T 0602/01 () of 30.10.2002

European Case Law Identifier: ECLI:EP:BA:2002:T060201.20021030
Datum der Entscheidung: 30 October 2002
Aktenzeichen: T 0602/01
Anmeldenummer: 95912128.6
IPC-Klasse: G01D 5/245
G01P 13/04
Verfahrenssprache: DE
Verteilung: D
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Bibliografische Daten verfügbar in: DE
Fassungen: Unpublished
Bezeichnung der Anmeldung: Drehwinkelsensor
Name des Anmelders: ASM AUTOMATION, SENSORIK, MESSTECHNIK GmbH
Name des Einsprechenden: Mehnert, Walter Dr. et al
Kammer: 3.4.02
Leitsatz: -
Relevante Rechtsnormen:
European Patent Convention 1973 Art 54(3)
Schlagwörter: Neuheit (bejaht)
Neuheit - ältere europäische Anmeldungen
Orientierungssatz:

-

Angeführte Entscheidungen:
T 0167/84
T 0378/94
Anführungen in anderen Entscheidungen:
-

Sachverhalt und Anträge

I. Die Beschwerdeführer (gemeinsam Einsprechenden) richten ihre Beschwerde gegen die Entscheidung der Einspruchsabteilung, den Einspruch gegen das europäische Patent Nr. 0 724 712 zurückzuweisen.

II. Mit dem Einspruch war das gesamte Patent im Hinblick auf Artikel 100 a) EPÜ mit der Begründung angegriffen worden, daß sein Gegenstand nicht neu sei und außerdem nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit beruhe. Zur Begründung des Einwands der fehlenden Neuheit wurde in der Einspruchsschrift folgende Druckschrift zitiert:

E1 = EP-A-0 658 745

Die Druckschrift E1 ist eine europäische Anmeldung, die am 30. November 1994 angemeldet wurde und unter anderem die Priorität der Deutschen Anmeldung P4342069.9 vom 9. Dezember 1993 beansprucht. Dieses Datum liegt vor dem Prioritätstag des angefochtenen Patents (dem 7. März 1994). Die E1 wurde jedoch erst am 21. Juni 1995, also nach diesem Prioritätstag, veröffentlicht. Bei dieser älteren europäischen Anmeldung wurden alle Vertragsstaaten benannt, die auch im angefochtenen Patent benannt sind. Somit gehört die Druckschrift E1 gemäß Artikel 54 (3) EPÜ zu dem für die Neuheit zu berücksichtigenden Stand der Technik.

III. Der Einwand fehlender erfinderischen Tätigkeit wurde nicht durch Dokumente substantiiert.

IV. In einer Mitteilung gemäß Artikel 11, Absatz 2, der Verfahrensordnung der Beschwerdekammern hat die Kammer gutachterlich auf das Buch

B1 = "Sensors - A Comprehensive Survey", W.Göpel, J. Hesse, J.N. Zemel Hrsgs.; Band 5, "Magnetic Sensors", R. Boll and K.J. Overschott Hrsgs., VCH Verlagsgesellschaft mbH, Weinheim, 1989, Abschnitt "Wiegand and Pulse-Wire Sensors", Seiten 316 bis 339

hingewiesen.

V. Am 30. Oktober 2002 wurde gemäß den hilfsweise gestellten Anträgen beider Parteien mündlich verhandelt. Am Ende der mündlichen Verhandlung wurde die Entscheidung der Kammer verkündet.

VI. Die Beschwerdeführer beantragten, die angefochtene Entscheidung aufzuheben und das Patent zu widerrufen.

VII. Die Beschwerdegegnerin beantragte, die Beschwerde zurückzuweisen.

VIII. Anspruch 1 des erteilten Patents lautet wie folgt:

"Drehwinkelsensor (1) zur Messung der Winkelstellung einer Drehwelle (2) über mehr als eine Umdrehung, bestehend aus einem mit der Drehwelle (2) verbundenen Feindrehwinkelsensor (3) zur absoluten Messung der Winkelstellung der Drehwelle (2) über eine Umdrehung, und aus einer Zählanordnung (4) zur Zählung der ganzen Umdrehungen der Drehwelle (2), wobei die Zählanordnung (4) aus mindestens zwei, versetzt auf einem Kreisumfang feststehend angeordneten Impulsdraht-Bewegungssensoren (70, 71), mindestens einem Dauermagneten (72) und einer elektronischen Zählschaltung (13) besteht,

dadurch gekennzeichnet, dass

ein nicht-flüchtiger Schreib-/Lesespeicher (21) zum Speichern der Anzahl der Wellenumdrehungen vorhanden ist und ein Teil der von den Impulsdraht-Bewegungssensoren (70, 71) gelieferten elektrischen Energie der elektronischen Zählschaltung (13) zwecks Energieversorgung zugeführt wird."

Die Ansprüche 2 bis 12 sind abhängige Ansprüche.

IX. Die Argumente der Beschwerdeführer lassen sich wie folgt zusammenfassen:

Für die Würdigung der Offenbarung eines neuheitschädlichen Dokuments ist das Wissen des Fachmanns auf dem jeweiligen Fachgebiet zu berücksichtigen. Die Druckschrift E1 offenbart eine Vielzahl von Realisierungsmöglichkeiten eines Drehwinkelsensors, der die elektrische Energie für die elektronische Zählschaltung liefert. So zeigt die Figur 2 und die dazugehörende Beschreibung (Spalte 7, Zeile 39 bis Spalte 12, Zeile 22) eine Zählanordnung mit einem Erregermagnet (24); einer hartmagnetischen Komponente (19) des Sensors; einer weichmagnetischen Komponente (22) des Sensors; und einer Induktionsspule (25). Das Prinzip dieser Anordnung beruht auf der Idee, daß bei drehender Welle die Bewegungsenergie des auf der Welle befestigten Erregermagneten in Form potentieller magnetischer Energie kumuliert und gespeichert wird und am Auslösepunkt in Form kinetischer Energie freigesetzt wird. Im Ausführungsbeispiel der Figur 2 erfolgt dies durch eine schlagartige Drehung des Permanentmagneten 19 um seine Drehachse um 180° , was ein Umklappen der Weißschen Bezirke und damit der Richtung des Magnetfeldes im Weicheisenkern 22 und einen hohen Spannungsimpuls in der Induktionsspule 25 zur Folge hat. Der im Anspruch 1 des Streitpatents aufgeführte Impulsdraht-Bewegungssensor ist aus ebensolchen Komponenten aufgebaut (Erregermagnet; hartmagnetische Komponente; weichmagnetische Komponente; und Induktionsspule). Auch ist die Anordnung der getrennten hart- und weichmagnetischen Komponenten beim Ausführungsbeispiel aus der Figur 2 der E1 und bei einem Impulsdrahtsensor gleich (parallel oder seriell). Schließlich sind die Wirkungsweisen der beiden Systeme völlig analog, da in beiden Systemen die Weißsche Bezirke so einheitlich ausgerichtet sind, daß sie eine einzige magnetische Domäne bilden. In beiden Fällen wird bei Auslösung durch den Erregermagneten durch schlagartiges Umklappen der Weißschen Bezirke ein hoher Spannungspuls induziert. Damit besteht eine vollständige, bis ins Detail gehende Übereinstimmung hinsichtlich Anzahl, Art, Anordnung und Funktion der Einzelkomponenten.

Der Fachmann wird daher als einzigen Unterschied zwischen der Ausführungsform gemäß Figur 2 der Druckschrift E1 und der patentgemäßen Anordnung mit Impulsdraht-Bewegungssensor feststellen, daß im Falle der Figur 2 das Umklappen durch eine makroskopische Drehung der hartmagnetischen Komponente um 180° und eine dadurch bewirkte Ummagnetisierung der weichmagnetischen Komponente erfolgt, während beim Impulsdrahtsensor das schlagartige Umklappen im mikroskopischen Bereich erfolgt. Diese Alternative, d. h. die Verwendung von umzumagnetisierenden Substanzen bei denen bei Erreichen der Auslöseposition "eine "schlagartige" Ummagnetisierung" stattfindet und wobei "die kumulierte potentielle Energie des Magnetfeldes in kinetische Energie der umklappenden Weißschen Bezirke umgesetzt" wird, ist jedoch in der Druckschrift E1 ausdrücklich offenbart, siehe die Textpassage in Spalte 10, Zeilen 39 bis 53. Die an dieser Stelle der E1 aufgeführten Begriffe "Umklappen", "schlagartig" und "Weißsche Bezirke" führen den Fachmann unmittelbar zu dem zu seinem Allgemeinwissen gehörenden "Barkhausen-Effekt" und dessen Anwendung bei Impulsdraht- oder Wiegandsensoren, wie dies im Lehrbuch B1 dokumentiert ist. Diese Textpassage in der E1 schließt nahtlos an das vorher diskutierte Ausführungsbeispiel nach Figur 2 an, wodurch die Lehre einer möglichen Verwendung von Impulsdrahtsensoren anstelle der hartmagnetischen und weichmagnetischen Komponenten 19 und 22 in diesem Aufbau offenbart ist. In diesem Zusammenhang kann der Hinweis auf den Zeilen 47 bis 52 von Spalte 10, daß ein mechanisch-makroskopisches Umklappen des ganzes Permanentmagneten vorteilhaft ist, nicht als Abraten von einer Lösung mit Impulsdrahtsensoren aufgefaßt werden, da es für den Fachmann völlig klar ist, daß jede der offenbarten Lösungen abhängig von den speziellen Umständen Vor- und Nachteile hat.

X. Die Beschwerdegegnerin stützt ihren Antrag auf folgende Argumente:

Da die Druckschrift E1 ein Dokument unter Artikel 54 (3) EPÜ ist, stellt sich lediglich die Frage, ob eine neuheitsschädliche Vorwegnahme durch diese Entgegenhaltung vorliegt. Dafür müßten nach ständiger Rechtsprechung der Beschwerdekammern, siehe die Entscheidung T 0378/94, alle Merkmale der beanspruchten Vorrichtung unmittelbar und eindeutig dieser Informationsquelle zu entnehmen sein. Im vorliegenden Fall müßte insbesondere auch das beanspruchte Merkmal "Impulsdraht-Bewegungssensor" unmittelbar und eindeutig der Entgegenhaltung E1 entnehmbar sein. Was die Figuren und die Figurenbeschreibung der E1 angeht, trifft dies nicht zu. So zeigt das Ausführungsbeispiel gemäß Figur 2 zwar eine hartmagnetische Komponente (19), eine weichmagnetische Komponente (22) und eine Induktionsspule (25), welche ebenfalls Bauteile eines Impulsdrahtsensors sind. Doch sind bei einem Impulsdrahtsensor die hart- und weichmagnetische Komponenten nicht "irgendwie" angeordnet, sondern es wird durch eine spezielle mechanische oder thermische Behandlung dieser Komponenten eine Form- oder Kristallanisotropie erzeugt, mittels welcher ein einziger Weißscher Bezirk erhalten wird. Was die zitierte Textstelle in Spalte 10, Zeilen 39 bis 53 der E1 betrifft, bezieht sich diese explizit auf das Umklappen des Permanentmagneten (19). Diese Passage kann keinesfalls als eine Offenbarung für den Einbau eines Impulsdrahtsensors in die Vorrichtung aus Figur 2 angesehen werden, da ein reines Ersetzen dieses Magneten (19) durch einen Impulsdrahtsensor kein Sinn ergeben würde, denn dann würde weder der Weicheisenkern (22) noch die Spule (25) benötigt werden. Es spielt auch keine Rolle, ob ein Impulsdrahtsensor als "Äquivalent" zur Sensoranordnung in der Figur 2 der Druckschrift E1 angesehen werden kann, da nach ständiger Rechtsprechung äquivalente Lösungen für die Frage der Neuheit außer Betracht zu bleiben haben. Schließlich wird in der zitierten Passage der E1 das mechanisch-makroskopische Umklappen des ganzen Permanentmagneten als vorteilhaft gegenüber der Verwendung umzumagnetisierender Substanzen dargestellt, was von der Verwendung solcher Substanzen, und insbesondere der Verwendung eines Impulsdrahtsensors wegführt. Schließlich nimmt gemäß den Richtlinien des EPA (Teil C, Kapitel IV, 7.4) die Offenbarung eines allgemeinen Begriffs die Neuheit eines speziellen Beispiels, das unter den offenbarten allgemeinen Begriff fällt, nicht vorweg. Daher kann eine allgemeine Offenbarung "umzumagnetisierender Substanzen", ""schlagartiger" Ummagnetisierung" oder "umklappender Weißscher Bezirke" nicht das spezielle Beispiel "Impulsdrahtsensor" vorwegnehmen, da ein solcher Sensor nicht nur die Auswahl spezifischer magnetischer Substanzen, sondern weitere mechanische und/oder thermische Behandlungsschritte erfordert, wodurch das Spannungsprofil und das einheitliche Verhalten der Weißschen Bezirke erlangt wird.

Entscheidungsgründe

1. Die Beschwerde ist zulässig.

2. Neuheit

2.1. Es ist zwischen den Parteien nicht strittig, daß die Druckschrift E1 zum Stand der Technik im Sinne der Artikel 54 (3) und (4) EPÜ gehört, auch wenn die Art und Weise der Argumentation der Beschwerdeführer eher auf die Begründung fehlender erfinderischer Tätigkeit gerichtet war.

2.2. Bei der Würdigung eines solchen Dokumentes für die Neuheitsfrage ist nach ständiger Rechtsprechung der Beschwerdekammern nur das zu berücksichtigen, was unmittelbar und eindeutig aus seinem Offenbarungsgehalt hervorgeht, wobei Äquivalente nicht berücksichtigt werden (siehe T 0167/84).

2.3. Im vorliegenden Fall ist zwischen den Parteien strittig, ob das Merkmal aus Anspruch 1 des Streitpatents bezüglich der "Impulsdraht-Bewegungssensoren" in der Druckschrift E1 offenbart ist. Nach Ansicht der Beschwerdeführer muß die Passage in Spalte 10, Zeilen 39 bis 53 als Weiterführung des Beispiels gemäß Figur 2 gelesen werden. Auch werde der Fachmann durch die an dieser Stelle benutzten Begriffe "schlagartige Ummagnetisierung", "Umklappen" und "Weißsche Bezirke" sofort an den "Barkhausen-Effekt" und dessen Anwendung bei Impulsdraht- oder Wiegandsensoren erinnert. Die Beschwerdegegnerin bestreitet, daß die genannte Textpassage überhaupt eine weitere Variante darstellt, weshalb sie mit dem Ausführungsbeispiel aus Figur 2 nicht kombinierbar ist. Weiterhin könnten die allgemeinen Angaben in dieser Passage das spezielle Merkmal der "Impulsdraht-Bewegungssensoren" in Anspruch 1 nicht neuheitsschädlich vorwegnehmen.

2.4. Nach Auffassung der Kammer kann die Passage in Spalte 10, Zeilen 39 bis 53 in der Tat nicht als weitere Variante zum Ausführungsbeispiel gemäß Figur 2 der Druckschrift E1 gelten. Aus dem Term "Verwendung" in Zeile 40 kann in diesem Kontext nicht auf einen Vorschlag für Verwendung als Alternative geschlossen werden. Vielmehr lautet der Text "Dem eben beschriebenen Vorgang entspricht die Verwendung...". Außerdem enthält die Passage keinerlei Vorschrift, welche Komponenten auf welche Weise im Aufbau gemäß Figur 2 zu ersetzen wären. Der Inhalt dieses Textabschnitts, seine Positionierung mitten in der Beschreibung eines konkreten Ausführungsbeispiels und das Fehlen jeglichen konkreten Hinweises auf eine Anpassung des Ausführungsbeispiels deuten daraufhin, daß der zitierte Textabschnitt lediglich als Erklärung der physikalischen Hintergründe durch eine Analogie, denn als alternatives Ausführungsbeispiel aufzufassen ist.

2.5. Unabhängig davon muß auch die Frage nach der konkreten Offenbarung in dieser Passage der Druckschrift E1 gestellt werden. Es ist den Beschwerdeführern beizupflichten, daß der sachkundige Leser die technischen Begriffe in diesem Textabschnitt mit dem Barkhausen-Effekt in Verbindung bringen kann. Der Barkhausen-Effekt ist jedoch ein Effekt, der generell bei ferromagnetischen Substanzen auftritt. Zum Erzielen des für Impulsdraht- oder Wiegandsensoren typischen Schaltverhaltens müßten diese ferromagnetischen Substanzen bei der Herstellung jedoch zusätzlichen mechanischen und/oder thermischen Behandlungen unterzogen werden, welche die Struktur der Substanzen (Zugspannung, Koerzitivverhalten) beeinflussen. Eine konkrete oder auch implizite Offenbarung solcher Schritte oder Merkmale sind weder aus der Textpassage in Spalte 10, noch aus der weiteren Druckschrift E1 ersichtlich.

2.6. Damit ist der Gegenstand von Anspruch 1 des Streitpatents neu in bezug auf die Offenbarung der Druckschrift E1.

3. Erfinderische Tätigkeit

Da der Einwand der fehlenden erfinderischen Tätigkeit im Einspruchs- und Beschwerdeverfahren nicht substantiiert wurde und die Druckschrift E1 nach Artikel 56, Satz 2, EPÜ für die Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit nicht herangezogen werden kann, kann die Frage der erfinderischen Tätigkeit hier außer Betracht bleiben.

ENTSCHEIDUNGSFORMEL

Aus diesen Gründen wird entschieden:

Die Beschwerde wird zurückgewiesen.

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