G 0002/90 (Zuständigkeit der Juristischen Beschwerdekammer) of 4.8.1991

European Case Law Identifier: ECLI:EP:BA:1991:G000290.19910804
Datum der Entscheidung: 04 August 1991
Aktenzeichen: G 0002/90
Vorlageentscheidung: T 0272/90
Anmeldenummer: 82201018.7
IPC-Klasse: F16C 9/04
Verfahrenssprache: DE
Verteilung: A
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Fassungen: OJ | Published
Bezeichnung der Anmeldung: -
Name des Anmelders: Kolbenschmidt
Name des Einsprechenden: Glyco-Metall-Werke
Kammer: EBA
Leitsatz: 1. Die Juristische Beschwerdekammer ist gemäß Artikel 21(3)(c) EPÜ nur für Beschwerden gegen Entscheidungen zuständig, die von einer aus weniger als vier Mitgliedern bestehenden Prüfungsabteilung gefaßt worden sind, sofern die Entscheidung nicht die Zurückweisung einer europäischen Patentanmeldung oder die Erteilung eines europäischen Patents betrifft. In allen anderen Fällen, nämlich denen des Artikels 21 (3) a) sowie (3) b) und (4) EPÜ ist die Technische Beschwerdekammer zuständig.
2. Die Zuständigkeitsregelung in Artikel 21 (3) und (4) EPÜ wird durch Regel 9 (3) EPÜ nicht beeinflußt.
Relevante Rechtsnormen:
European Patent Convention 1973 Art 21
European Patent Convention 1973 R 9(3)
Schlagwörter: Zuständigkeit der Juristischen Beschwerdekammer
Beschwerden gegen Entscheidungen des Formalsachbearbeiters
Orientierungssatz:

-

Angeführte Entscheidungen:
-
Anführungen in anderen Entscheidungen:
G 0001/02
G 0001/11
J 0012/01
J 0021/09
T 0560/90
T 1012/03
T 1954/14
T 1403/16

Zusammenfassung des Verfahrens

I. Die Beschwerdekammer 3.2.1 hat der Großen Beschwerdekammer eine Rechtsfrage über die Zuständigkeit der Juristischen Beschwerdekammer für bestimmte Beschwerden vorgelegt. Dieser Entscheidung (T 272/90 ABl. EPA 1991, 205) lag folgender Sachverhalt zugrunde:

II. Nach rechtskräftiger Aufrechterhaltung eines europäischen Patents in geändertem Umfang wurde der Patentinhaber gemäß Regel 58 (5) EPÜ aufgefordert, die Druckkostengebühr zu entrichten und die Übersetzung der geänderten Patentansprüche in die beiden anderen Amtssprachen einzureichen. Da die Übersetzungen der Patentansprüche nicht vorgelegt wurden, erging die Mitteilung gemäß Regel 58 (6) EPÜ, daß er die Übersetzungen noch wirksam einreichen könne, sofern innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung der Mitteilung die Übersetzungen eingereicht und eine Zuschlagsgebühr entrichtet werde. Der Patentinhaber reichte die Übersetzungen ein, zahlte die Zuschlagsgebühr aber nicht.

III. Daraufhin wurde das europäische Patent nach Artikel 102 (5) EPÜ durch eine Entscheidung des Formalsachbearbeiters widerrufen. Gegen diese Entscheidung richtet sich die Beschwerde des Patentinhabers, mit der er im wesentlichen geltend macht, daß die angefochtene Entscheidung nicht habe ergehen dürfen, weil es dafür an einer Rechtsgrundlage fehle. Nach Artikel 102 (5) EPÜ könne ein europäisches Patent wegen nicht rechtzeitiger Einreichung der Übersetzungen widerrufen werden, nicht aber wenn die Nachfrist gemäß Regel 58 (6) EPÜ versäumt worden sei.

IV. Diesen konkreten Fall hat die Beschwerdekammer 3.2.1 zum Anlaß genommen, der Großen Beschwerdekammer die allgemeine Frage vorzulegen, ob die Juristische Beschwerdekammer für Beschwerden gegen Entscheidungen zuständig ist, die Formalsachbearbeitern nach Regel 9 (3) EPÜ übertragen wurden.

V. In ihrer Entscheidung vom 6. August 1990 hat die Beschwerdekammer 3.2.1 festgestellt, daß die ihr vorliegende Beschwerde die "üblichen Erfordernisse" der Zulässigkeit einer Beschwerde erfülle. Unter Hinweis auf die Entscheidungen anderer Kammern (T 26/88, ABl. EPA 1991, 30; T 522/88, EPOR 1990, 237; T 114/89 vom 9. April 1990, unveröffentlicht) ergebe sich aber die Frage, ob überhaupt eine beschwerdefähige Entscheidung vorliege oder ob der Widerruf des Patents bereits kraft Gesetzes eingetreten sei, so daß eine Beschwerde erst nach einer Entscheidung gemäß Regel 69 (2) EPÜ möglich sei.

VI. In der Vorlageentscheidung werden im Zusammenhang mit der vorgelegten Rechtsfrage noch weitere Fragen erörtert. So stelle sich die Frage, ob der Präsident des Europäischen Patentamts seine Befugnis zur Übertragung von Zuständigkeiten nach Regel 9 (3) EPÜ weiterübertragen könne. Die Übertragung von Rechtssetzungsbefugnissen an einen Vizepräsidenten unter Ausschluß der Mitverantwortung der anderen erscheine bedenklich, zumal eine Übertragung von Geschäften nach Regel 9 (3) EPÜ eine Prüfung darauf voraussetze, ob es sich um Geschäfte handelt, die "technisch oder rechtlich keine Schwierigkeiten bereiten". Eine Delegation von Rechtssetzungsbefugnis müsse um so bedenklicher stimmen, wenn es sich um die Delegation einer dem Präsidenten des Europäischen Patentamtes in Regel 9 (3) EPÜ gegebenen Kompetenz- Kompetenz handelt, also der Befugnis, in Abweichung von Artikel 18 (1) und 19 (1) EPÜ Zuständigkeiten zu bestimmen.

Der Präsident des Europäischen Patentamts hat gebeten, ihm Gelegenheit zur Äußerung gemäß Artikel 11 a) der Verfahrensordnung der Großen Beschwerdekammer zu geben, wenn die Kammer die Frage aufgreifen wolle, ob der Präsident des Europäischen Patentamts befugt sei, Maßnahmen der Geschäftsverteilung nach Regel 9 (3) EPÜ auf den Vizepräsidenten der Generaldirektion 2 zu übertragen. Die Kammer hat eine Beteiligung des Präsidenten des Europäischen Patentamts nicht in Betracht gezogen.

VII. Die Parteien haben übereinstimmend erklärt, daß sie im Verfahren vor der Großen Beschwerdekammer keine Stellungnahmen abgeben oder Anträge stellen wollten.

Entscheidungsgründe

1. Zulässigkeit der Vorlage der Rechtsfrage

Die vorlegende Beschwerdekammer hat in ihrer Entscheidung festgestellt, daß die ihr vorliegende Beschwerde die üblichen Zulässigkeitserfordernisse erfülle. Die Entscheidung über eine weitere Voraussetzung der Zulässig- keit einer Beschwerde hat sie dagegen offengelassen, nämlich die Frage, ob es sich bei der mit der Beschwerde angefochtenen Entscheidung gemäß Artikel 102 (5) EPÜ überhaupt um eine beschwerdefähige Entscheidung handele. Voraussetzung für die Vorlage einer Rechtsfrage ist aber grundsätzlich, daß die Kammer die ihr vorliegende Beschwerde als zulässig erachtet, es sei denn, daß die vorzulegende Rechtsfrage gerade einen Aspekt der Zulässigkeit der Beschwerde betrifft. Die offen gelassene Rechtsfrage hat die Große Beschwerdekammer mit ihrer Stellungnahme G 1/90 vom 5. März 1991 entschieden (ABl. EPA 1991, 275). Danach ist der Widerruf eines Patents nach Artikel 102 (4) und (5) EPÜ in Form einer Entscheidung auszusprechen. Damit dürfte im Sinne der Entscheidung der vorlegenden Kammer klargestellt sein, daß auch die von der vorlegenden Kammer offengelassene Voraussetzung der Zulässigkeit der vor ihr anhängigen Beschwerde erfüllt ist, so daß die vorgelegte Rechtsfrage auf ein Beschwerdeverfahren zurückgeht, dessen Beschwerde als zulässig anzusehen ist.

2. Die zu entscheidende Rechtsfrage

Die zu entscheidende Rechtsfrage ist in der Entscheidungsformel der Entscheidung der Kammer 3.2.1 wie folgt gefaßt:

"Ist die Juristische Beschwerdekammer zuständig für Beschwerden gegen Entscheidungen, die Formalsachbearbeitern nach Regel 9 (3) EPÜ übertragen wurden?"

Zum Verständnis hat die vorlegende Beschwerdekammer unter Punkt 3.5 der Entscheidungsgründe darauf hingewiesen, daß die Formulierung der Rechtsfrage so gehalten sei, daß bei Bejahung der Frage die Juristische Beschwerdekammer auch dann für eine Beschwerde zuständig wäre, wenn es sich zwar um ein übertragenes Geschäft handelt, aber die Prüfungsabteilung oder Einspruchsabteilung selbst entschieden hat. Sonst hätte es die erste Instanz in der Hand, durch die Wahl der Art ihrer Entscheidung die Beschwerdekammer zu bestimmen, die für die Überprüfung ihrer Entscheidung zuständig sein soll.

3. Zuständigkeit der Juristischen und Technischen Beschwerdekammer

3.1. Die Zuständigkeit der Juristischen Beschwerdekammer und der Technischen Beschwerdekammern für Beschwerden gegen Entscheidungen der Prüfungsabteilung und der Einspruchsabteilung wird in Artikel 21, Absätze (3) und (4) EPÜ geregelt, die folgenden Wortlaut haben:

"(3) Bei Beschwerden gegen die Entscheidung einer Prüfungsabteilung setzt sich eine Beschwerdekammer zusammen aus:

a) zwei technisch vorgebildeten Mitgliedern und einem rechtskundigen Mitglied, wenn die Entscheidung die Zurückweisung einer europäischen Patentanmeldung oder die Erteilung eines europäischen Patents betrifft und von einer aus weniger als vier Mitgliedern bestehenden Prüfungsabteilung gefaßt worden ist;

b) drei technisch vorgebildeten Mitgliedern und zwei rechtskundigen Mitgliedern, wenn die Entscheidung von einer aus vier Mitgliedern bestehenden Prüfungsabteilung gefaßt worden ist oder die Beschwerdekammer der Meinung ist, daß es die Art der Beschwerde erfordert;

c) drei rechtskundigen Mitgliedern in allen anderen Fällen.

(4) Bei Beschwerden gegen die Entscheidung einer Einspruchsabteilung setzt sich eine Beschwerdekammer zusammen aus:

a) zwei technisch vorgebildeten Mitgliedern und einem rechtskundigen Mitglied, wenn die Entscheidung von einer aus drei Mitgliedern bestehenden Einspruchsabteilung gefaßt worden ist;

b) drei technisch vorgebildeten Mitgliedern und zwei rechtskundigen Mitgliedern, wenn die Entscheidung von einer aus vier Mitgliedern bestehenden Einspruchsabteilung gefaßt worden ist oder die Beschwerdekammer der Meinung ist, daß es die Art der Beschwerde erfordert."

3.2. Während nach Artikel 21 (3) c) EPÜ bei Beschwerden gegen die Entscheidung einer Prüfungsabteilung eine Zuständigkeit der Juristischen Beschwerdekammer vorgesehen ist, fehlt eine solche Zuständigkeit für Beschwerden gegen die Entscheidungen einer Einspruchsabteilung. Nach Artikel 21 (3) c) EPÜ ist die Juristische Beschwerdekammer in "allen anderen Fällen" zuständig, d. h. also in den Fällen, die nicht unter Artikel 21 (3) a) und b) EPÜ fallen. Das bedeutet, daß die Juristische Beschwerdekammer generell nicht zuständig ist, wenn die angefochtene Entscheidung gemäß Artikel 21 (3) b) EPÜ von einer aus vier Mitgliedern bestehenden Prüfungsabteilung gefaßt worden ist. Demgegenüber sind im Sinne des Artikels 21 (3) c) EPÜ "andere Fälle", die die Zuständigkeit der Juristischen Beschwerdekammer begründen können, nach Artikel 21 (3) a) EPÜ möglich, weil die Zuständigkeit der Technischen Beschwerdekammer in diesen Fällen im Unterschied zu Artikel 21 (3) b) und Artikel 21 (4) EPÜ an eine sachliche Voraussetzung geknüpft ist, nämlich "wenn die Entscheidung die Zurückweisung einer europäischen Patentanmeldung oder die Erteilung eines europäischen Patents betrifft". Hat demgegenüber die Entscheidung einer aus weniger als vier Mitgliedern bestehenden Prüfungsabteilung einen anderen Inhalt (z. B. Wiedereinsetzung), dann ist damit durch Artikel 21 (3) a) EPÜ negativ bestimmt, daß die Technische Beschwerdekammer nicht zuständig, und durch Artikel 21 (3) c) EPÜ positiv festgelegt, daß in diesen Fällen die Juristische Beschwerdekammer zuständig ist.

3.3. Demgegenüber ist in Artikel 21 (4) EPÜ ein Auffangtatbestand für die Zuständigkeit der Juristischen Beschwerdekammer entsprechend Artikel 21 (3) c) EPÜ nicht vorgesehen. Dabei handelt es sich nicht um ein Versehen des Gesetzgebers, sondern um eine der gewählten Systematik der Zuständigkeitsregelung folgerichtige Bestimmung. Die Aufnahme einer dem Artikel 21 (3) c) EPÜ entsprechenden Vorschrift in Artikel 21 (4) EPÜ würde ins Leere laufen, denn "andere Fälle" als die in Artikel 21 (4) a) und b) genannten Fälle gibt es bei Entscheidungen einer Einspruchsabteilung nicht. Das liegt daran, daß die Zuständigkeitsregelung der Technischen Beschwerdekammer im Einspruchsverfahren - ebenso wie nach Artikel 21 (3) b) EPÜ - lediglich an die jeweilige Besetzung der ersten Instanz anknüpft und nicht wie Artikel 21 (3) a) EPÜ auch noch eine weitere sachliche Voraussetzung für die Zuständigkeit der Technischen Beschwerdekammer aufstellt, wie z. B. den Widerruf oder die Aufrechterhaltung des Patents oder die Zurückweisung des Einspruchs. Damit hat der Gesetzgeber eine klare Entscheidung getroffen, daß die Technische Beschwerdekammer für alle Beschwerden gegen die Entscheidung einer Einspruchsabteilung oder einer Prüfungsabteilung mit vier Mitgliedern zuständig sein soll.

3.4. Nach Auffassung der Großen Beschwerdekammer wäre es auch gar nicht statthaft, einer eindeutigen gesetzlichen Regelung über die ausschließliche Zuständigkeit der Technischen Beschwerdekammer einen davon abweichenden Sinn zu geben, nur weil andere denkbare Regelungen möglicherweise gewisse Vorteile bieten.

3.5. Artikel 21 (3) b) oder Artikel 21 (4) EPÜ abweichend von ihrem klaren Wortlaut auszulegen, besteht kein ausreichender Anlaß. Die Vorlageentscheidung führt Fälle auf, die es nach ihrer Auffassung wünschenswert erscheinen lassen, daß diese Fälle von der Juristischen Beschwerdekammer und nicht von der Technischen Beschwerdekammer behandelt würden. Dem mag man im Einzelfall durchaus zustimmen können, nur ist das kein Anlaß, eine klare gesetzliche Entscheidung zu korrigieren. Keine generelle Regelung ist davor geschützt, daß sie im Einzelfall möglicherweise einmal nicht die optimale Regelung darstellt. Dieses Manko ist aber jeder generellen Regelung inhärent und kein Grund, diese Regelung nicht anzuwenden. Vielmehr ist die generelle Entscheidung des Gesetzgebers, das Einspruchsbeschwerdeverfahren bei den Technischen Beschwerdekammern zu konzentrieren, zu akzeptieren.

3.6. Darüber hinaus sieht die Große Beschwerdekammer keine Notwendigkeit, gerade die Beschwerdeverfahren, deren Behandlung durch die Juristische Beschwerdekammer die vorlegende Kammer anregt, von der Zuständigkeit der Technischen Beschwerdekammern auszunehmen, denn bei Beschwerden gegen Entscheidungen, die Formalsachbearbeitern nach Regel 9 (3) EPÜ übertragen wurden, darf es sich - wie es Regel 9 (3) EPÜ vorschreibt - nur um Geschäfte handeln, die weder technisch noch rechtlich Schwierigkeiten bereiten. Bieten aber diese Fragen keine rechtlichen Schwierigkeiten, so besteht kein Grund, für diese Beschwerdeverfahren die Zuständigkeit der mit drei Juristen besetzten Juristischen Beschwerdekammer vorzusehen.

3.7. Die vorlegende Kammer hat in der Begründung ihrer Entscheidung weitere Rechtsfragen diskutiert (vgl. oben VI), die nach ihrer Auffassung im Zusammenhang mit der vorgelegten Rechtsfrage stehen. Die Große Beschwerdekammer geht auf diese Rechtsfragen nicht ein, weil eine Entscheidung darüber für die Beantwortung der vorgelegten Rechtsfrage nicht erforderlich ist (vgl. oben Punkt 3.2 bis 3.6).

ENTSCHEIDUNGSFORMEL

Aus diesen Gründen wird entschieden,

daß die der Großen Beschwerdekammer vorgelegte Rechtsfrage wie folgt zu beantworten ist:

1. Die Juristische Beschwerdekammer ist gemäß Artikel 21 (3) c) EPÜ nur für Beschwerden gegen Entscheidungen zuständig, die von einer aus weniger als vier Mitgliedern bestehenden Prüfungsabteilung gefaßt worden sind, sofern die Entscheidung nicht die Zurückweisung einer europäischen Patentanmeldung oder die Erteilung eines europäischen Patents betrifft. In allen anderen Fällen, nämlich denen des Artikels 21 (3) a) sowie (3) b) und (4) EPÜ ist die Technische Beschwerdekammer zuständig. 2. Die Zuständigkeitsregelung in Artikel 21 (3) und (4) wird durch Regel 9 (3) EPÜ nicht beeinflußt.

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