T 0764/99 () of 5.12.2000

European Case Law Identifier: ECLI:EP:BA:2000:T076499.20001205
Datum der Entscheidung: 05 Dezember 2000
Aktenzeichen: T 0764/99
Anmeldenummer: 92114955.5
IPC-Klasse: E05B 65/46
Verfahrenssprache: DE
Verteilung: C
Download und weitere Informationen:
Text der Entscheidung in DE (PDF, 64 KB)
Alle Dokumente zum Beschwerdeverfahren finden Sie im Register
Bibliografische Daten verfügbar in: DE
Fassungen: Unpublished
Bezeichnung der Anmeldung: Schließbelag für einen in einem Möbel gleitbar gelagerten Schubkasten
Name des Anmelders: Paul Hettich GmbH & Co.
Name des Einsprechenden: (01) MEPLA-Werke Lautenschläger GmbH & Co. KG
(02) Julius Blum Gesellschaft m.b.H.
Kammer: 3.2.03
Leitsatz: -
Relevante Rechtsnormen:
European Patent Convention 1973 Art 76(1)
Schlagwörter: Teilschutz eines Elements einer Kombinationserfindung (abgelehnt)
Orientierungssatz:

-

Angeführte Entscheidungen:
T 0172/82
T 0331/87
T 0401/88
T 0514/88
T 0356/89
T 0415/91
Anführungen in anderen Entscheidungen:
-

Sachverhalt und Anträge

I. Die Beschwerde ist gegen die Entscheidung einer Einspruchsabteilung des Europäischen Patentamts vom 28. Mai 1999 gerichtet, die zwei Einsprüche gegen das europäische Patent Nr. 0 529 679 zurückgewiesen hat. Das Patent beruht auf einer Teilanmeldung einer als WO-A-90/00661 veröffentlichten früheren (Stamm-)Anmeldung (nachfolgend als D2 zitiert).

Gemäß dieser Entscheidung geht der Gegenstand des angegriffenen Patents nicht über den Inhalt der Stammanmeldung D2 in der ursprünglich eingereichten Fassung hinaus und verstößt damit nicht gegen Artikel 76 (1) EPÜ.

II. Anspruch 1 des Streitpatents lautet wie folgt:

"Schließbeschlag für einen in einem Möbel (10) gleitbar gelagerten Schubkasten, (11) gekennzeichnet durch einen am Möbelkorpus (10) in Bewegungsrichtung des Schubkastens (11) über eine kurze Strecke unter der Wirkung einer Feder (14) und im Zusammenarbeiten mit einem am Schubkasten (11) befestigten Schaltnocken (16) verfahrbaren und drehbar gelagerten Drehschieber (12), und daß beim Ausfahren des Schubkastens (11) der Drehschieber (12) durch den Schaltnocken (16) mitbewegt und gleichzeitig über eine Teilstrecke so weit gedreht wird, daß der Schaltnocken (16) außer Eingriff mit dem Drehschieber (12) kommt und der Drehschieber in der Freigabestellung arretiert wird, und daß beim Einfahren des Schubkastens (11) der Schaltnocken (16) auf einen Anschlagnocken (25) des Drehschiebers (12) trifft, wodurch der Drehschieber entgegen der vorherigen Bewegung unter gleichzeitiger gegensinniger Drehung in die Ausgangslage unter Federwirkung zurückbewegt wird und den Schubkasten (11) in die Schließstellung zieht."

III. Die Einsprechende 02(Beschwerdeführerin) hat am 22. Juli 1999 Beschwerde eingelegt, am 24. Juli die Beschwerdegebühr bezahlt und am 28. September 1999 die Beschwerde dahingehend begründet, daß ein Verstoß gegen Artikel 76 (1) EPÜ vorliege.

Die Einsprechende 01 hat am 2. August 1999 unter gleichzeitiger Zahlung der Beschwerdegebühr Beschwerde eingelegt und am 30. September 1999 die Beschwerdebegründung eingereicht.

IV. Nach der der Ladung zur mündlichen Verhandlung beiliegenden Mitteilung der Kammer hat die Patentinhaberin (Beschwerdegegnerin) am 31. Oktober 2000 einen neuen Anspruch 1 als Hilfsantrag eingereicht, der inhaltlich mit dem erteilten Anspruch 1 übereinstimmt und ein zusätzliches Merkmal aufweist, wonach ein Mitnahmezapfen an den Drehschieber angesetzt ist, der eine in einem Formkörper (15) vorgesehene horizontale Führungsnut (20) durchdringt.

Die Einsprechende 01 hat am 27. Oktober 2000 ihre Beschwerde zurückgenommen.

Am 5. Dezember 2000 hat die mündliche Verhandlung stattgefunden.

V. Die Beschwerdeführerin hat im wesentlichem folgendes ausgeführt:

In der Stammanmeldung D2 sei ein Beschlag offenbart, der einen federbelasteten Drehschieber zum Einzug eines Schubkastens eines Möbels aufweise, sowie eine vertikale Blockierschiene, die die Funktion habe, beim Ausfahren eines Schubkastens das Ausfahren der anderen Schubkästen zu verhindern. Im Anspruch 1 des Streitpatents fehle nun diese Blockierschiene völlig. Deshalb reduziere sich die Prüfung einer unzulässigen Erweiterung nach Artikel 76 (1) EPÜ auf die Frage, ob das Streichen der Blockierschiene zulässig sei.

Der Kernpunkt der Erfindung gemäß D2 finde sich bereits im Titel dieser Druckschrift sowie in der dort gestellten Aufgabe, nämlich daß ein einziger unter mehreren übereinander angeordneten Schubkästen eines Möbels in die ausgefahrene Stellung gebracht werden können müsse (die sogenannte "Ausziehsperre"), während der aus dem Stand der Technik bereits bekannte Selbsteinzug jedes einzelnen Schubkastens erhalten bleiben müsse. Gemäß Anspruch 1 von D2 bestehe die Lösung im wesentlichem aus einem linear verschiebbaren Drehschieber, der ständig im Eingriff mit einer Blockierschiene stehe. Aus der Beschreibung sei mehrmals explizit angegeben, daß der Drehschieber die Doppelfunktion habe, einerseits den Selbsteinzug zu gewährleisten, andererseits das gleichzeitige Ausfahren mehrerer Schubkästen zu verhindern. Selbst für die zusätzliche Teilaufgabe, ein Rückfedern des mit zu großer Geschwindigkeit bzw. zu großer Kraft eingeschobenen Schubkastens zu verhindern, werde auf Seite 3, erste Zeilen, das Zusammenwirken des Drehschiebers mit der Blockierschiene ins Licht gerückt. Das Vorhandensein einer Blockierschiene stelle daher ein wesentliches Merkmal für die Lösung der der D2 zugrunde liegenden technischen Aufgabe dar. Es gebe kein Ausführungsbeispiel ohne Blockierschiene. Wenn jetzt das Streitpatent nur auf den Drehschieber gerichtet sei und damit einen Selbsteinzug ohne Blockierschiene offenbare, dann sei die Offenbarung von D2 überschreitet. Wichtig sei, was der Fachmann der D2 entnehme und nicht, auf welche Gedanken er komme. Darüber hinaus sei es unzulässig, ohne entsprechenden Hinweis in D2 die ursprüngliche Gesamtaufgabe in Teilaufgaben zu zergliedern und dann daraus die Zulässigkeit der Streichung eines Merkmals, das zur Lösung der Gesamtaufgabe nötig sei, abzuleiten.

VI. Die Beschwerdegegnerin hat diesen Ausführungen wie folgt widersprochen:

Bei der Würdigung des Offenbarungsgehalts der Stammanmeldung D2 sei entscheidend, was dort für einen Durschnittsfachmann auf dem betreffenden Fachgebiet unmittelbar und eindeutig offenbart sei. Das Problem des Selbsteinzugs eines Schubkastens sei ihm seit langem bekannt und nochmals in D2 bei der Würdigung des nächstkommenden Stands der Technik geschildert. Jeder Konstrukteur von Beschlägen für Schubkästen wisse aus seiner alltäglichen Arbeit, daß der Selbsteinzug ein separates Problem sei, das einen einzelnen Schubkasten betreffe. Der Fachmann kenne auch das andere Problem der für Schränke z. B. durch die Richtlinien der Verwaltungs-Berufsgenossenschaft der Banken u.s.w. - vgl. A2 - gefordeten Ausziehsperre. In D2 werde bemängelt, daß diese andere Funktion beim nächstkommenden Stand der Technik nicht realisiert sei. Zwei andere Nachteile dieses bekannten Stands der Technik seien dort ebenfalls beschrieben, nämlich das sichere Halten jedes einzelnen Schubkastens in der Schließstellung und das unmögliche Zurückfahren eines Schubkastens bei einer manuellen Fehlbedienung des Drehschiebers. Schon beim Lesen der Beschreibungseinleitung von D2, die den Stand der Technik betreffe, entnehme der Fachmann, daß der Selbsteinzug jedes Schubkastens und das Blockieren von Schubkästen zwei separate Probleme seien.

Dann werde in D2 die der Erfindung zugrunde liegende Aufgabe gestellt. Der Fachmann sehe sofort, daß ein Teil dieser Aufgabe, der von der Einspruchsabteilung als Teilaufgabe b) bezeichnet werde, mit dem Problem der Ausziehsperre nichts zu tun habe, aber mit den zwei anderen Teilaufgaben c) und d) eine vorteilhafte Ausgestaltung des Selbsteinzugs betreffe. Diese Ansicht werde noch durch die auf Seiten 2 und 3 von D2 folgenden Hinweise bekräftigt, daß einerseits die Merkmale des Anspruchs 1 die Teilaufgabe a), d. h. die Ausziehsperre, mit Hilfe einer Blockierschiene löse und andererseits die Merkmale des Anspruchs 2, diesmal ohne Blockierschiene, zu einem verbesserten Selbsteinzug beitrügen. Aus Seite 4, Zeile 20 der D2 gehe auch hervor, daß für jeden Schubkasten ein Beschlag notwendig sei, so daß der Fachmann den Hinweis bekomme, daß sich der Beschlag eines einzelnen Schubkastens vom Beschlag der gesamten Schubkästen unterscheide. Insofern könne der Fachmann nur schließen, daß mit der Erfindung gemäß D2 die zwei wesentlichen Aufgaben, nämlich der Selbsteinzug und die Ausziehsperre, zwar auf vorteilhafte Art gemeinsam gelöst würden, jedoch separat zu betrachten seien. Bei der Lösung selbst sei ihm darüber hinaus klar, daß die Blockierschiene nur dazu diene, das Ausziehen mehrerer Schubkästen zu verhindern, weil sie sich über mehrere Schubkästen hinweg erstrecke, und daß sie entfernt werden könne, ohne daß die Funktionsteile des für jeden Schubkasten vorgesehenen Einzugsbeschlags geändert werden müßten. Selbst der Mitnahmezapfen, der den Drehschieber mit der Blockierschiene verbinde, solle nicht abgebaut werden, da er ein Führungsmittel für den Drehschieber sei.

Deshalb offenbare die D2, einen Beschlag für einen einzelnen Schubkasten, der ohne Blockierschiene einen vorteilhaften Selbsteinzug des Schubkastens bewirke.

VII. Die Beschwerdeführerin beantragte die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und den Widerruf des europäischen Patents Nr. 0 529 679.

Die Beschwerdegegnerin beantragte, die Beschwerde zurückzuweisen, hilfsweise mit der Maßgabe, daß der Aufrechterhaltung des Patents der am 31.Oktober 2000 eingegangenen Anspruch 1 zugrundegelegt wird.

Entscheidungsgründe

1. Die Beschwerde ist zulässig.

2. Inhalt der Stammanmeldung D2

D2, siehe insbesondere den Titel und den Anspruch 1, bezieht sich auf einen Beschlag für ein mehrere übereinander angeordnete Schubkästen aufweisendenes Möbel.

Im Einleitungsteil der Beschreibung wird zunächst erklärt, daß bereits ein Beschlag bekannt war, der einen federbelasteten, jedoch nur drehbaren Drehschieber für jeden Schubkasten aufweist, so daß jeder Schubkasten beim Einfahren über eine verhältnismäßig kurze Strecke in die Schließstellung gezogen und in dieser Stellung gehalten wird. Bei diesem bekannten Beschlag bestehe die Gefahr, daß alle Schubkästen des Möbels in die ausgefahrene Stellung gebracht werden könnten, so daß das Möbel nach vorn kippt, insbesondere wenn die Schubkästen belastet sind. Andere Nachteile sind beschrieben, nämlich ein noch bestehender Spalt zwischen der Frontplatte eines eingeschobenen Schubkastens und der Frontseite des Möbels sowie das unmögliche Zurückfahren eines Schubkastens bei einer manuellen Fehlbedienung des Drehschieber.

Gemäß Seite 2 dieser Beschreibung liegt deshalb der dort beschriebenen Erfindung die Aufgabe zugrunde, "einen Beschlag der eingangs genannte Art so weiterzuentwicklen, (a) daß jeweils nur einer von mehreren Schubkästen ausfahrbar ist, (b) wobei jeder Schubkasten beim Einfahren über eine verhältnismäßig kurze Strecke in die Schließstellung gezogen und in dieser Stellung gehalten wird, und (c) daß trotz einer Fehlbedienung jeder Schubkasten in die Schließstellung bringbar ist, (d) wobei ein Rückfedern des eingeschobenen Schubkastens verhindert werden soll, wenn dieser mit zu großer Geschwindigkeit oder zu großer Kraft eingefahren wird ." (Die Unterteilungen (a) bis (d) wurden von der Einspruchsabteilung eingeführt, vgl. die angefochtene Entscheidung).

Diese Aufgabe soll durch die im Kennzeichen des Anspruchs 1 von D2 aufgeführten Merkmale gelöst werden. In diesem Anspruch ist angegeben, daß der Beschlag mit einem jedem Schubkasten zugeordneten, federbelasteten Drehschieber versehen ist, der drehbar und in Bewegungsrichtung des zugeordneten Schubkastens verschiebbar ist, und daß der Beschlag des weiteren eine sich über die Gesamthöhe aller Schubkästen erstreckende, in vertikaler Richtung verfahrbare Blockierschiene aufweist, die eine der Anzahl der Schubkästen entsprechende Stückzahl von Winkelnuten enthält, daß ferner in jeder Winkelnut der Blockierschiene ein Mitnahmezapfen des Drehschiebers des diesem Winkelnut zugeordneten Schubkastens eingreift, so daß beim Ausfahren eines Schubkastens die Blockierschiene durch den Mitnahmezapfen des Drehschiebers dieses Schubkastens in vertikaler Richtung so bewegt wird, daß die anderen Mitnahmezapfen in die vertikalen Teile der Winkelnuten eingreifen und die anderen Schubkästen blockieren.

Nach dem Hinweis auf diese Lösung gemäß Anspruch 1 sind im letzten Absatz der Seite 2 von D2 die folgenden Erklärungen gegeben:

"Der Drehschieber hat nunmehr nicht nur die Aufgabe, den einzufahrenden Schubkasten über die zuletzt zurückliegende, relativ kurze Teilstrecke in die Schließstellung zu bringen, ihn darin zu halten, sondern beim Ausfahren des Schubkastens im Zusammenwirken mit der Blockierschiene ein Ausfahren der restlichen Schubkästen zu verhindern.(...).

Der Drehschieber ist demzufolge im Sinne eines Antriebgliedes für die Blockierschiene zu sehen. Durch die Doppelfunktion ergibt sich eine besonders einfache konstruktive Ausbildung."

In dem folgenden und ersten Absatz der Seite 3 ist noch angegeben:

"Der in Rede stehende Beschlag wird in der Branche als ein Beschlag mit Selbsteinzug bezeichnet. Ein Zurückfedern wird nicht nur durch den federbelasteten Drehschieber erreicht, sondern auch noch durch das Zusammenwirken des Drehschiebers mit der Blockierschiene, wodurch sinngemäß ein Bremsglied ensteht." Gemeint ist hier der Sachverhalt, daß die Blockierschiene mit ihrer Masse die Wirkung des federbelasteten Drehschiebers für das Zurückferdern sowie für die Verhinderung bzw. Verminderung eines Rückfederns des Shubkastens unterstützt.

Es folgen noch die Hinweise auf Seite 3, daß

- durch die Merkmale des Unteranspruchs 2 zusätzliche strukturelle Merkmale des Drehschiebers angegeben werden, die ein Schließen eines ausgefahrenen Schubkastens selbst bei einer Fehlbedienung des Drehschiebers ermöglichen, die schon in der Aufgabenstellung kurz erwähnt war, aber in derselben Passage der Seite 3 präzisiert wird, und

- daß jeder Drehschieber in einem am Möbelkorpus festlegbaren Formkörper angeordnet ist, mit dem Vorteil, daß für die Führung der Blockierschiene und für die bewegliche Lagerung des Drehschiebers nur dieser als Einzelteil ausgebildete Formkörper notwendig ist.

In der folgenden detaillierten Beschreibung des Beschlages wird auch angegeben, daß der Formkörper zwischen einer Seitenwand des Schubkasten und einer Seitenwand des Möbels gelagert ist und einen Führungskanal für die Blockierschiene sowie parallel dazu und daneben zwei innere Schlitze für eine Führungsplatte des Drehschiebers aufweist. Weiterhin muß die Länge des Mitnahmezapfens jedes Drehschiebers so groß sein, daß der Zapfen eine im Formkörper vorgesehene horizontale Führungsnut durchtritt und in die zugeordnete Winkelnut der Blockierschiene eingreift.

4. Änderungen des Streitpatents in Bezug auf seine Stammanmeldung D2

Anspruch 1 des Streitpatents bezieht sich auf einen Schließbeschlag für einen in einem Möbel gleitbar gelagerten Schubkasten, und dieser Beschlag ist im wesentlichen gekennzeichnet durch einen federbelasteten, in Bewegungsrichtung des Schubkastens verschiebbar und drehbar gelagerten Drehschieber, der auch die Merkmale des Unteranspruchs 2 der Stammanmeldung D2 aufweist. Nach der Beschreibung des Streitpatents verbessert der beanspruchte Schließbeschlag den Selbsteinzug des Schubkastens und verhindert nach dessen Einschieben sein Rückfedern, da der Drehschieber so ausgebildet ist, daß er nicht nur drehbar - wie im Stand der Technik -, sondern auch in Bewegung des Schubkastens mittels einer Feder verschiebbar ist. Mit diesem Anspruch 1 ist somit die Lösung des Streitpatents nur auf einen Drehschieber gerichtet.

Die Frage, die es zu beantworten gilt, ist, ob die Stammanmeldung D2 einen solchen Beschlag offenbart.

5. Aus den Seiten 2 und 3 der Stammanmeldung D2 entnimmt der Fachmann, daß die dort gestellte Aufgabe durch die Merkmale des Anspruchs 1 gelöst ist. Im Stand der Technik wurde bereits das Problem des Selbsteinzugs gelöst, nämlich den Schubkasten in die Schließstellung zu bringen und ihn darin zu halten (Teilaufgabe (b) für die erste Instanz). Die Entwicklung von D2 besteht darin, das Problem mit dem Problem der Ausziehsperre (Teilaufgabe (a)), in einem einzigen Beschlag zu lösen. Dies geht aus dem letzten Absatz der Seite 2 vor, in welchem dem Fachmann die Lehre vermittelt wird, daß sich durch die Aufgabe und die Doppelfunktion des Drehschiebers eine besonders einfache konstruktive Ausgestaltung ergebe.

6. Dann bezieht sich D2 bezüglich der Lösung durchweg auf das Zusammenwirken des Drehschiebers mit der Blockierschiene: vgl. auf Seite 2, Zeile 31 ff., "die Horizontalbewegung des Drehschiebers wird in eine Vertikalbewegung der Blockierschien umgewandelt", Zeile 34 ff., "der Drehschieber ist demzufolge im Sinne eines Antriebsgliedes für die Blockierschiene zu sehen", und auch auf Seite 3, Zeile 2, den in Punkt 3 oben bereits erwähnten Hinweis auf das Zurückfedern des Schubkastens, bei welchem die Worte "sondern auch noch" das Zusammenwirken betonen. Insbesondere mit dem Wort "noch" ist hier auch - entgegen der Auffassung der Einspruchsabteilung - der funktionelle Zusammenhang zwischen dem federbelasteten Drehschieber und der Blockierschiene bekräftigt. Ergänzend ist in diesem Zusammenhang auch Seite 3, Zeilen 28 bis 30 zu nennen, wo auf die vorteilhafte Montage jedes Formkörpers als Einzelteil für die Führung der Blockierschiene und für die bewegliche Lagerung des Drehschiebers hingewiesen wird. Obwohl in D2 eine neue Ausbildung des Drehschiebers, insbesondere im Hinblick auf seine gleichzeitige Drehbarkeit und Verschiebbarkeit, offenbart ist, kommt es auf die Bedeutung des Drehschiebers allein nicht an. Die in dieser Anmeldung angegebene neue Fähigkeit des Drehschiebers, nämlich seine Verschiebbarkeit, wird im Gegenteil als Mittel für die vertikale Bewegung der Blockierschiene geschildert. Nirgends in D2 ist auch zu entnehmen, daß ein Selbst-Einzug ohne Zusammenwirken mit der Blockierschiene erreicht werden kann.

Der erste Satz auf Seite 3 von D2, wonach der in Rede stehende Beschlag in der Branche als ein Beschlag mit Selbsteinzug bezeichnet ist, zeigt, daß der Verfasser von D2, selbst wenn er die vereinzelte Funktion "Selbsteinzug" der Erfindung ans Licht bringt, nur den gesamten offenbarten Beschlag als Lösung und keine andere Lösungsmöglichkeit betrachtet hat. Deshalb ist die Funktion Selbsteinzug für den bloßen, in D2 beschriebenen Drehscheiber nicht unmittelbar und eindeutig offenbart, weil der lesende Fachmann ständig in Richtung des Zusammenwirkens dieses Drehscheibers mit der Blockierschiene gelenkt wird. Der Hinweis auf Seite 4 von D2, wonach "für jeden in der Fig. 5 angedeutungsweise dargestellten Schubkasten ein Beschlag notwendig ist", ist nicht eindeutig und kann - insbesondere mit dem Begriff "jedem" in der Weise verstanden werden, daß für jeden Schubkasten der gesamte Beschlag oder ein Bestandteil dieses Beschlags notwendig ist, zumal in den unmittelbar folgenden detaillierten Absätzen dann dieser Beschlag mit der Blockierschiene beschrieben ist.

Die Beschwerdegegnerin hat einige Textstellen aus der Aufgabestellung und dem folgenden Absatz auf Seite 2 von D2 zitiert, die ihrer Ansicht nach nur den Selsbteinzug, betreffen, um zu zeigen, daß dieser als eine Teilaufgabe ohne Blockierschiene gelöst wird, jedoch hat sie diese Textstellen aus dem gesamten Kontext der zugehörigen Sätze herausgenommen, was im Hinblick auf den "whole-contents-approach" gemäß der ständige Rechtsprechung der Beschwerdekammern unzulässig ist: "Die Bedeutung eines Merkmals kann nur im Hinblick auf die gesamten Anmeldungsunterlagen bewertet werden, und zwar insbesondere unter Berücksichtigung der daraus entnehmbaren, der Erfindung zugrunde liegenden technischen Aufgabe" (T 401/88, ABl. EPA 1990, 297, Nr. 2.1). Der erste Satz des letzten Absatzes der Seite 2 (siehe Punkt 2 oben) zeigt eindeutig, daß die Beschreibung von einzelnen Merkmalen nur im Rahmen der auf dieser Seite angegebenen Aufgabe zu betrachten sind.

7. Es wird nicht bestritten, daß ohne Blockierschiene die Funktion des beschriebenen Beschlags mit Selbsteinzug für Einzelschubladen technisch möglich ist; nach Demontieren aller Formkörper genügt es tatsächlich, die Blockierschiene abzunehmen und die Formkörper am Möbelkorpus wieder anzuschrauben. Anzumerken ist, daß in diesem Fall jeder Formkörper einen unnötigen Führungskanal aufweist, der Platz im Möbel beansprucht, und daß jeder Mitnahmezapfen ein Endteil aufweist, das sich ohne Zweck in diesem Kanal erstreckt.

8. Die Beschwerdegegnerin hat im wesentlichen ausgeführt, daß, obwohl D2 einen Beschlag offenbare, der die beiden wesentlichen Aufgaben - Selbsteinzug und Ausziehsperre - gemeinsam löse, dies dem Fachmann aufgrund des in D2 geschilderten Standes der Technik und seines Fachwissens keineswegs die Sicht auf die zwei separat zu betrachtenden Aufgaben versperre und ihn veranlasse, die Blockierschiene nur in Hinsicht auf die Teilaufgabe (a) (Ausziehsperre) für bedeutungsvoll zu halten.

Das Argument betrifft die Fähigkeit des Durchschnittsfachmanns zur Würdigung einer Offenbarung. Diese Fähigkeit darf jedoch nicht mit der Fähigkeit desselben Fachmanns bei der Prüfung der erfinderischen Tätigkeit verwechselt werden. Bei der Feststellung des Offenbarungsgehalts eines Dokuments "darf der Fachmann sein Fachwissen nur sehr beschränkt konsultieren... Das Fachwissen dient hauptsächlich dazu, Lücken im Offenbarungsgehalt eines Dokuments zu schließen, Fehler zu korrigieren oder für ein erfolgreiches Nacharbeiten nicht ausreichende Angaben zu vervollständigen... Die technische Lehre muß dem Dokument zweilfelsfrei entnommen werden "(F. Blumer, "Formulierung und Änderung der Patentansprüche im europäischen Patentrecht", Punkt 10.3.2 mit Hinweis auf die Entscheidung T 356/89, Punkt 3.6; vgl. auch T 172/82, ABl. EPA 1983, 493). Im vorliegenden Fall ist der von der Beschwerdegegnerin erwähnte, gedankliche Weg nicht versperrt, jedoch kann dieser Weg nicht aus D2 unmittelbar und eindeutig abgeleitet werden. In D2 selbst wurde - wie bereits erklärt, siehe Punkt 6 oben, zweiter Absatz - ein solcher Weg teilweise mit dem Hinweis auf einen Beschlag mit Selbsteinzug verfolgt, der jedoch mit der Blockierschiene gekoppelt ist, und es wurde kein Hinweis auf das Weglassen dieser Blockierschiene gegeben. Dieser letzte Gedanke sowie das spätere, d. h. nach dem Prioritätstag von D2, Entdecken einer zweiten Erfindung in D2 beim Vergleich des aus D2 bekannten Selbsteinzuges mit den früheren, aus dem Stand der Technik bekannten Selbsteinzügen (Schreiben vom 22.12.1999 der Beschwerdegegnerin) sind die Ergebnisse eigener Überlegungen des Fachmanns und gehören somit nicht zum Inhalt der Stammanmeldung D2 (vgl. T 415/91 vom 13.05.1992).

9. Das gleiche gilt für die ebenfalls von der Beschwerdegegnerin gemachte Überlegung eine Schranks, welcher sowohl einige Schubkästen übereinander aufweist als auch einzelne Schubkästen, die alle mit demselben Selbsteinzug ausgerüstet werden müßten. Hier betrachtet die Beschwerdegegnerin eine andere Aufgabe, nämlich den Selbsteinzug eines einzigen Schubkastens, der zwar an sich bekannt war, jedoch in D2 nicht berücksichtigt war. Dies zeigt nur, daß am Anmeldetag von D2 der Erfinder nicht alle Aspekte seiner Erfindung erschöpft hatte und dann später - vielleicht durch Einfluß der Konkurrenten - entdeckt, daß er mit einem Teil dieser Erfindung zu einer weiteren Erfindung gelangen kann.

In diesem Zusammenhang ist noch darauf zu verweisen, daß sich das angegriffene Streitpatent auf einen Schließbeschlag für einen in einem Möbel gleitbar gelagerten Schubkasten bezieht. Diese Formulierung schließt ein Möbel mit einem einzigen Schubkasten ein und ist deshalb mit dem Titel und dem Gegenstand von D2 unvereinbar, so daß sie bereits die Offenbarung der Stammanmeldung erweitert und somit einen Verstoß gegen Artikel 76 (1) EPÜ mit sich bringt.

10. In der angefochtenen Entscheidung hat die erste Instanz die drei Kriterien für die Zulässigkeit des Weglassen eines Merkmals nach den Richtlinien für die Prüfung im EPA (Teil C-VI, 5.8a) geprüft, die bezüglich dieser Rechtsfrage der Rechtsprechung der Beschwerdekammern angepaßt worden sind (Unwesentlichkeits- bzw. Wesentlichkeitstest, vgl. T 331/87, ABl. EPA 1991, 22; siehe auch T 514/88, ABl. EPA 1992, 579).

Bei dieser Prüfung hat sie zunächst die der Erfindung von D2 zugrunde liegende Aufgabe berücksichtigt, diese in vier Teilaufgaben a) bis d) untergliedert (vgl. den obigen Punkt 2, dritten Absatz)), dann diese Teilaufgaben aufgrund der verschiedenartigen Verbindungswörter "daß" und "wobei" in der Aufgabenfassung als Haupt- und Nebenanforderungen eingeordnet, und schließlich die Lösungsmittel für die jeweiligen Teilaufgaben a) und b) und ihre Wirkungen einschließlich ihres Zusammenwirkens analysiert. Eine solche Prüfung entspricht nicht den Richtlinien, die eine unmittelbare und eindeutige Erkenntnis der Erfüllung der drei Kriterien durch den Fachmann erfordern. Außerdem ist in D2 die Rede von einer einzigen Aufgabe, die durch die Merkmale des Anspruchs 1 gelöst ist. Nirgends wird in dieser Stammanmeldung ein Hinweis auf verschiedene Teilaufgaben gegeben und nur aufgrund einer genauen Analyse der beschriebenen Lösung könnte der Fachmann schließen, daß zumindest ein Teil dieser Aufgabe, nämlich die von der ersten Instanz genannte Teilaufgabe c), nicht vollständig durch die Merkmale des Anspruchs 1 gelöst sei, sondern auch dafür die Merkmale des abhängigen Anspruch 2 erforderlich wären. Diese Teilaufgabe c) betrifft jedoch lediglich einen besonderen und sekundären Aspekt des Selbsteinzugs und nicht den Selbsteinzug als solchen. Deshalb teilt die Kammer die Auffassung der Beschwerdeführerin, daß im vorliegenden Fall die in der angefochtenen Entscheidung vorgenommene Zergliederung der Aufgabe von D2 das Ergebnis einer rückblickenden Betrachtungsweise ist. Da die Unwesentlichkeit der Blockierschiene nach D2 vor allem durch diese Zergliederung der Aufgabe begründet worden ist, ist die angefochtene Entscheidung aufzuheben.

11. Da der Anspruch 1 nach Hauptantrag dem Erfordernis von Artikel 76 (1), zweiter Satz EPÜ nicht genügt, kann er keinen Bestand haben.

12. Hilfsantrag

Mit dem Anspruch 1 nach dem Hilfsantrag ist die Lösung des Streitpatents auch nur auf einen Drehschieber ohne Blockierschiene gerichtet. Deshalb ist Anspruch 1 nach dem Hilfsantrag ebenfalls aus denselben Gründen wie für den Hauptantrag nicht zulässig (Artikel 76 (1) EPÜ).

ENTSCHEIDUNGSFORMEL

Aus diesen Gründen wird entschieden:

1. Die angefochten Entscheidung wird aufgehoben.

2. Das Patent wird widerrufen.

Quick Navigation