T 0245/00 () of 11.7.2002

European Case Law Identifier: ECLI:EP:BA:2002:T024500.20020711
Datum der Entscheidung: 11 Juli 2002
Aktenzeichen: T 0245/00
Anmeldenummer: 95106759.4
IPC-Klasse: C09B 67/48
Verfahrenssprache: DE
Verteilung: C
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Bibliografische Daten verfügbar in: DE
Fassungen: Unpublished
Bezeichnung der Anmeldung: Interferenzpigmente aus in cholesterischer Anordnung fixierten Molekülen sowie deren Verwendung
Name des Anmelders: Consortium for elektrochemische Industrie GmbH
Name des Einsprechenden: BASF Aktiengesellschaft, Ludwigshafen
Kammer: 3.3.03
Leitsatz: -
Relevante Rechtsnormen:
European Patent Convention 1973 Art 54
European Patent Convention 1973 Art 113(1)
European Patent Convention 1973 Art 114(1)
Schlagwörter: Neuheit - Auswahlerfindung (nein)
Orientierungssatz:

-

Angeführte Entscheidungen:
T 0198/84
T 0017/85
T 0026/85
T 0124/87
T 0279/89
T 0666/89
T 0012/90
T 0247/91
T 0434/98
Anführungen in anderen Entscheidungen:
-

Sachverhalt und Anträge

I. Die Erteilung des Europäischen Patents Nr. 0 686 674 auf die europäische Patentanmeldung Nr. 95 106 759.4 der Consortium für elektrochemische Industrie GmbH, angemeldet am 4. Mai 1995 wurde am 28. Januar 1998 mit Wirkung für die Vertragsstaaten CH, DE, FR, GB, IT, LI und SE bekanntgemacht.

Die unabhängigen Ansprüche 1, 4, 6, 7 und 9 lauten:

"1. Pigmente plättchenförmiger Struktur mit einer Dicke von 3 um bis 10 um und einer Korngröße mit einem Durchmesser von zwischen 500 um und 5 um enthaltend orientierte vernetzte Substanzen mit flüssigkristalliner Struktur mit einer chiralen Phase."

"4. Zusammensetzungen, die Pigmente enthaltend orientierte dreidimensional vernetzte Substanzen mit flüssigkristalliner Struktur mit einer chiralen Phase gemäss Anspruch 1 umfassen."

"6. Datenträger enthaltend Pigmente gemäß einem oder mehreren der Ansprüche 1 bis 3."

"7. Verfahren zur Herstellung von Pigmenten nach einem oder mehreren der Ansprüche 1 bis 3, dadurch gekennzeichnet, daß dreidimensional vernetzbare Substanzen mit flüssigkristalliner Struktur mit chiraler Phase gegebenenfalls nach Zumischen weiterer Pigmente und/oder Farbstoffe orientiert werden, dreidimensional vernetzt werden und auf eine erwünschte Korngröße zerkleinert werden."

"9. Verwendung von Pigmenten gemäß Anspruch 1 bis 3 enthaltend orientierte dreidimensional vernetzte Substanzen mit flüssigkristalliner Struktur mit einer chiralen Phase auf dem Fahrzeugsektor (Land-, Kraft-, Schienen-, Luft-, Wasserfahrzeuge, Fahrräder) samt Zubehör, im Freizeit-, Sport- und Spielsektor, im Kosmetikbereich, im Textil-, Leder- oder Schmuckbereich, im Geschenkartikelbereich, in Schreibutensilien, Emballagen, oder Brillengestängen, im Bausektor (beispielsweise Innenwände, Innenverkleidungen, Fassaden, Tapeten, Türen, Fenster), im Haushaltssektor (beispielsweise Möbel, Geschirr und Haushaltsgeräte), oder in Druckerzeugnissen aller Art wie beispielsweise Kartonagen, Verpackungen, Tragetaschen, Papiere, Etiketten oder Folien."

Die Ansprüche 2 und 3 sind von Anspruch 1, Anspruch 5 von Anspruch 4 und Anspruch 8 von Anspruch 7 abhängig.

II. Gegen das Patent wurde gestützt auf die Bestimmungen des Artikels 100 (a) und (b) EPÜ am 28. Oktober 1998 von der BASF AG Einspruch erhoben und beantragt, das Patent in seinem gesamten Umfang zu widerrufen.

III. In der am 10. Dezember 1999 mündlich verkündeten und am 27. Dezember 1999 schriftlich begründeten Entscheidung vertrat die Einspruchsabteilung die Auffassung, daß die vorgetragenen Gründe der Aufrechterhaltung des Patents in unveränderter Form nicht entgegenstehen und wies daher den Einspruch zurück.

Im Einspruchsverfahren wurde inter alia folgender Stand der Technik berücksichtigt:

D1: EP-A-0 601 483 (Stand der Technik nach Artikel 54 (3) EPÜ),

D2: Ullmann's Encyclopedia of Industrial Chemistry (1990) 5. Aufl., Band A 15, 359 bis 391,

D3: W. Elser und R.D. Ennulat, Advances in Liquid Crystals (1976), 89 bis 93,

D4: H.J. Eberle et al., Liquid Crystals (1989), Band 5, 907 bis 916,

D5: EP-A-0 358 208 und

D6: DIN 55943.

IV. Die genannte Entscheidung der Einspruchsabteilung stellte fest, daß der (nur gegen die Ansprüche 6 und 8 erhobene) Vorwurf mangelnder Ausführbarkeit nach Artikel 83 EPÜ (Artikel 100 (b) EPÜ) unbegründet und der beanspruchte Gegenstand neu und erfinderisch sei (Artikel 100 (a) EPÜ).

Gegenüber D1 sei die Neuheit gegeben, weil die Erfindung plättchenförmige Pigmente ganz bestimmter Abmessungen betreffe, während D1 weder die Plättchenstruktur noch deren spezielle Dimensionen offenbare. Daß die Dimensionierung hinsichtlich des gewünschten blickwinkelabhängigen Farbumschlags ("Farbflop") und der Brillanz ein gezieltes Merkmal sei, bewiesen die von der Patentinhaberin in der mündlichen Verhandlung vorgelegten Farbmuster. Die Entscheidung erwähnt in diesem Zusammenhang auch, daß die Patentinhaberin als Nachweis für die Bedeutung der Plättchen-Dimensionen im Prüfungsverfahren sogenannte "Modellautos" vorlegte.

Auch gegenüber D5 sei die Neuheit gegeben, weil die in dieser Entgegenhaltung angegebene Verwendung der dort beschriebenen flüssigkristallinen Polyorganosiloxane "als Lackpigmente" weder zweifelsfrei ungeträgerte Pigmente, noch deren Dimensionen offenbare.

Gegenüber dem nächstliegenden Stand der Technik in D5 sei der Gegenstand des Streitpatents auch erfinderisch, weil die beanspruchte Lösung der bestehenden technischen Aufgabe, nämlich der Bereitstellung von Pigmenten mit vom Betrachtungswinkel abhängiger Farbigkeit und erhöhter Brillanz, gegenüber dieser Entgegenhaltung nicht naheliegend sei.

V. Gegen diese Entscheidung hat die Einsprechende unter gleichzeitiger Zahlung der Beschwerdegebühr am 1. März 2000 Beschwerde eingelegt. Die Beschwerdebegründung wurde mit Schriftsatz vom 5. Mai 2000 nachgereicht.

Mit der Beschwerdebegründung legte die Beschwerdeführerin zur Unterstützung ihrer Argumentation unter der Bezeichnung "D9" folgende Unterlagen ein:

D9: "Gutachtliche Stellungnahme von Dr. Norbert Mronga" samt den darin zitierten Anlagen A bis D:

Anlage A: Pigmente für die Lackindustrie", Expert- Verlag, 1988, Seiten 84, 85, 112, 113, 174 und 175,

Anlage B: DE-A-4 134 600,

Anlage C: US-A-4 434 010,

Anlage D: Pigment Handbook, Band I, John Wiley & Sons, 1973, Seite 872.

VI. In ihren schriftlichen Vorbringen und im Verlaufe der mündlichen Verhandlung am 11. Juli 2002 machte die Beschwerdeführerin im wesentlichen folgende Ausführungen:

i) Den zunächst schriftlich erhobenen Einwand, daß die angefochtene Entscheidung unter Verletzung von Artikel 113 (1) EPÜ ergangen sei, weil sie keine Möglichkeit zur Überprüfung der im Prüfungsverfahren präsentierten Modellautos hatte, die in der Entscheidung als Beweismittel berücksichtigt worden seien, hielt die Beschwerdeführerin in der mündlichen Verhandlung nicht mehr aufrecht.

ii) Der Gegenstand des Streitpatents stelle gegenüber D1 eine willkürliche Auswahl dar und sei daher nicht neu.

iii) Obwohl nicht explizit benannt, offenbare D1 zweifelsfrei plättchenförmige Pigmente mit vom Betrachtungswinkel abhängiger Farbigkeit. Diese folge daraus,

iii-1) daß die Farbigkeit der Pigmente nach D1 (Spalte 2, Zeilen 8 bis 14) auf einem Interferenzeffekt beruhe, wobei die Interferenzschicht aus orientierten, vernetzten flüssigkristallinen Substanzen mit chiraler Phase (d. h. cholesterischen LC-Polymeren) bestehe,

iii-2) daß Interferenzpigmente nach der DIN-Norm D6 (Seite 4, linke Spalte 2. und 7. Eintrag) Glanzpigmente und demnach vorwiegend plättchenförmig ausgebildet seien,

iii-3) daß gemäß D1 (Spalte 4, Zeile 22 bis Spalte 5, Zeile 7) bei der Herstellung der Pigmente die flüssigkristallinen Ausgangssubstanzen zur Ausbildung der optischen Eigenschaften zunächst notwendigerweise orientiert und zur Fixierung der Orientierung danach vernetzt werden,

iii-4) daß die in D1 offenbarte Orientierungsmethoden durch Aufrakeln auf eine Unterlage oder Scherung zwischen zwei Folien (Spalte 4, Zeilen 39. bis 46) automatisch zu flächigen Schichtstrukturen führen,

iii-5) daß die flächige Schichtstruktur nicht nur beim an die Vernetzung anschließenden Ablösen von der flexiblen Unterlage durch Abblättern (Spalte 5, Zeilen 8 bis 19), sondern auch

iii-6) bei der anschließenden Zerkleinerung für die letztlich angestrebte Funktion als Interferenzpigment erhalten bleiben müsse, weil

iii-7) nur die Plättchengeometrie sicherstelle, daß in einem fließfähigen Medium dispergierte Interferenzpigmente sich beim Auftrag zur Bildung einer z. B. Lackschicht in parallelen Lagen in Fließrichtung orientieren, was inter alia belegt sei von

iii-7.1) Anlage D (Seite 872, linke Spalte, 3. Absatz, 2. und 3. Satz) des "Gutachtens" D9 (dort: "Platelike particles readily orient in parallel layers if some type of motion is provided ... in a fluid state ..."),

iii-7.2) Beispiel 7 von D1 (Spalte 10, Zeile 44 bis Spalte 11, Zeile 15) durch die dort beschriebene grüne Farbe der Lackschicht, die nur bei paralleler Plättchenorientierung in Auftragsrichtung auftreten könne und im Zusammenhang damit auch

iii-7.3) vom Streitpatent selbst, das einerseits eine plättchenförmige Struktur der Pigmente fordere und anderseits z. B. in Beispiel 1, insbesondere Abschnitt B, (Spalte 14, Zeile 28 bis Spalte 15, Zeile 32) dasselbe Verfahren zu ihrer Herstellung wie gemäß Beispiel 7 von D1 verwende.

iv) Neben der Plättchengeometrie nehme D1 auch die beanspruchten Plättchendimensionen neuheitsschädlich vorweg.

v) Was die Korngröße (Durchmesser) betreffe, so offenbare D1 (Spalte 5, Zeilen 24 bis 28), daß diese je nach der erwünschten Anwendung in einem Bereich von etwa 10 mm bis 1 um, bevorzugt zwischen 5 mm (= 5000 um) und 5 um liegen könne. Aus dem Hinweis in D1 auf die Wahlfreiheit der Korngröße in einem sehr breiten Bereich je nach Anwendung ergebe sich die Unabhängigkeit der essentiellen Funktion der dort beschriebenen Pigmente (wie sie auch dem Streitpatent zugrundeliege), nämlich der Vermittlung einer vom Betrachtungswinkel abhängigen Farbigkeit (siehe Anspruch 1 von D1), von der Korngröße.

v-1) Dem patentgemäß gewählten Korngrößenbereich von 500 bis 5 um komme daher keine technische Relevanz im Sinne einer zielgerichteten Auswahl zu, zumal auch das Streitpatent (Spalte 9, Zeilen 12 bis 19), die Festlegung der konkreten Korngröße dem Fachmann je nach Anwendung anheim stelle.

v-2) Dies umsoweniger, als die Pigmentplättchen gemäß Beispiel 1 von D1 durch Klassierung durch ein Sieb der Maschenweite 100 um hergestellt werden und somit überwiegend im patentgemäß beanspruchten Korngrößenbereich von 5 bis 500 um liegen müssen.

vi) Was die Dicke der Pigmentplättchen betreffe, so gebe D1 (Spalte 5, Zeilen 28 bis 30) einen Bereich zwischen 1 und 100 um, vorzugsweise 5 bis 50 um an, wohingegen das Streitpatent einen Bereich von 3 bis 10 um verlange. Dieser "Auswahl" komme eine erfinderische Bedeutung aus folgenden Gründen nicht zu.

vi-1) Eine allgemeine Bemessungsregel für die Wahl der Dicke finde sich in D1 nicht; diesbezüglich stünden dem Fachmann zur Orientierung zur Verfügung:

vi-2) einerseits die einzige beispielhafte Dickenangabe von 15 um in D1, Beispiel 1B (Spalte 7, Zeile 38 bis Spalte 8, Zeile 22),

vi-3) und anderseits das allgemeine Fachwissen, wie es sich darstelle in

vi-3.1) D2 (Seite 379, rechte Spalte, Zeilen 23 bis 27), wo für cholesterische LC-Schichten angegeben sei, daß man mit einer Dicke von bis 10. um eine effiziente Lichtreflexion erzielt, und in

vi-3.2) D3 (Seite 91, Figur 13), wo die Abhängigkeit der selektiven Reflexion (SR) cholesterischer LC-Schichten von der Dicke der Probekörper in einem Bereich von etwa 5 um bis etwa 20 um graphisch dargestellt sei,

vi-3.3) welchen Druckschriften D2 und D3 der Fachmann somit einen zweckmäßigen Dickenbereich für cholesterische LC-Schichten entnehme, der sich jedenfalls mit dem patentgemäß spezifizierten Bereich von 3 bis 10 um überschneide.

vi-4) In diesem Zusammenhang müsse auch berücksichtigt werden, daß das Streitpatent selbst (Spalte 9, Zeilen 22 bis 27) angebe: "Die wirksame Farberscheinung ist bei Pigmenten mit einer Dicke unterhalb von 1 um abgeschwächt, während oberhalb einer Dicke von 20. um sich die homogene Ausrichtung der Moleküle zu cholesterischen Schichten vermindert."

vi-5) Zwar liege die Dicke der cholesterischen LC-Schicht gemäß Beispiel 1B von D1 mit 15 um über der Obergrenze von 10 um gemäß Anspruch 1 des Streitpatents, diese Dickendifferenz sei aber technisch unerheblich, weil

vi-5.1) das in D2 und D3 beschriebene allgemeine Fachwissen für cholesterische LC-Schichten mit selektiver Reflexion eine Dickenbereich etabliere, der eine technisch relevante Unterscheidung des gemäß Anspruch 1 des Streitpatents definierten Bereichs und der in Beispiel 1B von D1 offenbarten Dicke nicht zulasse, und

vi-5.2) weil es keinen Beleg für die der vorstehenden Schlußfolgerung widersprechende Behauptung der Beschwerdegegnerin einer technischen Relevanz der Auswahl des beanspruchten Dickenbereichs von 3 bis 10 um gebe, weder gegenüber der größeren Dicke von 15 um von Beispiel 1B von D1, noch gegenüber dem im Streitpatent selbst als technisch sinnvoll definierten Bereich von 1. bis 20 um (Spalte 9, Zeilen 22 bis 27).

vii) Zur Illustration der Größenverhältnisse der Plättchendimensionierung gemäß Anspruch 1 des Streitpatents im Vergleich zu der in D1 offenbarten vorzugsweisen Dimensionierung sowie zur Demonstration der behaupteten Nähe der Plättchendimensionen gemäß Beispiel 1B von D1 zur Plättchendimensionierung gemäß Anspruch 1 legte die Beschwerdeführerin in der mündlichen Verhandlung eine Graphik vor.

viii) Aus dem Vorstehenden folge, daß von den in T 279/89 (nicht im Abl. EPA veröffentlicht) für die Neuheitsprüfung eines ausgewählten Unterbereichs definierten drei Kriterien:

1) Kleinheit des Unterbereichs im Vergleich zu dem im Stand der Technik offenbarten Bereich,

2) weiter Abstand des Unterbereichs von dem im Stand der Technik durch Beispiele illustrierten Bereich, und

3) Zielgerichtetheit der Auswahl des Unterbereichs im Gegensatz zu Willkürlichkeit

jedenfalls die Kriterien 2) und 3) nicht erfüllt seien, denn weder könne - wegen fehlender technischer Relevanz des Dickenunterschieds von 5 um zwischen der Obergrenze von 10 um des in Anspruch 1 des Streitpatents spezifizierten Dicken-Unterbereichs und der Dicke von 15 um gemäß Beispiel 1B von D1 - dieser Abstand als "weit" beurteilt werden, noch könne aus den in den vorstehenden Punkten vi-3) und vi-4) ausgeführten Gründen abgeleitet werden, daß der Unterbereich von 3 bis 10 um zielgerichtet ausgewählt worden sei.

Gemäß den in der Entscheidung T 279/89 aufgestellten Kriterien sei der Gegenstand von Anspruch 1 des Streitpatents somit nicht neu gegenüber der Offenbarung von D1.

ix) Dieselbe Schlußfolgerung resultiere auch aus der Anwendung der Prinzipien von T 17/85 (Abl. EPA 1986, 406) auf den vorliegenden Fall, wonach ein teilweise von einem Vorzugsbereich des Standes der Technik vorweggenommener Zahlenbereich dann nicht mehr neu sei, wenn die Werte in den Ausführungsbeispielen des Stand der Technik nur knapp außerhalb des beanspruchten Zahlenbereichs liegen und dem Fachmann die Lehre vermitteln, daß er innerhalb des gesamten beanspruchten Bereichs arbeiten kann.

x) Analoges gelte auch im bezug auf T 247/91 (nicht im Abl. EPA veröffentlicht), die entschied, daß ein Temperatur-Unterbereich eines im Stand der Technik offenbarten Bereichs kein neues Merkmal darstelle, auch wenn im Stand der Technik keine Temperaturen in diesem Unterbereich exemplifiziert sind, weil es keinen Grund gab den Unterbereich als von der Offenbarung des Standes der Technik nicht miterfaßt zu betrachten.

xi) Der Gegenstand von Anspruch 1 des Streitpatents sei somit durch die Offenbarung der Druckschrift D1, die Stand der Technik nach Artikel 54 (3) EPÜ darstelle, neuheitsschädlich vorweggenommen.

xii) In ihrem schriftlichen Vortrag wies die Beschwerdeführerin noch darauf hin, daß der Patentgegenstand gegenüber der Entgegenhaltung D5 keine erfinderische Tätigkeit aufweise, weil dort die Verwendung von vernetzten, flüssigkristallinen Polysiloxanen als Lackpigment, d. h. in ungeträgerter Form, offenbart sei, und die zweckmäßige Dimensionierung der gemäß D5 zwangsläufig erhaltenen Pigmentplättchen für den Fachmann im Lichte der Offenbarungen von D2, D3 und D4 keines erfinderischen Aufwands bedürfe. Diese Schlußfolgerung werde nicht nur von D9, sondern auch von der Entscheidung T 434/98 (nicht im Abl. EPA veröffentlicht) gestützt, derzufolge die Offenbarung von D5 trägerlose Pigmente miteinschließe. Den von der Patentinhaberin im Einspruchsverfahren vorgelegten Farbmustern komme wegen der gleichzeitigen Abwandlung zweier Parameter (Dicke und Durchmesser der Pigmentteilchen) in den verglichenen Mustern keine Aussagekraft zu.

VII. In ihren Schriftsätzen vom 8. November 2000 und 13. Mai 2002 sowie im Verlaufe der mündlichen Verhandlung machte die Beschwerdegegnerin im wesentlichen folgende Ausführungen:

i) Die Neuheit gegenüber D1 sei gegeben durch die dort nicht offenbarte Kombination der Merkmale plättchenförmige Struktur, Dicke und Durchmesser der Pigmentteilchen. Die technische Relevanz und damit die Zielgerichtetheit der ausgewählten Parameter dieser Merkmalskombination ergebe sich aus einem besonders ausgeprägten Farbflop und einer großen Brillanz von mit solchen Teilchen hergestellten Lacken.

ii) Die obige Schlußfolgerung sei dadurch nicht beeinträchtigt, daß - insbesondere infolge der Offenbarung von Beispiel 1B von D1 - angenommen werden müsse, daß die Pigmente auch nach dem Mahlprozeß und der anschließenden Siebklassierung zumindest teilweise noch in Plättchenform, wenn auch mit reduzierter Korngröße, vorliegen.

iii) Die Anwendung der Auswahlkriterien der Entscheidung T 279/89 führe nicht zum Schluß, daß D1 neuheitsschädlich sei, weil das Beispiel 1B von D1 jedenfalls nicht die Bedingung erfülle, nahe am patentgemäß ausgewählten Unterbereich zu liegen, da die dort offenbare Pigmentdicke von 15. um erheblich weit entfernt sei von der Obergrenze des Unterbereichs von 10 um.

iv) Die Dickenkriterien, die in D2 und D3 für geträgerte cholesterische LC-Überzüge angegeben seien, können nicht auf die patentgemäßen ungeträgerten, plättchenförmigen Pigmente übertragen werden.

v) Auch sei der Gegenstand des Streitpatents gegenüber D5 neu und erfinderisch, weil diese Entgegenhaltung nur geträgerte Filme aus flüssigkristallinen Polysiloxanen offenbare und die Ablösung solcher Filme vom Träger und die Zerkleinerung des abgelösten Materials auf die beanspruchten plättchenförmigen Dimensionen dort weder offenbart sei, noch naheliege. Letzteres besonders, wenn man die komplizierte Herstellung trägerloser Pigmente gemäß D7 berücksichtige.

vi) Es sei weder Aufgabe der Patentinhaberin/ Beschwerdegegnerin den Beweis dafür zu führen, daß die beanspruchte Merkmalskombination gegenüber D1 eine zielgerichtete Auswahl darstelle, noch dafür, daß die Herstellung von trägerlosen Pigmenten für den Fachmann zum Prioritätszeitpunkt gegenüber D5 nicht naheliegend gewesen sei. Vielmehr liege die Beweislast für ihre diesbezüglichen Behauptungen bei der Beschwerdegegnerin.

VIII. Die Beschwerdeführerin beantragte die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und den Widerruf des europäischen Patents.

Die Beschwerdegegnerin beantragte, die Beschwerde zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

1. Die Beschwerde ist zulässig.

2. Der von der Beschwerdeführerin schriftlich erhobene Vorwurf (den sie allerdings in der mündlichen Verhandlung nicht weiter verfolgte: siehe Punkt VI i) supra), daß die angefochtene Entscheidung unter Verletzung von Artikel 113 (1) EPÜ ergangen sei, weil sie sich als Beweismittel auf im Prüfungsverfahren präsentierte "Modellautos" stütze, zu deren Überprüfung im Einspruchsverfahren keine Gelegenheit bestanden habe, ist jedenfalls unzutreffend, weil der entsprechende Hinweis in der angefochtenen Entscheidung nur erläuternden, aber keinen entscheidungserheblichen Charakter hat (siehe Abschnitt der Entscheidung: "Neuheit gegenüber D1").

3. Die von der Beschwerdeführerin mit der Entscheidungsbegründung vorgelegte "Gutachtliche Stellungnahme von Dr. Norbert Mronga" (D9) und die darin zitierten erstmals vorgelegten Druckschriften (Anlagen A bis D) werden entsprechend Artikel 114 (1) EPÜ zugelassen, weil sich diese Unterlagen auf die Interpretation des Offenbarungsinhalts von D5 beziehen, welche einen wesentlichen Aspekt der angefochtenen Entscheidung betrifft.

4. Stand der Technik

4.1. Entgegenhaltung D1 (Dokument gemäß Artikel 54 (3) EPÜ, gültig inter alia für die Vertragsstaaten CH, DE, FR, GB, IT, LI und SE)

Anspruch 1 dieser Entgegenhaltung betrifft Pigmente mit vom Betrachtungswinkel abhängiger Farbigkeit, die dadurch gekennzeichnet sind, daß sie aus orientierten dreidimensional vernetzten Substanzen mit flüssigkristalliner Struktur mit chiraler Phase (Anspruch 2: Organosiloxane, bei denen die Zahl der polymerisierbaren Gruppen mindestens zwei beträgt) sowie gegebenenfalls weiteren Farbstoffen und Pigmenten bestehen, wobei die gegebenenfalls vorhandenen weiteren Farbstoffe und Pigmente nicht als Träger für die orientierten dreidimensional vernetzten flüssigkristallinen Substanzen mit chiraler Phase dienen (zum Merkmal "Trägerlosigkeit" siehe auch Spalte 2, Zeilen 39 bis 42).

Die Pigmente können ausschließlich aus einer Interferenzschicht gebildet sein, die aus orientierten dreidimensional vernetzten flüssigkristallinen Substanzen besteht. Die Farbigkeit dieser Pigmente beruht somit ausschließlich auf einem Interferenzeffekt (Spalte 2, Zeilen 8 bis 16).

Die flüssigkristallinen Substanzen werden bei der Herstellung der Pigmente auf eine Unterlage aufgebracht, darauf vernetzt und danach von der Unterlage abgelöst (Spalte 3, Zeilen 3 bis 7). Die Orientierung erfolgt z. B. durch Aufrakeln auf eine Metall-, Kunststoff- oder Glasunterlage (Spalte 4, Zeilen 37 bis 41). Beim Ablösen von der Unterlage "blättert das spröde vernetzte Material von der Unterlage ab (Spalte 5, Zeilen 8 bis 19).

Das abgelöste Material wird z. B. durch Mahlen auf die gewünschte Korngröße mit einem Durchmesser von etwa 10. mm bis zu 1 um zerkleinert. Die bevorzugte Korngröße liegt bei 5 mm (=5000 um) bis 5 um. Die Dicke der Pigmente beträgt 1 bis 100 um, vorzugsweise 5 bis 50 um (Spalte 5, Zeilen 20 bis 33).

Beispiel 1 (Spalte 7, Zeile 12 bis Spalte 8, Zeile 22) beschreibt das Aufrakeln einer LC-Masse auf Polyorganosiloxan-Basis in einer Dicke von 15 um auf eine PET-Folie, das Orientieren der flüssigkristallinen Moleküle, die Strahlenvernetzung und das Ablösen der Beschichtung durch Umlenken der beschichteten Folie über eine Rolle. Das vom Träger abgelöste, überwiegend Plättchenform aufweisende vernetzte Material wird in einer Universalmühle zu einer pulverförmiger Fraktion gemahlen und anschließend durch ein Sieb der Maschenweite 100 um gesiebt.

Nach Beispiel 7 wird eine gemäß Beispiel 4 (analog zu Beispiel 1) hergestellte Pigmentfraktion zu einem Lack formuliert (Spalte 10, Zeile 44 bis Spalte 11, Zeile 15).

4.2. Entgegenhaltung D2

In dieser Referenz aus der Ullmann-Enzyklopädie (Abschnitt 2.6 "Thermotropic Cholesteric Liquid Crystals") ist auf Seite 379, rechte Spalte, Zeilen 26 bis 27 angegeben, daß eine effiziente Lichtreflexion von Lagen mit einer Dicke bis zu 10 um erhalten werden kann.

4.3. Entgegenhaltung D3

Figur 13, Seite 91 dieser Druckschrift "Selective Reflection of Cholesteric Liquid Crystals" illustriert die Abhängigkeit der Maximalwerte des selektiven Reflexionskoeffizienten (SR), des zirkulären Dichroismus (CD) und der optischen Rotationskraft (ORP) von der Dicke des Probekörpers im Bereich bis 50 um. Die sich für SR ergebende Kurve beginnt bei einer Dicke von etwa 6. um, steigt bis etwa 10 um steil an und flacht sich danach bis zu 20 um kontinuierlich ab.

4.4. Entgegenhaltung D6

Diese DIN-Norm definiert auf Seite 4, linke Spalte, 2. Eintrag, den Begriff "Glanzpigment" als ein "vorwiegend plättchenförmig ausgebildetes Pigment" und verweist im 7. Eintrag derselben Spalte auf den Begriff "Interferenzpigment", mit der Bedeutung "Glanzpigment, dessen farbgebende Wirkung ganz oder vorwiegend auf dem Phänomen der Interferenz beruht".

4.5. Anlage D des Dokuments D9

Die Sätze 2 und 3 des dritten Absatzes der linken Spalte von Seite 872 lauten: "Plättchenförmige Teilchen orientieren sich ohne weiteres in parallelen Lagen, wenn eine Art Bewegung erzeugt wird während das System in einem fließfähigen Zustand ist, z. B. Lackfluß bei Tauch-, Sprüh- und Walzenbeschichtung, oder Fließen von Plastikmaterial bei Extrusion und Spritzguß. Die Orientierung führt zur Anordnung der Plättchen in einer schichtartigen Struktur, die eine Tiefenreflexion ("reflection in depth") bedingt" (Übersetzung durch die Kammer).

5. Neuheit gegenüber der Entgegenhaltung D1

Dem Gegenstand von Anspruch 1 fehlt gegenüber D1 die Neuheit, weil die beanspruchte Merkmalskombination sich inhaltlich nicht von der Offenbarung dieser Druckschrift unterscheidet. Diese Schlußfolgerung betrifft alle im Streitpatent benannten Vertragsstaaten, die alle auch in D1 benannt sind.

5.1. Es ist unbestritten, daß sich sowohl das Streitpatent, als auch D1 auf Pigmente aus orientierten, vernetzten Substanzen mit flüssigkristalliner Struktur mit einer chiralen Phase beziehen (vgl. die jeweiligen Ansprüche 1). Entscheidend für die Beurteilung der Neuheit des Gegenstands von Anspruch 1 des Streitpatents ist somit die Frage der Übereinstimmung seiner restlichen Merkmale (Plättchenform, Dicke und Korngröße der Pigmente) mit der Offenbarung von D1.

5.2. Plättchenform der Pigmente

D1 offenbart nicht expressis verbis plättchenförmige Pigmentteilchen. Die Beschwerdegegnerin bestritt deshalb zunächst, daß die in D1 offenbarten Pigmente Plättchenform haben müssen, anerkannte aber letztlich in der mündlichen Verhandlung, daß sie - aus den in Punkt VI iii) von der Beschwerdeführerin dargelegten Gründen - zumindest teilweise in Plättchenform vorliegen müssen.

5.2.1. Ob und in welchem Umfang die gemäß D1 hergestellten Pigmente neben Plättchen auch Teilchen mit von der Plättchenform abweichender Geometrie enthalten, spielt für die Beurteilung der Neuheit keine Rolle. Dafür kommt es nur auf die Tatsache an, daß die Offenbarung von D1 Pigmentteilchen umfaßt, die dieser Bedingung von Anspruch 1 des Streitpatents entsprechen.

5.2.2. Der eventuelle Anteil nicht-plättchenförmiger Teilchen scheidet außerdem für den Neuheitsvergleich D1/Streitpatent aus, weil solche Teilchen wegen fehlender Ausrichtungsmöglichkeit in fließfähigen Medien (wie das Streitpatent verwendet auch D1 die Pigmente zur Farbgebung von fließfähigen Massen: z. B. D1, Anspruch 9; Streitpatent, Spalte 12, Zeilen 24 bis 38) keinen effektiven Beitrag zur Pigmentfunktion leisten können und somit nur den Charakter von Beimengungen haben.

5.2.3. Daß eine schlechte Ausrichtungsmöglichkeit durch unzureichende Plättchenform die Pigmentfunktion zumindest erheblich beeinträchtigt, geht sowohl aus D1, Spalte 4, Zeilen 22 bis 32, als auch aus dem Streitpatent, Spalte 9, Zeilen 28 bis 40, Spalte 11, Zeilen 38 bis 52, hervor.

5.2.4. Diesen negativen Effekt demonstrieren auch die von der Patentinhaberin/Beschwerdegegnerin während der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung präsentierten Farbmuster, die Ausfärbungen (Proben A und B) von zwei Pigmenten mit unterschiedlich stark ausgeprägter Plättchenform vergleichen:

FORMULE (Tabelle)

Aus diesen Experimenten geht hervor, daß die angestrebten Eigenschaften (deutlicher Farbflop, Brillanz) mit kleinerem Formfaktor schlechter werden.

5.3. Korngröße/Durchmesser der Pigmentplättchen

Aus den in Punkt VI v) zusammengefaßten Argumenten der Beschwerdeführerin folgt, daß die Offenbarung von D1 nicht nur einen bevorzugten Korngrößenbereich von 5 bis 5000 um umfaßt (Spalte 5, Zeilen 24 bis 28), sondern in Beispiel 1B auch die Herstellung von Pigmenten beschreibt (Spalte 7, Zeile 38 bis Spalte 8, Zeile 22), deren Korngröße kleiner als 100 um ist. Demgegenüber spezifiziert Anspruch 1 des Streitpatents den Durchmesser der Korngröße mit einem Bereich zwischen 5 und 500 um, also einem Unterbereich des vorgenannten D1-Bereichs.

5.4. Dicke der Pigmentplättchen

D1 gibt in Spalte 5, Zeilen 28 bis 30 eine Dicke zwischen 1 und 100 um, vorzugsweise 5 bis 50 um an. Der in Anspruch 1 des Streitpatents spezifizierte Bereich von 3 bis 10 um stellt einen Unterbereich des weitesten D1-Bereichs dar bzw. überlappt den D1-Vorzugsbereich von 5. bis 50 um.

Beispiel 1B von D1 offenbart eine Schichtdicke der auf die Trägerfolie aufgetragenen flüssigkristallinen Masse von 15 um. Die Parteien stimmen darin überein, daß diese Dicke im wesentlichen auch der der Pigmentplättchen sowohl vor, als auch nach dem Mahlen entspricht.

5.5. Für die Beurteilung der Neuheit des Gegenstandes des Streitpatents gegenüber D1 kommt es somit darauf an, ob die patentgemäß beanspruchte Kombination der Bereiche der Korngröße und der Dicke der Pigmentplättchen als neue Auswahl gelten kann.

Die Kammer ist aus folgenden Gründen zur Auffassung gelangt, daß dies nicht der Fall, und daß der Gegenstand von Anspruch 1 somit gegenüber D1 nicht neu ist.

5.5.1. Der Zweck von Artikel 54 EPÜ ist, den Stand der Technik von der Patentierung auszuschließen. Während die Neuheitsbeurteilung von individualisierten Gegenständen sich beim Vergleich mit dem Stand der Technik an konkret offenbarten Merkmalen orientieren kann, erfordert die Beurteilung von Kollektiven (z. B. Gruppen von durch eine allgemeine Formel charakterisierten chemischen Verbindungen; Gegenstandsgruppen, die durch Parameterbereiche charakterisiert sind) eine differenziertere Betrachtungsweise. Dazu gibt es eine umfangreiche Rechtsprechung (cf. Rechtsprechung der Beschwerdekammern des Europäischen Patentamts, 4. Auflage 2001, Seiten 83 bis 97).

Es hat sich dabei inter alia der Grundsatz entwickelt, daß es für die Anerkennung der Neuheit eines Gegenstandes, der durch eine Auswahl aus oder eine Überlappung mit einer Offenbarung des Standes der Technik charakterisiert ist, nicht auf allenfalls dort nicht offenbarte Werte eines Parameterbereichs bzw. Individuen eines Kollektivs ankommt, sondern darauf, ob der Auswahlbereich eine ihm eigene, technisch relevante Identität aufweist. Dazu wurden verschiedene Kriterien entwickelt (siehe z. B. T 12/90 (nicht im Abl. EPA veröffentlicht), T 124/87 (Abl. EPA 1989, 491), T 198/84 (Abl. EPA 1985, 209), T 279/89 (nicht im Abl. EPA veröffentlicht), T 17/85 (Abl. EPA 1986, 406), T 247/91 (nicht im Abl. EPA veröffentlicht), T 666/89 (Abl. EPA 1993, 495), T 26/85 (Abl. EPA 1990, 22)).

Weist das beanspruchte "Auswahl- bzw. Überlappungs-Kollektiv" gegenüber dem Stand der Technik keine solche eigene Identität auf, dann ist davon auszugehen, daß es durch den Stand der Technik im Sinne von Artikel 54 (2) EPÜ zugänglich gemacht worden ist.

Dieses Kriterium ist zu unterscheiden von der Frage nach dem Naheliegen einer beanspruchten Problemlösung (die sich für die Neuheitsbeurteilung nicht stellt), wenn deren Neuheit gegeben ist aufgrund eines die Identität abändernden Unterschieds, der in der oben zitierten Entscheidung T 12/90 (Gründe 2.7) als "neues Element" bezeichnet wird.

5.5.2. Die Überprüfung der Neuheit der patentgemäß beanspruchten Pigmentplättchen hängt somit davon ab, ob die Identität des Kollektivs, das durch die in Anspruch 1 spezifizierten Bereiche der Korngröße und Dicke der Pigmentplättchen spezifiziert ist, sich von der des in D1 offenbarten Pigmentplättchen-Kollektivs unterscheidet.

5.5.3. Zur Beantwortung dieser Frage muß untersucht werden, ob es beim Vergleich des Standes der Technik mit dem Streitpatent einen objektiv manifesten Anlaß zu der Vermutung eines solchen Identitätsunterschieds gibt.

5.5.4. Im vorliegenden Fall liegt Anlaß zu einer solchen Vermutung weder hinsichtlich der Korngröße, noch hinsichtlich der Dicke der Pigmentplättchen vor:

i) Wie gemäß D1 (Spalte 5, Zeilen 24 bis 27), so können auch gemäß der Beschreibung des Streitpatents (Spalte 9, Zeilen 16 bis 21) die Durchmesser der Korngröße je nach der erwünschten Anwendung zwischen etwa 10 mm und 1 um liegen. Da das Streitpatent - ebensowenig wie D1 - Aussagen über besondere Kriterien für die Wahl der Korngröße im Hinblick auf spezielle Anwendungen offenbart, kann nur davon ausgegangen werden, daß diese sich für den Fachmann ohne weiteres aus der gewählten Anwendung ergibt, und zwar unabhängig davon, ob eine Korngröße im Bereich 5 bis 500 um (beanspruchter Bereich des Streitpatents) oder eine im Bereich 5 bis 5000 um (bevorzugter Bereich von D1: Spalte 5, Zeilen 27 bis 28) betroffen ist. Daß die Kriterien, die für den breiteren Bereich von D1 gelten, auch für den engeren, patentgemäß beanspruchten Bereich Gültigkeit haben, ergibt sich auch daraus, daß der in Beispiel 1B des Streitpatents offenbarte Korngrößenbereich von < 100 um ein Mitglied beider Bereiche ist.

ii) Daß auch dem patentgemäß beanspruchten Dickenbereich von 3 bis 10 um eine hier relevante, besondere Identität abgeht, folgt einerseits aus dem sich aus physikalischen Gesetzmäßigkeiten ableitenden Wissen des Fachmanns, wonach die selektive Reflexion cholesterischer LC-Schichten zwischen etwa 6 und etwa 20 um liegt (D3, Seite 91, Figur 13) und jedenfalls Bereiche bis zu 10 um einschließt (D2, Seite 379, rechte Spalte, Zeilen 26 bis 27) und anderseits aus dem Streitpatent selbst, das in Spalte 9, Zeilen 22 bis 27 die technisch sinnvollen Grenzen für die Pigmentdicke von einer Untergrenze von 1 um bis zu einer Obergrenze von 20. um sieht. Die in Beispiel 1B von D1 realisierte Pigmentdicke von 15 um liegt genau in diesem Bereich, ebenso wie der patentgemäß beanspruchte Bereich von 3 bis 10 um. Der in D1 offenbarten Dicke von 15 um kann folglich keine andere technisch relevante Identität zuerkannt werden als z. B. der patentgemäßen Obergrenze von 10. um.

iii) Das Argument der Beschwerdegegnerin, das von D2 und D3 wiedergegebene Wissen sei wegen seiner Bezugnahme auf LC-Schichten auf Trägermaterialien nicht relevant für die hier zur Diskussion stehenden kleinen, ungeträgerten Pigmentplättchen, kann nicht überzeugen, weil weder die flächenmäßige Erstreckung einer cholesterischen LC-Schicht, noch ihr Verhaftetsein an einen Träger eine grundsätzliche Rolle für das in D2 und D3 referierte optische Verhalten spielt, das in gleicher Weise von D1 wie vom Streitpatent zur Farbgebung ausgenützt wird.

iv) Auch aus dem Hinweis im Streitpatent (Spalte 9, Zeilen 28 bis 45) auf die Vorteilhaftigkeit einer Plättchendicke von 3 bis 10 um und einer Korngröße von 10 bis 100 um im Hinblick auf die Orientierungsfähigkeit und damit Verarbeitbarkeit der Pigmente kann ein Argument für eine besondere Identität der einzelnen Größenbereiche nicht abgeleitet werden, weil sich diese Aussage auf bestimmte Größenverhältnisse der Parameter Dicke und Korngröße bezieht (siehe auch Streitpatent, Spalte 11, Zeilen 49 bis 52: "Formfaktor"), die aber kein Merkmal des Anspruchs 1 des Streitpatents sind.

v) Der Kammer liegen auch keine anderen Beweismittel, insbesondere keine experimentellen Daten, für eine von den Korngrößen- und Dickenbereichen gemäß D1 abweichende Identität der patentgemäß beanspruchten Bereiche vor. Die reine Behauptung der Beschwerdegegnerin, daß gemäß Anspruch 1 des Streitpatents ein besonders ausgeprägter Farbflop und eine besonders ausgeprägte Brillanz von Beschichtungen mit den beanspruchten Pigmenten auftrete, reicht angesichts der vorstehend dargelegten Faktenlage nicht aus, da die Beschwerdeführerin im vorliegenden Fall ihrer Beweispflicht durch die Vorlage einer logischen Kette von Argumenten genüge getan hat, die a priori plausibel erscheint, weil sie sich einerseits bezüglich des Interferenz- und Reflexionsverhaltens von LC-Schichten auf allgemein anerkannte physikalische Gesetzmäßigkeiten und anderseits auf Aussagen im Streitpatent selbst stützt.

vi) Demzufolge besteht kein Raum zu einer Vermutung, daß sich das hier relevante Interferenzverhalten cholesterischer LC-Pigmente in den patentgemäß beanspruchten Größenbereichen (Korngröße von 5 bis 500 um, Dicke von 3 bis 10 um) von dem Verhalten außerhalb dieses Bereichs, der von der Offenbarung von D1 umfaßt ist, unterscheidet.

5.5.5. Entgegen der Ansicht der Beschwerdegegnerin wird auch kein anderes Ergebnis erzielt, wenn die konkreten Auswahlkriterien der Entscheidung T 279/89 angewandt werden (siehe Punkte VI viii) und VII iii) supra).

Vielmehr erfüllt der Gegenstand von Anspruch 1 des Streitpatents keine der drei Neuheitsbedingungen, die diese Entscheidung aufgestellt hat: 1) Der ausgewählte Dickenbereich (3 bis 10 um) ist nicht klein im Vergleich zum D1-Vorzugsbereich von 5 bis 50 um, 2) angesichts der Tatsache, daß die Dicke von 15 um gemäß Beispiel 1B von D1 bezüglich des damit verbundenen Interferenzeffekts substanziell keinen Unterschied zu einer anspruchsgemäßen Dicke von 10 um erwarten läßt, kann der Dickeunterschied von 5 um nicht als "weiter Abstand" betrachtet werden, und 3) die beanspruchten Dimensionsbereiche der Pigmentplättchen können auch nicht als zielgerichtete Auswahl anerkannt werden, weil dazu keinerlei Belege vorliegen und das Streitpatent selbst einen Dickenbereich von 1 bis 20 um als technisch sinnvoll für die Verwendung der beanspruchten Pigmente als Interferenzfarbstoffe bezeichnet.

5.5.6. Die Schlußfolgerung einer fehlenden eigenen, technisch relevanten Identität der patentgemäßen Auswahlbereiche der Dicke und Korngröße der Pigmentplättchen, die von der Identität der in D1 offenbarten Bereiche abweicht, entspricht auch den in T 17/85 und T 247/91 aufgestellten Kriterien (siehe Punkte VI ix) und x) supra).

Ihre Behauptung, die Entscheidungen T 279/89, T 17/85 und T 247/91 stellten Einzelfallentscheidungen dar, denen die Kammer nicht folgen solle, weil ihnen eine "allgemeinen Linie" der Beschwerdekammern entgegenstehe, derzufolge als Stand der Technik nur konkret offenbarte Zahlenwerte zu berücksichtigen seien, hat die Beschwerdegegnerin nicht substantiiert. Da diese Auffassung der durchgängigen Praxis der Kammern widerspricht, wonach der Offenbarungsgehalt einer Druckschrift sich bei der Neuheitsprüfung nicht auf deren konkrete Ausführungsbeispiele beschränkt, sondern ihre allgemeine Erfindungsbeschreibung mitumfaßt, also auf die Gesamtoffenbarung abzielt, ist ihr kein Gewicht beizumessen.

5.6. Dem Gegenstand von Anspruch 1 des Streitpatents fehlt somit gegenüber der Offenbarung von D1 die Neuheit, weil den dort spezifizierten Korngrößen- und Dickenbereichen der Pigmentplättchen keine technisch relevante Identität zuerkannt werden kann, die diese Unter- bzw. Überschneidungs-Bereiche von den in D1 beschriebenen Bereichen unterschiede.

6. Da über einen Antrag nur als Ganzes entschieden werden kann, erübrigt sich bei dieser Sachlage die Prüfung der Patentfähigkeit der Gegenstände der weiteren unabhängigen Ansprüche 4, 6, 7 und 9.

7. Das Patent ist daher wegen fehlender Neuheit des Gegenstandes von Anspruch 1 gegenüber der Offenbarung von D1 zu widerrufen.

ENTSCHEIDUNGSFORMEL

Aus diesen Gründen wird entschieden:

1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.

2. Das Patent wird widerrufen.

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