T 0903/99 () of 18.6.2002

European Case Law Identifier: ECLI:EP:BA:2002:T090399.20020618
Datum der Entscheidung: 18 Juni 2002
Aktenzeichen: T 0903/99
Anmeldenummer: 93920746.0
IPC-Klasse: H01H 1/02
Verfahrenssprache: DE
Verteilung: C
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Bibliografische Daten verfügbar in: DE
Fassungen: Unpublished
Bezeichnung der Anmeldung: Werkstoff für elektrische Kontakte auf der Basis von Silber-Zinnoxid oder Silber-Zinkoxid und Verfahren zu seiner Herstellung
Name des Anmelders: AMI DODUCO GmbH
Name des Einsprechenden: OMG AG & Co. KG
Kammer: 3.5.02
Leitsatz: -
Relevante Rechtsnormen:
European Patent Convention 1973 Art 54
European Patent Convention 1973 Art 56
European Patent Convention 1973 Art 84
European Patent Convention 1973 Art 108
Schlagwörter: Neuheit - Product-by-Process (bejaht)
Erfinderische Tätigkeit (bejaht)
Antrag auf Zurückverweisung mit neuem Beschwerdegrund (abgelehnt)
Orientierungssatz:

-

Angeführte Entscheidungen:
G 0009/91
G 0009/92
G 0001/95
Anführungen in anderen Entscheidungen:
-

Sachverhalt und Anträge

I. Die Beschwerde des Einsprechenden richtet sich gegen die Entscheidung der Einspruchsabteilung über die Zurückweisung des Einspruchs gegen das europäische Patent Nr. 660 964.

II. Anspruch 1 des erteilten Patents lautete wie folgt:

"Werkstoff für elektrische Kontakte auf der Basis von Silber-Zinnoxid, der erhalten wird durch

- Mischen eines Pulvers aus Silber oder aus einer hauptsächlich Silber enthaltenden Legierung mit Zinnoxidpulver,

- Verdichten der Mischung und

- Sintern,

dadurch gekennzeichnet, daß zur Hestellung der Mischung zusätzlich ein Pulver verwendet wird, welches, 0,01 bis 10. Gew.-% bezogen auf die Menge des Zinnoxids einer oder mehrerer Verbindungen enthält, die aus Silber, Sauerstoff und einem Metall aus den Nebengruppen II - VI des PERIODISCHEN SYSTEMS und/oder Antimon, Wismut, Germanium, Indium und Gallium bestehen."

III. Der Einspruch war darauf gestützt, daß der Gegenstand des Patentanspruchs 1 des Streitpatents nicht neu oder zumindest, ebenso wie das Verfahren nach Anspruch 9, nicht erfinderisch sei. Dazu wurden im Einspruchsverfahren die folgenden Beweismittel vorgelegt:

D1: EP-A-0 056 857

D2: Gmelin's Handbuch der anorganischen Chemie; Verlag Chemie; Band Ag B4; Seiten 336 und 337

D3: Sachverständigengutachten von Prof. Dr. sc. techn. W. Weise, Fachhochschule Esslingen, vom 11. Mai 1999.

Das Gutachten D3 beweise, daß Sintern an Luft eines in D1 offenbarten Werkstoffs und Sintern an Luft eines unter den Anspruch 1 des Streitpatents fallenden Werkstoffs jeweils bei gleichen Elementverhältnissen zu völlig identischen, stofflich und strukturell nicht unterscheidbaren Werkstoffen führe.

IV. Die angefochtene Entscheidung ist wie folgt begründet:

Der Werkstoff des Anspruchs 1 sei ein heterogener Werkstoff, dessen Verhalten durch seine stoffliche Zusammensetzung und Struktur bestimmt werde. Die vom Einsprechenden nicht bestrittene Angabe in der Patentschrift, daß der Werkstoff eine längere Lebensdauer von 200 000 Schaltspielen erreiche, stelle einen erheblichen Unterschied in der Wirkung des Produkts zum nächstliegenden Stand der Technik dar (140 000 Schaltspiele). Wegen der andersartigen Wirkung müsse die chemische Zusammensetzung oder die Struktur oder beides neu sein. Deswegen könne der Argumentation des Einsprechenden nicht gefolgt werden, daß D3 die Identität der Werkstoffe beweise. Es gebe im Stand der Technik keine Anregung, ein zusätzliches Pulver der in Anspruch 1 festgelegten Art einzusetzen und dadurch einen duktileren Werkstoff mit höherer Lebensdauer zu erhalten.

V. Der Beschwerdeführer ist in der Beschwerdebegründung auf diese Gründe eingegangen und hat insbesondere ausgeführt, daß die "andersartige Wirkung" eine bloße Behauptung darstelle und nicht ausreichend belegt sei. Demgegenüber habe D3 die Identität der Werkstoffe bewiesen.

VI. Der Beschwerdegegner hat mit Schreiben vom 29. Mai 2000 Vergleichsversuche (AC3-Prüfungen) bezüglich des Erwärmungsverhaltens und der Lebensdauer eines konventionell hergestellten Werkstoffs und eines patentgemäß hergestellten Werkstoffs eingereicht.

VII. In der mündlichen Verhandlung vor der Kammer am 18. Juni 2002 legte der Patentinhaber und Beschwerdegegner geänderte Patentunterlagen vor.

VIII. Der neue Patentanspruch 1 hat den Wortlaut des Patentanspruchs 1 in der erteilten Fassung mit folgenden Änderungen: in der ersten Zeile des kennzeichnenden Teils ist das Wort "Hestellung" zu "Herstellung" korrigiert und nach "bestehen" am Ende des Anspruchs 1 der erteilten Fassung ist folgendes Merkmal angefügt:

"wobei die Verbindungen mit dem Zinnoxid zu Verbundteilchen eines Verbundpulvers verbunden sind."

Patentanspruch 8 hat folgenden Wortlaut:

"Verfahren zum Herstellen eines Werkstoffs für elektrische Kontakte auf der Basis von Silber-Zinnoxid durch Mischen eines Pulvers aus Silber oder aus einer hauptsächlich Silber enthaltenden Legierung mit Zinnoxidpulver und einem zusätzlichen Pulver, welches 0,01 bis 10 Gew.-% bezogen auf die Menge des Zinnoxids einer oder mehrerer Verbindungen enthält, die aus Silber, Sauerstoff und einem Metall aus den Nebengruppen II bis VI des PERIODISCHEN SYSTEMS und/oder Antimon, Wismut, Germanium, Indium und Gallium bestehen, Verdichten der Mischung und Sintern gemäß einem der vorstehenden Ansprüche, dadurch gekennzeichnet, daß das hauptsächlich aus Zinnoxid und dem Zusatz bestehende Pulver erhalten wird, durch

- Mischen des Zinnoxidpulvers mit dem Zusatz in Pulverform und

- Glühen der Mischung."

Die Patentansprüche 2 bis 7 sind von Anspruch 1 und die Patentansprüche 9 bis 12 sind von Anspruch 8 abhängig.

Patentanspruch 13 hat folgenden Wortlaut:

"Werkstoff nach einem der Ansprüche 1 bis 7 oder hergestellt nach einem der Ansprüche 8 bis 12, dadurch gekennzeichnet, daß das Zinnoxid durch Zinkoxid ersetzt ist."

IX. Der Beschwerdeführer beantragte die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und die Zurückverweisung an die erste Instanz mit Zurückzahlung der Beschwerdegebühr (Hauptantrag), hilfsweise die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und den Widerruf des Patents.

X. Der Beschwerdegegner beantragte, das Patent aufrechtzuerhalten laut Hauptantrag wie eingereicht in der mündlichen Verhandlung am 18. Juni 2002 (Ansprüche 1 bis 13; Beschreibung, Spalten 1 bis 6; keine Zeichnung).

XI. Der Beschwerdeführer argumentierte im wesentlichen wie folgt:

Der neue Hauptantrag (Zurückverweisung und Rückzahlung der Beschwerdegebühr) habe erst in der mündlichen Verhandlung vor der Kammer gestellt werden können, da der Vertreter wegen eines Übergangs der Einsprechendenstellung kurz zuvor mit der Vertretung beauftragt worden sei. Die angefochtene Entscheidung weise offensichtlich einen erheblichen Begründungsmangel auf, den die Kammer ex officio aufgreifen sollte. Denn die angefochtene Entscheidung lasse nicht erkennen, aus welchen Gründen das Vorbringen des Einsprechenden abgewiesen worden sei. Der Einsprechende habe mit dem Beweismittel D3 nachgewiesen, daß ein in D1 offenbarter Werkstoff nicht von einem nach den Verfahrensmerkmalen des Patentanspruchs 1 des Streitpatents hergestellten Werkstoff unterscheidbar sei. Der Patentinhaber habe keine Gegenbeweise vorgelegt. Trotzdem habe sich die Einspruchsabteilung nicht mit dem Beweismittel D3 auseinandergesetzt, sondern habe sich die bloßen Behauptungen der Patentschrift zu eigen gemacht, daß der Werkstoff sich anders verhalte, und daraus geschlossen, daß der Werkstoff neu sein müsse. Es sei nicht erkennbar, in welcher Hinsicht D3 als falsch oder nicht ausreichend angesehen worden sei. Da mit D3 ein wesentliches Beweismittel nicht gewürdigt worden sei, liege ein wesentlicher Verfahrensmangel vor, der eine Rückzahlung der Beschwerdegebühr und eine Zurückverweisung an die Einspruchsabteilung rechtfertige.

Kontaktwerkstoffe auf der Basis von Silber-Zinnoxid und ihre pulvermetallurgische Herstellung seien schon lange bekannt. Es sei hierbei üblich, an Luft bei Temperaturen zwischen 500 und 800° C zu sintern. Es gehe bei solchen Werkstoffen lediglich um weitere Verbesserungen. Beim Werkstoff nach Patentanspruch 1 des Streitpatents werde für die Herstellung nur ein anderes Zusatzpulver verwendet. Durch dieses unterschiedliche Herstellungsmerkmal eines Product-by-Process-Anspruchs entstehe aber bei einem pulvermetallurgisch hergestellten Werkstoff noch kein neues Endprodukt als solches.

Ein bevorzugtes Ausführungsbeispiel nach dem Streitpatent enthalte Ag2MoO4 als Verbindung aus Silber, Sauerstoff und einem Metall aus den Nebengruppen II - VI des Periodischen Systems. D1 offenbare einen Kontaktwerkstoff, der durch Mischen, Verdichten und Sintern von Silber-, Zinnoxidpulver und MoO3 als Zusatzpulver hergestellt werde. Da sich unter den pulvermetallurgischen Herstellungsbedingungen in D1 ein Gleichgewicht zwischen Ag, MoO3 und Ag2MoO4 einstelle, sei es für den Fachmann klar, daß der gesinterte Werkstoff in D1 auch Ag2MoO4 aufweise, auch wenn in D1 (Anspruch 1) nur MoO3 (als Ausgangsstoff) und nicht Ag2MoO4 genannt sei. D3 beweise, daß es hier völlig unerheblich sei, ob Molybdän in Form von MoO3 oder Ag2MoO4 eingebracht werde. Denn in beiden Fällen führe Sintern an Luft jeweils bei gleichem Elementverhältnis zu völlig identischen, stofflich und strukturell nicht unterscheidbaren Werkstoffen. In beiden Fällen sei Ag2MoO4 im gesinterten Werkstoff vorhanden, und Patentanspruch 1 des Streitpatents schließe auch nicht aus, daß weitere Verbindungen, wie MoO3, ebenfalls vorhanden seien. Bei einem nach D1 hergestellten Werkstoff würden beim Sintern unvermeidlich Verbindungen mit dem Zinnoxid zu Verbundteilchen verbunden. Außerdem sei es schon bekannt gewesen, Verbundpulver mit Silberpulver zu vermischen, zu verdichten und zu sintern (siehe Patentschrift, Spalte 1, Zeile 49 bis Spalte 2, Zeile 9). Es könne daher nicht erfinderisch sein, in einer dem Fachmann geläufigen Arbeitsweise, z. B. zur Vorhomogenisierung bestimmter Ausgangsstoffe, etwa durch Glühen der Mischung, wie beim Verfahren nach Anspruch 8 des Streitpatents, Verbundteilchen zu formen, bevor das Zusatzpulver mit dem Silber- und Zinnoxidpulver gemischt werde.

Die Argumentation bezüglich der chemischen Zusammensetzung des gesinterten Werkstoffs könne nicht mit spekulativen strukturellen Unterschieden und mit bloßen Behauptungen einer andersartigen Wirkung des Werkstoffs, wie eine bessere Duktilität, geringere Kontaktstellenerwärmung und höhere Lebensdauer, widerlegt werden. Der Vergleich von 200 000 Schaltspielen nach der Prüfkategorie AC1 (Patentschrift, Spalte 6, Zeilen 24 bis 29) mit den 140 000 Schaltspielen in D1 (Seite 3, Tabelle) sei nicht aussagekräftig, da für letztere noch die schwierigere Prüfkategorie AC3/AC4 gegolten habe.

Die geänderten Patentansprüche seien durch die Beschreibung, Spalte 3, Zeilen 3 bis 5 und Zeilen 45 bis 50, nicht ausreichend gestützt, da diese Stellen auf einen Gegenstand hinwiesen, bei dem die Verbindungen mit dem Zinnoxid nicht notwendigerweise zu Verbundteilchen eines Verbundpulvers verbunden seien.

XII. Der Beschwerdegegner argumentierte im wesentlichen wie folgt:

Es gebe keinen Grund für eine Zurückverweisung der Angelegenheit an die erste Instanz, da diese dem Einsprechenden, insbesondere in der mündlichen Verhandlung, ausreichend Gelegenheit gegeben hätte, Argumente vorzubringen. Die Einspruchsabteilung habe dem Gutachten D3 im Ergebnis zu Recht nicht die vom Einsprechenden behauptete Bedeutung beigemessen. Denn D3 gehe von Ausgangsbedingungen aus, die in D1 gar nicht angegeben seien und habe einen Werkstoff hergestellt, der nach Analyse der D3 kein MoO3 enthalte, was im Gegensatz zur Lehre der D1 (Anspruch 1) stehe. Die Sinterbedingungen seien für eine vollständige Umsetzung von MoO3 in Ag2MoO4 von entscheidender Bedeutung, da ein sehr großer Gasaustausch erforderlich sei und der Zeitfaktor eine große Rolle spiele. Außerdem müsse nicht notwendigerweise an Luft gesintert werden. Dagegen sei beim Kontaktwerkstoff nach der vorliegenden Erfindung im Ausführungsbeispiel einer Molybdänverbindung kein MoO3 enthalten, da von vornherein Ag2MoO4 zugesetzt werde, das sich wegen seiner hohen thermischen Stabilität unter den angegebenen Herstellungsbedingungen nicht zersetze. Auch die in D3 enthaltenen Versuchsergebnisse seien nicht geeignet, die Schlußfolgerung einer Identität der Werkstoffe zu tragen. So seien die Schliffbilder bei der gewählten Vergrößerung nicht aussagekräftig, da das Zusatzpulver nur in sehr kleinen Mengen in dem heterogenen Werkstoff enthalten sei. Die Röntgenspektren zeigten an den Stellen, an denen Ag2MoO4 zu erwarten wäre, nur Intensitätswerte, die sich nicht signifikant vom Hintergrund unterschieden. Die thermische Analyse habe den entscheidenden Temperaturbereich, in welchem Molybdänoxid sublimiere, nicht untersucht. Andererseits sei die wesentliche Eigenschaft eines Kontaktwerkstoffs nach Anspruch 1 des vorliegenden Patents, nämlich ein günstigeres Erwärmungsverhalten, eine bessere Duktilität und im AC1-Schaltfall eine höhere Lebensdauer, gar nicht untersucht worden.

Auf das bessere Kontaktverhalten nach der Erfindung weise schon der Vergleichsversuch in der Patentschrift (Spalte 6, Zeilen 24 bis 34) hin. Weiter zeige der im Beschwerdeverfahren mit Schreiben vom 29. Mai 2000 vorgelegte Vergleichsversuch, daß der erfindungsgemäße Werkstoff hinsichtlich Erwärmung und Lebensdauer ein deutlich besseres Schaltverhalten aufweise als der bekannte Werkstoff, obwohl der Molybdänanteil demgegenüber um einen Faktor vier herabgesetzt worden wäre. Der Unterschied lasse sich damit erklären, daß von vornherein ein zusätzliches Pulver verwendet werde, welches anstelle eines reinen Metalloxids (z. B. MoO3) eine Verbindung des Typs Silber-Metall-Sauerstoff (z. B. Ag2MoO4) enthalte, die mit den Zinnoxidpulverteilchen verbunden sei. Die Verbundteilchen würden beim Mischen in der Silbermatrix gleichmäßig verteilt und seien nach dem Pressen nicht mehr beweglich. Daher befinde sich im gesinterten Werkstoff der Zusatzstoff nur an den Stellen, wo eine benetzungsfördernde Wirkung erwünscht sei, und könne sehr sparsam eingesetzt werden.

Beim Herstellungsverfahren, auf das in der Patentschrift (Spalte 1, Zeile 49 bis Spalte 2, Zeile 9) hingewiesen sei, werde ein Verbundpulver verwendet, das aus Silber und den gesamten Oxidkomponenten bestehe. Dieser Werkstoff habe daher einen anderen Aufbau und eine andere Struktur und lege den Werkstoff des vorliegenden Patents nicht nahe.

Entscheidungsgründe

1. Die Beschwerde ist zulässig.

2. Hauptantrag des Beschwerdeführers

2.1. Nach Artikel 108 EPÜ ist eine Beschwerde innerhalb von vier Monaten nach Zustellung der Entscheidung schriftlich zu begründen. Nach ständiger Rechtsprechung ergibt sich daraus die Pflicht, daß sowohl die rechtlichen als auch die faktischen Gründe, warum die angefochtene Entscheidung aufgehoben werden soll, innerhalb dieser Frist vorgelegt werden (G 1/95, ABl. EPA 1996, 615, Punkt 3.1). Es ist die Beschwerde selbst, die den Gegenstand des Beschwerdeverfahrens darstellt. Sie darf nicht bloß als der Einstieg in dieses Verfahren betrachtet werden. Der Amtsermittlungsgrundsatz ist im Einspruchsbeschwerdeverfahren wegen des zweiseitigen Verfahrens weiter eingeschränkt (G 9/91, ABl. EPA 1993, 408, Punkt 18; G 9/92, ABl. EPA 1994, 875; Punkte 1, 2, 7, 9 und 10).

2.2. Nach Auffassung der Kammer ist es mit diesem System unvereinbar, einen neuen Antrag zu einem so späten Zeitpunkt wie im vorliegenden Fall (in der mündlichen Verhandlung) zuzulassen, der aus neuen rechtlichen und faktischen Gründen (behaupteter Begründungsmangel und daraus resultierender wesentlicher Verfahrensmangel) die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung begehrt. Einen solchen Antrag im Verfahren zuzulassen würde der in Artikel 108 EPÜ gesetzten Frist für die Beschwerdebegründung ihre Bedeutung nehmen und würde dem Gebot einer fairen Behandlung der Parteien widersprechen, da die Gegenpartei zu diesem späten Zeitpunkt mit einer überraschenden Situation konfrontiert würde. Ein Vertreterwechsel und eine Übertragung der Einsprechendenstellung können an der grundsätzlichen Festlegung des Gegenstands des Beschwerdeverfahrens innerhalb der genannten Frist nichts ändern, weil dadurch Rechte und Pflichten übertragen werden und die Rechte der Gegenpartei nicht beschnitten werden dürfen. Die Kammer hat daher entschieden, den erst in der mündlichen Verhandlung gestellten Antrag nicht mehr zuzulassen.

3. Hilfsantrag des Beschwerdeführers

3.1. Patentanspruch 1 geht aus einer Kombination der Patentansprüche 1 und 2 in der erteilten Fassung hervor. Die Rückbezüge der neuen Patentansprüche 2 bis 13 und die Beschreibung, Spalten 3 und 4, sind entsprechend angepaßt worden. Die vorgenommenen Änderungen verstoßen daher nicht gegen Artikel 123 (2) und (3) EPÜ.

3.2. Patentanspruch 1 legt nunmehr einen Werkstoff fest, der durch ein Verfahren erhältlich ist, bei dem unter anderem ein Pulver aus Silber (oder eine hauptsächlich Silber enthaltende Legierung) mit Zinnoxidpulver und einem zusätzlichen Pulver gemischt, verdichtet und gesintert wird. Das zusätzliche Pulver enthält eine oder mehrere Verbindungen aus Silber, Sauerstoff und einem Metall, die mit dem Zinnoxid zu Verbundteilchen eines Verbundpulvers verbunden sind. Das Verbundpulver kann z. B. durch Mischen von Zinnoxidpulver mit der pulverförmigen Verbindung (z. B. Ag2MoO4) und gemeinsames Glühen (Patentschrift, Spalte 4, Zeilen 29 bis 36 und Zeilen 51 bis 57; Spalte 5, Zeilen 25 bis 33) oder durch Abscheiden des Zusatzes auf den Zinnoxidpartikeln (Patentschrift, Spalte 5, Zeilen 7 bis 11) hergestellt werden. Beim Verfahren des Patentanspruchs 8 wird das zusätzliche Pulver durch Glühen der Mischung mit Zinnoxidpulver erhalten. Anstelle von Zinnoxid kann für die Herstellung des Werkstoffs auch Zinkoxid eingesetzt werden (Patentanspruch 13; Spalte 5, Zeilen 12 bis 21; Spalte 6, Zeilen 35 bis 37 der Patentschrift).

3.3. Die Beschreibung, Spalte 3, Zeilen 3 bis 5, hebt das Verfahren nach Anspruch 8 als besonders geeignetes Verfahren zum Herstellen eines Werkstoffs nach Patentanspruch 1 hervor (in Einklang mit der Ausführung, bei der ein Verbundpulver durch gemeinsames Glühen erhalten werden kann). Spalte 3, Zeilen 45 bis 50, der Patentschrift steht ebenfalls im Einklang mit den Ansprüchen, wenn die Aussage im Gesamtkontext der Beschreibung, Spalte 3, Zeilen 29 bis Spalte 4, Zeile 7, gesehen wird. Hier wird hervorgehoben, daß die Vorteile der Verwendung eines Zusatzpulvers aus einer Silber-Metall-Sauerstoff-Verbindung besonders durch die Herstellung eines Verbundpulvers zum Tragen kommen, da durch die Bindung an die Zinnoxidpartikel die erforderliche Menge an Zusatzpulver "drastisch verringert werden kann". Der Einwand, die Patentansprüche seien nicht von den genannten Stellen der Beschreibung gestützt (Artikel 84 EPÜ), ist daher nicht gerechtfertigt.

3.4. Neuheit und erfinderische Tätigkeit

3.4.1. Der aus D1 (Seite 2, Zeilen 52 und 53; Anspruch 1) bekannte Werkstoff, der aus Silber, Zinnoxid und MoO3 als Zusatzpulver durch Mischen, Verdichten und Sintern hergestellt wird, ist übereinstimmend als nächstkommender Stand der Technik angesehen worden. Es ist auch nicht umstritten, daß das zusätzliche Pulver in D1 (vor dem Mischen) keine Verbindung aus Silber, Sauerstoff und einem Metall enthält, aber ebenfalls in einer Menge (0,05 bis 4 %, z. B. 0,5 % MoO3) beigemischt wird, die zumindest teilweise in den Bereich von "0,01 bis 10 Gew.-% bezogen auf die Menge des Zinnoxids" (Patentanspruch 1 des vorliegenden Patents) fällt. Strittig ist dagegen, ob bei dem Herstellungsverfahren nach D1 (insbesondere nach dem Sintervorgang) ein Stoff erhalten wird, der unter Patentanspruch 1 des vorliegenden Patents fällt, bzw. ob es ausgehend von D1 naheliegend war, einen solchen Werkstoff herzustellen.

3.4.2. Der Patentinhaber hat das, durch Vergleichsversuche belegte, bessere Erwärmungsverhalten und die längere Lebensdauer eines Kontaktwerkstoffs nach dem Patentanspruch 1 des vorliegenden Patents hervorgehoben und für die Kammer glaubhaft dargestellt, daß durch die Bildung von Verbundteilchen die relativ geringe Menge des Zusatzes (maximal 10 Gewichtsprozent des Zinnoxids, das wiederum in kleinerer Menge als das Silber vorhanden ist) beim Mischen des Verbundpulvers mit dem Silberpulver statistisch verteilt, jedoch an die Zinnoxidteilchen gebunden, in der Silbermatrix verteilt wird. "Der Zusatz befindet sich dann nur dort, wo seine benetzungsfördernde Wirkung erwünscht ist, und kann deshalb sparsamst eingesetzt werden" (Patentschrift, Spalte 4, Zeile 57 bis Spalte 5, Zeile 2). Wenn Molybdän als Metall der Verbindung eingesetzt wird, sind statistisch verteilte Verbundteilchen aus Zinnoxid und Ag2MoO4 in der Silbermatrix eingebettet, während nach D1 MoO3 und Zinnoxid durch Mischen unabhängig voneinander in der Silbermatrix verteilt werden.

3.4.3. Das Verhalten unter definierten elektrischen Lastbedingungen, wie z. B. das Erwärmungsverhalten, die Lebensdauer oder Zahl der Schaltspiele, stellt eine wesentliche Eigenschaft eines Werkstoffs für elektrische Kontakte dar. Bei einem heterogenen, pulvermetallurgisch hergestellten Werkstoff, wie im Falle des Anspruchs 1 des vorliegenden Patents, können neben der chemischen Zusammensetzung der Pulver andere Parameter, wie Korngröße, Verteilung, Sinterbedingungen, etc., stoffliche Unterschiede zur Folge haben. Der Beschwerdegegner hat glaubhaft nachgewiesen, daß die unterschiedliche Eignung des Werkstoffs nach Anspruch 1 für einen Einsatz als elektrischer Kontakt nach allem Anschein ursächlich auf die durch die neuen Verfahrensmerkmale (Zumischen eines Verbundpulvers aus Zinnoxid und einer Verbindung des Typs Silber-Metall-Sauerstoff) erhältlichen stofflichen Unterschiede (Verteilung des Zusatzes in der Silbermatrix) zurückzuführen ist. Der Werkstoff muß dann als neu gelten, wenn nicht der Einsprechende, der für sein Vorbringen mangelnder Neuheit oder erfinderischer Tätigkeit beweispflichtig ist, nachgewiesen hat, daß der Werkstoff in der beanspruchten Zusammensetzung das unterschiedliche Kontaktverhalten nicht aufweist oder daß dieses Verhalten nicht ursächlich auf das neue Herstellungsverfahren zurückzuführen ist.

3.4.4. Nach D3 wird bei Sintern einer Pulvermischung aus Silber, Zinnoxid und MoO3 an Luft (bei üblichen Sintertemperaturen) aus Silber und MoO3 in einer bekannten chemischen Reaktion Ag2MoO4 gebildet. Der gesinterte Werkstoff weist daher die Phasen Ag2MoO4 und MoO3 in einem Verhältnis auf, das von den gewählten Sinterbedingungen (Temperatur, Dauer, Atmosphäre, etc) abhängt. D3 (Seite 4) kommt zum Schluß, daß bei einem nach D1 hergestellten Werkstoff die Phase MoO3 unter den dem Gutachten zugrundeliegenden Herstellungsbedingungen nach dem Sintervorgang in Röntgenbeugungsdiagrammen (wie auch bei der thermischen Analyse) nicht mehr nachweisbar war. Allerdings geht D3 von spezifischen Sinterbedingungen aus, die in D1 nicht explizit offenbart sind, die aber für die quantitative Umsetzung von MoO3 in Ag2MoO4 nach Darstellung des Beschwerdegegners von entscheidender Bedeutung sein können. D3 enthält auch keinen Vergleich des aus D1 bekannten Werkstoffs mit einem Werkstoff nach dem (geänderten) Anspruch 1 des vorliegenden Patents, bei dem Verbindungen mit dem Zinnoxid zu Verbundteilchen eines Verbundpulvers verbunden sind. Die metallographischen Schliffe können daher Unterschiede in der Verteilung des Zusatzes (MoO3 bzw. Ag2MoO4) nicht aufzeigen, die sich aus der Herstellung eines Verbundpulvers vor dem Mischen ergeben. D3 widerlegt daher nicht die glaubhafte Darstellung des Beschwerdegegners, daß das unterschiedliche Kontaktverhalten des Werkstoffs nach Anspruch 1 des vorliegenden Patents auf die Herstellung einer neuen Pulvermischung und einer anderer Verteilung des Zusatzes in der Silbermatrix durch die Herstellung des Verbundpulvers zurückzuführen ist. Der Gegenstand des Patentanspruchs 1 gilt daher als neu (Artikel 54 (1) und (2) EPÜ).

3.4.5. Das Herstellungsverfahren, das die Patentschrift (Spalte 1, Zeile 49 bis Spalte 2, Zeile 9) als bekannt angibt, stellt zwar ebenfalls ein Verbundpulver her, geht aber einen anderen Weg. Es wird ein Gefüge hergestellt, in welchem Bereiche, in denen kein oder nur sehr wenig Metalloxid enthalten ist, abwechseln mit Bereichen, in denen die gesamte oder der weit überwiegende Teil der Metalloxidkomponente in feiner Verteilung enthalten ist. Dazu wird ein Verbundpulver hergestellt, das einen Teil des Silbers sowie einen überwiegenden Teil des Zinnoxids und der weiteren Oxide und/oder Karbide enthält. Weder dieser Hinweis auf den Stand der Technik noch das allgemeine Fachwissen, daß Pulver vorlegiert oder vorhomogenisiert werden können, legen eine spezielle Bindung von Silber-Sauerstoff-Metall-Teilchen an Zinnoxidpartikel nahe, um so einen Werkstoff zu schaffen, der durch Zusätze ein ebenso günstiges Erwärmungsverhalten zeigt wie die bekannten Kontaktwerkstoffe, jedoch duktiler ist und im AC1-Schaltfall eine höhere Lebensdauer hat (vgl. die Aufgabenstellung, Patentschrift, Spalte 2, Zeile 54 bis Spalte 3, Zeile 1). Durch die Bindung des Zusatzes an die Zinnoxidpartikel wird ein sparsamerer Einsatz des Zusatzes ermöglicht und der Werkstoff damit weniger spröde und leitfähiger (siehe Punkt 3.4.3 oben und Patentschrift, Spalte 1, Zeilen 33 bis 48 und Spalte 3, Zeile 50 bis Spalte 4, Zeile 14). Der Gegenstand des Patentanspruchs 1 beruht daher auch auf einer erfinderischen Tätigkeit im Sinne des Artikels 56 EPÜ.

3.4.6. Das Verfahren nach Patentanspruch 8 unterscheidet sich schon dadurch von dem aus D1 bekannten Verfahren, daß eine Verbindung aus Silber, Sauerstoff und einem Metall, wie in Anspruch 8 angegeben (und nicht ein Metalloxid), als zusätzliches Pulver verwendet wird. Darüber hinaus wird dieses "Pulver" durch Mischen und Glühen "erhalten", um durch Mischen und Sintern einen Werkstoff für elektrische Kontakte herzustellen. Diese Verfahrensschritte dienen der bevorzugten Herstellung eines Verbundpulvers aus Zinnoxid und Zusatz (siehe Punkt 3.2 oben). Der Gegenstand des Patentanspruchs 8 ist daher ebenfalls neu und aus den vorgenannten Gründen als erfinderisch anzusehen.

3.4.7. Patentanspruch 13 legt einen Werkstoff fest, bei dem statt des Zinnoxids in Patentanspruch 1 oder 8 Zinkoxid eingesetzt wird. Es wurde hierzu nichts vorgetragen, was die Kammer veranlassen müßte anzunehmen, daß die obigen Überlegungen nicht analog auf Zinkoxid übertragen werden können.

3.5. Die Kammer ist daher der Auffassung, daß mit den im Beschwerdeverfahren vorgenommenen Änderungen das europäische Patent und die Erfindung, die es zum Gegenstand hat, den Erfordernissen des Übereinkommens genügen (Artikel 102 (3) EPÜ).

ENTSCHEIDUNGSFORMEL

Aus diesen Gründen wird entschieden:

1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.

2. Die Angelegenheit wird an die erste Instanz mit der Anordnung zurückverwiesen, das Patent in geändertem Umfang mit folgender Fassung aufrechtzuerhalten:

Ansprüche 1 bis 13, überreicht in der mündlichen Verhandlung;

Beschreibung, Spalten 1 bis 6, überreicht in der mündlichen Verhandlung (keine Zeichnung).

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