R 0016/13 () of 8.12.2014

European Case Law Identifier: ECLI:EP:BA:2014:R001613.20141208
Datum der Entscheidung: 08 Dezember 2014
Aktenzeichen: R 0016/13
Antrag auf Überprüfung von: T 0379/10
Anmeldenummer: 03708206.2
IPC-Klasse: C07D 451/10
A61P 11/00
A61K 31/40
Verfahrenssprache: DE
Verteilung: B
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Bibliografische Daten verfügbar in: DE
Fassungen: Unpublished
Bezeichnung der Anmeldung: Kristallines Mikronisat des Tiotropiumbromids
Name des Anmelders: Boehringer Ingelheim Pharma GmbH & Co. KG
Name des Einsprechenden: NORTON HEALTHCARE LIMITED
Kammer: EBA
Leitsatz: -
Relevante Rechtsnormen:
European Patent Convention Art 112a(2)(c)
European Patent Convention Art 112a(4) Sent 2
European Patent Convention Art 113(1)
European Patent Convention Art 114(1)
European Patent Convention R 106
European Patent Convention R 109(2)(a)
European Patent Convention R 109(2)(b)
Patent Cooperation Treaty R 66
Schlagwörter: Recht, gehört zu werden, verletzt (ja)
von Amts wegen in der Entscheidungsbegründung herangezogene, im Verfahren nicht erörterte Gründe (ja)
Überprüfungsantrag begründet (ja)
Orientierungssatz:

Das Recht nach Artikel 113 (1) EPÜ, gehört zu werden, ist verletzt, wenn eine Beschwerdekammer zur Begründung ihrer Entscheidung ex officio im Verfahren nicht vorgebrachte Gründe heranzieht, ohne der dadurch benachteiligten Partei, Gelegenheit gegeben zu haben, zu diesen Gründen Stellung zu nehmen und, soweit die Patentinhaberin betroffen ist, entsprechende neue Anträge einzureichen, es sei denn, der Partei ist es nach dem Verfahrensablauf ersichtlich möglich gewesen, aus eigenem Fachwissen sich die Argumentation der Kammer zu erschließen.

Angeführte Entscheidungen:
R 0015/09
R 0018/09
R 0016/10
R 0021/10
R 0009/11
R 0015/11
R 0019/11
R 0007/12
R 0015/12
R 0003/13
Anführungen in anderen Entscheidungen:
R 0008/13
R 0002/14
R 0003/15
R 0008/15
R 0005/16
R 0006/16
R 0007/16
R 0008/17
R 0010/17
R 0006/18
R 0008/18
R 0001/19
R 0008/19
R 0009/20
R 0005/22
R 0024/22
T 0379/10
T 1378/11
T 0997/15
T 0862/16
T 2475/17

Sachverhalt und Anträge

I. Der beim Europäischen Patentamt am 25.7.2013 eingegangene Überprüfungsantrag richtet sich gegen die der Patentinhaberin/Beschwerdeführerin/Antragstellerin (im Folgenden nur Patentinhaberin) am 16.5.2013 zugestellte Entscheidung der Technischen Beschwerdekammer 3.3.01 vom 5.3.2013 (Az. T 0379/10), mit der der Widerruf des angegriffenen Patents Nr. 1487832 aufgehoben und das Patent in der Fassung des 2. Hilfsantrags aufrechterhalten worden ist.

1. Anspruch 1 des Hauptantrags, den die Beschwerdekammer wegen mangelnder erfinderischer Tätigkeit für nicht gewährbar erachtet hat, betrifft ein kristallines Mikronisat von Tiotropiumbromid, das in näher bezeichneten Bereichen durch folgende Parametern gekennzeichnet ist: Partikelgröße, spezifischer Oberflächenwert, spezifische Lösungswärme und Wasser-gehalt.

2. In der Entscheidungsbegründung ging die Beschwerdekammer von dem in der Druckschrift D25 offenbarten kristallinen Mikronisat von Tiotropiumbromid als nächstkommendem Stand der Technik aus. Im Hinblick auf die Definition der gelösten technischen Aufgabe hielt sie allerdings die von der Patentinhaberin bereits im Prüfungsverfahren eingereichten, in D11A dokumentierten Vergleichsversuche für unzurei-chend, um die behauptete bessere Lagerstabilität des beanspruchten kristallinen Mikronisats von Tiotropiumbromid zu stützen. Dazu (vgl. Punkt 4.5.1 der Gründe) führte sie aus:

"Diese Ergebnisse [d.h. die Ergebnisse der in der Eingabe D11A dokumentierten Vergleichsversuche] zeigen, dass während der feuchten Lagerung die Abnahme des Feinanteils bei dem Mikronisat, welches aus kristallinem Tiotropiumbromidmonohydrat erhalten wurde, geringer ist als bei dem Vergleichsprodukt gemäß dem Stand der Technik.

Jedoch ist im vorliegenden Anspruch 1 das Mikronisat nicht mit Hinweis auf einen bestimmten Ausgangsstoff mit einem bestimmten Wassergehalt definiert, sondern durch die unter dem obigen Punkt 4.4 gelisteten Parameter. In dem Dokument (11A) sind diese Parameter nicht vollständig angegeben. So fehlen jegliche Angaben zu den Parametern (ii) bis (iv).

Folglich sind diese Vergleichsversuche nicht geeignet, um glaubhaft zu belegen, dass die behauptete verbesserte Lagerstabilität ursächlich mit den anspruchsgemäßen Parameterwerten verknüpft ist."

Die Beschwerdekammer sah infolge dessen die zu lösende Aufgabe darin, ein weiteres kristallines Mikronisat von Tiotropiumbromid bereitzustellen. Die beanspruchte Lösung der umformulierten Aufgabe beruhe nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit, weil sich die im Anspruch angegebenen Parameter zur Partikelgröße innerhalb des in der Druckschrift D25 vorgeschlagenen Bereichs bewegten und von der Patentinhaberin "nicht belegt [wurde], dass die restlichen Parameter in Anspruch 1 nicht innerhalb der üblichen Bereiche für kristalline Mikronisate liegen" (vgl. Punkt 4.7, dritter Absatz der Gründe).

3. Zur Einführung und Erörterung der von der Patentinhaberin vorgelegten Vergleichsversuche nach D11A im Einspruchs- und Einspruchsbeschwer-deverfahren hat die Große Beschwerdekammer Folgendes festgestellt:

Die Einsprechende/Beschwerdegegnerin/Antragsgegnerin (im Folgenden nur Einsprechende) erklärte in der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung ihr Einverständnis mit der Berücksichtigung des Dokuments D11A (vgl. Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 11.12.2009, Seite 1, Absatz 8), welches die Patentinhaberin zum Nachweis der erfinderischen Tätigkeit bereits mit Eingabe vom 14.10.2003 PCT-Verfahren eingereicht hatte. In der Widerrufsentscheidung der Einspruchsabteilung spielte D11A keine Rolle. Sie hielt ausgehend von D2 Anspruch 1 des Haupt- und des Hilfsantrags ungeachtet der Eingabe D11 (=D11A) für naheliegend.

4. In ihrer Beschwerdebegründung vom 26.4.2010 vertrat die Patentinhaberin die Auffassung, D2 könne keinesfalls als nächstliegender Stand der Technik angesehen werden, sondern allein D24. Zum Beleg einer dem Patent zugrundeliegenden erfinderischen Tätigkeit verwies sie auf ihre früheren Ausführungen und auf die in D11A dokumentierten Vergleichsversuche. Dem widersprach die Einsprechende und verteidigte weiterhin D2 als nächstliegenden Stand der Technik.

Die Beschwerdekammer teilte im Anhang der Ladung zur mündlichen Verhandlung am 5.3.2013 ihre vorläufige Einschätzung des Falles mit. Dort hieß es, die Patentinhaberin trete der Annahme von D2 als nächstliegendem Stand der Technik entgegen. Wörtlich fuhr die Kammer, den Vortrag der Patentinhaberin referierend, fort (vgl. Seite 4, 1. Absatz):

"Stattdessen weist der Beschwerdeführer in der Beschwerdebegründung zur Stützung einer erfinderischen Tätigkeit auf das Dokument (11A) hin. Darin werden als Vergleichssubstanzen "Proben A-C, welche durch Mikronisierung der Tiotropiumbromid-Modifikation nach D1 erhalten wurden", verwendet. Darin bezeichnet "D1" EP?A?O 418 716; dies wird als Dokument 24 beigefügt (vgl. auch Streitpatent Absatz (0002)). Der Vollständigkeit halber ist zudem WO 00/47200 beigelegt (Dokument (25)), als beispielhaft dafür, dass Mikronisate des Tiotropiumbromids gemäß Dokument (24) zum Prioritätszeitpunkt bekannt waren (vgl. ...)."

In ihrer Stellungnahme vom 4.12.2012 zum Ladungszusatz der Kammer legte die Patentinhaberin erneut dar, weshalb nach ihrer Auffassung D2 als nächstliegender Stand der Technik nicht in Betracht komme, sondern allein D24, demgegenüber das erfindungsgemäß mikronisierte und konditionierte Tiotropiumbromid, wie es D11A offenbare, eine verbesserte Lagerstabilität aufweise.

5. In der mündlichen Verhandlung vor der Beschwerdekammer bekräftigten die Patentinhaberin und die Einsprechende ihre Argumentation zu D24 bzw. zu D2 als nächstliegendem Stand der Technik, die Patentinhaberin zusätzlich die Bedeutung der D11A für den Nachweis einer erfinderischen Tätigkeit infolge der verbesserten Lagerstabilität der Erfindung (vgl. Punkt XVI, Seite 7 der Entscheidung).

6. Aus dem Protokoll der mündlichen Verhandlung und aus der zu Beweiszwecken vorgelegten Verhandlungsmitschrift des Vertreters der Patentinhaberin (dort S. 3-8) geht hervor, dass dort nur über D2, D24 oder D25 als nächstliegendem Stand der Technik diskutiert worden ist (vgl. Seite 2, 2. Absatz des Protokolls) sowie auch generell über D11A, nicht aber über eine mögliche Unvollständigkeit der dort angegebenen Parameter.

7. Die Beschwerdekammer gab nach Beratung bekannt, dass sie Anspruch 1 des Hauptantrags ausgehend von D25 nicht für erfinderisch halte. Die dafür maßgeblichen Gründe nannte sie nicht. Erst nach der Erörterung und Beratung des von ihr ebenfalls nicht für erfinderisch gehaltenen Anspruchs 1 des Hilfsantrags 1 erläuterte die Kammer, weshalb nach ihrer Auffassung D11A nicht die erfinderische Tätigkeit des absoluten Stoffanspruchs 1 stütze. Die nähere schriftliche Begründung dafür ist oben unter I.2 wörtlich wiedergegeben.

II. Die Patentinhaberin hat mit ihrem Überprüfungsantrag geltend gemacht, die Beschwerdekammer habe ihr in schwerwiegender Weise das rechtliche Gehör versagt (Artikel 112a (2) c), 113 (1) EPÜ), indem sie die Schutzfähigkeit des Haupt- und ersten Hilfsantrags wegen fehlender erfinderischer Tätigkeit verneint habe, ohne dass die dafür maßgeblichen Gründe im Verfahren benannt und erörtert worden wären.

1. Dies gelte namentlich für die nicht diskutierte Auffassung der Kammer, die in D11A gezeigten Versuchsdaten stützten die erfinderische Tätigkeit nicht. Etwas anderes ergebe sich weder aus dem Sachverhalt der angegriffenen Entscheidung noch aus den Anträgen der Parteien noch aus dem Protokoll der mündlichen Verhandlung und schließlich auch nicht aus der von ihrem Vertreter schriftlich aufgezeichneten Verlauf der mündlichen Verhandlung. Wegen des unterbliebenen Hinweises der Kammer auf die Gründe, weshalb sie die erfinderische Tätigkeit des Hauptantrags nicht aus D11A ableite, habe sie als Patentinhaberin keine Gelegenheit gehabt, eventuelle Missverständnisse auszuräumen und den Bedenken der Kammer Rechnung tragende Hilfsanträge einzureichen.

2. Im Einzelnen hat sie ausgeführt: In der schriftlichen Begründung ihrer Entscheidung habe die Beschwerdekammer zur Überraschung der Parteien darauf abgestellt, D11A enthalte zwar Angaben zur Partikelgröße und Partikelgrößenverteilung, lasse jedoch Angaben zum spezifischen Oberflächenwert, zur spezifischen Lösungswärme sowie zum Wassergehalt des Tiotropiumbromidmikronisats nach Anspruch 1 vermissen. Deshalb seien die dort dokumentierten Vergleichsversuche nicht geeignet, die gegenüber dem Stand der Technik verbesserte Lagerqualität des erfindungsgemäßen Tiotropiumbromidmikronisats zu belegen.

2.1 Dabei habe die Kammer außer Acht gelassen, dass die in D11A untersuchten Proben 1-3 unschwer als Proben des erfindungsgemäßen Tiotropiumbromidmikronisats zu identifizieren gewesen seien, welche durch die in Anspruch 1 des Streitpatents definierte Partikelgröße, den darin definierten spezifischen Oberflächenwert, die spezifische Lösungswärme sowie einen entsprechenden Wassergehalt gekennzeichnet seien. Durch die Identifizierung der Proben 1-3 in D11A als solche des erfindungsgemäßen Tiotropiumbromidmikronisats würden die in Anspruch 1 angegebenen Parameter implizit auch in D11A offenbart. Damit sei der Unterschied im Wassergehalt gegenüber dem Stand der Technik auch ohne ausdrückliche Erwähnung der Parameter in diesem Dokument offensichtlich gewesen.

2.2 Anders als von der Beschwerdekammer ersichtlich angenommen, komme es nicht darauf an, ob die Werte für die Oberfläche sowie für die Lösungswärme inner- oder außerhalb derjenigen für kristalline Mikronisate lägen. Die in Anspruch 1 des Streitpatents definierten Parameter dienten in ihrer Gesamtheit der Beschreibung und der Charakterisierung des erfindungsgemäßen Tiotropiumbromidmikronisats, das sich von dem des Standes der Technik im Wassergehalt unterscheide.

2.3 Auf diesen Unterschied gegenüber dem Stand der Technik habe sie als Patentinhaberin in der mündlichen Verhandlung nachdrücklich hingewiesen. Die Beschwerdekammer habe aber den Unterschied weder in Frage gestellt noch Bedenken zu den fraglichen Parametern I–III geäußert noch im Übrigen zu erkennen gegeben, dass es ihr auf eine explizite Offenbarung der Parameter des Anspruchs 1 in D11A ankomme. Deshalb habe sie als Patentinhaberin keine Gelegenheit erhalten, sich zu diesem Punkt zu äußern und die Bedenken der Kammer zu zerstreuen.

3. Da sie somit zu entscheidungserheblichen Aspekten des Falles wie den Parametern I–III in D11A nicht habe Stellung nehmen können, habe ihr die Beschwerdekammer das rechtliche Gehör in schwerwiegender Weise versagt. Die angegriffene Entscheidung stelle sich für sie als eine Überraschungsentscheidung dar, zumal die dort angeführten Argumente auch im Einspruchsverfahren niemals eine Rolle gespielt hätten.

4. Die Beschwerdekammer sei auch nach Artikel 15(4) VOBK verpflichtet gewesen, ihre Einschätzung des Falles den Parteien zu offenbaren. Dies gelte umso mehr, als die überraschenden Entscheidungsgründe nicht einmal von der Einsprechenden vorgetragen worden seien. Vielmehr beruhten sie auf einer mit den Parteien nicht erörterten Argumentation, die auf dem von der Beschwerdekammer selbst eingeführten Dokument D25 basiere. Derartige Umständen begründeten eine Hinweispflicht der Kammer, zumal sie als Patentinhaberin stets deutlich gemacht habe, dass sich die in D11A dokumentierten Vergleichsversuche auf den Gegenstand des Anspruchs 1 des Hauptantrags bezögen und dessen Schutzfähigkeit belegten. Ihr Vortrag werde erhärtet durch die vorgelegte Mitschrift ihres Vertreters über den Ablauf der mündlichen Verhandlung.

5. Sie befinde sich somit in der gleichen Situation wie die Antragstellerin in dem erfolgreichen Überprüfungsverfahren in der Sache R 15/11.

6. Ihrer Rügepflicht nach Regel 106 EPÜ habe sie nicht nachkommen können, da der nunmehr geltend gemachte Verfahrensmangel des fehlenden rechtlichen Gehörs erst mit der Zustellung der Entscheidung offenbar geworden sei.

III. Die Patentinhaberin hat beantragt,

- die angefochtene Entscheidung aufzuheben und das Verfahren vor der Beschwerdekammer wiederzueröffnen;

- die Mitglieder der Beschwerdekammer, die an der angefochtenen Entscheidung mitgewirkt haben, zu ersetzen;

- mündlich zu verhandeln.

IV. In einer ersten mündlichen Verhandlung am 21.3.2014 hat die Große Beschwerdekammer in einer Besetzung nach Regel 109 (2) a) EPÜ entschieden, das Verfahren in einer Besetzung nach Regel 109 (2) b) EPÜ fortzusetzen.

V. Die seitdem verfahrensbeteiligte Einsprechende hat den Antrag gestellt, den Überprüfungsantrag zurückzuweisen und sich zur Sache wie folgt geäußert:

1. Eine Verletzung des rechtlichen Gehörs der Patentinhaberin liege nicht vor. Sie könne nur erfolgreich geltend gemacht werden, wenn es der Patentinhaberin gelänge nachweisen, dass die zu überprüfende Entscheidung auf Gründen beruhe, die sie nicht gekannt habe und zu denen sie nicht habe Stellung nehmen können. Auch bestehe kein kausaler Zusammenhang zwischen dem behaupteten Verfahrensfehler und der endgültigen Entscheidung. Die Patentinhaberin habe unzweifelhaft ausreichend Gelegenheit erhalten, zu allen entscheidungserheblichen Punkten Stellung zu nehmen. Eine Hinweispflicht der Kammer habe nach der ständigen Rechtsprechung der Beschwerdekammern nicht bestanden.

2. Die Patentinhaberin argumentiere in ihrem Überprüfungsantrag, die Partikelgröße, die Oberfläche und die Lösungswärme seien unverzichtbare Bestandteile bei der Mikronisierung, weshalb der Kammer habe klar sein müssen, dass die Beispiele in D11A sich lediglich in ihrem Wassergehalt unterschieden. Dieser Vortrag stehe in Widerspruch zu ihrer Argumentation im Einspruchsverfahren. Dort habe sie vorgetragen, sämtliche in Anspruch 1 genannten Merkmale seien für die Charakterisierung des beanspruchten Mikrosinats wesentlich. Folglich könne die Patentinhaberin schon nach ihrem eigenen Vorbringen nicht überrascht gewesen sein, als die Kammer nicht davon ausgegangen sei, dass diese Parameter allein auf der Grundlage ihrer Partikelgröße gemäß D11A vorlägen. Im Übrigen wäre es die Aufgabe der Patentinhaberin gewesen, die Kammer davon zu überzeugen, dass nach den Daten in D11A das dem Patent zugrundeliegende Problem gelöst werde. Die Kammer habe somit zu Recht keinen Erklärungsbedarf gesehen, weshalb sie die fraglichen Daten für unzureichend erachte.

3. Eine Parallele zu der Fallgestaltung in der Sache R 15/11 sehe sie nicht.

Entscheidungsgründe

Zulässigkeit des Antrags

1. Der Überprüfungsantrag ist rechtzeitig unter Einzahlung der vorgeschriebenen Gebühr eingelegt worden (Artikel 112a (4) Satz 2 EPÜ). Er erfüllt auch alle übrigen Zulässigkeitsvoraussetzungen nach Artikel 112a in Verbindung mit Regel 107 EPÜ. Die erforderliche Rüge eines schwerwiegenden Verfahrensmangels nach Regel 106 EPÜ hat die Antragstellerin während des Verfahrens nicht vorbringen können. Denn sie stützt ihren Antrag darauf, dass sie von der Versagung des rechtlichen Gehörs erst mit der Zustellung der schriftlichen Begründung der angegriffenen Entscheidung Kenntnis erlangt hat (Regel 106 EPÜ in fine).

Begründetheit des Antrags

2. Zur Beantwortung der Frage, ob der Patentinhaberin in dem Verfahren vor der Beschwerdekammer das rechtliche Gehör nach Art. 112a (2) c, 113 (1) EPÜ in schwerwiegender Weise versagt worden ist, bedarf es einer sorgfältigen Bewertung des Ablaufs des Einspruchs- und des Einspruchsbeschwerdeverfahrens im Hinblick auf die Einführung und Erörterung des Dokuments D11A auf der Grundlage der Akten, einschließlich der inhaltlich unbestrittenen zu den Akten gereichten Skizzierung des Ablaufs der mündlichen Verhandlung durch den Vertreter der Patentinhaberin.

2.1 Unter Punkt 4.5 der angegriffenen Entscheidung geht es darum, ob die im Patent definierte Aufgabe durch den beanspruchten Gegenstand gelöst und der Nachweis dafür durch D11A erbracht wird. Die Beschwerdekammer hat das verneint. Sie hat unter Punkt 4.5.1 die in D11A dokumentierten Vergleichsversuche analysiert und ist zu der oben unter I.2 zitierten Schlussfolgerung gekommen, dass die Erfindung die angegebene Aufgabe nicht löse.

2.2 Der dafür maßgebliche Grund, D11A gebe die Parameterwerte des mit dem Stand der Technik verglichenen Produkts unvollständig wieder, so dass die dort dokumentierten Vergleichsversuche zur Stützung der geltend gemachten verbesserten Stabilität und zur Bejahung einer erfinderischen Tätigkeit nicht ausreichten, wurde jedoch nach den Feststellungen der Großen Beschwerdekammer in dem gesamten, der Entscheidung vorausgegangenen Verfahren nicht angesprochen. Er ist weder von den Parteien vorgetragen worden, noch hat ihn die Kammer von sich aus zur Sprache gebracht, noch ist er in der mündlichen Verhandlung erörtert worden. Dies hat die Einsprechende im vorliegenden Verfahren nicht geleugnet, sondern sogar implizit durch ihren Vortrag bestätigt (vgl. S. 3, Punkt 15 ihrer Eingabe vom 17.6.2014).

3. Wie von der Einsprechenden zutreffend vorgetragen, hat die Große Beschwerdekammer in Verfahren nach Artikel 112a EPÜ seit ihrer ersten Überprüfungsentscheidung geurteilt, dass zur Wahrung des rechtlichen Gehörs nach Artikel 113 (1) EPÜ die Parteien nicht im Vorhinein über alle denkbaren Entscheidungsgründe informiert werden müssten (seit R 0001/08 vom 15. Juli 2008). Daher obliegt einer Beschwerdekammer nicht die Verpflichtung, in der mündlichen Verhandlung alle in der späteren Entscheidung angestellten Erwägungen anzusprechen und mit den Parteien zu diskutieren, solange deren Erheblichkeit im Verfahren zumindest deutlich geworden ist und die Kenntnis von ihrer Bedeutung bei einer technisch und patentrechtlich vorgebildeten Partei vorausgesetzt werden kann.

3.1 Daran hat die Große Beschwerdekammer in ständiger Rechtsprechung (siehe die zahlreichen Nachweise in Rechtsprechung der Beschwerdekammern des Europäischen Patentamts, 7. Aufl. 2013, IV.E.9°(iv), S. 1220 letzter Absatz) festgehalten, wenngleich die einschlägigen Formulierungen dazu in den Entscheidungen mitunter voneinander abweichen. So ist von "jedem möglichen Argument" die Rede (R 0007/12 vom 6. Dezember 2013 Nr. 13 der Gründe), von "Gründen, die der Entscheidung zugrunde liegen" (R 0018/09 vom 27. September 2010 Nr. 15 der Gründe), von den "entscheidenden Gründen" (R 0016/10 vom 20. Dezember 2010 Nr. 2.2.4 der Gründe) und von "allen absehbaren Gründen", die den Parteien im Lichte von Artikel 113 (1) EPÜ nicht vor der Verkündung einer Entscheidungen haben mitgeteilt werden müssen.

3.2 Dieser Grundsatz beansprucht nicht allein Geltung für die Gründe einer Entscheidung, sondern auch – wie hier - für die Interpretation einer Passage zum Stand der Technik, selbst wenn sie nur einen Teil der Entscheidungsgründe betrifft, für diese aber von ausschlaggebender Bedeutung sein kann (R 0019/11 vom 2. Oktober 2012 Nr. 2.2 der Gründe; R 0015/12 vom 20. Dezember 2012 Nr. 5a der Gründe).

3.3 Demnach ist das Recht, gehört zu werden, gewahrt, wenn eine Partei die Gelegenheit erhalten hat, sich zu den entscheidungserheblichen Gesichtspunkten des Falles und den relevanten Passagen zum Stand der Technik zu äußern, wenngleich die Kammer aus der Erörterung der vorgebrachten Gründe letztlich ihre eigenen Schlüsse ziehen können muss (R 0015/12 vom 11. März 2013 Nr. 5a der Gründe). Dies bedeutet, dass die Kammer ihre Entscheidung nur auf Gründe stützen darf, die im Beschwerdeverfahren angesprochen worden sind und deshalb die Parteien nicht überrascht haben konnten (R 0015/09 vom 5. Juli 2010 Nr. 4.6 der Gründe; R 0021/10 vom 16. März 2011 Nr. 2.3 der Gründe; R 0003/13 vom 30. Januar 2014 Nr. 2.2 und 2.6 der Gründe).

4. Das Verbot von Überraschungsentscheidungen mag keine Schwierigkeiten bereiten, wenn in inter partes Verfahren jede Partei ihre Argumentation uneingeschränkt vorträgt und die Beschwerdekammer sich am Ende der Verhandlung aus dem wechselseitigen Vorbringen ihre eigene Meinung bildet.

4.1 Der vorliegende Sachverhalt wirft jedoch die Frage auf, ob es mit Artikel 113 (1) EPÜ im Einklang steht, wenn, wie nach dem unter I.3 zusammengefassten Verfahrensablauf, eine Beschwerdekammer ihre Entscheidung auf Gründe stützt, die von keiner der Parteien in das Verfahren eingeführt und auch von der Kammer selbst nicht zur Diskussion gestellt worden sind, obwohl die von der Sichtweise der Kammer benachteiligte Partei eine erkennbar gegenteilige Auffassung vertritt.

4.2 Bereits die Widerrufsentscheidung der Einspruchsabteilung hat sich entgegen der Auffassung der Patentinhaberin zum nächstliegenden Stand der Technik auf die Einspruchsschrift vom 8.5.2008 gestützt und die erfinderische Tätigkeit ausgehend von D2 in Verbindung mit D4 und D7 im Ergebnis verneint.

4.3 Dagegen hat sich die Patentinhaberin im Beschwerdeverfahren insofern erfolgreich gewehrt, als die Kammer in ihrer Entscheidung zu dem Schluss gekommen ist, dass D2 "kein Mikronisat von kristallinem Tiotropiumbromid oder dessen Hydraten unmittelbar und eindeutig, sei es explizit oder implizit, offenbart" (vgl. Punkt 4.2.2, letzter Absatz). Stattdessen hat sie D25 als nächstliegenden Stand der Technik angesehen, weil diese Druckschrift als einziges der zur Auswahl stehenden Dokumente ein kristallines Mikronisat von Tiotropiumbromid offenbare (vgl. Punkt 4.2.4).

Allerdings hat die Kammer der wiederholt vorgebrachten Argumentation der Patentinhaberin keine Beachtung geschenkt, nach der ausgehend von D24 das bereits im Prüfungsverfahren eingereichte Dokument D11A die verbesserte Lagerstabilität der Erfindung belege.

5. In einem gegen eine Widerrufsentscheidung gerichteten Einspruchs-beschwerdeverfahren obliegt es der Beschwerdekammer zu prüfen, ob die Widerrufsgründe stichhaltig sind oder ob dem Antrag und den dazu vorgebrachten Gründen folgend die angefochtene Entscheidung aufzuheben und das Patent wie beantragt aufrechtzuerhalten ist.

5.1 Das ist hier nicht geschehen. Vielmehr hat die Beschwerdekammer in ihrem Ladungszusatz von sich aus die Vergleichsversuche in dem Dokument D11A, das von der Patentinhaberin bereits im Prüfungsverfahren und ein weiteres Mal mit der Beschwerdebegründung zum Beleg der erfinderischen Tätigkeit vorgelegt worden ist, kommentarlos erwähnt und die Dokumente D24 und D25 in das Verfahren eingeführt. Die Begründung der Entscheidung, weshalb Anspruch 1 des Hauptantrags die erfinderische Tätigkeit fehle, leitet sich auch nicht unmittelbar aus einem Angriff der Einsprechenden ab. Dies lässt nach Auffassung der Großen Beschwerdekammer den Schluss zu, dass die maßgeblichen Gründe der angegriffenen Entscheidung weitgehend auf eigenen Erwägungen der Beschwerdekammer im Sinne von Artikel 114 (1) EPÜ beruhen.

5.2 Dagegen ist grundsätzlich nichts einzuwenden. Wenn die Beschwerdekammer jedoch entscheidungserhebliche Überlegungen anstellt, die bisher im Verfahren von keiner Seite angesprochen worden sind, hätte sie diese den Parteien im Ladungszusatz oder spätestens in der mündlichen Verhandlung zur Kenntnis bringen müssen. Etwas anderes gilt allenfalls, wenn die Kammer berechtigterweise hätte annehmen dürfen, die Patentinhaberin und die Einsprechende bzw. ihre Vertreter würden ohne Zweifel aufgrund ihres Fachwissens und ihrer Erfahrung mit Vergleichsversuchen in Patentangelegenheiten von sich aus die fragliche Argumentation der Kammer erkennen und in ihren Parteivortrag einbeziehen können.

5.3 Davon kann hier nicht ausgegangen werden. Denn die Patentinhaberin hat ersichtlich während des gesamten Verfahrens die Auffassung vertreten, die in D11A dokumentierten Vergleichsversuche der mit dem Stand der Technik verglichenen Proben seien dort stets als erfindungsgemäßes kristallines Mikronisat von Tiotropiumbromid bezeichnet worden bzw. als durch Mikronisierung von kristallinem Tiotropiumbromid-Monohydrat, wie es die Erfindung vorsehe. Diese Proben seien folglich eindeutig wie im Streitpatent beschrieben hergestellt worden und wiesen damit zwingend auf die Parameterwerte in Anspruch 1 hin.

5.4 Eine Erörterung der gegenteiligen Auffassung der Kammer, auf der ihre Entscheidung beruht, lässt sich dem Ablauf des Verfahrens an keiner Stelle entnehmen. Hinzu kommt, dass das von der Patentinhaberin vertretene Verständnis der D11A im Verfahren weder von der Einsprechenden noch von der Kammer jemals in Frage gestellt worden ist. Dies musste bei der Patentinhaberin die Vorstellung hervorrufen, an ihrer Interpretation der D11A bestünden keine Zweifel. Deshalb hat sich ihr keine Möglichkeit eröffnet, die Auffassung der Kammer, in D11A seien die Parameter des mit dem Stand der Technik verglichenen, erfindungsgemäßen Mikronisats nicht vollständig angegeben bzw. die drei letzten in Anspruch 1 aufgelisteten Parameter fehlten vollständig, zu erkennen und sich dazu zu äußern.

5.5 Diese Einschätzung lässt sich schon deshalb nicht von der Hand weisen, weil die Beschaffenheit der Proben bzw. die Aussagekraft der in D11A dokumentierten Vergleichsversuche vor der mündlichen Verhandlung niemals in Zweifel gezogen worden sind, zumal sie bereits im Erteilungsverfahren zum Beweis eines überraschenden Effekts der Erfindung ausdrücklich hervorgehoben worden sind.

Schließlich konnte der Beschwerdekammer nicht entgangen sein, dass die Pateninhaberin über die Gründe im Unklaren war, die die Kammer veranlasst haben, das beanspruchte kristalline Mikronisat von Tiotropiumbromid für nicht erfinderisch zu halten. Unmittelbar nachdem der Vorsitzende im Anschluss an eine Beratungspause den Parteien mitgeteilt hatte, nach Auffassung der Kammer beruhe - ausgehend von der Druckschrift D25 als nächstkommendem Stand der Technik - der Gegenstand des Anspruchs 1 des Streitpatents nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit, hat die Patentinhaberin wiederholt, aber vergeblich um eine Begründung dieser Entscheidung gebeten.

6. Anspruch 1 in seiner erteilten Fassung ist somit die Schutzfähigkeit aus Erwägungen abgesprochen worden, die die Beschwerdekammer ex officio zur Begründung ihrer Entscheidung herangezogen hat, ohne den Parteien, namentlich der durch sie benachteiligten Patentinhaberin, Gelegenheit gegeben zu haben, zu diesen Gründen Stellung zu nehmen und unter Umständen entsprechende neue Anträge einzureichen. Da es der Patentinhaberin nach dem Verfahrensablauf ersichtlich auch nicht möglich war, aus eigenem Fachwissen sich die Argumentation der Kammer zu erschließen, hätte diese von sich aus ihre Sicht der Vergleichsversuche spätestens in der mündlichen Verhandlung zur Sprache bringen müssen. Das hat sie nicht getan, so dass sie der Patentinhaberin mit Folgen für den Ausgang des Verfahrens und damit in schwerwiegender Weise das rechtliche Gehör abgeschnitten hat (Artikel 112a (2) c), 113 (1) EPÜ). Denn das Patent ist durch diesen Verfahrensfehler bedingt nur eingeschränkt aufrechterhalten worden. Folglich ist nach Ziffer 1 und 2 des Entscheidungstenors zu erkennen.

7. Hingegen kann dem Antrag, die Mitglieder, die an der aufgehobenen Entscheidung mitgewirkt haben, bei der Neuverhandlung der Beschwerde durch andere Mitglieder zu ersetzen, nicht stattgegeben werden. Denn die Patentinhaberin hat ihn zu keinem Zeitpunkt des Überprüfungsverfahrens substantiiert begründet.

Entscheidungsformel

Aus diesen Gründen wird entschieden:

1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.

2. Die Wiederaufnahme des Verfahrens vor der Beschwerdekammer 3.3.01 wird angeordnet.

3. Die Gebühr für den Antrag auf Überprüfung wird zurückgezahlt.

4. Der Antrag, die Mitglieder der Beschwerdekammer, die an der aufgehobenen Entscheidung mitgewirkt haben zu ersetzen, wird zurückgewiesen.

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