T 0670/09 (Silylierung von Kieselsäure/WACKER) of 14.12.2011

European Case Law Identifier: ECLI:EP:BA:2011:T067009.20111214
Datum der Entscheidung: 14 Dezember 2011
Aktenzeichen: T 0670/09
Anmeldenummer: 02022245.1
IPC-Klasse: C09C 1/30
Verfahrenssprache: DE
Verteilung: C
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Bibliografische Daten verfügbar in: DE
Fassungen: Unpublished
Bezeichnung der Anmeldung: Verfahren zur Herstellung von Kieselsäure mit homogener Silyliermittelschicht
Name des Anmelders: Wacker Chemie AG
Name des Einsprechenden: Degussa AG
Kammer: 3.3.06
Leitsatz: -
Relevante Rechtsnormen:
European Patent Convention Art 114(2)
European Patent Convention Art 106
European Patent Convention Art 107
European Patent Convention Art 108
European Patent Convention Art 123
European Patent Convention Art 84
European Patent Convention Art 100(b)
European Patent Convention Art 54
European Patent Convention Art 56
Rules of procedure of the Boards of Appeal Art 12(4)
Schlagwörter: Verspätetes Vorbringen
Hauptantrag: Zulässigkeit der Änderungen, Ausführbarkeit, Neuheit und erfinderische Tätigkeit - (ja)
Orientierungssatz:

-

Angeführte Entscheidungen:
-
Anführungen in anderen Entscheidungen:
T 0715/16
T 0416/21
T 2170/21

Sachverhalt und Anträge

I. Auf die europäische Patentanmeldung Nr. 02 022 245.1 wurde das europäische Patent Nr. 1 304 361 mit 6 Patentansprüchen erteilt.

II. Der unabhängige Verfahrensanspruch 1 hatte folgenden Wortlaut:

"1. Verfahren zur Herstellung einer silylierten Kieselsäure, dadurch gekennzeichnet, dass die Kieselsäure mit einem Organosiloxan aufgebaut aus A Einheiten der Formel (I)

(R**(1)3SiO1/2)

und B Einheiten der Formeln (IIa-c)

(R**(1)2SiO2/2), (IIa)

und/oder

(R**(1)SiO3/2), (IIb)

und/oder

(SiO4/2) (IIc)

silyliert wird,

wobei das Organosiloxan an Si-Atomen 1 oder 2 gebundene Gruppen -X enthalten kann, und X = OZ, wobei Z ein einwertiger Alkylrest mit 1 - 4 C-Atomen, oder Z = Wasserstoff ist, oder X ein Halogen ist, oder X eine Acetoxygruppe ist, R**(1) ist ein gegebenenfalls einfach oder mehrfach ungesättigter, einwertiger, gegebenenfalls halogenierter, Kohlenwasserstoffrest mit 1 bis 18 C-Atomen,

und dabei gleich oder verschieden sein kann,

wobei das Organosiloxan die Gruppen ?SiX oder =SiX2 in einer Anzahl C aufweisen kann und

für A, B und C gilt:

1 <= B <= 100 oder 750 < B < 10000

B >= A + C

und für A + C = 0 gilt 10 <= B <= 100 oder 750 < B < 10000, verwendet wird*, mit der Maßgabe, dass das Verfahren in einer Atmosphäre mit weniger als 2,5 Vol.% Sauerstoff durchgeführt wird."

* sic

Die abhängigen Ansprüche 2 und 3 betrafen bevorzugte Varianten des Verfahrens nach Anspruch 1. Die unabhängigen Ansprüche 4 bis 6 betrafen ein Additiv zur Steuerung der Rheologie von flüssigen und pulverförmigen Systemen, einen Füllstoff zum Verstärken von Elastomeren und einen Toner oder Entwickler, jeweils dadurch gekennzeichnet, dass eine nach einem der Ansprüche 1 bis 3 hergestellte Kieselsäure enthalten ist.

III. Gegen die Patenterteilung hat die Einsprechende wegen mangelnder Neuheit und mangelnder erfinderischer Tätigkeit (Artikel 100 (a) EPÜ) Einspruch erhoben mit dem Antrag auf Widerruf des Patents im gesamten Umfang ('für alle Ansprüche'). Sie stützte sich dabei auf folgende Entgegenhaltungen:

D1 EP-A-860 478,

D2 EP-A-924 269 und

D3 EP-A-783 021

und argumentierte, dass der Gegenstand nach Anspruch 1 nicht neu sei gegenüber Dokument D1, weil Anspruch 1 die Verwendung bereits hydrophobierter Kieselsäuren als Ausgangsprodukt umfasse. Ferner sei das Verfahren des Streitpatents nicht neu gegenüber Dokument D3 und nicht erfinderisch gegenüber Dokument D2.

IV. Grundlage der Entscheidung der Einspruchsabteilung waren geänderte Anspruchssätze nach einem Hauptantrag und einem Hilfsantrag.

Dabei unterschied sich der Hauptantrag von den erteilten Ansprüchen dadurch, dass am Ende von Anspruch 1 das Merkmal ", wobei das Organosiloxan mit der Kieselsäure bei Temperaturen von 250 bis 350ºC zur Reaktion gebracht wird" angefügt, Anspruch 2 gestrichen und die Ansprüche 3 bis 6 als Ansprüche 2 bis 5 umnummeriert wurden.

Anspruch 1 des Hilfsantrags entsprach dem unabhängigen Anspruch 4 des Hauptantrags, der auf einen Füllstoff zum Verstärken von Elastomeren gerichtet ist.

V. In ihrer Entscheidung war die Einspruchsabteilung zur Auffassung gelangt, dass der Gegenstand nach Anspruch 1 des Haupt- und Hilfsantrags nicht neu gegenüber dem aus Dokument D1 Bekannten sei, weil auch beim Streitpatent die Ausgangskieselsäure bereits silyliert sein kann.

VI. Die Patentinhaberin (Beschwerdeführerin) hat gegen diese Entscheidung Beschwerde eingelegt. Mit Schreiben vom 19. Juni 2009 hat sie jeweils einen geänderten Anspruch 1 in einem neuen Hauptantrag sowie zwei neuen Hilfsanträgen eingereicht und als Begründung vorgebracht, der Gegenstand des Streitpatents sei nunmehr neu gegenüber dem aus Dokument D1 Bekannten.

Dabei unterschied sich Anspruch 1 des Hauptantrages von der erteilten Fassung durch den Einschub "wobei als Basis-(Ausgangs-)-Produkt zur Silylierung eine hydrophile pyrogene Kieselsäure verwendet wird," im Oberbegriff nach dem Wort "Kieselsäure,".

Anspruch 1 der beiden Hilfsanträge enthielt ebenfalls diesen Einschub sowie je ein weiteres Merkmal.

VII. Die Einsprechende (Beschwerdegegnerin) erhob in ihrem Schriftsatz vom 27. Oktober 2009 unter dem Hinweis "Auf die Beschwerde der Patentinhaberin vom 05.03.2009 mit Beschwerdebegründung vom 19.06.2009" unter anderem Einwände unter Artikel 123 EPÜ gegen all diese Anträge. Zum Hauptantrag brachte sie als einziges weiteres Argument vor, dass der Einschub nicht geeignet sei dem Gegenstand nach Anspruch 1 Neuheit gegenüber Dokument D1 zu verleihen.

VIII. Auf die Ladung vom 19. Juli 2011 zur mündlichen Verhandlung am 14. Dezember 2011, beantragte die Beschwerdegegnerin mit Schreiben vom 22. Juli 2011 den Erlass einer Mitteilung gemäß Artikel 15 der Verfahrensordnung der Beschwerdekammern, in der eine vorläufige Meinung der Beschwerdekammer sowie die in der mündlichen Verhandlung zu diskutierenden Punkte mitgeteilt werden.

Daraufhin wurde den Parteien mit Schreiben vom 26. August 2011 mitgeteilt, dass im vorliegenden Fall allenfalls darauf hinzuweisen sei, dass die Anträge der Beschwerdeführerin unvollständig zu sein scheinen, weil sie jeweils nur aus einem Anspruch 1 bestehen und nicht erkennbar sei, ob und welche weiteren Ansprüche folgen sollen. Es wurde auch darauf hingewiesen, dass in der mündlichen Verhandlung der Hauptantrag sowie die Hilfsanträge unter den von den Parteien im Einspruchs- und Beschwerdeverfahren vorgetragenen Aspekten zu diskutieren sein werden. Für Stellungnahmen und Eingaben wurde eine Frist von zwei Monaten gewährt.

Mit Schreiben vom 21. Oktober 2011 reichte die Beschwerdeführerin zu den bisherigen Ansprüchen 1 gemäß Hauptantrag und zwei Hilfsanträgen zusätzlich die erteilten Ansprüche 2 bis 6 ein.

IX. Mit Schreiben vom 8. Dezember 2011 reichte die Beschwerdeführerin weiter geänderte Ansprüche 1 bis 6 in einem dritten Hilfsantrag ein.

Mit Telefax vom 12. Dezember 2011 zeigte die Beschwerdegegnerin einen Vertreterwechsel an und beantragte erstmals, die Beschwerde wegen fehlender Begründung zurückzuweisen, hilfsweise die Anträge der Beschwerdeführerin vom 21. Oktober 2011 zurückzuweisen, da diese nicht Gegenstand der Beschwerde seien. Aus gleichem Grund und wegen Verspätung sei ferner der 3. Hilfsantrag der Beschwerdeführerin vom 8. Dezember 2011 zurückzuweisen.

X. Die Beschwerdeführerin hat in der mündlichen Verhandlung vor der Beschwerdekammer geänderte Ansprüche in einem neuen Hauptantrag eingereicht. Dieser unterscheidet sich vom bisherigen Hauptantrag (Punkt VI in Verbindung mit Punkt VIII) dadurch, dass in Anspruch 1 nach "dadurch gekennzeichnet" der Ausdruck "dass die Kieselsäure" durch "dass diese Kieselsäure" ersetzt wurde und der Ausdruck "verwendet wird" gestrichen wurde.

Die Beschwerdegegnerin hat sich am Ende der mündlichen Verhandlung zum ersten Mal im gesamten Einspruchs- und Beschwerdeverfahren veranlasst gesehen, zu den unabhängigen Ansprüchen 4 bis 6 (Punkt II) Stellung zu nehmen.

XI. Die Beschwerdeführerin hat im Wesentlichen folgende Argumente vorgebracht:

- Der beanspruchte Gegenstand sei ursprünglich offenbart und nunmehr auf ein einstufiges Verfahren ohne Vorsilylierung der Ausgangskieselsäure beschränkt und daher neu gegenüber dem aus Dokument D1 bekannten Verfahren.

- Er sei auch erfinderisch, weil mit dem Streitgegen-stand das Verfahren nach Dokument D1 vereinfacht werde und dennoch eine exzellente Silylierung mit einer homogenen Silyliermittelschicht erzielt werde. Dokument D1 sei kein Hinweis auf die erfindungsgemäße Lösung dieser technischen Aufgabe zu entnehmen. Dokument D2 sei mit der Erzeugung eines bestimmten Verhältnisses von Dimethyl- zu Monomethylgruppen in der Silyliermittel-schicht durch Zersetzung befasst und führe daher ebenfalls nicht zum Streitgegenstand.

XII. Die Beschwerdegegnerin hat die späten Einwände gegen die Zulässigkeit der Beschwerde und gegen die Anträge der Beschwerdeführerin vom 21. Oktober 2011 mit dem Vertreterwechsel begründet. Das späte Vorbringen gegen die unabhängigen Ansprüche 4 bis 6 hat sie auf die Vorlage des neuen Verfahrensanspruches gestützt. Ansonsten hat sie gegen den neuen Hauptantrag im Wesentlichen folgendermaßen argumentiert:

- Der Anspruchssatz erfülle nicht die Bedingungen des Artikels 123 (2) EPÜ, weil die hydrophile pyrogene Ausgangskieselsäure nur im Zusammenhang mit einer wasserfreien Herstellung offenbart sei.

- Das Verfahren nach Anspruch 1 sei nicht ausführbar, weil die Beispiele des Streitpatents zeigten, dass eine Silylierung nur bei bestimmten Temperaturen erfolgt.

- Der beanspruchte Gegenstand beruhe gegenüber dem aus Dokument D1 bekannten Verfahren nicht auf erfinderischer Tätigkeit, weil der einzige Unterschied, nämlich die einstufige Verfahrensführung aus Dokument D2 bekannt sei.

XIII. Die Beschwerdeführerin beantragt die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und dass das Patent aufrechterhalten wird auf der Basis des Hauptantrags, eingereicht während der mündlichen Verhandlung.

Die Beschwerdegegnerin beantragt, die Zurückweisung der Beschwerde.

Entscheidungsgründe

Es gelten im Folgenden die Vorschriften des EPÜ 2000, es sei denn die Vorschriften des EPÜ 1973 gelten für anhängige Anmeldungen und Patente weiter.

Die Kammer hat sich davon überzeugt, dass die Beschwerde den Voraussetzungen der Artikel 106 bis 108 EPÜ und der Regel 99(2) EPÜ genügt und somit zulässig ist.

1. Verspätetes Vorbringen

1.1 Zwei Tage vor der mündlichen Verhandlung, am 12. November 2011, hat die Beschwerdegegnerin erstmals das Argument der Unzulässigkeit der Beschwerde mangels Begründung im Sinne von Regel 99(2) EPÜ vorgebracht und die Zulässigkeit der Anträge vom 21. Oktober 2011 in Frage gestellt, weil diese über den Gegenstand der Beschwerde hinausgingen.

1.1.1 Zulässigkeit der Beschwerde

Gemäß Artikel 12(2) der VerfOBK muss die Erwiderung einer Beschwerde den vollständigen Sachvortrag enthalten.

Zumal sie die Voraussetzung für die Ermittlung des Sachverhaltes darstellen, müssen Einwände gegen die Zulässigkeit einer Beschwerde oder gegen die Zuständigkeit einer Kammer grundsätzlich, in limine litis, d.h. vor der sachlichen Verteidigung einer Partei, gestellt werden.

Eine Partei hat zwar keine Verpflichtung die Zulässigkeit einer Beschwerde zu beanstanden und kann sich durchaus in ihrer Erwiderung gemäß Artikel 12(2) VerfOBK auf die sachliche Verteidigung beschränken. Jedoch führt diese Handlungsweise dazu, dass die Beschwerdegegnerin diesbezüglich der Ermittlung des Sachverhalts durch die Beschwerdekammer zustimmt.

Im vorliegenden Fall ist unbestritten, dass innerhalb der gemäß Artikel 108 EPÜ vorgeschriebenen Frist für eine Beschwerdebegründung, nämlich am 19. Juni 2009, ein Schriftsatz der Beschwerdeführerin eingegangen ist. Der Einwand der Unzulässigkeit der Beschwerde hätte daher bereits mit der Stellungnahme der Beschwerdegegnerin vom 27. Oktober 2009 zu diesem Schriftsatz vorgebracht werden müssen. Zu diesem Zeitpunkt hat aber die Beschwerdegegnerin den Schriftsatz der Beschwerde-führerin als Beschwerdebegründung gewertet (vgl. Punkt VII und Schriftsatz der Beschwerdegegnerin vom 27. Oktober 2009) und hat in ihrer Erwiderung nur sachlich argumentiert, was darauf hinweist, dass sie nicht die Absicht hatte, die Zulässigkeit der Beschwerde zu beanstanden. Weiterhin sei auch bemerkt, dass die Beschwerdegegnerin ihre Verteidigung im gesamten Beschwerdeverfahren, bis weit nach der Ladung zur mündlichen Verhandlung, nur auf sachliche Argumente gestützt hat, sodass danach ein Zulässigkeitseinwand nicht mehr vorgebracht werden kann.

1.1.2 Auf die Mitteilung der Beschwerdekammer vom 26. August 2011 hat die Beschwerdeführerin mit Schriftsatz vom 21. Oktober 2011 geänderte Anspruchssätze gemäß Haupt- und Hilfsantrag fristgerecht eingereicht (Punkt VIII). In ihrer Mitteilung hat die Beschwerdekammer Zweifel daran erkennen lassen, dass die Beschwerdeführerin willentlich auf die erteilten Ansprüche 2 bis 6 verzichtet habe.

Es bestand also kein Grund, die Zulässigkeit dieser Anträge im Hinblick auf die Ansprüche 2 bis 6 erst am 12. Dezember 2011 zu beanstanden.

Der Hinweis der Beschwerdegegnerin darauf, dass die Verspätung durch den Vertreterwechsel bedingt sei, kann im mehrseitigen Verfahren nicht berücksichtigt werden, weil dies zu einer Benachteiligung der anderen Partei(en) führen könnte.

1.1.3 Der Einwand der Beschwerdegegnerin hinsichtlich der Unzulässigkeit der Beschwerde und der Anträge vom 21. Oktober 2011 sowie der Schriftsatz vom 12. Dezember 2011, soweit er diesen Einwand betrifft, bleiben daher unberücksichtigt.

1.2 Mit Schreiben vom 8. Dezember 2011 (Punkt IX), d.h. erheblich außerhalb der in der Mitteilung vom 26. August 2011 gesetzten Frist, hat die Beschwerdeführerin ohne jegliche Begründung geänderte Ansprüche in einem dritten Hilfsantrag nachgereicht. In der mündlichen Verhandlung hat sie die Verspätung mit dem Argument begründet, nach Ausscheiden des Erfinders aus der Firma sei erst jetzt eine weitere Beschränkung des Gegenstands möglich geworden.

Einen Zusammenhang der Beschränkung des Anspruchs-begehrens mit dem bisherigen Verfahren hat sie nicht hergestellt, auch nicht mit den Patentierbarkeits-voraussetzungen. Letzteres ist umso bemerkenswerter als der dritte Hilfsantrag eine Kombination der damaligen ersten und zweiten Hilfsanträge darstellt, so dass nicht ersichtlich ist, warum dieser Antrag bei Fortfall der höherrangigen Anträge gewährbar sein sollte.

Infolgedessen ist keinerlei verfahrensbedingte Notwendigkeit für die Vorlage des dritten Hilfsantrages erkennbar. Was die Begründung der Verspätung anbelangt, so ist darauf hinzuweisen, dass es der Beschwerde-führerin obliegt, ihre Anträge rechtzeitig zu stellen.

Der dritte Hilfsantrag der Beschwerdeführerin wird daher nicht im Verfahren zugelassen.

1.3 In der mündlichen Verhandlung hat die Beschwerdegegnerin erstmals versucht, zu den unabhängigen Ansprüchen 4 bis 6 Stellung zu nehmen, und zwar erst nachdem durch die Kammer mitgeteilt wurde, dass der neue Hauptantrag der Beschwerdeführerin möglicherweise die Patentierbarkeits-voraussetzungen erfülle.

Die Beschwerdegegnerin hat geltend gemacht, sie sei erst durch den in der mündlichen Verhandlung vorgelegten Anspruchsatz dazu veranlasst gewesen.

Bei den Ansprüchen 4 bis 6 handelt es sich um sogenannte 'product by process'-Ansprüche, die bereits in der erteilten Fassung vorhanden waren und den Gegenstand des geltenden Hauptantrages umfassten.

Die Beschwerdegegnerin hat diese Ansprüche unter den Aspekten der Neuheit und erfinderischen Tätigkeit niemals angegriffen, sondern es der Einspruchsabteilung bzw. der Beschwerdekammer überlassen, diese Ansprüche von Amts wegen zu beurteilen.

Das Vorbringen solcher Einwände erst dann, wenn in der mündlichen Verhandlung das voraussichtliche Ergebnis dieser Amtsermittlung mitgeteilt wird, ist nach Ansicht der Kammer definitiv verspätet.

Das Vorgehen der Beschwerdegegnerin ist umso mehr fragwürdig, als sie selbst auf die Ladung zur mündlichen Verhandlung umgehend eine Mitteilung über die in der Verhandlung zu diskutierenden Punkte beantragte, worauf hin die Kammer unter Fristsetzung für Eingaben auf die Schriftsätze der Beteiligten verwies. Diese letzte Gelegenheit zur Stellungnahme hat die Beschwerdegegnerin nicht wahrgenommen.

Die späte Stellungnahme der Beschwerdegegnerin zu den Ansprüchen 4 bis 6 wird gemäß Artikel 12(4) der VOBK in Verbindung mit Artikel 114(2) EPÜ nicht zugelassen.

2. Änderungen (Artikel 84 und 123 EPÜ)

Die vorgenommenen Änderungen sind unter den Aspekten von Artikel 84 EPÜ nicht zu beanstanden. Ein entsprechender Einwand wurde von der Beschwerdegegnerin nicht vorgebracht.

Die Beschwerdegegnerin hat indes die Auffassung vertreten, das in Anspruch 1 aufgenommene Merkmal "wobei als Basis-(Ausgangs-)-Produkt zur Silylierung eine hydrophile pyrogene Kieselsäure verwendet wird" sei nur im Zusammenhang mit deren wasserfreier Herstellung offenbart.

Diese Auffassung teilt die Kammer nicht. Zwar bezeichnet die von der Beschwerdegegnerin zitierte Passage auf Seite 7, Zeilen 12 bis 24, der ursprünglichen Anmeldung die Verwendung einer wasserfrei hergestellten, hydrophilen, pyrogenen Kieselsäure als Basis-(Ausgangs-) Kieselsäure als bevorzugte Variante des Verfahrens, aber der vorhergehende Absatz nennt allgemein pyrogen hergestellte Kieselsäuren als mögliche Ausgangskiesel-säuren, wobei diese auch hydrophil sein können (Seite 7, Zeilen 1 bis 5, in Verbindung mit Seite 5, Zeile 29). Das in den Anspruch aufgenommene Merkmal findet daher eine Stütze in den ursprünglichen Unterlagen.

Die Änderung des Ausdrucks "dass die Kieselsäure" in Anspruch 1 nach "dadurch gekennzeichnet" in "dass diese Kieselsäure" dient dazu, den Anspruch auf ein einstufiges Verfahren zu beschränken, bei dem eine Vorsilylierung der Kieselsäure ausgeschlossen ist. Diese Änderung wurde von der Beschwerdegegnerin nicht beanstandet. Auch sie wird gestützt durch die Offenbarung auf Seite 7, Zeilen 1 bis 5, in Verbindung mit Seite 5, Zeile 29, der ursprünglichen Unterlagen.

Die Streichung der Worte "verwendet wird" aus Anspruch 1 dient lediglich der Beseitigung eines offensichtlichen Fehlers und wurde von der Beschwerdegegnerin ebenfalls nicht beanstandet.

Da das aufgenommene Merkmal auch den Schutzbereich des Patents nicht erweitert, sind die in den Ansprüchen vorgenommenen Änderungen nach den Artikel 84 und 123(2) und (3) EPÜ zulässig.

3. Ausführbarkeit (Artikel 100(b) EPÜ)

Der Einwand der Beschwerdegegnerin, das Verfahren nach Anspruch 1 sei nicht ausführbar (vgl. Punkt XII) ist schon deshalb verfehlt, weil sich Artikel 100(b) EPÜ auf das gesamte Patent bezieht. Wie die Beschwerdegegnerin selbst festgestellt hat, zeigen die Beispiele der Streitpatenschrift unter welchen Bedingungen, insbesondere bei welchen Temperaturen, eine besonders gute Silylierung erzielt wird.

Infolgedessen kann nicht die Rede davon sein, dass das Patent die Erfindung nicht so deutlich offenbaren würde, dass ein Fachmann sie ausführen kann.

4. Neuheit

Da nach dem neuen Wortlaut der Gegenstand nach Anspruch 1 auf einstufige Verfahren beschränkt worden ist, ist Dokument D1 nicht mehr neuheitsschädlich. Dies gilt auch für die Produktansprüche 3 bis 6, da glaubhaft ist (siehe unter Punkt 5), dass durch das Weglassen der Vorsilylierung mit einem Silankuppler (siehe Anspruch 1 von Dokument D1) eine andere und homogenere Silyliermittelschicht auf der Kieselsäure erzeugt wird.

Aus gleichem Grund ist Dokument D3 nicht neuheits-schädlich (siehe dort Anspruch 1).

Auch Dokument D2 ist nicht neuheitsschädlich, weil dort andere Silyliermittel verwendet werden.

Die beanspruchten Gegenstände erfüllen daher die Voraussetzungen des Artikels 54 EPÜ.

5. Erfinderische Tätigkeit

5.1 Das Streitpatent betrifft die Silylierung von Kiesel-säure sowie Produkte, die diese silylierte Kieselsäure enthalten (Paragraphen 1, 8, 41, 44 und 46).

Silylierte Kieselsäuren sind gemäß Streitpatent Stand der Technik, haben aber den Nachteil, dass sie entweder nur über eine komplexe Reaktionsführung mit mindestens zwei unterschiedlichen Silyliermitteln erhältlich sind oder den Einsatz ausreichend reaktiver Silyliermittel erfordern, welche nur unter hohen Herstellungskosten erhältlich sind und zu unkontrollierten Reaktionen mit unerwünschten Nebenprodukten und/oder Abspaltprodukten führen können (Paragraphen 2 bis 5).

Gemäß Streitpatent liegt der Erfindung daher die technische Aufgabe zugrunde, diese Nachteile des Stands der Technik zu überwinden und eine exzellente Silylierung unter Bildung einer homogenen Silyliermittelschicht zu erzielen, ohne dass Abspaltprodukte gebildet werden und unerwünschte Nebenreaktionen auftreten (Seite 2, Paragraphen 6 und 7).

5.2 Die Beschwerdegegnerin geht von Dokument D1 als nächstliegendem Stand der Technik aus. Dem schließt sich die Kammer an, weil dieses Dokument auf eine Verbesserung der Silylierung gerichtet ist (Seite 2, Zeilen 43 bis 45) und - wie im Folgenden dargestellt -sich das streitgegenständliche Verfahren von dem dort offenbarten Verfahren nur dadurch unterscheidet, dass es einstufig, d.h. ohne Vorsilylierung mittels Silankuppler, durchgeführt wird.

Dokument D1 offenbart ein Verfahren zur Silylierung von Kieselsäure, bei dem die Kieselsäure, insbesondere hydrophile pyrogene Kieselsäure zunächst mit einem Silankuppler, z.B. Hexamethyldisilazan oder Dimethyldichlorsilan vorsilyliert wird und dann mit einem Organopolysiloxan weiterbehandelt wird. Dabei handelt es sich um spezielle reaktive Organopolysiloxane, nämlich solche aus 15 bis 500 Einheiten, entsprechend einer Viskosität von 20 bis 2 000 cs bei 25ºC, der Formel IIa

(R**(1)2SiO2/2),

welche zwei an endständige Si-Atome gebundenen Gruppen ­X enthalten, wobei X ein Halogenatom, eine Hydroxygruppe oder eine Alkoxygruppe ist und R**(1) eine Methyl- oder Ethylgruppe ist (Seite 2, Zeile 49 bis Seite 3, Zeile 32). Das Verfahren wird in beiden Stufen in einer Stickstoffatmosphäre durchgeführt (Seite 3, Zeilen 41 bis 45, Seite 4, Zeilen 2 bis 6). In Beispiel 1 wird zunächst hydrophile pyrogene Kieselsäure mit Hexamethyldisilazan vorsilyliert und dann mit Dihydroxydimethylpolysiloxan einer Viskosität von 40 cs umgesetzt.

Davon unterscheidet sich das gemäß Hauptantrag beanspruchte Verfahren dadurch, dass keine Vorsilylierung stattfindet.

5.3 Es ist glaubhaft, dass durch Weglassen der Vorsilylierung das Verfahren vereinfacht wird und ökonomischer ist als in Dokument D1.

Die Beschwerdeführerin hat keinen direkten Vergleich zu Produkten vorgelegt, die mit dem aus Dokument D1 bekannten Verfahren erhalten wurden; aber in der Patentschrift wird gezeigt, dass das beanspruchte Verfahren zu Kieselsäureprodukten mit excellentem Silyliergrad und guter Homogenität der Silyliermittel-schicht führt (Beispiele, Absatz 60, Tabelle 1 und Absatz 61). Insofern ist auch der Vortrag der Beschwerdeführerin überzeugend, dass die Homogenität der Silyliermittelschicht verbessert werden kann, dies umso mehr als ja nur ein einziges Silyliermittel verwendet wird.

5.4 Die gegenüber Dokument D1 tatsächlich gelöste technische Aufgabe kann daher in der Bereitstellung einer Kieselsäure mit homogenerer Silyliermittelschicht gesehen werden, welche durch eine einfachere und ökonomischere Verfahrensführung hergestellt werden kann.

5.5 Die Beschwerdegegnerin argumentierte, dass der genannte Unterschied zu Dokument D1, nämlich die einstufige Verfahrensführung, bereits aus Dokument D2 bekannt sei, so dass der Streitgegenstand nicht auf erfinderischer Tätigkeit beruhe.

5.6 Dieses Argument überzeugt aus folgenden Gründen nicht:

Dokument D2 geht von einem Stand der Technik aus, bei dem speziell Octamethylcyclotetrasiloxan als Silyliermittel verwendet wird, welches aber mit dem Nachteil behaftet ist, dass es unvollständig an die Kieselsäureoberfläche gebunden wird. Die technische Aufgabe von Dokument D2 bestand daher darin, diesen Nachteil zu beseitigen. Zur Lösung dieser Aufgabe wird vorgeschlagen, frisch hergestellte pyrogene Kieselsäure sofort mit halogenfreien, kettenförmigen Siloxanen oder monocyclischen Methyl-Dimethyl-Cyclosiloxangemischen D3 bis D9, vorzugsweise Octamethylcyclotetrasiloxan, umzusetzen. Wesentlich ist dabei, dass die Umsetzung unter Bedingungen erfolgt, die zu einem Dimethylsilyl- zu Monomethylsilylgruppenverhältnis von 100:0 bis 50:50 auf der Oberfläche der Kieselsäure führt (vgl. Absätze 2 bis 7, 14, 23 und Beispiel 1).

Die zu verwendenden halogenfreien kettenförmigen Siloxane sind in Dokument D2 nicht weiter definiert und als Cyclosiloxane kommen nur solche in Frage, die 3 bis 9 Siloxaneinheiten aufweisen.

Es mag sein, dass Dokument D2 gegenüber Dokument 1 ebenfalls die obengenannte technische Aufgabe der Bereitstellung einer einfacheren und ökonomischeren Verfahrensführung bei guter Silylierung der Kieselsäure und Erzeugung einer homogeneren Silyliermittelschicht löst, nämlich durch die dort offenbarte spezielle Verfahrensweise unter Verwendung spezieller Silyliermittel.

Daraus lässt sich aber keineswegs ableiten, dass diese Aufgabe auch durch das streitige Verfahren mit den in Anspruch 1 des Hauptantrages genannten Organosiloxanen gelöst werden kann.

5.7 Dokument D3 sieht, wie Dokument D1, eine Vorsilylierung als wesentliche Verfahrensstufe vor (Anspruch 1) und ist daher ebenfalls nicht geeignet, den Verzicht auf diese Verfahrensstufe nahezulegen.

5.8 Die Kammer ist daher der Auffassung, dass ein Fachmann in der Erwartung die Verfahrensführung bei dem aus Dokument D1 bekannten Verfahren zu vereinfachen und dennoch ein gut silyliertes Produkt bei homogenerer Silyliermittelschicht zu erhalten, aus dem verfügbaren Stand der Technik keine Anregung erhält, auf die Stufe der Vorsilylierung zu verzichten.

5.9 Infolgedessen wird der Gegenstand nach Anspruch 1 des Hauptantrages durch den Stand der Technik nicht nahegelegt, sondern beruht auf der gemäß Artikel 56 EPÜ erforderlichen erfinderischen Tätigkeit.

5.10 Das gleiche gilt für die Produkte gemäß Anspruch 4 bis 6. Zwar sind die nach dem aus Dokument D1 bekannten Verfahren erhaltenen Kieselsäuren geeignet zur Verwendung in Verdickungsmitteln, Verstärkungsmitteln und Tonern (Seite 2, Zeilen 4 bis 9). Aber die Vereinfachung bei der Herstellung der silylierten Kieselsäure unter Beibehaltung von deren Qualität bedingt auch eine einfachere Gewinnung der Produkte nach Anspruch 4 bis 6, welche wie im Streitpatent dargestellt (Paragraphen 41 bis 47), ebenfalls den Qualitätsanforderungen entsprechen. Damit konnte der Fachmann nicht ohne weiteres rechnen.

ENTSCHEIDUNGSFORMEL

Aus diesen Gründen wird entschieden:

1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.

2. Die Angelegenheit wird an die Einspruchsabteilung

zurückverwiesen mit dem Auftrag, das Patent aufrechtzuerhalten auf der Basis des Hauptantrags mit einer daran anzupassenden Beschreibung.

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