T 1790/06 (Expression eines Gens/ALNYLAM) of 9.12.2008

European Case Law Identifier: ECLI:EP:BA:2008:T179006.20081209
Datum der Entscheidung: 09 Dezember 2008
Aktenzeichen: T 1790/06
Anmeldenummer: 00910510.7
IPC-Klasse: C12N 15/11
Verfahrenssprache: DE
Verteilung: D
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Bibliografische Daten verfügbar in: DE
Fassungen: Unpublished
Bezeichnung der Anmeldung: Verfahren und Medikament zur Hemmung der Expression eines vorgegebenen Gens
Name des Anmelders: Alnylam Europe AG
Name des Einsprechenden: Sirna Therapeutics, Inc.
Silence Therapeutics AG
Sanofi-Aventis Deutschland GmbH
AstraZeneca AB
Kammer: 3.3.08
Leitsatz: -
Relevante Rechtsnormen:
European Patent Convention Art 123(2)
Schlagwörter: Hauptantrag: Zulässigkeit der Änderungen (nein)
Erster Hilfsantrag : Zulassung zum Verfahren (nein)
Zweiter Hilfsantrag: Zulassung zum Verfahren (nein)
Orientierungssatz:

-

Angeführte Entscheidungen:
T 0201/83
T 0526/92
T 0962/98
T 0931/00
T 0423/01
T 0516/06
Anführungen in anderen Entscheidungen:
T 2403/12
T 2540/12

Sachverhalt und Anträge

I. Die Einsprechenden 01 (Beschwerdeführerin I) und 02 (Beschwerdeführerin II) legten Beschwerde gegen die Entscheidung der Einspruchsabteilung vom 25. September 2006 ein, mit der das europäische Patent Nr. 1 144 623 auf der Grundlage des in der mündlichen Verhandlung vom 21. Juni 2006 eingereichten Hilfsantrags 3 in geänderter Fassung aufrechterhalten wurde. Das Patent war für die europäische Anmeldung Nr. 00 910 510.7 erteilt worden, die am 29. Januar 2000 mit der Bezeichnung "Verfahren und Medikament zur Hemmung der Expression eines vorgegebenen Gens" eingereicht und unter der internationalen Veröffentlichungsnummer WO 00/44895 veröffentlicht worden war.

II. Gegen das Patent wurde von acht Einsprechenden Einspruch eingelegt. Die Einsprechenden 04, 05, 07 und 08 zogen ihren Einspruch mit Schreiben vom 5. August 2003, 21. Februar 2007, 1. November 2005 bzw. 30. März 2004 zurück und sind somit keine Verfahrensbeteiligten in diesem Beschwerdeverfahren. Die Einsprechenden 03 und 06 sind gemäß Artikel 107 Satz 2 EPÜ 1973 Beteiligte von Gesetzes wegen. Sie sind Verfahrensbeteiligte I und II.

III. Die Einsprüche waren auf Artikel 100 a), b) und c) EPÜ 1973 gestützt. Es wurde geltend gemacht, dass i) die Erfindung weder neu (Artikel 54 (1) EPÜ 1973) noch erfinderisch (Artikel 56 EPÜ 1973) sei, ii) das Patent die Erfindung nicht ausreichend offenbare und iii) das Patent Gegenstände enthalte, die über den Inhalt der Anmeldung in der eingereichten Fassung hinausgingen.

IV. In ihren Beschwerdebegründungen vom 2. Februar 2007 bzw. 5. Februar 2007 erhoben beide Beschwerdeführerinnen mehrere Einwände gegen das in geänderter Fassung aufrechterhaltene Patent. Sie machten u. a. geltend, dass eine unzulässige Erweiterung nach Artikel 123 (2) EPÜ vorläge.

V. Die Patentinhaberin (Beschwerdegegnerin) antwortete mit einem Schreiben vom 25. Juni 2007. Sie vertrat die Auffassung, dass die Aufrechterhaltung des Patents in geänderter Fassung durch die Einspruchsabteilung gerechtfertigt sei.

VI. Mit Schriftsatz vom 12. Juni 2008 nahm die Beschwerdeführerin I zu dem Antwortschreiben der Beschwerdegegnerin Stellung.

VII. Mit einer Ladung vom 7. August 2008 wurden die Beteiligten zur mündlichen Verhandlung geladen. Eine Mitteilung nach Artikel 15 (1) der Verfahrensordnung der Beschwerdekammern (VOBK), die einige vorläufige und nicht bindende Ansichten der Kammer enthielt, wurde den Beteiligten am 22. September 2008 zugesandt.

VIII. Die Beschwerdeführerinnen I und II nahmen zu der Mitteilung der Kammer Stellung. Die Beschwerdegegnerin nahm ebenfalls Stellung mit Schreiben vom 7. November 2008, dem ein neuer Hauptantrag und ein Hilfsantrag beigefügt war.

IX. Am 9. Dezember 2008 fand die mündliche Verhandlung statt. Die ordnungsgemäß geladene Verfahrensbeteiligte II erschien nicht.

Die Beschwerdegegnerin zog den mit Schreiben vom 7. November 2008 eingereichten Hauptantrag zurück. Der mit demselben Schreiben eingereichte Hilfsantrag wurde zum einzigen Antrag erklärt.

Nach der Diskussion über den bis dahin einzigen Antrag der Beschwerdegegnerin und der Bekanntgabe des Beratungsergebnisses der Kammer zu diesem Antrag beantragte die Beschwerdegegnerin eine 20-minütige Unterbrechung zur Vorbereitung eines Hilfsantrags. Nach dieser Unterbrechung reichte die Beschwerdegegnerin einen Hilfsantrag mit den Ansprüchen 1 bis 86 ein. Unmittelbar danach erklärte die Beschwerdegegnerin, dass sie aufgrund von gerade per E-Mail erhaltenen Instruktionen von ihrem Entscheidungsträger einen anderen Hilfsantrag vorlegen wolle, und beantragte eine 15-minütige Unterbrechung zur Vorbereitung eines neuen Hilfsantrags. Nach dieser Unterbrechung reichte die Beschwerdegegnerin einen neuen Hilfsantrag mit einem einzigen Anspruch ein und zog den früheren zurück. Die Zulassung dieses Hilfsantrags zum Beschwerdeverfahren wurde mit den Beteiligten erörtert. Nach der Diskussion und der Bekanntgabe des Beratungsergebnisses hinsichtlich der Zulassung dieses Hilfsantrags beantragte die Beschwerdegegnerin, den in der mündlichen Verhandlung bereits eingereichten und dann zurückgezogenen früheren Hilfsantrag mit den Ansprüchen 1 bis 86 wieder einzureichen. Dem Antrag wurde unter dem Vorbehalt, dass die Zulassung dieses Antrags zum Verfahren im Ermessen der Kammer stehe und darüber noch zu entscheiden sei, stattgegeben. Die Zulassung dieses weiteren Hilfsantrags zum Beschwerdeverfahren wurde mit den Beteiligten erörtert.

Nach der Bekanntgabe des Beratungsergebnisses hinsichtlich der Zulassung dieses weiteren Hilfsantrags wurden die in der mündlichen Verhandlung eingereichten Hilfsanträge von der Beschwerdegegnerin wie folgt umnummeriert:

1. Hilfsantrag (Ansprüche 1 bis 86)

2. Hilfsantrag (Anspruch 1)

X. Anspruch 1 des Hauptantrags lautet wie folgt:

"1. Verfahren zur Hemmung der Expression eines vorgegebenen Zielgens in einer Zelle eines Säugers in vitro, wobei ein Oligoribonukleotid von aus zwei separaten RNA-Einzelsträngen gebildeter doppelsträngiger Struktur (dsRNA) in die Zelle eingeführt wird, wobei ein Strang der dsRNA einen zum Zielgen komplementären Bereich aufweist, wobei der komplementäre Bereich aus 15 bis 21 aufeinanderfolgenden Nukleotidpaaren und die dsRNA aus 15 bis 21 Basenpaaren besteht, und wobei die doppelsträngige Struktur durch eine chemische Verknüpfung der Einzelstränge stabilisiert wird, wobei die chemische Verknüpfung an einem Ende der doppelsträngigen Struktur hergestellt ist."

XI. Anspruch 1 des 1. Hilfsantrags lautet wie folgt:

"1. Verfahren zur Hemmung der Expression eines vorgegebenen Zielgens in einer Zelle eines Säugers in vitro, wobei ein Oligoribonukleotid von aus zwei separaten RNA-Einzelsträngen gebildeter doppelsträngiger Struktur (dsRNA) in die Zelle eingeführt wird, wobei ein Strang der dsRNA einen zum Zielgen komplementären Bereich aufweist, wobei der komplementäre Bereich aus 15 aufeinanderfolgenden Nukleotidpaaren und die dsRNA aus 15 Basenpaaren besteht, und wobei die doppelsträngige Struktur durch eine chemische Verknüpfung der Einzelstränge stabilisiert wird, wobei die chemische Verknüpfung an einem Ende der doppelsträngigen Struktur hergestellt ist."

XII. Anspruch 1 des 2. Hilfsantrags lautet wie folgt:

"1. Verfahren zur Hemmung der Expression eines vorgegebenen Zielgens in einer Zelle eines Säugers in vitro, wobei ein Oligoribonukleotid von aus zwei separaten RNA-Einzelsträngen gebildeter doppelsträngiger Struktur (dsRNA) in die Zelle eingeführt wird, wobei ein Strang der dsRNA gemäß Sequenzprotokoll Nr. 8 einen zum Zielgen komplementären Bereich aufweist, wobei der komplementäre Bereich aus 21 aufeinanderfolgenden Nukleotidpaaren und die dsRNA aus 21 Basenpaaren besteht, und wobei die doppelsträngige Struktur durch eine C18-Linkergruppe der Einzelstränge stabilisiert wird, wobei die C18-Linkergruppe an einem Ende der doppelsträngigen Struktur hergestellt ist, wobei die C18-Linkergruppe das 3'-Ende des RNA gemäß Sequenzprotokoll Nr. 8 mit dem 5'-Ende des komplementären RNA über eine Disulfidbrücke verknüpft."

XIII. In der vorliegenden Entscheidung wird auf folgendes Schriftstück Bezug genommen:

(D74) Sayda M. Elbashir et al., Nature, Bd. 411, 24. Mai 2001, Seiten 494 bis 498

XIV. Das Vorbringen der Beschwerdeführerin I, soweit es für die vorliegende Entscheidung relevant ist, lässt sich wie folgt zusammenfassen:

Hauptantrag (Artikel 123 (2) EPÜ)

Anspruch 1 umfasse zwei neue, nicht offenbarte Bereiche, die ein Oligonukleotid zur Verwendung bei der Gensuppression definierten, nämlich die aus 15 bis 21 Basenpaaren bestehende dsRNA sowie den aus 15 bis 21 aufeinanderfolgenden Nukleotidpaaren bestehenden komplementären Bereich.

Der erste Bereich sei eine Auswahl aus dem ursprünglich offenbarten (und später gestrichenen) Abschnitt, wonach die dsRNA 10 bis 1000, vorzugsweise 15 bis 49 Basenpaare, aufweise (siehe Seite 4, Zeilen 11 bis 12 der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung), während der zweite Bereich eine Auswahl aus dem ursprünglich offenbarten komplementären Bereich (Bereich I) sei, der höchstens 49 aufeinanderfolgende Nukleotidpaare aufweise (siehe Seite 3, Zeilen 5 bis 7).

Die Länge der dsRNA von 21 aufeinanderfolgenden Basenpaaren stamme aus Beispiel 2 und sei mit der Bezugnahme auf eine dsRNA mit 15 bis 49 Basenpaaren kombiniert worden.

Nach der einschlägigen Rechtsprechung der Beschwerdekammern (siehe insbesondere T 526/92 vom 25. Oktober 1994 und T 931/00 vom 19. Mai 2003) führe die Kombination eines aus einem Beispiel entnommenen Merkmals mit einem Merkmal aus der allgemeinen Offenbarung nur dann nicht zu einem Verstoß gegen Artikel 123 (2) EPÜ, wenn der neue Wertebereich keinen neuen technischen Beitrag leiste. Die Bedeutung der hier beanspruchten Bereiche werde lediglich deshalb im Patent nicht erwähnt, weil solche Bereiche und die entscheidende dsRNA-Länge von 21 Basenpaaren bei der Gensuppression mittels RNA-Interferenz erst später offenbart worden seien. Tatsächlich gehe man in Beispiel 2 davon aus, dass die dsRNA-YFP (die über eine Länge von 315 Basenpaaren mit dem YFP-Gen homolog sei) und die L-dsRNA (mit nur 21 Basenpaaren und einer 100%igen Übereinstimmung mit einem Teil des YFP-Gens) die gleiche inhibitorische Wirkung auf die Genexpression hätten.

1. Hilfsantrag (Zulassung zum Verfahren)

Dieser zu einem so späten Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung eingereichte Hilfsantrag hätte früher eingereicht werden können und sei somit auf jeden Fall verspätet. Darüber hinaus weise dieser Antrag nach wie vor Mängel auf. Zwar sei der Bereich "15 bis 21" nicht mehr beansprucht, doch die Beschränkung auf 15 Nukleotidpaare bzw. Basenpaare sei nirgends in der ursprünglich eingereichten Anmeldung offenbart. Dieser Antrag könne daher nicht als Reaktion auf die erhobenen Einwände gewertet werden und sei daher nicht in das Verfahren zuzulassen.

2. Hilfsantrag (Zulassung zum Verfahren)

Keiner der bis zur mündlichen Verhandlung vorliegenden Anträge habe den Einwänden gegen den Bereich "15 bis 21" Rechnung getragen, da dieser Bereich "15 bis 21" nach wie vor in den Ansprüchen zu finden gewesen sei. Daher sei nicht nachvollziehbar, warum erst die Ansprüche des in der mündlichen Verhandlung eingereichten neuen Hilfsantrags diesen Bereich nicht mehr beanspruchten.

Hinsichtlich der neu im Anspruch 1 aufgenommenen spezifischen Sequenz sei eine weitere Recherche nach einem Stand der Technik notwendig, der dieser neu aufgenommenen Sequenz Rechnung trage. Für diese Recherche benötige die Beschwerdeführerin I jedoch mehr Zeit, so dass ihrer Ansicht nach, eine Entscheidung der Kammer in dieser mündlichen Verhandlung nicht erfolgen könne. Aus diesem Grund läge ein neuer Sachverhalt vor, der es rechtfertigen würde, diesen Hilfsantrag gemäß Artikel 13 (1) VOBK nicht zuzulassen.

XV. Das Vorbringen der Beschwerdeführerin II, soweit es für die vorliegende Entscheidung relevant ist, lässt sich wie folgt zusammenfassen:

Hauptantrag (Artikel 123 (2) EPÜ)

Beispiel 2 offenbare nicht klar und eindeutig, dass der komplementäre Bereich aus 21 aufeinanderfolgenden Nukleotidpaaren bestehe. Aus dem Abschnitt auf Seite 20, Zeilen 15 bis 17 der ursprünglich eingereichten Anmeldung "Die in Fig. 4e dargestellte Zelle zeigt durch die Injektion der L-dsRNA, die zum YFP-Gen sequenzhomologe Bereiche aufweist, eine nicht mehr nachweisbare YFP-Fluoreszenz" gehe hervor, dass die L-dsRNA, genauer gesagt einer ihrer Stränge, nicht aus einem einzigen Bereich aufeinanderfolgender Nukleotide, der homolog zum Zielgen sei, sondern aus mehreren solcher Teilbereiche bestehe.

Darüber hinaus sei die Formulierung "kürzere dsRNAs" im letzten Satz auf Seite 20 im Sinne von "kürzer als die dsRNA-YFP mit einem komplementären Bereich von 315 Basenpaaren" auszulegen.

Aus diesem Grund biete Beispiel 2 keine Grundlage für ein aus 15 bis 21 aufeinanderfolgenden Basenpaaren bestehendes dsRNA-Molekül nach Anspruch 1 und erst recht keine Grundlage für ein aus 15 bis 21 aufeinanderfolgenden Basenpaaren bestehendes dsRNA-Molekül mit einem komplementären Bereich von 15 bis 21 aufeinanderfolgenden Basenpaaren.

1. Hilfsantrag (Zulassung zum Verfahren)

In der mündlichen Verhandlung habe es keine überraschende Wende gegeben, die ein so spätes Vorlegen dieses Hilfsantrags rechtfertigen könne. Vielmehr hätte dieser Antrag früher eingereicht werden können. Außerdem stelle dieses "Vorwärts-Rückwärtsspiel" mit den Hilfsanträgen einen Verfahrensmissbrauch dar. Es könne nicht angehen, dass ein Hilfsantrag vorgelegt, dann sofort wieder zurückgenommen und durch einen anderen ersetzt werde, um dann zu einem späteren Zeitpunkt wieder vorgelegt zu werden. Dieser Antrag sei deshalb nicht in das Verfahren zuzulassen.

2. Hilfsantrag (Zulassung zum Verfahren)

Das Beratungsergebnis der Kammer hinsichtlich des Hauptantrags könne für die Parteien nicht überraschend gewesen sein, da die Kammer bereits in ihrer nach der Ladung zur mündlichen Verhandlung ergangenen Mitteilung ihren Einwand gemäß Artikel 123 (2) EPÜ gegen den spezifischen Bereich "15 bis 21" erhoben habe. Dennoch wiesen die Ansprüche der mit Schreiben vom 7. November 2008 und in Reaktion auf die Mitteilung der Kammer eingereichten beiden Anträge diesen spezifischen Bereich nach wie vor auf. Die Beschwerdegegnerin hätte jedoch bereits in Reaktion auf diese Mitteilung einen weiteren Antrag für den Fall einreichen können, dass die Kammer bei ihrer vorläufigen Meinung bleiben würde. Der erst in der mündlichen Verhandlung eingereichte Hilfsantrag sei daher nicht mehr in das Verfahren zuzulassen.

XVI. Das Vorbringen der Beschwerdegegnerin, soweit es für die vorliegende Entscheidung relevant ist, lässt sich wie folgt zusammenfassen:

Hauptantrag (Artikel 123 (2) EPÜ)

Eine bevorzugte untere Längenbeschränkung von 15 Basenpaaren sei auf Seite 4, Zeile 12 der ursprünglich eingereichten Anmeldung (siehe WO 00/44895) offenbart, und ein exemplarisches Konstrukt mit einer Länge von 21 Basenpaaren in Beispiel 2.

Der letzte Satz auf Seite 20 sei eine Wiederaufnahme der allgemeinen Erfindungsbeschreibung und beziehe sich auf eine Mehrzahl kurzer dsRNAs, die das exemplarische 21-mer zwar einschließen, nicht aber darauf beschränkt seien. Der Wert "21" könne mit der unteren Begrenzung "15", die in der allgemeinen Beschreibung offenbart sei, kombiniert werden, um den beanspruchten Bereich von 15 bis 21 Basenpaaren zu bilden. Dabei sei zu beachten, dass die Länge von 21 Basenpaaren nicht untrennbar mit den übrigen Parametern des Beispiels 2 verknüpft sei.

Auf Seite 18, Zeilen 13 bis 14 befinde sich ein Verweis auf den achten Eintrag des Sequenzprotokolls, der seinerseits die Länge (21) der L-dsRNA nenne. Die Aktivität des 21-mers sei den Beispielen zu entnehmen, gefolgt von einer Erläuterung der allgemeinen Bedeutung dieser überraschenden Resultate auf Seite 20. Die im letzten Satz auf Seite 20 getroffene Wortwahl stelle für den Leser klar, dass die Erfinder eine allgemeine Anwendung ihrer mit dem 21-mer erhaltenen Ergebnisse sehen. In diesem Satz würden dsRNAs genannt, ebenso wie die spezifische Hemmung der Genexpression (im Allgemeinen, d. h. von beliebigen Genen), Säugetiere (im Allgemeinen, und nicht auf die humane Zelllinie beschränkt, die im Beispiel 2 verwendet werde), und eine chemische Verknüpfung (im Allgemeinen, und nicht auf die C18-Verknüpfung beschränkt, wie sie im 21-mer des Beispiels 2 vorliege).

Der Begriff "kürzere dsRNAs" bezeichne solche RNAs, die die Länge des exemplarischen Konstrukts aufweisen, das im unmittelbar vorangehenden Satz genannt sei. Dieser Satz beziehe sich auf die Figur 4e, die mit dem 21-mer erhaltene Resultate zeige. Aus dem letzten Satz auf Seite 20 folge somit, dass eine Mehrzahl kurzer dsRNAs - exemplifiziert durch das 21-mer von Beispiel 2 - zum Zweck der Hemmung der Expression einer Mehrzahl von Genen in Säugetieren gemeint sei.

Im Lichte der allgemeinen Lehre auf Seite 20 ergebe sich, dass die Länge von 21 Basenpaaren nicht untrennbar mit den übrigen Merkmalen des Beispiels verbunden sei. In einem solchen Fall gelte, dass ein spezifischer numerischer Wert, der in einem Beispiel beschrieben sei, mit einer allgemein offenbarten unteren oder oberen Schranke kombiniert werden könne, sodass ein begrenzter Bereich gebildet werde (siehe Entscheidung T 201/83 vom 9. Mai 1984 und T 423/01 vom 25. März 2004).

Der Begriff sei in einem Satz erwähnt, der zweifelsfrei auf das exemplarische 21-mer Bezug nehme. Daraus folge, dass es für den Fachmann zumindest implizit sei, dass eine Mehrzahl von 21-meren gemeint sei (siehe T 962/98 vom 15. Januar 2004).

Im Hinblick auf Seite 4, Zeilen 11 bis 14, liege in jedem Falle die zum Zielgen komplementäre Region innerhalb der Grenzen der dsRNA. Die Aussage in dieser Passage, dass die dsRNA länger als die zum Zielgen komplementäre Region sein könne, impliziere, dass die komplementäre Region und die dsRNA auch von gleicher Länge sein könnten. Auf der anderen Seite könne sich diese Offenbarung natürlich nicht auf dsRNAs beziehen, die kürzer als die zum Zielgen komplementäre Region seien. Dies gehe insbesondere daraus hervor, dass die Länge der zum Zielgen komplementären Region in den Ansprüchen in Einheiten von Basenpaaren angegeben werde, d. h. als eine Region, die basengepaart sei und daher notwendigerweise innerhalb der dsRNA liege oder mit dieser längengleich sei. Daraus ergebe sich unmittelbar, dass eine Begrenzung der Länge der erfindungsgemäßen dsRNA klar und unzweideutig auch die Länge der zum Zielgen komplementären Region begrenze.

Des Weiteren sei festgehalten, dass auf Seite 3, Zeilen 17 bis 20, die Länge der zum Zielgen komplementären Region auf nicht mehr als 49 Basenpaare beschränkt sei. Die dsRNA habe vorzugsweise eine Länge von 15 bis 49 Basenpaaren (Seite 4, Zeile 12). Somit werde die Wahrnehmung des Fachmanns, dass die dsRNA einerseits und die zum Zielgen komplementäre Region andererseits gleich lang sein können, weiter bestätigt. Es könne auch kein Zweifel bestehen, dass eine gleiche Länge der dsRNA und der zum Zielgen komplementären Region durch die ursprüngliche Offenbarung gestützt sei.

Die Erfinder seien die Ersten gewesen, die erkannt hätten, dass eine dsRNA mit einer Länge von 21 Basenpaaren eine interferierende Wirkung habe. Andere Wissenschaftler hätten die Wirkung einer solchen dsRNA erst im Mai 2001 veröffentlicht (siehe Dokument D74).

1. Hilfsantrag (Zulassung zum Verfahren)

Dieser Hilfsantrag könne durchaus den anderen Parteien zugemutet werden, da die Streichung der spezifischen Bereichsangabe "bis 21" eine Reaktion auf die vorausgegangenen Diskussionen sei und sich alle auf diese Streichung eingestellt hätten.

2. Hilfsantrag (Zulassung zum Verfahren)

Mit diesem Hilfsantrag bemühe sich die Beschwerdegegnerin, die Bedenken der Kammer auszuräumen. Aus guten Gründen habe davon ausgegangen werden können, dass die vorliegenden Anträge nicht gegen Artikel 123(2) EPÜ verstoßen und die vorgebrachten Argumente die Kammer überzeugen würden. Insofern sei es eine Überraschung gewesen, dass Artikel 123(2) EPÜ ein Problem hinsichtlich des Bereichs "15 bis 21" darstelle. Im Übrigen sei es immer noch nicht klar ersichtlich, wo genau das Problem für die Kammer hinsichtlich des Bereichs "15 bis 21" läge. Die Anzahl der Anträge sei auch aus verfahrensökonomischen Gründen gering gehalten worden, da ein Einreichung von z.B. 10 Hilfsanträgen nicht der Verfahrensökonomie diene.

XVII. Das Vorbringen der Verfahrensbeteiligten I, soweit es für die vorliegende Entscheidung relevant ist, lässt sich wie folgt zusammenfassen:

Hauptantrag (Artikel 123 2) EPÜ)

In der ursprünglich eingereichten Anmeldung (siehe die veröffentlichte Fassung WO 00/44895) seien zwei zum Zielgen komplementäre Bereiche beschrieben, nämlich Bereich I (siehe Seite 3, Zeilen 5 bis 7) und Bereich II (siehe Seite 5, Zeilen 1 bis 7 und 14 bis 17). Beide Bereiche seien unabhängig voneinander definiert. Nur Bereich I habe eine festgelegte Länge (höchstens 49 Basenpaare). Bereich II sei auf Seite 5, Zeilen 1 bis 5 als Teil einer unvollständig doppelsträngigen dsRNA beschrieben. Nur Bereich II sei in Zusammenhang mit einer chemischen Verknüpfung definiert. Auf keinen der zwei Bereiche werde in Anspruch 1 Bezug genommen.

Der Bereich 15 bis 21 Basenpaare, auf den in Anspruch 1 Bezug genommen werde, stelle eine Auswahl von bevorzugten Werten aus dem für die dsRNA angegebenen Bereich 15 bis 49 Basenpaare dar (siehe Seite 4, Zeilen 11 bis 12). Was den aus einem zum Zielgen komplementären Bereich bestehenden Strang angehe, handle es sich im Fall von Bereich I um einen nicht gestützten Auswahlbereich aus mit der Formulierung "höchstens 49 Basenpaare" umschriebenen Werten und im Fall von Bereich II um eine willkürliche Auswahl von Werten.

1. Hilfsantrag (Zulassung zum Verfahren)

Dieser Hilfsantrag sei nicht zuzulassen, da er nicht eindeutig gewährbar sei und den Rahmen der Diskussionen erweitere. Anspruch 1 sei nicht klar, da aufgrund der chemischen Verknüpfung der Einzelstränge ein dsRNA Strang auch länger als 15 sein könne und es wegen des Unteranspruchs 11 eine Stapelwechselwirkung gäbe.

Darüber hinaus sei der vorliegende 1. Hilfsantrag der Hilfsantrag, der zunächst eingereicht werden sollte und dann überraschend durch den erst als neuer 1. Hilfsantrag eingereichte und nunmehr zum 2. Hilfsantrag erklärten Antrag ersetzt worden sei. Dieser von der Beschwerdegegnerin eingeschlagene Zickzackkurs hinsichtlich der Einreichung der Hilfsanträge sei für die Parteien auf keinen Fall zumutbar.

2. Hilfsantrag (Zulassung zum Verfahren)

Das Verfahren werde von der Beschwerdegegnerin missbraucht, da sie sogleich nach der 1. Unterbrechungspause für die Vorbereitung eines Hilfsantrags den vorgelegten Hilfsantrag aufgrund von Instruktionen ihres Entscheidungsträgers zurückgezogen und eine 2. Unterbrechungspause für einen weiteren Hilfsantrag beantragt habe. Wenn es dem Entscheidungsträger tatsächlich so wichtig sei, dann dränge sich die Frage auf, warum dieser nicht in der mündlichen Verhandlung anwesend sei, sodass nach der 1. Pause der richtige Hilfsantrag hätte eingereicht werden können.

In der Entscheidung T 516/06 vom 23. Mai 2007 seien drei Kriterien für das Zulassen von geändertem Vorbringen aufgestellt worden, die vorliegend nicht erfüllt seien. Die neu aufgenommenen Merkmale "Sequenzprotokoll Nr. 8" und "C18-Linkergruppe" stammten aus der Beschreibung und nicht aus einem der Unteransprüche. Auf diese Änderung habe sich die Verfahrensbeteiligte I nicht vorbereiten können und deshalb bräuchte sie zusätzliche Zeit für eine weitere Recherche. Auch sei die Formulierung des geänderten Anspruchs unklar.

XVIII. Die Beschwerdeführerinnen I und II (Einsprechende 01 und 02) beantragten die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und den Widerruf des Patents.

XIX. Die Beschwerdegegnerin (Patentinhaberin) beantragte die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und die Aufrechterhaltung des europäischen Patents Nr. 1 144 623 auf Basis des mit Schreiben vom 7. November 2008 als Hilfsantrag eingereichten Hauptantrags oder des 1. oder 2. Hilfsantrags, beide eingereicht in der mündlichen Verhandlung.

Entscheidungsgründe

Hauptantrag (Artikel 123 (2) EPÜ)

1. Beide Beschwerdeführerinnen und die Verfahrensbeteiligte I haben gegen Anspruch 1 Einwände nach Artikel 123 (2) EPÜ u. a. aus dem Grund erhoben, dass die zwei Bereiche von 15 bis 21 Nukleotidpaaren bzw. Basenpaaren, die als kennzeichnendes Merkmal der dsRNA in Anspruch 1 eingeführt worden seien, in der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung nicht offenbart seien. Die Beschwerdegegnerin macht geltend, dass die Grenzen des Bereichs in der ursprünglich eingereichten Anmeldung beschrieben sind (siehe die veröffentlichte Fassung WO 00/44895), da der obere Grenzwert aus Beispiel 2 ableitbar und der untere Grenzwert auf Seite 4, Zeile 12 zu finden ist, und bezieht sich auf eine Reihe von Entscheidungen, die ihrer Auffassung nach den Ansatz stützen, dass ein in einem spezifischen Beispiel beschriebener Wert zur Änderung eines bestimmten, in der Beschreibung genannten Bereichs verwendet werden kann.

2. In Beispiel 2 (siehe Seiten 17 bis 20) ist eine Methode zur Hemmung der Expression eines Zielgens, nämlich des YFP-Gens, beschrieben, wozu entweder die dsRNA-YFP oder eine als "L-dsRNA" beschriebene dsRNA verwendet wird. Die dsRNA-YFP ist über eine Länge von 315 Basenpaaren zum 5'-Bereich des YFP homolog, und die Nukleotidsequenz eines Strangs ist in Sequenz Nr. 5 des Sequenzprotokolls wiedergegeben (siehe Seite 17, Zeilen 24 bis 28). Die L-dsRNA ist eine "kürzere" dsRNA, die aus der RNA gemäß Sequenz Nr. 8 des Sequenzprotokolls besteht, die am 3'-Ende über eine C18-Linkergruppe chemisch mit dem 5'-Ende der komplementären RNA verknüpft ist (siehe Seite 18, Zeilen 13 bis 15). Die künstliche 21-mer-Sequenz gemäß Sequenz Nr. 8 des Sequenzprotokolls entspricht einer Sequenz aus dem YFP-Gen (siehe Seite 4 des Sequenzprotokolls).

3. Die Abbildungen 4c und 4e zeigen, dass die Expression des YFP-Gens in der murinen Fibroblasten-Zelllinie NIH3T3 gehemmt wird, wenn entweder dsRNA-YFP oder L-dsRNA direkt in die Zellkerne injiziert wird (die Ergebnisse wurden durch parallele Kontrollversuche verifiziert, in denen eine einzelsträngige sense- bzw. antisense-YFP-RNA anstelle der dsRNAs bzw. überhaupt keine RNA injiziert und eine Expression des YFP-Gens beobachtet wurde; siehe dazu jeweils die Abbildungen 4a, 4b und 4d).

4. Auf Seite 20 wird im letzten Satz, der unmittelbar auf die Darlegung der Ergebnisse der durchgeführten Experimente folgt, der Versuch einer Verallgemeinerung unternommen: "Dieses Ergebnis belegt, dass auch kürzere dsRNAs zur spezifischen Inhibition der Genexpression bei Säugern verwendet werden können, wenn die Doppelstränge durch chemische Verknüpfung der Einzelstränge stabilisiert werden" (Hervorhebung durch die Kammer). Angesichts der Tatsache, dass dieser Satz, der sich direkt auf den Inhalt von Beispiel 2 bezieht, gerade an dieser Stelle eingefügt wurde, ist die Kammer zu der Auffassung gelangt, dass sich die Formulierung "kürzere dsRNAs" darauf bezieht, dass im Vergleich mit der längeren dsRNA-FYP-Sequenz eine durch chemische Verknüpfung der beiden Einzelstränge stabilisierte kürzere dsRNA, d. h. ein 21-mer, dieselbe Wirkung hat.

5. Die in Beispiel 2 beschriebenen Versuche sind beispielhaft für die Ausführung der Methode nach Anspruch 1, wobei eine 21-mer-dsRNA mit gleichlangen, vollständig hybridisierten und chemisch verknüpften Strängen verwendet wird. Daraus kann keinerlei Hinweis auf die Verwendung kürzerer dsRNAs mit einer Länge von höchstens 21 abgeleitet werden. Wie soeben ausgeführt, kann die Bezugnahme auf "kürzere dsRNAs" nicht in diesem Sinne ausgelegt werden.

6. Es bleibt noch die Frage zu klären, ob - wie von der Beschwerdegegnerin vorgebracht - der spezifische 21-mer-Wert des Beispiels mit dem niedrigeren Wert 15 aus der Beschreibung zu den Bereichen 15 bis 21 kombiniert werden kann, die den strittigen Anspruch 1 kennzeichnen.

7. Die Beschwerdegegnerin macht geltend, dass es legitim ist, den auf Seite 4, Zeilen 11 bis 14 der ursprünglich eingereichten Anmeldung erwähnten niedrigeren Wert von 15 Basenpaaren mit dem Wert 21 aus dem Beispiel zu kombinieren, wodurch lediglich der auf Seite 4 genannte Bereich 15 bis 49, der dieselbe technische Wirkung hat, eingeschränkt wird.

8. Die Kammer teilt diese Ansicht der Beschwerdegegnerin nicht, sondern betrachtet die Einführung des Bereichs 15 bis 21 als einen hinzugefügten Gegenstand, weil sie auf einer willkürlichen Kombination von Werten beruht, die in der ursprünglich eingereichten Anmeldung nicht in Verbindung miteinander gebracht worden waren. In diesem Zusammenhang ist zusätzlich zu den vorstehenden Ausführungen unter Nr. 5 bezüglich des 21-mer-Werts noch darauf hinzuweisen, dass sich der Bereich 15 bis 49 auf Seite 4, Zeilen 11 bis 14 auf die Länge eines komplementären Bereichs I bezieht, zu dem keine Angaben bezüglich einer Stabilisierung durch eine chemische Verknüpfung vorliegen. Letztere wird lediglich in Verbindung mit einem komplementären Bereich II erwähnt, mit dem ein doppelsträngiger Abschnitt innerhalb einer RNA-Struktur bezeichnet wird, die aus durch einzelsträngige Abschnitte unterbrochenen doppelsträngigen Abschnitten gebildet wird (siehe Seite 5, Zeilen 1 bis 5), für den keine Längenbereiche angegeben sind. In der Beschreibung (siehe Seite 5, Zeile 1 bis Seite 7, Zeile 7) und in den ursprünglich eingereichten Ansprüchen (siehe beispielsweise Anspruch 1, 5, 12 und 17) wird immer wieder zwischen diesen beiden Bereichen unterschieden. Insofern sind die Bereiche, die nun Anspruch 1 kennzeichnen, tatsächlich das Ergebnis einer mosaikartigen Kombination von Werten aus verschiedenen Teilen der Beschreibung, die in keinem klaren und eindeutigen Zusammenhang zueinander stehen.

9. Die Kammer stimmt zwar dem allgemeinen Grundsatz zu, der sich aus der von der Beschwerdegegnerin angeführten Rechtsprechung (siehe Nr. XV oben) ergibt, nämlich dass ein spezifischer Wert aus einem Beispiel grundsätzlich auch zur Eingrenzung eines in der Beschreibung genannten Bereichs verwendet werden kann, stellt aber fest, dass dies immer von den besonderen Umständen des jeweiligen Falls abhängt. Jedenfalls muss der Fachmann in der Lage sein, einen klaren, eindeutigen Zusammenhang zwischen den kombinierten Werten herzustellen, sodass die willkürliche Einführung neuer Gegenstände verhindert wird. Aus den vorstehenden Gründen ist dies hier nicht der Fall, weil ein solcher Zusammenhang nicht erkennbar ist.

10. Die Bezugnahme auf das nachveröffentlichte Dokument D74, in dem bestätigt wird, dass ein 21-mer-RNA-Duplex speziell die Expression von endogenen und heterologen Genen supprimiert, wird für die hier behandelte Frage als unerheblich angesehen und kann keinen Einfluss auf die Feststellung der Kammer haben, dass der Gegenstand des Anspruchs 1 über den Inhalt der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung hinausgeht.

11. Aus diesen Gründen verstoßen die in Anspruch 1 vorgenommenen Änderungen gegen Artikel 123 (2) EPÜ.

Zulassung des 1. und 2. Hilfsantrags zum Verfahren

12. Artikel 12 (2) VOBK sieht vor, dass sowohl die Beschwerdebegründung, als auch die Erwiderung den vollständigen Sachvortrag eines Beteiligten enthalten muss. Es steht im Ermessen der Kammer, Änderungen des Vorbringens eines Beteiligten nach Einreichung seiner Beschwerdebegründung oder Erwiderung zuzulassen und zu berücksichtigen (Artikel 13 (1) VOBK). Bei der Ausübung dieses Ermessens werden insbesondere die Komplexität des neuen Vorbringens, der Stand des Verfahrens und die gebotene Verfahrensökonomie berücksichtigt. Wenn allerdings nach Anberaumung der mündlichen Verhandlung das Vorbringen eines Beteiligten geändert wird und diese Änderungen Fragen aufwerfen, deren Behandlung der Kammer oder den anderen Beteiligten ohne Verlegung der mündlichen Verhandlung nicht zuzumuten ist, so werden solche Änderungen gemäß Artikel 13 (3) VOBK nicht mehr zugelassen und zwar auch nicht, um das Verfahren zur Prüfung des neuen Vorbringens an die erste Instanz zurückzuverweisen.

13. Im vorliegenden Fall wurde sowohl der 1. Hilfsantrag, als auch der 2. Hilfsantrag erstmals in der mündlichen Verhandlung überreicht, ohne dass eine Änderung der Sachlage vor oder während der mündlichen Verhandlung vorausgegangen wäre. Beide Beschwerdeführerinnen haben bereits in ihrer jeweiligen Beschwerdebegründung gegen Anspruch 1 des von der Einspruchsabteilung in geänderter Fassung aufrechterhaltenen Patents einen Einwand nach Artikel 123 (2) EPÜ 1973 erhoben und diesen damit begründet, dass die zwei Bereiche von 15 bis 21 Nukleotidpaaren bzw. Basenpaaren, die als kennzeichnendes Merkmal der dsRNA in Anspruch 1 eingeführt worden seien, in der ursprünglich eingereichten Anmeldung nicht offenbart seien. Die Kammer hat in ihrer nach der Ladung zur mündlichen Verhandlung ergangenen Mitteilung gemäß Artikel 15 (1) VOBK ebenfalls darauf hingewiesen, dass der geänderte Anspruch 1 aus diesen Gründen gegen Artikel 123 (2) EPÜ verstoße. Daher hätte nach Ansicht der Kammer die Beschwerdegegnerin die vorliegenden Hilfsanträge in Reaktion auf die Beschwerdebegründungen bereits in ihrer Erwiderung einreichen können, spätestens jedoch vor der mündlichen Verhandlung in Reaktion auf die Mitteilung der Kammer. Die Beschwerdegegnerin hat zwar vor dem in der Mitteilung zur Einreichung von weiteren Anträgen bestimmten Zeitpunkt zwei neue Anträge eingereicht, jedoch trug keiner dieser Anträge diesem Einwand der unzulässigen Erweiterung Rechnung.

14. Die Beschwerdekammer kann sich der Auffassung der Beschwerdegegnerin nicht anschließen, dass der 1. Hilfsantrag den anderen Beteiligten deswegen zugemutet werden könne, da sie sich auf eine Streichung der spezifischen Bereichsangabe "bis 21" in den jeweiligen Ansprüchen wegen der vorausgegangenen Diskussion bereits eingestellt hätten. Rechtswirkungen für das Verfahren haben nur von den Parteien gestellte Anträge und deshalb hatten weder die Beschwerdekammer, noch die gegnerischen Parteien eine Verpflichtung oder auch nur Anlass, sich mit nicht vorgenommenen Verfahrenshandlungen vorausschauend in Vorbereitung der mündlichen Verhandlung zu befassen.

15. Sowohl die Beschwerdeführerinnen I und II, als auch die Verfahrensbeteiligte I haben sich in der mündlichen Verhandlung gegen eine Zulassung des in einem so späten Verfahrensstadium vorgelegten 1. Hilfsantrags in das Verfahren ausgesprochen. Nach Ansicht der Kammer ergeben sich weitere Diskussionspunkte auf Grund dieser Änderung, die den Rahmen der bisherigen Diskussion zu einem so späten Zeitpunkt des Verfahrens erweitern. Die Streichung der spezifischen Bereichsangaben "bis 21" in Anspruch 1 ist nicht offensichtlich dazu geeignet, den bis dahin vorliegenden Einwand der unzulässigen Erweiterung auszuräumen. Vielmehr hat die Kammer erhebliche Bedenken, ob die Beschränkung auf 15 Nukleotidpaare bzw. 15 Basenpaare in der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung offenbart war. Auch wirft die Änderung weitere Fragen hinsichtlich der Klarheit des Anspruchs 1 auf. Die Kammer stimmt der Verfahrensbeteiligten I zu, dass aufgrund der chemischen Verknüpfung der Einzelstränge ein dsRNA Strang möglicherweise auch länger als 15 sein kann oder dass es wegen des Unteranspruchs 11 eine Stapelwechselwirkung geben könnte. Diese neuen Fragen können jedoch nicht ohne eine eingehende Diskussion beantwortet werden, so dass bereits aus diesem Grund der 1. Hilfsantrag gemäß Artikel 13 (1) VOBK nicht zuzulassen ist.

16. Bei der Ausübung ihres Ermessens gemäß Artikel 13 (1) VOBK berücksichtigt die Kammer aber auch das Verhalten der Beschwerdegegnerin während der mündlichen Verhandlung. Zu der prozessualen Sorgfaltspflicht eines Beteiligten gehört es auch, durch sein Verhalten die effiziente Durchführung einer mündlichen Verhandlung nicht zu beeinträchtigen.

Im vorliegenden Fall hat die Beschwerdegegnerin den nunmehr zum 1. Hilfsantrag erklärten Antrag nicht zu Beginn der mündlichen Verhandlung vorgelegt, sondern zunächst nach der von ihr beantragten Unterbrechung. Unmittelbar danach und bevor eine Erörterung zu diesem Antrag stattfinden konnte, zog sie diesen Antrag zurück, beantragte eine weitere Unterbrechung und legte einen anderen Hilfsantrag vor, den sie später zum 2. Hilfsantrag erklärte. Nach der Erörterung des zunächst als 1. Hilfsantrag benannten Hilfsantrag und der Bekanntgabe des Beratungsergebnisses zu diesem Antrag, legte die Beschwerdegegnerin wieder den zuvor zurückgenommen Antrag als weiteren Hilfsantrag vor. Die Kammer sieht in diesem Verhalten eine Verletzung der der Beschwerdegegnerin obliegenden prozessualen Sorgfaltspflicht, da durch das Verhalten der Beschwerdegegnerin die mündliche Verhandlung nicht in einer effizienten Weise durchgeführt werden konnte. Die Beschwerdegegnerin hat diese Anträge nicht zu Beginn der mündlichen Verhandlung als Hilfsanträge vorgelegt, sondern hat zunächst das Beratungsergebnis hinsichtlich ihres Hauptantrags abgewartet. Wie bereits oben ausgeführt hätte die Beschwerdegegnerin in Reaktion auf die Beschwerdebegründungen und die Mitteilung der Kammer diese Anträge jedoch bereits früher vorlegen können. Anstatt beide nunmehr vorliegenden Hilfsanträge wenigstens unmittelbar nach der Verkündung des Beratungsergebnisses hinsichtlich des Hauptantrags vorzulegen, hat die Beschwerdegegnerin sowohl die Kammer, als auch die anderen Parteien mit einem Verhalten konfrontiert, das als nahezu verfahrensmissbräuchlich betrachtet werden kann. Eine mündliche Verhandlung dient nicht dazu, beliebig Anträge vorzulegen, sie zurückzuziehen und sie später wieder vorzulegen. Ein solches Verhalten ist weder den anderen Beteiligten, noch der Kammer zumutbar.

17. Aus den vorgenannten Gründen macht die Kammer von ihrem Ermessen nach Artikel 13 (1) VOBK Gebrauch und ist zu der Entscheidung gelangt, den 1. Hilfsantrag nicht in das Verfahren zuzulassen.

18. Die Beschwerdegegnerin hat als Erklärung dafür, warum der 2. Hilfsantrag nicht früher in das Beschwerdeverfahren eingebracht wurde, unter anderem vorgetragen, dass sie aus verfahrensökonomischen Gründen die Anzahl der Hilfsanträge gering halten wollte. Das allgemeine Interesse an einer effizienten Durchführung des Beschwerdeverfahrens ist ein wichtiger Aspekt, doch ist die Anzahl der Hilfsanträge dafür allein nicht maßgeblich. Vielmehr gehört es nach Ansicht der Kammer vor allem zu einem verfahrensökonomischen Ablauf des Beschwerdeverfahrens, neue Anträge so rechtzeitig einzureichen, dass es den anderen Beteiligten und der Kammer möglich ist, sich in einem zumutbaren Zeitrahmen und vor allem ohne eine Verlegung der mündlichen Verhandlung damit zu befassen. Ein Beteiligter, der erst in der mündlichen Verhandlung einen neuen Antrag vorlegt, muss damit rechnen, dass dieser Antrag nicht zum Verfahren zugelassen wird. Dies gilt umso mehr, wenn wie im vorliegenden Fall die Sachlage sich nicht geändert hat.

19. Des weiteren hat die Beschwerdegegnerin angeführt, dass es für sie überraschend sei, dass Artikel 123 (2) EPÜ nach wie vor ein Problem hinsichtlich des Bereichs "15 bis 21" darstellt, da sie davon ausging, dass die zu Beginn der mündlichen Verhandlung vorliegenden Anträge nicht gegen Artikel 123 (2) EPÜ verstoßen und die vorgebrachten Argumente die Kammer überzeugen würden. Die Kammer pflichtet der Beschwerdeführerin II bei, dass die Beschwerdegegnerin bereits in Reaktion auf die in der Mitteilung der Kammer dargelegten vorläufigen Auffassung zu den geänderten Ansprüchen im Hinblick auf Artikel 123 (2) EPÜ einen weiteren Antrag für den Fall hätte einreichen können, dass die Kammer bei ihrer vorläufigen Meinung bleiben würde. Die Kammer kann auch nicht nachvollziehen, warum es für die Beschwerdegegnerin überraschend sein konnte, dass nach Auffassung der Kammer in Ansprüchen, die einen Bereich "15 bis 21" als Merkmal aufweisen, ein Gegenstand beansprucht wird, der in den ursprünglich eingereichten Unterlagen nicht offenbart ist, und damit ein Verstoß gegen Artikel 123 (2) EPÜ vorliegt. Die Kammer hat in ihrer Mitteilung gemäß Artikel 15 (1) VOBK ausdrücklich auf einen möglichen Verstoß gegen Artikel 123 (2) EPÜ hingewiesen, da nach der vorläufigen Meinung der Kammer der spezifische Bereich "15 bis 21" nicht in den ursprünglich eingereichten Unterlagen offenbart war. Demnach hätte die Beschwerdegegnerin die Möglichkeit eines derartigen Verstoßes gegen Artikel 123 (2) EPÜ in Betracht ziehen müssen.

20. Das verspätete Einreichen des 2. Hilfsantrags wurde sowohl von den Beschwerdeführerinnen I und II, als auch von der Verfahrensbeteiligten I in der mündlichen Verhandlung gerügt. Sie beriefen sich vor allem darauf, dass es ihnen in der mündlichen Verhandlung nicht möglich sei, zu den Änderungen eine fundierte Argumentation vorzubereiten, insbesondere nicht, eventuell einschlägigen weiteren Stand der Technik zu recherchieren. In den Anspruch 1 gemäß des 2. Hilfsantrag sind einzelne, aus der Beschreibung genommene Merkmale eingefügt worden. Da diese Änderungen weder den erteilten, noch den bis zur mündlichen Verhandlung geänderten Ansprüchen zu entnehmen waren, kann nicht davon ausgegangen werden, dass die Beschwerdeführerinnen I und II und die Verfahrensbeteiligte I diesen nicht unerheblich geänderten Gegenstand gebührend prüfen und recherchieren konnten. Daher wäre es erforderlich, diesen Beteiligten die Gelegenheit zu geben, weiteren Stand der Technik zu recherchieren und ihre Argumentation hinsichtlich der Patentfähigkeit des geänderten Gegenstands damit auszubauen. Um den Beschwerdeführerinnen I und II und der Verfahrensbeteiligten I diese Gelegenheit zu geben, hätte es zumindest eine Vertagung der mündlichen Verhandlung erfordert. Möglicherweise hätte die Sache sogar an die erste Instanz zurückverwiesen werden müssen.

21. Unter Berücksichtigung dieser Umstände ist die Kammer zu der Entscheidung gelangt, den 2. Hilfsantrag gemäß Artikel 13 (3) VOBK nicht in das Verfahren zuzulassen.

22. Da die Kammer zu der Auffassung gelangt ist, dass unter Berücksichtigung der von der Beschwerdegegnerin vorgenommenen Änderungen gemäß des Hauptantrags das europäische Patent und die Erfindung, die es zum Gegenstand hat, den Erfordernissen des Übereinkommens nicht genügt (siehe Nr. 1.-11. oben), ist das Patent gemäß Artikel 101 (3) b) EPÜ zu widerrufen.

ENTSCHEIDUNGSFORMEL

Aus diesen Gründen wird entschieden:

1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.

2. Das Patent wird widerrufen.

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