T 0824/00 (Widerruf der Zurücknahme eines Antrags/SUMITOMO) of 24.3.2003

European Case Law Identifier: ECLI:EP:BA:2003:T082400.20030324
Datum der Entscheidung: 24 März 2003
Aktenzeichen: T 0824/00
Anmeldenummer: 88400267.6
IPC-Klasse: H01B 12/00
Verfahrenssprache: EN
Verteilung: A
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Fassungen: OJ
Bezeichnung der Anmeldung: -
Name des Anmelders: Sumitomo Electric IndustriesLimited
Name des Einsprechenden: I. Vacuumschmelze GmbHHanau
II. Siemens AG
Kammer: 3.5.02
Leitsatz: I. Einem Antrag auf Berichtigung einer beim EPA eingereichten Unterlage gemäß Regel 88 EPÜ sollte in der Regel nicht stattgegeben werden, wenn die Berichtigung eine materielle Verletzung von Grundsätzen zur Folge hätte, die das grundlegende Rechtsgut der Rechtssicherheit im Verfahren verkörpern. Einer dieser Grundsätze besagt, daß ein zuständiges erstinstanzliches Organ des EPA nach Artikel 113 (2) EPÜ befugt ist, eine Entscheidung zu treffen, die das erstinstanzliche Verfahren auf der Grundlage der mutmaßlichen Schlußanträge der Beteiligten beendet; einem weiteren derartigen Grundsatz zufolge gilt ein Beteiligter durch eine solche Entscheidung, mit der seinem Schlußantrag stattgegeben wird, nicht als beschwert im Sinne des Artikels 107 EPÜ (Nr. 6 der Entscheidungsgründe).
II. Die in J 10/87 (ABl. EPA 1989, 323) unter Nummer 12 der Entscheidungsgründe enthaltene Aussage "Im Interesse der Rechtssicherheit muß sich das EPA auf die Erklärungen der Verfahrensbeteiligten verlassen können" gibt genau an, in welchem Verfahrensstadium die Rechtssicherheit Vorrang vor dem Parteiwillen hat und die Grenzen der Anwendbarkeit von Regel 88 EPÜ erreicht sind, nämlich wenn der Erklärung eines Beteiligten in einem formalen Rechtsakt vertraut wird (Nr. 8 der Entscheidungsgründe).
Relevante Rechtsnormen:
European Patent Convention 1973 Art 107
European Patent Convention 1973 Art 113(2)
European Patent Convention 1973 R 65(1)
European Patent Convention 1973 R 88
Schlagwörter: Zurücknahme aller der Einspruchsabteilung vorliegenden Anträge
Widerruf der Zurücknahme im Beschwerdeverfahren durch Berichtigung nach Regel 88 EPÜ (nicht statthaft; Beschwerde unzulässig)
Orientierungssatz:

-

Angeführte Entscheidungen:
J 0010/87
J 0006/91
J 0016/91
J 0010/93
J 0004/97
J 0003/01
Anführungen in anderen Entscheidungen:
J 0019/03
J 0025/03
J 0017/04
J 0003/22
T 0048/02
T 1091/02
T 0309/03
T 0591/05
T 0445/08
T 0695/18

Sachverhalt und Anträge

I. Die vorliegende Beschwerde richtet sich gegen den Widerruf des europäischen Patents Nr. 281 444 durch eine Entscheidung der Einspruchsabteilung, die am 29. Mai 2000 zur Post gegeben wurde.

II. Der Widerruf wurde damit begründet, daß die Patentinhaberin mit Schreiben vom 13. April 2000 alle Anträge zurückgenommen hatte und somit keine von ihr gebilligte Fassung vorlag, auf deren Grundlage das Patent aufrechterhalten werden konnte.

III. Mit dem angefochtenen Patent hat die Technische Beschwerdekammer 3.5.2 zum zweiten Mal zu tun. Erstmals wurde sie damit befaßt, nachdem die Einspruchsabteilung ihre am 29. April 1996 zur Post gegebene Entscheidung erlassen hatte, wonach das Patent gemäß dem in der mündlichen Verhandlung vom 22. März 1996 vorgelegten Hauptantrag der Patentinhaberin in geändertem Umfang aufrechterhalten werden sollte. Mit ihrer Entscheidung T 503/96 verwies die Kammer (in anderer Besetzung als jetzt) die Sache seinerzeit zur weiteren Entscheidung an die Einspruchsabteilung zurück.

IV. In der vorliegenden Beschwerdesache beantragt die Beschwerdeführerin/Patentinhaberin gemäß Regel 88 EPÜ die Berichtigung ihres Schreibens vom 13. April 2000 dahingehend, daß dieses Schreiben außer acht gelassen werden solle, die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und die Zurückverweisung an die Einspruchsabteilung zur weiteren Entscheidung.

Die Beschwerdegegnerinnen/Einsprechenden beantragen die Zurückweisung des Antrags auf Berichtigung gemäß Regel 88 EPÜ und die Zurückweisung der Beschwerde.

V. Am 28. Februar 2003 fand eine mündliche Verhandlung vor der Kammer statt.

VI. Die Beschwerdeführerin/Patentinhaberin argumentierte im wesentlichen wie folgt:

Nach dem EPÜ beginne das Einspruchsverfahren mit der Einreichung des Einspruchs und dauere - falls Beschwerde eingelegt worden sei - so lange, bis eine Beschwerdekammer eine endgültige Entscheidung erlassen habe. Die Entscheidung der Einspruchsabteilung schließe lediglich den Verfahrensabschnitt vor der Einspruchsabteilung ab.

Die vorliegende Beschwerde sei innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung der angefochtenen Entscheidung schriftlich eingelegt und die Beschwerdegebühr ordnungsgemäß entrichtet worden. Somit sei die Beschwerde in Einklang mit den ersten beiden Sätzen des Artikels 108 EPÜ eingereicht worden. Eine Beschwerdebegründung sei gemäß Artikel 108 EPÜ Satz 3 fristgerecht eingereicht worden. Daher sei von der Zulässigkeit der Beschwerde auszugehen, solange die Kammer nichts anderes entscheide. Gemäß Artikel 106 EPÜ Satz 2 habe die Beschwerde aufschiebende Wirkung.

Die Beschwerdeführerin macht geltend, sie sei durch die angefochtene Entscheidung beschwert. Das Schreiben vom 13. April 2000 gebe nicht die wirkliche Absicht der Patentinhaberin wieder. Die Zurücknahme aller Anträge sei fälschlich erklärt worden, es sei also eine Unrichtigkeit im Sinne der Entscheidung J 6/91 (ABl. EPA 1994, 349), Nummer 3 (1) der Entscheidungsgründe unterlaufen, die berichtigt werden könne. Ein Antrag auf Berichtigung des Fehlers gemäß Regel 88 EPÜ sei gleichzeitig mit der Beschwerdebegründung eingereicht worden, wobei aus den Anlagen hervorgehe, daß die Patentinhaberin in Wirklichkeit die Absicht gehabt habe, das Patent nicht vollständig, sondern lediglich für einige der benannten Staaten aufzugeben (s. Anlagen 1, 2 und 6). Aufgrund eines Mißverständnisses in Japan seien dem europäischen Vertreter falsche Anweisungen übermittelt worden (s. Anlage 3), die er auch ausgeführt habe (s. Anlagen 4 und 5). Wie aus dem Rückschein ersichtlich sei, habe der europäische Vertreter die angefochtene Entscheidung am 2. Juni 2000 erhalten und nicht - wie in dem zusammen mit der Beschwerdebegründung eingereichten Berichtigungsantrag irrtümlich angegeben - am 7. Juni 2000. Er sei erstmals am 6. Juni 2000 auf den Fehler aufmerksam geworden, als er das Schreiben seines japanischen Kollegen erhalten habe (Anlage 6).

Die Beschwerdeführerin bedauert die den Einsprechenden entstandenen Unannehmlichkeiten; vor Ablauf der Beschwerdefrist könnten sich diese aber nicht darauf verlassen, daß die Entscheidung der Einspruchsabteilung endgültig sei. Diese Entscheidung sei nicht veröffentlicht worden, so daß Dritte durch die beantragte Berichtigung nicht benachteiligt würden (s. J 4/97 vom 9. Juli 1997, nicht im ABl. EPA veröffentlicht, Nrn. 6 und 7 der Entscheidungsgründe).

Der vorliegende Fall betreffe eine beschwerdefähige Entscheidung, die nachweislich auf falschen Sachverhalten basiere, während es im Falle der Entscheidung J 3/01 vom 17. Juni 2002 (nicht im ABl. EPA veröffentlicht) um einen Rechtsverlust gehe, der nach Artikel 122 (5) EPÜ von der Wiedereinsetzung ausgeschlossen sei. Falls die Berichtigung zugelassen und das Schreiben vom 13. April 2000 außer acht gelassen würde, würde dadurch die Entscheidung der Einspruchsabteilung nicht rückwirkend nichtig, sondern lediglich der Kammer der Anlaß zur Aufhebung dieser Entscheidung geboten, durch die sich nichts im nachhinein ändern würde, da die Beschwerde ja aufschiebende Wirkung für die Entscheidung gehabt habe.

Analog zur Sache J 10/93 (ABl. EPA 1997, 91), in der gleichzeitig ein Rechtsübergang und eine Wiedereinsetzung beantragt worden seien, müßten die Beschwerde und der Antrag auf Berichtigung gemäß Regel 88 EPÜ von der Kammer zusammen betrachtet werden.

VII. Die Beschwerdegegnerinnen/Einsprechenden brachten im wesentlichen folgendes vor:

Selbst wenn ein Fehler unterlaufen sei - was nicht gemäß dem hohen Beweismaßstab belegt worden sei, den die ständige Rechtsprechung der Beschwerdekammern des EPA verlange -, wäre es irrig, dem Antrag nach Regel 88 EPÜ stattzugeben, weil damit de facto Wiedereinsetzung in einem Fall gewährt würde, in dem sie nach Artikel 122 EPÜ nicht vorgesehen sei; vgl. J 16/91 (ABl. EPA 1994, 28) unter Nummer 3.3: "Eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand in bezug auf eine Entscheidung kennt das EPÜ nicht." Im vorliegenden Fall sei die Patentinhaberin nicht beschwert und damit auch keine zulässige Beschwerde möglich. Die Entscheidung der Einspruchsabteilung sei nicht zu beanstanden und die Beschwerdekammer mithin nicht zu ihrer Aufhebung befugt. Auch könne Regel 88 EPÜ nicht herangezogen werden, um eine Entscheidung des erstinstanzlichen Organs aufzuheben. Die Patentinhaberin habe bis zu dem Zeitpunkt, an dem die Einspruchsabteilung ihre Entscheidung erlasse, Gelegenheit, ihren Fehler nach Regel 88 EPÜ zu berichtigen, danach aber nicht mehr.

Ein Dritter hätte die Entscheidung bei Einsichtnahme in die Akte zu Recht als endgültig betrachten können, weil kein Beteiligter beschwert gewesen sei. Tatsächlich könnten die Einsprechenden nachweisen, daß sie die Firma Tritor als potentielle Nutzerin der betreffenden Technologie davon unterrichtet hätten, daß das Patent definitiv widerrufen worden sei. Ebenso seien den Einsprechenden auch in ihrer Eigenschaft als Teil der Öffentlichkeit die angefochtene Entscheidung und das Schreiben der Patentinhaberin an die Einspruchsabteilung vom 13. April 2000 mit der Zurücknahme aller Anträge bekannt. Sie hätten berechtigten Grund zu der Annahme, daß keine möglichen Beschwerdegründe vorlägen.

Die Beschwerdeführerin/Patentinhaberin und Antragstellerin habe den Antrag auf Berichtigung nach Regel 88 EPÜ erst gestellt, nachdem sie die Beschwerdefrist von zwei Monaten voll ausgeschöpft habe. Dies stehe nicht in Einklang mit dem Gebot der Unverzüglichkeit gemäß der ständigen Rechtsprechung der Beschwerdekammern des EPA und habe Dritte unnötig und unangemessen lange über den Sachstand des Patents in die Irre geführt oder zumindest diese Gefahr geborgen. Die Tatsache, daß Regel 88 EPÜ nichts über den Schutz Dritter in einem solchen Fall aussage, zeige, daß sie nicht anwendbar sei.

In dem von der Beschwerdeführerin/Patentinhaberin angeführten Fall J 10/93 sei der Beschwerdeführer/Anmelder durch die Entscheidung der Rechtsabteilung beschwert, diese Entscheidung also beschwerdefähig gewesen. Dort habe die Juristische Beschwerdekammer befunden, daß der Rechtsabteilung ein rechtlicher Fehler unterlaufen sei, und daher die angefochtene Entscheidung aufgehoben. Im vorliegenden Fall sei keine Beschwer vorhanden und der Einspruchsabteilung unbestrittenermaßen kein Fehler unterlaufen; diese habe die einzige Entscheidung getroffen, die ihr nach dem EPÜ offengestanden habe. Somit könne keine zulässige und begründete Beschwerde eingelegt werden, und die Kammer sei daher nicht befugt, die angefochtene Entscheidung aufzuheben.

Entscheidungsgründe

1. Innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung der angefochtenen Entscheidung wurde die Beschwerdeschrift eingereicht und die Beschwerdegebühr entrichtet. Die Beschwerdebegründung und der Antrag auf Berichtigung des Fehlers nach Regel 88 EPÜ wurden gleichzeitig eingereicht. Es besteht kein Zweifel, daß die Beschwerde den Erfordernissen des Artikels 108 EPÜ genügt.

2. Allerdings ist eine Beschwerde nur zulässig, wenn sie alle in Regel 65 (1) EPÜ angeführten Erfordernisse erfüllt; eines davon besagt, daß der Beschwerdeführer gemäß Artikel 107 EPÜ durch die angefochtene Entscheidung beschwert sein muß.

3. Prima facie scheint die Beschwerdeführerin durch die angefochtene Entscheidung nicht beschwert zu sein. Im Schreiben der Patentinhaberin an die Einspruchsabteilung vom 13. April 2000 heißt es wie folgt: "Die Patentinhaberin hat im vorliegenden Fall kein Interesse mehr am Verfahren. Daher nehmen wir unseren Antrag auf mündliche Verhandlung wie auch alle anderen Anträge zurück." Somit hat die Einspruchsabteilung keinen anhängigen Antrag irgendeines Beteiligten zurückgewiesen, als sie ihre Entscheidung auf Widerruf des Patents erließ und dies damit begründete, daß die Patentinhaberin mit ihrem Schreiben vom 13. April 2000 sämtliche Anträge zurückgenommen habe, so daß keine von der Patentinhaberin gebilligte Fassung vorlag, auf deren Grundlage das Patent aufrechterhalten werden konnte. Der Vollständigkeit halber ist anzumerken, daß die Patentinhaberin mit der erteilten Fassung des Patents nicht mehr einverstanden war, denn ihr Hauptantrag in der mündlichen Verhandlung vom 22. März 1996 war auf die Aufrechterhaltung des Patents in geändertem Umfang gerichtet (s. o. Nr. III).

4. Die Beschwerdeführerin/Patentinhaberin scheint durch die angefochtene Entscheidung zwar nicht beschwert zu sein, bringt ihrerseits aber vor, daß das Schreiben vom 13. April 2000 einen Fehler, nämlich die Zurücknahme aller Anträge, enthalte und daß die Berichtigung dieses Fehlers gemäß Regel 88 EPÜ Satz 1 zugelassen, d. h. das Schreiben außer acht gelassen werden solle, weil es nicht die wirkliche Absicht der Patentinhaberin wiedergebe. Dann träte zutage, daß die Beschwerdeführerin durch die Entscheidung beschwert sei, und die Beschwerde wäre zulässig.

5. Daraus folgt, daß die Beschwerde unter den oben geschilderten Gegebenheiten dann - und nur dann - zulässig ist, wenn die beantragte Berichtigung nach Regel 88 EPÜ statthaft ist. Da dies nach Kenntnis der Kammer der erste Fall ist, in dem ein Antrag nach Regel 88 EPÜ bei dieser oder einer sehr ähnlichen Sachlage einer Beschwerdekammer vorgelegt wurde, hält es die Kammer für geboten, das einschlägige Recht und die bisherige Rechtsprechung zu dieser entscheidenden Frage näher zu beleuchten.

6. Regel 88 EPÜ erkennt als verfahrensrechtliche Maxime an, daß in Rechtsverfahren die wirkliche - und nicht die mutmaßliche - Absicht eines Beteiligten zu berücksichtigen ist. Der Umstand, daß diese Bestimmung als Ermessensbefugnis in einer Regel und nicht in einem Artikel niedergelegt ist, zeigt, daß diese Maxime als untergeordnetes Gut eingestuft wird, das im Falle eines gravierenden Konflikts mit anderen Werten wie der Sicherheit und der Wirtschaftlichkeit des Verfahrens, die in bestimmten Verfahrens-, Befugnis- und Fristenregelungen zum Ausdruck kommen, keinen Vorrang haben sollte. Dies wird erhärtet durch die Existenz von Artikel 122 EPÜ, der genau abgegrenzte Umstände und Bedingungen festlegt, unter denen bei Versäumung bestimmter Fristen und daraus resultierendem Rechtsverlust der wirkliche Parteiwille ausnahmsweise Vorrang vor der Verfahrenssicherheit haben kann, wobei in Artikel 122 (5) EPÜ konkrete Ausnahmen aufgeführt sind und der Schutz Dritter in Artikel 122 (6) EPÜ geregelt ist. Aufgrund dieser Überlegungen zur Rechtssystematik und -struktur gelangt die Kammer zu dem Schluß, daß einem Antrag auf Berücksichtigung des wirklichen - anstelle des mutmaßlichen - Parteiwillens außerhalb des Rechtsinstituts der Wiedereinsetzung in der Regel nicht stattgegeben werden sollte, wenn beispielsweise eine Berichtigung einer beim EPA eingereichten Unterlage gemäß Regel 88 EPÜ beantragt wird, die eine materielle Verletzung wesentlicher verfahrensrechtlicher Grundsätze zur Folge hätte, die das höherrangige Gut der Rechtssicherheit verkörpern. Einer dieser verfahrensrechtlichen Grundsätze besagt, daß ein zuständiges erstinstanzliches Organ des EPA nach Artikel 113 (2) EPÜ befugt ist, eine Entscheidung zu treffen, die das erstinstanzliche Verfahren auf der Grundlage der mutmaßlichen Schlußanträge der Beteiligten beendet, die das betreffende Organ mit der gebotenen Sorgfalt anhand der ordnungsgemäßen Eingaben der Beteiligten selbst oder ihres zugelassenen Vertreters ermittelt hat; einem weiteren derartigen Grundsatz zufolge gilt ein Beteiligter durch eine solche Entscheidung, mit der seinem Schlußantrag stattgegeben wird, nicht als beschwert im Sinne des Artikels 107 EPÜ.

7. Die umfassende Rechtsprechung der Beschwerdekammern des EPA zu Regel 88 EPÜ betrifft größtenteils Fehler bei der Benennung von Vertragsstaaten und bei Prioritätsangaben. In dieser Rechtsprechung wurde bei der Prüfung der Kriterien für die Ermessensausübung eine Abwägung der Interessen der Beteiligten mit Blick auf den Zeitraum vorgenommen, in dem Dritte durch fehlerhafte Daten hätten irregeführt werden können. Eine gewissermaßen quantitative Interessensabwägung dieser Art erscheint der Kammer in bezug auf die in der vorliegenden Beschwerdesache zu entscheidende Grundsatzfrage nicht angemessen. Der Zeitraum, in dem ein Dritter im vorliegenden Fall durch eine Akteneinsicht theoretisch irregeführt hätte werden können, ist nach Ansicht der Kammer kein geeigneter Maßstab im Verhältnis zu dem hohen Rechtsgut der Gültigkeit und verfahrensbeendenden Wirkung einer Entscheidung, die ohne jeden - subjektiven oder objektiven - Verfahrensmangel auf der Grundlage aller der Einspruchsabteilung vorliegenden Tatsachen ordnungsgemäß getroffen wurde. Diese Auffassung der Kammer wird gestützt durch die Ausführungen in J 3/01 unter Nummer 7 der Entscheidungsgründe, wonach "Berichtigungen ... in Anbetracht anderer zwingender Grundsätze des Übereinkommens unter Umständen nicht zugelassen werden können", sowie unter Nummer 10 der Entscheidungsgründe, wonach "eine Berichtigung nach Regel 88 EPÜ die Wirkung von Entscheidungen, die bereits auf der Grundlage der unberichtigten Unterlage getroffen wurden, nicht aufhebt und einen schon abgeschlossenen Verfahrensabschnitt oder eine bereits abgelaufene Frist nicht wieder in Gang setzt".

8. Zur Stützung ihres Antrags verweist die Beschwerdeführerin auf die Entscheidung J 4/97, in der eine Berichtigung nach Regel 88 EPÜ zugelassen wurde, um die normalerweise rechtsverbindliche Wirkung einer beim EPA eingegangenen Mitteilung über die Zurücknahme einer Patentanmeldung aufzuheben. In dieser Entscheidung wandte die Juristische Beschwerdekammer die in J 10/87 (ABl. EPA 1989, 323) entwickelte Rechtsprechung an, wonach Regel 88 EPÜ unter bestimmten Umständen einen Korridor für den möglichen Widerruf einer irrtümlichen Zurücknahme der Benennung eines Vertragsstaats eröffnet, der durch die amtliche Bekanntmachung der Zurücknahme der Benennung durch das EPA wieder geschlossen wird, und dehnte sie auf den Widerruf der Zurücknahme einer ganzen Patentanmeldung aus. Die jetzige Kammer sieht in dieser Rechtsprechungslinie eine Bestätigung dafür, daß die Rechtssicherheit im Verfahren ein höheres Rechtsgut ist als der wirkliche Parteiwille. Darauf wird auch in J 10/87 unter Nummer 12 der Entscheidungsgründe mit der Aussage "Im Interesse der Rechtssicherheit muß sich das EPA auf die Erklärungen der Verfahrensbeteiligten verlassen können" ausdrücklich abgehoben und so genau angegeben, in welchem Verfahrensstadium die Rechtssicherheit Vorrang vor dem Parteiwillen hat und die Grenzen der Anwendbarkeit von Regel 88 EPÜ erreicht sind, nämlich wenn der Erklärung eines Beteiligten in einem formalen Rechtsakt vertraut wird. J 4/97 folgte J 10/87 mit der Feststellung, daß die vom EPA veranlaßte Bekanntmachung eines Vorgangs im europäischen Patentregister oder im Europäischen Patentblatt der maßgebliche formale Rechtsakt in bezug auf die Zurücknahme einer Patentanmeldung oder einer Benennung eines Vertragsstaats ist. Nach Auffassung der Kammer war der maßgebliche formale Rechtsakt im vorliegenden Fall die Absendung der Entscheidung der Einspruchsabteilung.

9. Zur Stützung des Arguments, die Kammer sei zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidung befugt, hat die Beschwerdeführerin/Patentinhaberin versucht, die Analogie zu einer Entscheidung geltend zu machen, die aufgehoben werden muß, weil sie auf einem objektiven wesentlichen Verfahrensmangel beruht, auch wenn keinerlei Verschulden des erstinstanzlichen Organs vorliegt, z. B. wenn Unterlagen aufgrund eines verwaltungstechnischen Irrtums innerhalb des EPA nicht beim entscheidungsbefugten Organ angekommen sind. Tatsächlich gibt dieser Analogieschluß zumindest eine Teilantwort auf das Argument der Beschwerdegegnerinnen/Einsprechenden, daß Dritte bei einer Akteneinsicht in die Irre geführt würden, denn er hebt zu Recht darauf ab, daß ein wohlinformierter Dritter die Möglichkeit in Betracht ziehen würde, daß eine scheinbar fehlerlose Entscheidung aufgrund eines objektiven wesentlichen Verfahrensmangels der oben angeführten Art aufgehoben werden könnte, der im Beschwerdeverfahren festgestellt wird. Dennoch ist die Analogie nicht zwingend, weil sie die ungleiche Wertigkeit der betreffenden Rechtsgüter außer acht läßt. Ausschlaggebend dafür, daß eine Entscheidung wegen eines solchen wesentlichen Verfahrensmangels aufgehoben werden und von Anfang an nichtig sein kann, ist natürlich, daß es in einem derartigen Fall um ein höherrangiges Rechtsgut geht als den wirklichen Parteiwillen, nämlich um das natürliche Gerechtigkeitsempfinden oder das ordnungsgemäße Verfahren. Letzteres steht sogar über der Verfahrenssicherheit, solange durch ein bestehendes Verfahren eine Entscheidungsbefugnis gegeben ist.

10. Die Kammer ist bei der vorangegangenen Begründung fiktiv davon ausgegangen, daß der von der Beschwerdeführerin/Patentinhaberin erbrachte Nachweis für ihren Fehler den hohen Anforderungen genügt, die für Berichtigungsanträge gemäß Regel 88 EPÜ Satz 1 gelten. In Anbetracht der Schlußfolgerung der Kammer, daß der Korridor für eine Berichtigung gemäß Regel 88 EPÜ mit der Absendung der Entscheidung geschlossen worden ist, kann die umstrittene Frage des Fehlernachweises dahingestellt bleiben.

11. Da die Beschwerdeführerin/Patentinhaberin im Lichte der obigen Ausführungen an ihre mutmaßliche, im Schreiben vom 13. April 2000 geäußerte Absicht gebunden ist, auf die sich die Einspruchsabteilung beim Erlaß der angefochtenen Entscheidung zu Recht verlassen hat, gilt sie durch die Entscheidung nicht als beschwert im Sinne von Artikel 107 EPÜ Satz 1, so daß die Beschwerde gemäß Regel 65 (1) EPÜ als unzulässig zu verwerfen ist.

ENTSCHEIDUNGSFORMEL

Aus diesen Gründen wird entschieden:

Der Berichtigungsantrag wird zurückgewiesen.

Die Beschwerde wird als unzulässig verworfen.

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