European Case Law Identifier: | ECLI:EP:BA:2015:T163110.20150804 | ||||||||
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Datum der Entscheidung: | 04 August 2015 | ||||||||
Aktenzeichen: | T 1631/10 | ||||||||
Anmeldenummer: | 05004214.2 | ||||||||
IPC-Klasse: | C12N 15/11 | ||||||||
Verfahrenssprache: | DE | ||||||||
Verteilung: | D | ||||||||
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Bezeichnung der Anmeldung: | Magnetisches Pigment | ||||||||
Name des Anmelders: | Roche Diagnostics GmbH | ||||||||
Name des Einsprechenden: | QIAGEN GmbH | ||||||||
Kammer: | 3.3.08 | ||||||||
Leitsatz: | - | ||||||||
Relevante Rechtsnormen: |
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Schlagwörter: | Verspätet eingereichte Entgegenhaltung - nicht zugelassen Geänderte Ansprüche gemäss Hauptantrag - zugelassen Verstoss gegen Artikel 76 EPÜ (nein) Neuheit - (ja) Erfinderische Tätigkeit - (ja) |
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Orientierungssatz: |
- |
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Angeführte Entscheidungen: |
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Anführungen in anderen Entscheidungen: |
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Sachverhalt und Anträge
I. Die Beschwerde der Patentinhaberin (Beschwerdeführerin) richtet sich gegen die am 31. Mai 2010 zur Post gegebene Entscheidung einer Einspruchsabteilung des Europäischen Patentamtes nach Artikel 101(2) und
101(3)(b) EPÜ, mit der das europäische Patent Nr. 1 577 389 (Anmeldenummer 05004214.2) mit der Bezeichnung "Magnetisches Pigment" widerrufen wurde.
II. Bei der dem Streitpatent zugrunde liegenden Patentanmeldung handelt es sich um eine Teilanmeldung der europäischen Patentanmeldung Nr. 02016299.6, die ihrerseits eine Teilanmeldung der europäischen Patentanmeldung Nr. 96921935.1 ist. Letztere wurde als internationale Patentanmeldung nach dem PCT eingereicht und als WO 96/41811 veröffentlicht (im Folgenden "die erste Stammanmeldung").
III. Die Ansprüche 1, 2 und 9 des erteilten Patents lauten wie folgt:
"1. Verfahren zur enzymatischen Reaktion an Nukleinsäuren, worin die Nukleinsäuren aus einer Probe, welche die Nukleinsäuren in einer Flüssigkeit enthält, durch Adsorption in nativer Form an magnetische Partikel mit einer Glasoberfläche isoliert und anschließend als Substrat in einer enzymatischen Reaktion eingesetzt werden.
2. Verfahren nach Anspruch 1, enthaltend die Schritte:
a) Adsorption von Nukleinsäuren in einer Probe, welche die Nukleinsäuren in einer Flüssigkeit enthält, an magnetische Partikel mit einer Glasoberfläche unter Bedingungen, unter welchen eine Bindung der Nukleinsäuren in nativer Form direkt an die Oberfläche stattfinden kann,
b) Abtrennung der gebundenen Nukleinsäuren von der Flüssigkeit und anschließende Reinigung mit einer Waschlösung,
c) gegebenenfalls Trocknung,
d) Elution mit einem Elutionspuffer und
e) Einsetzen der eluierten Nukleinsäuren als Substrat in einer enzymatischen Reaktion.
9. Verfahren nach Anspruch 7 oder 8, dadurch gekennzeichnet, dass der Kern aus Magnetit (Fe3O4) oder Fe2O3 besteht."
Die abhängigen Ansprüche 3 bis 8 und 9 bis 22 sind auf verschiedene Ausführungsformen des Verfahrens gemäß Anspruch 1 gerichtet. Ansprüche 23 bis 25 betreffen Verwendungen von Nukleinsäuren als Substrat in einer enzymatischen Reaktion.
IV. Der Einspruch gegen die Erteilung des Streitpatents wurde auf die Einspruchsgründe des Artikels 100 a) i.V.m. Artikeln 54 und 56 EPÜ, und 100 c) EPÜ gestützt.
V. In der angefochtenen Entscheidung stellte die Einspruchsabteilung fest, dass der Einspruchsgrund des Artikels 100 c) EPÜ der Aufrechterhaltung des Patents in der erteilten Fassung entgegenstand, und dass die Änderungen in den Ansprüchen gemäß den Hilfsanträgen 1 bis 5 gegen Artikel 123(2) EPÜ verstießen. Bezüglich der Hilfsanträge 6 und 7 stellte die Einspruchsabteilung fest, dass der Gegenstand der jeweiligen Ansprüche nicht auf erfinderischer Tätigkeit beruhte (Artikel 56 EPÜ).
VI. Mit der fristgemäß eingereichten Beschwerdebegründung reichte die Beschwerdeführerin sechs geänderte Anspruchssätze als neuen Hauptantrag bzw. neue Hilfsanträge 1 bis 5 sowie zwei Erklärungen als neue Beweismittel ein. Die Beschwerdeführerin beantragte hilfsweise eine mündliche Verhandlung.
VII. Die Beschwerdegegnerin (Einsprechende) erwiderte auf die Beschwerdebegründung und reichte fünfzehn Dokumente und zwei Annexe als neue Beweismittel ein. Auch sie beantragte hilfsweise eine mündliche Verhandlung.
VIII. Die Beteiligten wurden zur mündlichen Verhandlung geladen. In einer der Ladung beigefügten Mitteilung gemäß Artikel 15(1) der Verfahrensordnung der Beschwerdekammern (VOBK) teilte die Kammer ihre vorläufige Meinung zu einigen Verfahrens- und Sachfragen mit, die von besonderer Bedeutung zu sein schienen. Hinsichtlich der im Beschwerdeverfahren eingereichten Anträge und Beweismittel machte die Kammer die Beteiligten auf Artikel 12 VOBK aufmerksam. Die Kammer machte auch Bemerkungen zu strittigen Punkten, insbesondere in Bezug auf Artikel 123(2)(3), 76, 54 und 56 EPÜ, und wies auf Klarheitsmängel in den geänderten Ansprüchen hin.
IX. Die Beschwerdegegnerin erwiderte auf die Mitteilung der Kammer und reichte weitere Beweismittel ein.
X. Mit Schriftsatz vom 3. Juli 2015 reichte die Beschwerdeführerin sechs geänderte Ansprüchssätze als Hauptantrag bzw. Hilfsanträge 1 bis 5, die die mit der Beschwerdebegründung eingereichten Anträge ersetzten, und weitere Beweismittel ein.
XI. Während der mündlichen Verhandlung, die am 4. August 2015 stattfand, nahm die Beschwerdeführerin ihren Hauptantrag zurück und reichte den mit Schriftsatz vom 3. Juli 2015 eingereichten Anspruchssatz gemäß Hilfsantrag 1 als ihren neuen Hauptantrag ein.
XII. Der Anspruchssatz gemäß Hauptantrag besteht aus 20 Ansprüchen. Anspruch 1 lautet wie folgt:
"1. Verfahren zur Isolierung von und enzymatischen Reaktion an Nukleinsäuren, umfassend
- Inkontaktbringen einer Probe, welche die Nukleinsäuren in einer Flüssigkeit enthält, mit magnetischen Partikeln mit Glasoberflächen unter Bedingungen, bei denen die Nukleinsäuren in nativer Form an die Glasoberfläche binden können,
- Binden der Nukleinsäuren in nativer Form durch Adsorption an die Glasoberfläche der magnetischen Partikel,
- Abtrennen der gebundenen Nukleinsäuren von der Flüssigkeit und
- Einsetzen der Nukleinsäuren als Substrat in einer enzymatischen Reaktion."
Anspruch 2 unterscheidet sich von dem entsprechenden Anspruch des erteilten Patents durch die Einfügung des Merkmals "...[Elutionspuffer] mit niedrigem Salzgehalt" in den Schritt (d). Im Anspruch 9 wurde der Rückbezug auf den Anspruch 7 gestrichen und der Wortlaut "der Kern aus Magnetit (Fe3O4) oder Fe2O3 besteht" durch "das Eisenoxid Magnetit (Fe3O4) oder Fe2O3 ist" ersetzt. Die Ansprüche 3 bis 8 und 10 bis 20 sind mit den entsprechenden Ansprüchen des erteilten Patents identisch.
XIII. In dieser Entscheidung wird auf folgende Entgegenhaltungen Bezug genommen:
(1): WO 93/10162, veröffentlicht am 27. Mai 1993
(3): WO 91/12079, veröffentlicht am 22. August 1991
(5): EP 0 343 934 A2, veröffentlicht am
29. November 1989;
(6): R.P. Alderton et al., 1992, Analytical Biochemistry, Vol. 201, Seiten 166 bis 169;
(7): DE 30 14 036 A1, offengelegt am 23. Oktober 1980
(8): EP 0 389 063, veröffentlicht am 26. September 1990;
(11):DE 43 07 262 A1, offengelegt am 8. September 1994;
(27):US 4,233,169, veröffentlicht am 11. November 1980.
XIV. Die Beschwerdeführerin argumentierte im Wesentlichen wie folgt:
Zulassung des in der mündlichen Verhandlung eingereichten Hauptantrags ins Verfahren
In ihrer Mitteilung gemäß Artikel 15(1) RPBA habe die Kammer neue Einwände nach Artikel 84 EPÜ erhoben. Da der vorliegende Hauptantrag als Hilfsantrag 1 in Erwiderung auf diese Einwände eingereicht sei, könne er nicht als verspätet angesehen werden und sei daher zu berücksichtigen.
Artikel 76 und 123(2) EPÜ
Der Gegenstand des Anspruchs 1 gehe nicht über den Inhalt der ersten Stammanmeldung hinaus. Grundlage für den vorliegenden Anspruch 1 sei der Anspruch 8 der ersten Stammanmeldung. Der Einsatz der isolierten Nukleinsäuren in einer enzymatischen Reaktion sei im vierten Absatz auf Seite 11 der Stammanmeldung und im Absatz [0046] der dem Streitpatent zugrunde liegenden Anmeldung offenbart. Auf Seite 9, erster Absatz und Seite 10, erste Zeile der Stammanmeldung, die den Absätzen [0036] und [0039] der Anmeldung entsprechen, sei die Bindung der Nukleinsäuren an die Glasoberfläche beschrieben.
Auslegung der im Anspruch 1 verwendeten technischen Begriffe "Glas" und "Adsorption"
Der Feststellung der Einspruchsabteilung, jedes siliziumhaltige amorphe Material sei als "Glas" anzusehen, könne nicht zugestimmt werden. Zur Herstellung von Glas sei ein thermischer Prozess erforderlich. Andere amorphe siliziumhaltige Materialien wiesen eine erhöhte Porosität und eine ganz andere Struktur als Glas auf.
Artikel 56 EPÜ - Erfinderische Tätigkeit
Die Entgegenhaltung (8), die in der angefochtenen Entscheidung als nächstliegender Stand der Technik angesehen wurde, beschreibe als feste Phase zur Bindung von Nukleinsäuren nicht nur Glas, sondern auch viele andere siliziumhaltige Materialien. Zur Abtrennung der Nukleinsäuren von den Partikeln werde ein Zentrifugationsschritt vorgeschlagen. Es gebe keinen Hinweis auf die Verwendung von magnetischen Partikeln, obwohl diese schon lange bekannt gewesen seien. Am Prioritätstag habe der Fachmann verschiedene Möglichkeiten gehabt, den Zentrifugationsschritt zu ersetzen, zum Beispiel durch die Verwendung eines Filters. Für den Fachmann sei die im Anspruch 1 vorgeschlagene Lösung nicht naheliegend gewesen.
XV. Zu den für diese Entscheidung relevanten Fragen trug die Beschwerdegegnerin folgendes vor:
Artikel 76 EPÜ
Die Verwendung chaotroper Salze sei in der ersten Stammanmeldung als zwingendes Merkmal offenbart. Das Fehlen dieses Merkmals im vorliegenden Anspruch 1 stelle einen Verstoß gegen Artikel 76 EPÜ dar. Die erste Stammanmeldung offenbare nur ferromagnetische Partikel oder magnetische Partikel mit einer äußeren Oberfläche, die im Wesentlichen porenfrei sind oder Poren einer bestimmten Größe aufweisen. Magnetische Partikel im Allgemeinen seien nicht offenbart. Auch die Verwendung der isolierten Nukleinsäuren in einer enzymatischen Reaktion sei nicht offenbart.
Auslegung von im Anspruch 1 verwendeten technischen Begriffen "Glas" und "Adsorption"
Die Beschreibung des Streitpatents enthalte Definitionen, die die im Anspruch 1 verwendeten Begriffe über ihren üblichen Sinngehalt hinaus erweiterten. Die Begriffe "Glas" und "Adsorption" seien breit auszulegen.
Artikel 56 EPÜ - Erfinderische Tätigkeit
Der Gegenstand des Anspruchs 1 beruhe nicht auf erfinderischer Tätigkeit. Die Entgegenhaltung (8) beschreibe Verfahren zur Isolierung von Nukleinsäuren unter Einsatz von chaotropen Agenzien und einer festen Phase sowie den Einsatz der isolierten Nukleinsäuren als Substrat für verschiedene Enzyme. Als feste Phase werde u.a. Glaspulver eingesetzt. Bis auf den Einsatz der magnetischen Partikel könnten sämtliche Merkmale des vorliegenden Anspruchs 1 aus der Entgegenhaltung hergeleitet werden.
Der einzige Vorteil von magnetischen Glaspartikeln sei, dass sie durch Einsatz eines Magneten leicht abgetrennt werden können, so dass keine Zentrifugationsschritte erforderlich seien. Ausgehend von der Entgegenhaltung (8) liege die zu lösende Aufgabe darin, ein Verfahren zur Nukleinsäureaufreinigung zur Verfügung zu stellen, das eine leichtere Handhabung der Glaspartikel ermöglicht und bei dem auf Zentrifugationsschritte verzichtet werden kann.
Die Lösung des Streitpatents, nunmehr magnetische Glaspartikel einzusetzen, sei für den Fachmann durch eine Kombination der Entgegenhaltung (8) mit der Lehre der Entgegenhaltung (1) naheliegend. In der Entgegenhaltung (1) würden die Vorteile erläutert, die mit dem Einsatz von magnetischen Glaspartikeln verbunden sind, nämlich die leichtere Abtrennbarkeit und die Möglichkeit, auf aufwändige Zentrifugationsschritte zu verzichten. Auch die Entgegenhaltung (5) beschreibe diese Vorteile und liefere daher dem Fachmann einen weiteren Anreiz, die darin beschriebenen magnetischen Silikapartikel in dem Verfahren der Entgegenhaltung (8) einzusetzen.
Der Gegenstand des Anspruchs 1 sei auch ausgehend von der Entgegenhaltung (2) naheliegend. Der einzige Unterschied zwischen dem darin beschriebenen Verfahren und dem Verfahren gemäß Anspruch 1 sei der Einsatz magnetischer Partikel. Die Entgegenhaltung (1) offenbare nicht nur das fehlende Merkmal, sie gebe dem Fachmann auch eine konkrete Motivation, die Lehre der Entgegenhaltung (2) mit der Lehre der Entgegenhaltung (1) zu kombinieren.
XVI. Die Beschwerdeführerin (Patentinhaberin) beantragte die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und die Aufrechterhaltung des Patents auf der Grundlage des während der mündlichen Verhandlung eingereichten Hauptantrags.
XVII. Die Beschwerdegegnerin (Einsprechende) beantragte die Zurückweisung der Beschwerde.
Entscheidungsgründe
Nichtzulassung der Entgegenhaltung (27) ins Verfahren
1. Gemäß Artikel 12(1) der Verfahrensordnung der Beschwerdekammern (VOBK) liegen dem Beschwerdeverfahren unter anderem die Beschwerde und die Beschwerdebegründung nach Artikel 108 EPÜ und - in Fällen mit mehr als einer Beteiligten - alle fristwahrend eingereichten schriftlichen Erwiderungen der anderen Beteiligten zugrunde. Die Beschwerdekammern berücksichtigen bei ihrer Entscheidung das gesamte Vorbringen der Beteiligten gemäß Artikel 12(1) VOBK - wenn und soweit es sich auf die Beschwerdesache bezieht und die Erfordernisse nach Artikel 12(2) VOBK erfüllt -, sie sind jedoch befugt, Tatsachen, Beweismittel oder Anträge nicht zuzulassen, die bereits im Prüfungs- bzw. Einspruchsverfahren hätten vorgebracht werden können oder dort nicht zugelassen worden sind.
2. Die Entgegenhaltung (27) wurde von der Beschwerdegegnerin mit der Erwiderung auf die Beschwerdebegründung eingereicht, ohne jedoch die Gründe anzugeben, warum dieses Dokument nicht im Einspruchsverfahren eingereicht werden konnte.
3. Der Kammer sind keine Gründe für die verspätete Einreichung der Entgegenhaltung (27) ersichtlich. Nach Ansicht der Kammer geht der Inhalt dieses Dokuments nicht über den Inhalt anderer im Einspruchsverfahren eingereichten Entgegenhaltungen, unter anderem der Entgegenhaltung (7) (siehe Abschnitt XIII oben), hinaus und liefert daher keine neuen Erkenntnisse für das vorliegende Verfahren. Aus diesen Gründen hat die Kammer in Ausübung ihres Ermessens nach Artikel 12(4) VOBK die Entgegenhaltung (27) nicht ins Verfahren zugelassen.
Zulassung des in der mündlichen Verhandlung eingereichten Hauptantrags ins Verfahren
4. Die Ansprüche gemäß dem vorliegenden Hauptantrag sind - bis auf die Streichung eines fakultativen Merkmals in Anspruch 2 und eine geringfügige Änderung in Anspruch 9 (siehe Abschnitt XII oben) - mit den Ansprüchen gemäß dem mit der Beschwerdebegründung eingereichten Hilfsantrag 1 identisch. Mit den geänderten Ansprüchen wird den Feststellungen in der angefochtenen Entscheidung zu Einwänden nach Artikel 100(c) bzw. 123(2) EPÜ, die erst in der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung erhoben wurden, sowie den Bemerkungen der Kammer zu Artikel 84 EPÜ Rechnung getragen. Die Änderungen in den Ansprüchen werfen keine Fragen auf, deren Behandlung der Kammer oder der Beschwerdegegnerin ohne Verlegung der mündlichen Verhandlung nicht zuzumuten wäre (siehe Artikel 13(3) VOBK). Angesichts dessen, dass von der Beschwerdegegnerin keine Einwände gegen die Berücksichtigung der in der mündlichen Verhandlung eingereichten Ansprüche erhoben wurden, entscheidet die Kammer, den neuen Hauptantrag ins Verfahren zuzulassen.
Regel 80 EPÜ
5. Die Änderungen in den Ansprüchen 1, 2 und 9 wurden durch Einspruchsgründe nach Artikel 100 c) EPÜ veranlasst, die von der Beschwerdegegnerin (Einsprechenden) geltend gemacht wurden. Die Voraussetzung der Regel 80 EPÜ ist daher erfüllt.
Artikel 76 und 123(2)(3) EPÜ
6. In ihrer Erwiderung auf die Beschwerdebegründung hat die Beschwerdegegnerin die Feststellung der Einspruchsabteilung zu Artikel 100 c) bzw. 123(2) EPÜ bezüglich des Merkmals "Einsetzen der Nukleinsäuren als Substrat in einer enzymatischen Reaktion" (siehe Seite 13 der angefochtenen Entscheidung) in Frage gestellt und zwei Einwände in Bezug auf Artikel 76 EPÜ, die sie im Einspruchsverfahren erhoben hatte, weiter verfolgt.
7. Nach Ansicht der Kammer ist der Einwand der Beschwerdegegnerin bezüglich der Verwendung chaotroper Salze bei der Isolierung der Nukleinsäuren nicht gerechtfertigt. Entgegen der Meinung der Beschwerdegegnerin wird der Einsatz chaotroper Salze in der ersten Stammanmeldung (WO 96/41811) nicht als zwingendes Merkmal des erfindungsgemäßen Verfahrens offenbart. Zwar wird im ersten Absatz auf Seite 1 der WO 96/41811 ein "Verfahren zur Reinigung eines biologischen Materials, insbesondere von Nukleinsäuren unter Verwendung von Glaspartikeln in Gegenwart chaotroper Salze" offenbart (siehe Zeilen 1 bis 3), den folgenden Ausführungen auf Seite 9, Zeilen 10 bis 13 der Stammanmeldung ist jedoch zu entnehmen, dass es sich bei der Bindung der Nukleinsäuren an die Glaspartikel in Gegenwart chaotroper Salze lediglich um eine bevorzugte Ausführungsform des erfindungsgemäßen Verfahrens handelt:
"Die Bindung nativer Nukleinsäuren an Glaspartikel kann analog zu Verfahren des Standes der Technik erfolgen. Bevorzugt erfolgt sie in Gegenwart chaotroper Salze, wobei die Konzentration dieser Salze zwischen 2 und 8 mol/l beträgt, bevorzugt 4 bis 6 mol/l" (Hervorhebung durch die Kammer)
Demnach vermag die Kammer in der Tatsache, dass das Merkmal "in Gegenwart chaotroper Salze" in dem vorliegenden Anspruch 1 fehlt, keinen Verstoß gegen Artikel 76 EPÜ zu erkennen.
8. Auch die Meinung der Beschwerdegegnerin, die Beschreibung und die ursprünglichen Ansprüche der ersten Stammanmeldung bezögen sich nicht auf den Einsatz jeglicher Art von magnetischen Glaspartikeln, kann die Kammer nicht teilen. Die Verwendung magnetischer Partikel mit einer Glasoberfläche im Allgemeinen, d.h. ohne Beschränkung auf ferromagnetische Partikel oder auf Partikel mit bestimmten Poren, in einem Verfahren zur Isolierung von Nukleinsäuren wird in Anspruch 8 der Stammanmeldung klar und eindeutig offenbart. Dass die mit dem erfindungsgemäßen Verfahren isolierten Nukleinsäuren anschließend als Substrat in einer enzymatischen Reaktion eingesetzt werden können, ist den Ausführungen im letzten Absatz auf Seite 11 der ersten Stammanmeldung zu entnehmen, die sich allgemein auf alle offenbarten Verfahren, einschließlich des Verfahrens gemäß Anspruch 8 beziehen.
9. Aus diesen Gründen kann die Kammer bei dem vorliegenden Anspruch 1 keinen Verstoß gegen Artikel 76 EPÜ feststellen.
10. Einwände in Bezug auf Artikel 123(2)(3) EPÜ sind im Beschwerdeverfahren nicht erhoben worden und die Kammer sieht dazu ebenfalls keine Veranlassung.
Artikel 84 und 83 EPÜ
11. Einwände bezüglich der Klarheit der Ansprüche (Artikel 84 EPÜ) oder der Ausführbarkeit der beanspruchten Erfindung (Artikel 83 EPÜ) wurden im Beschwerdeverfahren nicht erhoben.
Auslegung der im Anspruch 1 verwendeten technischen Begriffe "Glas" und "Adsorption"
12. Ein sowohl im Einspruchs- als auch im Beschwerdeverfahren wiederkehrender Diskussionspunkt ist die Auslegung von zwei Begriffen, die im Anspruch 1 verwendet werden, nämlich "Glas" und "Adsorption". Die Interpretation dieser Begriffe ist von Bedeutung für die Beurteilung der Neuheit und erfinderischen Tätigkeit.
13. Der Begriff "Glas" wird in den Paragraphen [0018] und [0019] des Streitpatents erläutert: Unter "Glas" im Sinne der Erfindung wird "ein siliciumhaltiges amorphes Material" verstanden (siehe Paragraph [0018], erste Zeile).
14. In der mündlichen Verhandlung waren sich die Beteiligten einig, dass ein Fachmann, der das Streitpatent liest, unter dem Begriff "Glas" ein amorphes Material versteht, das gewöhnlich durch thermische Behandlung (Schmelzen oder Sintern) eines siliziumhaltigen Rohmaterials erzeugt wird (siehe auch T 2012/10 vom 3 Februar 2015). Folglich kann amorphes Silikagel (Kieselgel), entgegen der Feststellung der Einspruchsabteilung in der angefochtenen Entscheidung, nicht als "Glas" im Sinne des Streitpatents verstanden werden, weil es ohne thermische Behandlung hergestellt wird.
15. Die Auslegung des Begriffs "Adsorption" blieb im Beschwerdeverfahren bis zuletzt strittig. Nach Ansicht der Kammer versteht der Fachmann den Begriff "Adsorption" in Verbindung mit der weiteren Angabe "an die Glasoberfläche" im Anspruch 1 als eine unmittelbare physikalische Wechselwirkung zwischen der zu isolierenden Nukleinsäure und der Glasoberfläche der magnetischen Partikel. Somit kann eine Bindung der Nukleinsäure mit Hilfe eines auf der Glasoberfläche angelagerten chemischen Moleküls, beispielsweise eines Oligonukleotids mit einer zur Nukleinsäure komplementären Sequenz, nicht als "Adsorption" im Sinne des Streitpatents verstanden werden.
Artikel 54 EPÜ
16. In der angefochtenen Entscheidung stellte die Einspruchsabteilung fest, dass die Entgegenhaltung (1) den Gegenstand der Ansprüche gemäß dem Hilfsantrag 6 nicht neuheitsschädlich vorwegnehme. Aus ihrer Sicht könne ein Aufreinigungsverfahren, bei dem die Nukleinsäuren an die Glasoberfläche von magnetischen Partikeln mit einer Glasoberfläche adsorbiert werden, aus der Entgegenhaltung (1) nicht hergeleitet werden (siehe Seite 14 der angefochtenen Entscheidung).
17. In der mündlichen Verhandlung hat die Beschwerdegegnerin die in ihrer Erwiderung auf die Beschwerdebegründung erhobenen Neuheitseinwände, welche sowohl auf die Entgegenhaltung (1) als auch auf eine neu eingereichte Entgegenhaltung gestützt waren, nicht weiter verfolgt, und hat bestätigt, dass keine Einwände gegen die Neuheit des Gegenstands des vorliegenden Anspruchs 1 bestehen.
18. Die Feststellung der Einspruchsabteilung zur Neuheit im Hinblick auf die Entgegenhaltung (1) gilt auch für den Gegenstand des vorliegenden Anspruchs 1. Zudem ist zu bemerken, dass die Entgegenhaltung (1) ein Verfahren zur Isolierung von und enzymatischen Reaktion an Nukleinsäuren weder ausdrücklich noch implizit offenbart.
19. Aus diesen Gründen ist der Gegenstand des Anspruchs 1 als neu zu betrachten.
Artikel 56 EPÜ - Erfinderische Tätigkeit
20. In der angefochtenen Entscheidung wurde die Entgegenhaltung (8) als der nächstliegende Stand der Technik angesehen. Es ist unstrittig, dass diese Entgegenhaltung das gleiche technische Gebiet wie das Streitpatent betrifft und dass mit dem darin beschriebenen Verfahren eine ähnliche Aufgabe gelöst wird.
21. Die Entgegenhaltung (8) beschreibt ein Verfahren zur Isolierung von Nukleinsäuren unter Verwendung einer festen Phase zur Bindung der Nukleinsäuren. Bei der festen Phase kann es sich um Silikapartikel, z.B. Glaspulver handeln (siehe Seite 3, Zeilen 9 bis 12). Eine zellhaltige Probe wird in Gegenwart eines chaotropen Salzes mit den Glaspartikeln in Kontakt gebracht und die durch Zelllyse freigesetzten Nukleinsäuren binden in nativer Form an die Oberfläche der Glaspartikel. Sodann werden die Glaspartikel mit den daran gebundenen Nukleinsäuren vom Rest der Probe abgetrennt, z.B. durch Zentrifugation und Absaugen des Überstandes, und mit einer Waschlösung gewaschen (siehe Absatz zwischen den Seiten 3 und 4). Es folgt die Abtrennung der Nukleinsäuren von den Glaspartikeln mit Hilfe eines Elutionspuffers. Die so isolierten Nukleinsäuren können dann als Substrat in einer enzymatischen Reaktion eingesetzt werden, z.B. einer Reaktion mit einer DNA-Polymerase, DNA-Ligase oder Reverse-Transkriptase (siehe Seite 4, Zeilen 15 bis 18).
22. Der Unterschied zwischen dem in der Entgegenhaltung (8) beschriebenen Verfahren und dem Verfahren gemäß dem vorliegenden Anspruch 1 liegt in der Verwendung von magnetischen Partikeln mit Glasoberfläche zur Bindung der Nukleinsäuren. Die damit verbundenen Vorteile sind ein einfacher durchzuführendes Verfahren in einem einzigen Gefäß, welches für eine große Anzahl von Proben automatisiert werden kann, weil die Abtrennung der Nukleinsäure-Partikel-Komplexe von dem Rest der Probe ohne Zentrifugationsschritt erfolgt (siehe Absätze [0046] und [0047] des Streitpatents).
23. In der angefochtenen Entscheidung hat die Einspruchsabteilung die ausgehend von der Entgegenhaltung (8) zu lösende Aufgabe als "... ein weiteres Isolierungsverfahren von Nukleinsäuren bereitzustellen..." (siehe Seite 16, Zeilen 13 und 14; Hervorhebung durch die Kammer). Diese Formulierung trägt den nachgewiesenen Vorteilen des erfindungsgemäßen Verfahrens nicht genügend Rechnung.
24. Nach Ansicht der Kammer besteht die ausgehend von der Entgegenhaltung (8) zu lösende Aufgabe darin, ein verbessertes Verfahren zur Isolierung von und enzymatische Reaktion an Nukleinsäuren bereitzustellen. Es ist zu bemerken, dass der Fachmann der Entgegenhaltung (8) überhaupt keinen Hinweis entnehmen kann, der ihm nahelegt, das darin beschriebene Verfahren durch Vermeidung des Zentrifugationsschritts zu verbessern. Da die erfindungsgemässe Aufgabestellung in der Entgegenhaltung (8) weder erwähnt noch nahegelegt wird, darf sie bei der Formulierung der objektiven Aufgabe nicht einfließen (siehe T 5/81; ABl. EPA 1982, 249)
25. Es ist nicht strittig, dass die objektiv formulierte Aufgabe durch das Verfahren gemäß Anspruch 1 gelöst wird. Die strittige Frage ist, ob die im Anspruch 1 vorgeschlagene Lösung für den Fachmann am Prioritätstag naheliegend war.
26. In der angefochtenen Entscheidung befand die Einspruchsabteilung, dass die im Streitpatent vorgeschlagene Lösung durch die Offenbarung der Entgegenhaltungen (5) und/oder (11) nahegelegt wird. Im Beschwerdeverfahren hat sich die Beschwerdegegnerin darüber hinaus auf die Entgegenhaltung (1) gestützt.
27. Die Entgegenhaltung (5) beschreibt magnetische Partikel mit einem Kern aus magnetischem Material, der mit einem Metalloxid, z.B. Al2O3, SiO2, TiO2, ZrO2 oder Hydroxyapatit beschichtet ist (siehe Spalte 3, Zeilen 13 bis 23), und ein Verfahren zu deren Herstellung. Die Verwendung der magnetischen Partikel als Träger für immobilisierte Enzyme, Antikörper, Antigene und andere biologischen Moleküle wird vorgeschlagen (siehe Spalte 7, Zeilen 33ff) und es wird darauf hingewiesen, dass bei deren Verwendung in der Blutanalytik "... virtually all centrifugation steps could be eliminated" (siehe Spalte 8, Zeilen 11ff).
28. Magnetische polymere Siliziumdioxidverbindungen in Form von Kieselgel, Kieselsol, gefälltem oder pyrogenem Siliziumdioxid, in deren Matrix magnetische Materialien eingebunden sind, werden in der Entgegenhaltung (11) beschrieben (siehe Anspruch 1). Verschiedene Anwendungsmöglichkeiten in den Bereichen der Verfahrenstechnik, chemischen Technologie, Analytik, Biotechnologie und Pharmazie werden vorgeschlagen.
29. Die Entgegenhaltung (1) beschreibt magnetische, poröse, anorganische Materialien, unter anderem poröses Glas, deren Oberfläche mit funktionellen Gruppen, an die biologische Moleküle binden können, modifiziert ist. Der Schwerpunkt dieser Entgegenhaltung liegt in dem Vorschlag, poröses Glas mit einer bestimmten Porengröße herzustellen, das an der Oberfläche oder in den Poren angelagerte magnetische Partikel aufweist.
30. In der angefochtenen Entscheidung argumentierte die Einspruchsabteilung, dass der Fachmann durch die in der Entgegenhaltung (5) beschriebenen Vorteile der Abtrennung von biologischem Material unter Verwendung von magnetischen Partikeln hinreichend motiviert gewesen sei, die Lehre der Entgegenhaltung (8) zu verändern.
31. Die Kammer bemerkt, dass die Argumentation der Einspruchsabteilung voraussetzt, dass der Fachmann die Entgegenhaltung (5) bereits kannte. Es stellt sich jedoch die Frage, welchen Hinweis der Fachmann, der mit der Aufgabe befasst ist, das in der Entgegenhaltung (8) beschriebene Verfahren in irgendeiner Weise zu verbessern, in dieser Entgegenhaltung findet, der ihn zu der Entgegenhaltung (5) führt, die aus einem entfernten Fachgebiet, nämlich der chemischen Erzeugung von magnetischen Kompositpartikeln stammt. Denn ohne einen solchen Hinweis ist eine Kombination der Entgegenhaltungen (8) und (5) nur mit rückschauender Betrachtung und in Kenntnis der Erfindung naheliegend (siehe T 24/81, ABl. EPA 1983, 133). Ein Hinweis in der Entgegenhaltung (8), der dem Fachmann nahelegt, eine Alternative zum Zentrifugationsschritt zu suchen, ist der Kammer nicht ersichtlich.
32. Ähnliches gilt für die Kombination der Lehre der Entgegenhaltung (8) mit der Lehre der Entgegenhaltung (1) oder der Entgegenhaltungen (11), (3), (6) und (7), die allesamt magnetische Partikel beschreiben.
33. Die auf die Entgegenhaltung (2) als nächstliegender Stand der Technik gestützte Argumentation der Beschwerdegegnerin scheitert auch an dem fehlenden Hinweis für den Fachmann auf die erfindungsgemässe Aufgabestellung.
34. Aus diesen Gründen kommt die Kammer zu dem Ergebnis, dass der Gegenstand des Anspruchs 1 auf erfinderischer Tätigkeit beruht.
Entscheidungsformel
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.
2. Die Sache wird an die Einspruchsabteilung zurückverwiesen, mit der Maßgabe, das Patent auf der Grundlage der in der mündlichen Verhandlung als Hauptantrag eingereichten Ansprüche 1-20 und einer noch anzupassenden Beschreibung aufrechtzuerhalten.