurteilung der Priorität einer Patentanmeldung dieselben Kriterien gelten müssten, wie bei der Beurteilung einer Priorität eines Dokumentes des Standes der Technik.

3.1.3 Was das Streitpatent betrifft, so stimmen die Parteien und die Kammer überein, dass die erste Priorität vom 22. Januar 2003 nicht gültig ist. Zur Begründung ist anzuführen, dass im Anspruch 1 des angegriffenen Patentes eine Kieselsäure beansprucht wird, die ein Verhältnis Searszahl V2 zu BET-Oberfläche in einem bestimmten Bereich aufweist, wobei besagtes Verhältnis im Prioritätsdokument D1 jedoch nicht offenbart ist. Dem Streitpatent kommt daher der Zeitrang vom 13. Dezember 2003 zu (zweite Priorität).

3.1.4 Zur Beantwortung der Frage, ob der Entgegenhaltung D2 die Priorität vom 22. Januar 2003 oder vom 13. Dezember 2003 zukommt, ist zu prüfen, ob das Merkmal des Verhältnisses der Searszahl V2 zu BET Oberfläche, das im Unteranspruch 8 des Dokumentes D2 explizit genannt wird, unmittelbar und eindeutig aus dem Prioritätsdokument D3 (erste Priorität zu D2) hervorgeht.

Die Prüfung ergibt, dass das Verhältnis Searszahl V2 zur BET-Oberfläche und seine Bedeutung im gesamten Prioritätsdokument explizit nicht offenbart sind. Zwar enthalten die Beispiele unter anderen Kenndaten auch Zahlenwerte von V2 und der BET-Oberfläche, aus denen sich theoretisch die jeweiligen Verhältnisse V2/BET berechnen ließen. Doch gibt D3 keinen Anlass für oder Hinweis auf eine solche mathematische Operation noch warum ein solches Verhältnis von Interesse sein solle.

In Dokument D2 hingegen wird die Bedeutung des Parameters V2/BET auf Seite 3, Zeilen 21 bis 36, beschrieben. Es heißt dort, dass die Kombination der genannten Merkmale, insbesondere das hohe Verhältnis von Searszahl V2 zu BET dazu führt, dass sich die erfindungsgemäßen Fällungskieselsäuren hervorragend als Verstärkerfüllstoff für Elastomere eignen. Sie zeichnen sich insbesondere durch eine erhöhte Kautschukaktivität aus, zeigen sehr gutes Dispersionsverhalten und eine niedrige Vulkanisationszeit. All diese Angaben fehlen im Prioritätsdokument D3, welches somit hinsichtlich des Verhältnisses V2 zu BET und dessen Bedeutung für die in D2 beanspruchte Erfindung nichts offenbart. Wie erwähnt, enthält die Tabelle auf Seite 25 von D3 die Verhältniszahlen Searszahl V2 zu BET-Oberfläche nicht und es gibt keinen Hinweis im Prioritätsdokument, dass dieses Verhältnis ein wichtiges Merkmal der Fällungskieselsäuren wäre.

3.1.5 Die Einspruchsabteilung und die Beschwerdeführerin II argumentierten, dass die erste Priorität von D2 mindestens für die in den Beispielen 1.1 und 1.5 aus D3 offenbarten Fällungskieselsäuren anzuerkennen sei, weil man aus den V2 bzw. BET Werten der Tabelle auf Seite 25 des Prioritätsdokumentes D3 das Verhältnis V2 zu BET berechnen könne, das Merkmal daher implizit offenbart sei.

Eine rein hypothetische, veranlasste Ableitung oder Berechnung eines neuen Parameters stellt jedoch nach Ansicht der Kammer keine implizite Offenbarung dar, sondern ist vielmehr etwas, das für den Fachmann im Verborgenen bleibt. Es ist als solches nicht relevant für die Beurteilung der Gültigkeit der Priorität, wo es darauf ankommt, ob in einer Anmeldung die gleiche Erfindung vorliegt wie im Prioritätsdokument.

Infolgedessen kann D2 die Priorität vom 22. Januar 2003 nicht gültig beanspruchen und sein Zeitrang ist der 13. Dezember 2003. Da dieser Zeitrang derselbe wie der des angegriffenen Patents ist, gehört D2 nicht zum Stand der Technik nach Artikel 54(3) EPÜ.

3.2 Antrag auf Aussetzung des Verfahrens

Wie in Punkt 3.1.4 und 3.1.5 erläutert, ist die erste Priorität zu Dokument D2 nicht gültig. Somit berührt die in der Entscheidung T 0557/13 der Großen Beschwerde­kammer vorgelegte Frage der Teilpriorität den vorliegenden Fall nicht. Dem Antrag der Beschwerdeführerin II auf Aussetzung des Verfahrens wird daher nicht stattgegeben.

4. Neuheit (Hilfsantrag 1)

4.1 D2 gehört nicht zum Stand der Technik und braucht daher nicht berücksichtigt zu werden.

4.2 D4, Absatz [0010], offenbart in einer bevorzugten Ausführungsform Fällungskieselsäuren mit folgenden Eigenschaften (fettgedruckt die Werte, die in die beanspruchten Bereichen wie erteilt fallen):

CTAB-Oberfläche 120 - 200 m**(2)/g

Verhältnis BET/CTAB 0.8 - 1.3

Searszahl 6 - 25 ml

DBP Zahl 150 - 300 g/(100g).

Wie ersichtlich, gibt es zwar signifikante Überlappungsbereiche mit dem erteilten Gegenstand, doch weist keine der Fällungskieselsäuren der Beispiele der D4 ein V2/BET-Verhältnis im beanspruchten Bereich auf. Außerdem ist die Feuchtigkeit der Kieselsäure in D4 nicht explizit angegeben.

Der Argumentation der Beschwerdeführerin II, die Feuchtigkeit der Kieselsäure gemäß D4 sei deswegen gleich der der beanspruchten Kieselsäuren, weil das Herstellungsverfahren gleich sei, kann sich die Kammer

nicht anschließen. Wie unter Punkt 1 diskutiert, ist mindestens der Verfahrensschritt g) des Herstellungsverfahrens aus D4 nicht bekannt, daher sind zwingende Schlussfolgerung bezüglich der Feuchte der in D4 hergestellten Kieselsäuren nicht möglich.

4.3 Die gleiche Argumentation gilt für Dokument D5, das in einer bevorzugten Ausführungsform (vgl. Absatz [0018]) Fällungskieselsäuren mit folgenden Eigenschaften offenbart (fettgedruckt die Werte, die in den Gegenstand des erteilten Anspruchs 1 fallen):

CTAB-Oberfläche 80 - 130 m**(2)/g

Verhältnis BET/CTAB 1.0 - 1.6

Searszahl 5 - 25 ml

DBP Zahl 200 - 300 g/100g.

4.4 Bezüglich der Neuheit des Verfahrensanspruchs 9 gilt die gleiche Argumentation wie für den Verfahrensanspruch 9 gemäß Hauptantrag.

4.5 Aus den genannten Gründen sind die Gegenstände der Ansprüche 1 und 9 des Hilfsantrages 1 sowie der davon abhängigen Ansprüche neu gegenüber dem Stand der Technik.

5. Erfinderische Tätigkeit (Hilfsantrag 1)

5.1 Die vorliegende Erfindung betrifft eine Fällungskieselsäure, ein Verfahren zur Herstellung dieser Kieselsäuren, vulkanisierbare Kautschukmischungen und Vulkanisate enthaltend diese Kieselsäure sowie Verwendungen dieser Kieselsäure.

5.2 Nächster Stand der Technik

Als nächstliegender Stand der Technik wurden von den Parteien die Dokumenten D4 bzw. D5 angesehen. Die Kammer kann sich der Beschwerdeführerin II anschließen, wonach Beispiel 2 aus D5 als nächstliegender Stand der Technik anzusehen sei. Dem Argument der Beschwerdeführerin I, dass D5 nicht in Frage käme, weil es eine andere Kautschukmischung verwende bzw. eine Kieselsäure mit Aluminiumoxid betreffe, folgt die Kammer nicht, weil Aluminiumoxid vom Wortlaut des geltenden Anspruchs 1 nicht ausgeschlossen ist und eine spezielle Kautschukmischung im Anspruch 1 nicht erwähnt ist.

Die in Beispiel 2 aus D5 bekannte Fällungskieselsäure hat die folgenden physikalischen Kenndaten:

BET-Oberfläche 129 m**(2)/g

CTAB-Oberfläche 124 m**(2)/g

BET/CTAB 1.04

DBP Zahl 243 ml/100g

Searszahl 16.2

Al2O3-Gehalt 0.59 %.

5.3 Aufgabe

Die Aufgabe des Streitpatents besteht darin, eine leicht dispergierbare Fällungskieselsäure bereitzustellen, welche in Elastomermischungen eingearbeitet werden kann und deren Eigenschaften verbessert. Diese Aufgabe ist im Streitpatent auf Seite 3, Absatz [0010], erwähnt.

5.4 Lösung

Zur Lösung dieser Aufgabe schlägt das Streitpatent eine Fällungskieselsäure gemäß Anspruch 1 des Hilfsantrags 1 vor, die unter anderem durch folgende physikalisch-chemische Parameter gekennzeichnet ist:

Feuchte 4-8% und

Searszahl V2/BET-Oberfläche 0.150 bis 0.370 ml/(5m**(2)).

5.5 Erfolg der Lösung

Die Frage, ob durch die in Anspruch 1 vorgeschlagene Lösung die im Streitpatent definierte Aufgabe (vgl. Punkt 5.3) tatsächlich gelöst wird, ist positiv zu beantworten. Anhand der Tabelle 4 des Patents (vgl. Tabelle 4 bzw. Absatz [0104]) ist festzustellen, dass die erfindungsgemäßen Kieselsäuren KS Ib und KS II einen besseren Dispersionskoeffizienten als die als Referenz bezeichnete, bereits leicht dispergierbare Kieselsäure Ultrasil 7000 GR besitzen. Außerdem ermöglichen die erfindungsgemäßen Kieselsäuren eine verbesserte Nassrutschfestigkeit einer Reifenlauffläche (nachweisbar durch den niedrigeren Ball-Rebound 0°C) sowie einen niedrigeren Rollwiderstand einer Reifenlauffläche (nachweisbar durch den höheren Ball-Rebound 60°C und erniedrigten Hystereseverlust tan delta 60°C).

5.6 Naheliegen der Lösung

Zur Frage, ob die beanspruchte Lösung angesichts des Stands der Technik nahe lag, stellte die Kammer folgende Überlegungen an.

Weder das Beispiel 2 von D5 noch die gesamte Offenbarung der Entgegenhaltung D5 weisen auf die Möglichkeit hin, die obengenannte Aufgabe mit Hilfe einer Kieselsäure zu lösen, bei der sich das Verhältnis Searszahl zu BET-Oberfläche in dem Bereich von 0.150 bis 0.370 befindet. Vielmehr legt D5 ein eher kleineres Verhältnis nahe (es liegt in Beispiel 2 bei 0.125 und in den anderen Beispielen zwischen 0.079 und 0.139). Außerdem ist die Kieselsäure gemäß Beispiel 2 die einzige unter den Beispielen von D5, deren Verhältnis BET/CTAB in den beanspruchten Bereich von 0.8 bis 1.05 fällt. Alle anderen Kieselsäuren besitzen ein höheres BET/CTAB Verhältnis. D5 beansprucht ein Verhältnis BET/CTAB zwischen 1.0 und 1.6, das zum größten Teil außerhalb des vom Streitpatent beanspruchten Bereiches von 0.8 bis 1.05 liegt.

Auch D4 deutet nicht auf die in Anspruch 1 vorgeschlagene Lösung. Die gemäß den Beispielen aus D4 hergestellten Kieselsäuren haben ein Verhältnis von Searszahl zu BET-Oberfläche zwischen 0.053 und 0.103, also weit unterhalb des beanspruchten Bereichs von 0.150 bis 0.370. Auch das Verhältnis BET/CTAB (in den Beispielen 1.06 bis 1.23 ) liegt außerhalb des erfindungsgemäßen Bereichs von 0.8 bis 1.05.

Nach Ansicht der Kammer findet der Fachmann aus diesen Gründen weder in D4 noch in D5 eine Anregung, die in Beispiel 2 aus D5 beschriebene Fällungskieselsäure in der beanspruchten Weise zu modifizieren und die gestellte technische Aufgabe in dieser Weise zu lösen.

Der Argumentation der Beschwerdeführerin II, der beanspruchten Gegenstand sei deshalb eine naheliegende Alternative zu der Kieselsäure aus dem Beispiel 2 aus D5, weil die Auswahl der beanspruchten Bereiche für das BET/CTAB Verhältnis bzw. Searszahl V2/BET-Oberfläche keinen besonderen Effekt mit sich bringe, kann die Kammer nicht akzeptieren.

Es ist zwar richtig, dass der verursachte Rollwiderstand der Kieselsäure gemäß Beispiel 2 aus D5 kleiner ist als der gemäß der Beispiele Ib und II des Streitpatents. Dabei ist jedoch zu bemerken, dass die Bestimmung in D5 an einer Kautschukmischung mit nur 30 Gew.-% Kieselsäure vorgenommen wurde, wogegen im Streitpatent die Messungen mit 80 Gew.- % Kieselsäure gemacht wurden. Außerdem ist die Kautschukrezeptur in D5 eine andere als im Patent. Ein direkter Vergleich mit D5 ist somit nicht möglich und die Behauptung, die Kieselsäure gemäß Streitpatent sei schlechter als die aus D5, ist nicht gerechtfertigt.

Im Falle von D4 ist ein direkter Vergleich möglich, da die Kautschukrezeptur die gleiche ist und in beiden Fälle 80% Gew. an Kieselsäure verwendet wurde. Der Vergleich von Beispiel 4 aus D4 mit den Beispielen Ib und II aus dem Streitpatent zeigt eine Verbesserung im Rollwiderstand zugunsten der erfindungsgemäßen Kieselsäuren.

5.7 Aus den vorstehenden Gründen ist anzuerkennen, dass die Fällungskieselsäure gemäß Anspruch 1 auf einer erfinderischen Tätigkeit beruht.

5.8 Verfahrensanspruch 9 des vorliegenden Hilfsantrags 1 ist auf ein Verfahren zur Herstellung der spezifischen, erfindungsgemäßen Fällungskieselsäuren gemäß Ansprüchen 1 bis 8 beschränkt. Der Anspruch 9 ist somit ebenfalls gewährbar. Gleiches gilt für die Verwendungsansprüche 21 und 22 und für den Stoffanspruch 23 ("Vulkanisierbare Kautschukmischungen und Vulkanisate), die die Fällungskieselsäure gemäß Anspruch 1 als Füllstoff enthalten.

5.9 Die abhängigen Ansprüche 2 bis 8 und 10 bis 20 betreffen besondere Ausführungsarten der Fällungskieselsäure gemäß Anspruch 1 oder des Verfahrens gemäß Anspruch 9, von denen sie abhängen. Sie sind somit ebenfalls gewährbar.

5.10 Die Erfordernisse des Artikels 56 EPÜ sind somit für die Gegenstände der Ansprüche 1 bis 23 gemäß Hilfsantrag 1 erfüllt.

6. Da der Hilfsantrag 1 für alle Ansprüche 1 bis 23 gewährbar ist, erübrigt sich eine Prüfung der nachrangigen Hilfsanträge.

Entscheidungsformel

Aus diesen Gründen wird entschieden:

1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.

2. Die Angelegenheit wird an die erste Instanz zurückverwiesen mit der Anordnung, das Patent in geändertem Umfang auf der Grundlage der Ansprüche 1 bis 23 gemäß Hilfsantrag 1, eingereicht mit Schreiben von 17. April 2013, und der Beschreibung, Seiten 2, 3, 5 bis 18, wie veröffentlicht als EP 1 590 297 B1, und Seite 4, eingereicht während der mündlichen Verhandlung, aufrechtzuerhalten.

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