T 0711/97 () of 15.2.2000

European Case Law Identifier: ECLI:EP:BA:2000:T071197.20000215
Datum der Entscheidung: 15 Februar 2000
Aktenzeichen: T 0711/97
Anmeldenummer: 89121484.3
IPC-Klasse: C08B 11/20
Verfahrenssprache: DE
Verteilung: C
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Bibliografische Daten verfügbar in: DE
Fassungen: Unpublished
Bezeichnung der Anmeldung: Verfahren und Vorrichtung zur produktschonenden Mahlung und gleichzeitigen Trocknung von feuchten Celluloseethern
Name des Anmelders: Clariant GmbH
Name des Einsprechenden: Wolff Walsrode AG
Kammer: 3.3.03
Leitsatz: -
Relevante Rechtsnormen:
European Patent Convention 1973 Art 56
Schlagwörter: Erfinderische Tätigkeit (ja) - wegweisender Stand der Technik
Orientierungssatz:

-

Angeführte Entscheidungen:
-
Anführungen in anderen Entscheidungen:
-

Sachverhalt und Anträge

I. Die Erteilung des europäischen Patents Nr. 0 370 447 der HOECHST AKTIENGESELLSCHAFT, übertragen auf CLARIANT GmbH, angemeldet am 21. November 1989 unter der Nummer 89 121 483.3 und unter Beanspruchung einer DE-Priorität vom 25. November 1988, wurde am 16. Februar 1994 bekanntgemacht.

II. Gegen das Patent wurde gestützt auf die Bestimmungen des Artikels 100 EPÜ von der WOLFF WALSRODE AG am 11. November 1994 Einspruch erhoben und der Widerruf des Patents in seinem gesamten Umfang beantragt. Aufgrund der vorgebrachten Argumente wurde der allgemeine Hinweis auf Artikel 100 EPÜ als ein Einwand mangelnder Neuheit sowie mangelnder erfinderischer Tätigkeit im Sinne von Artikel 100 a) EPÜ interpretiert.

III. Mit ihrer am 5. März 1997 mündlich verkündeten und am 28. April 1997 schriftlich begründeten Entscheidung wies die Einspruchsabteilung den Einspruch zurück.

Die dieser Entscheidung zugrundeliegenden unabhängigen Ansprüche 1 und 8 des Patents in der erteilten Fassung lauteten:

"1. Verfahren zum gleichzeitigen Mahlen und Trocknen feuchter Celluloseether, wobei man

a) einen Celluloseether mit einer Anfangsfeuchte von 20 bis 70 Gew.-% in einen kreisförmigen Raum mittels eines Transportgases einbringt,

b) den unter Kreislaufführung Celluloseether mit einer Anfangsfeuchte von 20 bis 70 Gew.-% schlagzerkleinert,

c) das Produkt gleichzeitig in Gegenlaufrichtung zur Schlagzerkleinerung reibzerkleinert, wobei man

d) die Umfangsgeschwindigkeit der gegenläufig arbeitenden Zerkleinerungsstufen auf einen solchen Wert einreguliert, daß sich eine Mahlenergie einstellt, die das Endprodukt auf eine vorgegebene Restfeuchte von 1 bis 10 Gew.-% trocknet,

e) das Mahlgut durch den in die Zerkleinerungsräume eingeleiteten Gasstrom weiterbefördert,

f) das Mahlgut vom Gasstrom trennt und gegebenenfalls

g) das Mahlgut einer selektiven Siebung unterwirft."

"8. Vorrichtung zur Durchführung des Verfahrens nach einem der Ansprüche 1 bis 7, bestehend aus

a) einem Gehäuse (1),

b) einem darin konzentrisch angeordneten, mit mehreren Schlagleisten (3) versehenen Schlägerrad (2),

c) einem zum Schlägerrad (2) konzentrisch angeordneten Siebkorb (4), der abschnittsweise hintereinander und am Umfang angeordnete Sägezahnsegmente (5) und mit Öffnungen versehene Reibbleche (6) aufweist, wobei der Abstand zwischen Schlägerrad (Schlagleistenkante) und Siebkorb (Zahnoberkante Reibblech bzw. Zahn des Sägezahnsegments) 1 bis 10 mm beträgt,

d) bekannte Einrichtungen für den gegenläufigen Antrieb der Wellen (7, 8) mit denen das Schlägerrad (2) bzw. der Siebkorb (4) verbunden sind, und

e) einer in dem Gehäuse angebrachten Eingangsöffnung (9) zur Eingabe des zu mahlenden und trocknenden Gutes und zur Einführung des Transportgases sowie

f) einer in dem Gehäuse angebrachten Austragsöffnung (10) für das gemahlene und getrocknete Gut sowie für das Transportgas."

Die restlichen Ansprüche 2 bis 7, 19 und 20 bzw. 9 bis 18. waren von den Ansprüchen 1 bzw. 8 abhängig.

IV. Die genannte Entscheidung der Einspruchsabteilung stellte fest, daß der Einspruch zulässig sei, daß er aber zurückgewiesen werden müsse, weil die Offenbarung der einzigen Entgegenhaltung

D1: "PALLMANN Information - Siebkorbmühlen Baureihe PPS" datiert 6/88

der Aufrechterhaltung des Streitpatents in unveränderter Form nicht entgegenstehe.

Der Gegenstand des Streitpatents sei gegenüber D1 nicht nur neu, sondern auch erfinderisch, weil sich in dieser Entgegenhaltung kein Hinweis auf die beanspruchte Lösung der vorliegenden technische Aufgabe finde, nämlich der Bereitstellung eines Verfahrens zur Mahltrocknung von Celluloseethern, bei dem unter Erhöhung des Schüttgewichts, ohne Verhornung und bei minimalem Viskositätsabbau gezielte Mahlgrade und eine geringe Restfeuchte der Produkte eingestellt werden könnten.

V. Gegen diese Entscheidung hat die Einsprechende unter gleichzeitiger Zahlung der Beschwerdegebühr am 26. Juni 1997 Beschwerde eingelegt und am 27. August 1997 die Beschwerdebegründung nachgereicht.

VI. In der Beschwerdebegründung stellte die Beschwerdeführerin (Einsprechende) zwar fest, daß der Gegenstand des Streitpatents für einen Zerkleinerungsfachmann gegenüber D1 nicht neu sei, sie hielt diesen Einwand aber im Verlaufe der mündlichen Verhandlung am 15. Februar 2000 nicht mehr aufrecht, sondern machte einzig das Nichtvorliegen von erfinderischer Tätigkeit geltend.

Nach Meinung der Beschwerdeführerin seien nämlich die in D1 nicht offenbarten Merkmale des Anspruchs 1 für den Fachmann aus dieser Entgegenhaltung selbst, gegebenenfalls in Verbindung mit dem allgemeinen Fachwissen, aus folgenden Gründen nahegelegt:

i) Der Bereich der Anfangsfeuchte entspreche üblichen, produktionsbedingten Werten; die Restfeuchte sei für die Interpretation des Anspruchs 1 ohne Relevanz, weil sie nur ein angestrebtes Ergebnis definiere; die gegensinnige Rotation von Schlägerrad und Siebkorb ergebe sich aus der Notwendigkeit der Einbringung hoher Energiemengen unter gleichzeitiger Respektierung der konstruktionsbedingten Drehzahlobergrenzen; die Verwendung eines Transportgases (z. B. Luft) biete sich einerseits wegen der durch die Rotation der wirksamen Elemente automatisch entstehenden Sogwirkung an und leite sich anderseits direkt aus der in D1 bildlich dargestellten seitlich nach oben gerichteten Austragsöffnung ab; und schließlich sei das Auftreten einer Reibzerkleinerung eine zwangsläufige Folge der in D1 offenbarten Scherwirkung.

ii) Weiters sei auch das Argument der Beschwerdegegnerin, demzufolge die Feststellung in Spalte 2, letzter Absatz der neu genannten Entgegenhaltung

D3: Artikel aus Chemie-Technik 6/88, "Siebkorbmühlen für schwierige Produkte":

"Sie [Siebkorbmühlen des Typs PPS 600] bewirken eine schonende Zerkleinerung durch geringe Relativgeschwindigkeit zwischen Schlägerrad und umlaufendem Siebkorb"

einem Betrieb mit gegensinniger Rotation dieser Elemente widerspreche, nicht schlüssig, da es für eine schonende Mahltrocknung nicht auf die Art der Rotation, sondern auf die Relativgeschwindigkeiten von Schlägerrad und Siebkorb ankomme.

iii) Darüber hinaus belege das Streitpatent nicht einmal, daß der Betrieb mit gegensinniger Rotation unter Verwendung bestimmter Umlaufgeschwindigkeiten tatsächlich zu der angestrebten, besonders schonenden Mahltrocknung führe, weil die Tabelle I auf Seite 5 des Streitpatents Umfangsgeschwindigkeiten weder angebe, noch diese aus den sonstigen Angaben ableitbar seien. Ebensowenig gebe diese Tabelle Auskunft über die Zerkleinerungseffizienz des beanspruchten Verfahrens.

VII. Die Beschwerdegegnerin (Patentinhaberin) reichte in der mündlichen Verhandlung nach mehrmaliger Änderung ihrer Anträge als einzigen Antrag einen neuen Satz von 5. Ansprüchen ein, deren Anspruch 1 wie folgt lautet:

"1. Verfahren zum gleichzeitigen Mahlen und Trocknen feuchter Celluloseether, wobei man

a) einen Celluloseether mit einer Anfangsfeuchte von 20 bis 70 Gew.-% in einen kreisförmigen Raum mittels eines Transportgases einbringt, und in diesem

b) unter Kreislaufführung den Celluloseether mit einer Anfangsfeuchte von 20 bis 70 Gew.-% mittels eines Schlägerrades schlagzerkleinert,

c) das Produkt gleichzeitig in Gegenlaufrichtung zum Schlägerrad mittels eines Siebkorbes reibzerkleinert, wobei

d) die Umfangsgeschwindigkeit des Schlägerrades 60 bis 80. m/s und die des Siebkorbs 25 bis 35 m/s beträgt, so daß sich eine Mahlenergie einstellt, die das Endprodukt auf eine vorgegebene Restfeuchte von 1 bis 10. Gew.-% trocknet,

e) das Mahlgut durch den in die Zerkleinerungsräume eingeleiteten Gasstrom weiterbefördert,

f) das Mahlgut vom Gasstrom trennt und gegebenenfalls

g) das Mahlgut einer selektiven Siebung unterwirft."

Die Ansprüche 2 bis 5 dieses Antrags entsprechen in dieser Reihenfolge den Ansprüchen 3 bis 6 der erteilten Anspruchsfassung.

Nach Meinung der Beschwerdegegnerin beruhe der Gegenstand von Anspruch 1 gegenüber D1 aus folgenden Gründen auf erfinderischer Tätigkeit:

Die beanspruchten Bereiche der Anfangsfeuchte und der Restfeuchte stellten jeweils zur erfolgreichen Durchführung des erfindungsgemäßen Verfahrens notwendige Auswahlbereiche dar; daß ein Betrieb mit gegensinniger Rotation von Schlägerrad und Siebkorb trotz der mit dieser Betriebsweise einhergehenden hohen Relativgeschwindigkeit - entgegen der oben zitierten Aussage in D3 - zu einer schonenden Mahltrocknung von Celluloseethern führe, sei überraschend; die Verwendung eines Transportgases sei in D1 nicht offenbart und führe zu entscheidenden Vorteilen, u. a. auch hinsichtlich der Feuchtigkeitsabführung; das Auftreten einer, wie in D1 beschriebenen Scherwirkung könne nicht mit der Wirkungsweise einer Reibzerkleinerung gleichgesetzt werden; und schließlich bewiesen die in Tabelle I des Streitpatents dargestellten Resultate, die unter Einhaltung der von Anspruch 1 geforderten Umfangsgeschwindigkeiten erhalten wurden, daß die vorliegende Aufgabe der schonenden Mahltrocknung von Celluloseethern zufriedenstellend gelöst sei.

VIII. Die Beschwerdeführerin beantragte die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und den Widerruf des europäischen Patents Nr. 0 370 447.

Die Beschwerdegegnerin beantragte die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und die Aufrechterhaltung des Patents aufgrund der während der mündlichen Verhandlung eingereichten Ansprüche 1 bis 5.

Entscheidungsgründe

1. Die Beschwerde ist zulässig.

2. Artikel 114 (1) EPÜ

Die von der Beschwerdegegnerin erst mit ihrer Eingabe vom 10. März 1998 eingereichte Entgegenhaltung D3 wird berücksichtigt, da sie gegenüber den damaligen geltenden Ansprüchen entscheidungsrelevant schien und ihre Vorlage durch eine Schlußfolgerung der angefochtenen Entscheidung ausgelöst wurde.

3. Artikel 123 (2) und (3) EPÜ

Vom Anspruch 1 in der ursprünglichen Fassung unterscheidet sich der gültige Anspruch 1 in folgenden Punkten:

i) Schlagzerkleinerung mittels eines Schlägerrades,

ii) Reibzerkleinerung mittels eines Siebkorbes,

iii) Umfangsgeschwindigkeit des Schlägerrades 60 bis 80. m/s,

iv) Umfangsgeschwindigkeit des Siebkorbes 25 bis 35. m/s.

Die obigen Merkmale i) und ii) finden ihre Stütze im Anspruch 6 des Streitpatents (= Anspruch 6 der ursprünglichen Anmeldung), die Basis der obigen Merkmale iii) und iv) ergibt sich aus den erteilten Ansprüchen 2 und 9 (= Ansprüche 2 und 10 der ursprünglichen Anmeldung).

Die abhängigen Ansprüche 2 bis 5 entsprechen den erteilten Ansprüchen 3 bis 6 (= Ansprüche 3 bis 6 der ursprünglichen Anmeldung).

Der Gegenstand des Anspruchs 1 ist durch die Einfügung der obigen Merkmale i) bis iv) gegenüber der erteilten Fassung eingeschränkt.

Die vorliegende Anspruchsfassung genügt somit den Bestimmungen des Artikels 123 (2) und (3) EPÜ.

4. Artikel 84 EPÜ

Der geänderte Anspruch 1 entpricht den Bestimmungen dieses Artikels. Insbesondere ist dem Fachmann klar, daß sich die genannten Umfangsgeschwindigkeiten auf den jeweils wirksamen Umfang von Schlägerrad bzw. Siebkorb beziehen müssen, d. h. den wirksamen Außendurchmesser des Schlägerrades und den wirksamen Innendurchmesser des Siebkorbes.

5. Stand der Technik

5.1. Entgegenhaltung D1

Es besteht Einvernehmen zwischen den Parteien, daß die Angabe "6/88" in D1 rechts unten auf eine Publikation im Juni 1988 hinweist und D1 somit Stand der Technik im Sinne von Artikel 54 (2) EPÜ darstellt.

D1 offenbart eine Serie von Siebkorbmühlen der Baureihe PPS der Firma Pallmann, wobei sich die Mitglieder der Serie voneinander im wesentlichen durch ihre Größe und durch eventuelle Zusatzeinrichtungen, nicht aber bezüglich der Anordnung und Konstruktionsart der Mahleinrichtung unterscheiden (siehe Abbildungen 1 bis 3 sowie die Legende dazu links unten; Tabelle rechts unten: "Technische Daten").

Gemäß der fotografischen Darstellung des Typs PPS 10-300 in Abbildung 1 weisen die Siebkorbmühlen einen radartigen Siebkorb mit einer zentralen Drehachse auf, wobei der Siebkorb mit Abstand zur Gehäuseinnenseite in einem konzentrischen Gehäuse angeordnet ist. Die der Gehäuseinnenseite zugewandte zylindrische Mantelfläche des Siebkorbes weist Abschnitte siebartig ausgebildeter Flächen auf, die mit unprofiliert strukturierten, axial ausgerichteten, blockförmigen Abschnitten alternieren.

Ein oben tangential aus dem Gehäuse ragender Stutzen dient gemäß der Legende zur Abbildung 1 dem seitlichen Materialaustrag.

In dem Absatz "Funktionsweise" ist angegeben, daß das der Maschine dosiert zugegebene Aufgabematerial "zwischen dem Schlägerrad und einem hierzu gegen- oder gleichsinnig rotierenden Siebkorb durch Prall- und Scherwirkung aufgeschlossen und zerkleinert" wird, wobei die Zerkleinerungswirkung sich "durch die Relativgeschwindigkeit des Schlägerrades zum Siebkorb und durch die Ausführungsart der Zerkleinerungselemente" bestimmen läßt.

Im Absatz "Typische Anwendungsgebiete" ist u. a. die "Mahltrocknung von Zelluloseäther" angegeben.

5.2. Entgegenhaltung D3

Auch bezüglich dieser Entgegenhaltung, die selbst kein Publikationsdatum trägt, für die die Patentinhaberin (Beschwerdegegnerin) aber im Schriftsatz vom 10. März 1998, Seite 2, letzter Absatz als Fundstelle "Chemie-Technik 6/88" angibt, besteht zwischen den Parteien Einvernehmen, daß es sich um Stand der Technik im Sinne von Artikel 54 (2) EPÜ handelt. Die Kammer sieht keinen Anlaß daran zu zweifeln, insbesondere, weil die sachlich mit D1 eng zusammenhängende Entgegenhaltung D3 unten eine Aufforderung zum Besuch der ACHEMA in Frankfurt trägt, die vom 5. bis 11. Juni 1988 (ACHEMA 88) stattfand (Schriftsatz Einsprechenden vom 23. Mai 1996, Seite 3, letzter Absatz zur Klarstellung des Impressums 6/88 auf der Werbeschrift D1).

D3 enthält unter dem Titel "Siebkorbmühlen für schwierige Produkte" Informationen über Siebkorbmühlen des Typs PPS 600. Es wird in Spalte 2, letzter Absatz darauf hingewiesen, daß diese Siebkorbmühlen eine schonende Zerkleinerung durch geringe Relativgeschwindigkeit zwischen Schlägerrad und umlaufendem Siebkorb bewirken. Im folgenden stellt D3 fest, daß bei Celluloseethern ein gleichzeitiger Trocknungseffekt des Mahlguts auftritt.

6. Fachmann

6.1. Gemäß ständiger Praxis des Europäischen Patentamts (cf. Rechtsprechung der Beschwerdekammern des Europäischen Patentamts, 3. Auflage 1998, Deutsche Fassung, Seiten 134 und folg.) ist der Fachmann (Durchschnittsfachmann) ein Mann der Praxis, der den allgemein üblichen Wissenstand auf einem bestimmten Sachgebiet und zu einem bestimmten Zeitpunkt ebenso kennt, wie den gesamten relevanten Stand der Technik und der über die normalen Mittel und Fähigkeiten für routinemäßige Arbeiten und Versuche verfügt (cf. Richtlinien für die Prüfung im Europäischen Patentamt C-IV, 9.6).

6.2. Dieser fiktive Durchschnittsfachmann stellt den Maßstab für die Beurteilung der Offenbarung und der Lehre des Standes der Technik dar.

6.3. Schon aus der Tatsache, daß dieser Durchschnittsfachmann nicht real existiert, ergibt sich, daß er nicht selbst tätig werden kann. Die Bewertung des Standes der Technik hat vielmehr zwangsläufig durch jemanden zu erfolgen, der über ausreichendes Wissen auf dem jeweiligen Fachgebiet verfügt und der daher in der Lage ist, das Wissen und die Fähigkeiten des fiktiven Durchschnittsfachmanns zu beurteilen und entsprechende Schlüsse zu ziehen.

6.4. Im vorliegenden Fall wird der Beschwerdeführerin zugestimmt, daß der "zuständige" Durchschnittsfachmann ein Verfahrenstechniker mit Kenntnissen in Zerkleinerungstechniken ist.

7. Neuheit

Die Neuheit des Gegenstandes von Anspruch 1 ist aus folgenden Gründen gegeben.

7.1. D1 offenbart explizit folgende Merkmale des Anspruchs 1 (Offenbarungsbasis in Klammern):

a) Verfahren zum gleichzeitigen Mahlen und Trocknen feuchter Celluloseether (cf. "Typische Anwendungsgebiete": Mahltrocknung von Zelluloseäther);

b) Einbringen in einen kreisförmigen Raum (cf. Abbildung 1);

c) Kreislaufführung des Celluloseethers (folgt aus der Rotation von Siebkorb und Schlägerrad);

d) Schlagzerkleinerung, Schlägerrad, Siebkorb ("Funktionsweise": Zerkleinerung zwischen Schlägerrad und Siebkorb durch Relativgeschwindigkeit zwischen diesen Elementen);

e) Reibzerkleinerung ("Funktionsweise": Zerkleinerung durch Scherwirkung); es kann nach Meinung der Kammer keinen Zweifel daran geben, daß eine auf zu zerkleinernde Teilchen wirkende Scherkraft eine Reibzerkleinerung bewirkt; dies folgt auch ganz klar aus D3, dritte Spalte, zweiter Absatz, wo festgestellt wird: "Die Mühle läßt sich durch ... Einbau von geriffelten Mahlelementen zwischen den Siebpartien ... in ihrer Arbeitsweise derart variieren, daß die Zerkleinerung vorwiegend zwischen den ... Verschleißplatten des Schlägerrades und den Mahlelementen erfolgt."

7.2. Folgende Merkmale des vorliegenden Anspruchs 1 können als in D1 implizit offenbart gelten (Offenbarungsbasis in Klammern):

a) Einregulierung der Umfangsgeschwindigkeiten von Schlägerrad und Siebkorb (innerhalb der angegebenen Grenzen: cf. folgende Punkte 7.3.c) und d)) auf einen solchen Wert, daß sich eine Mahlenergie einstellt, die das Endprodukt auf eine vorgegebene Restfeuchte trocknet (Umfangsgeschwindigkeit, Mahlenergie und Trocknungseffekt hängen voneinander ab; diese funktionelle Definition hat somit keine konkrete Bedeutung);

b) Weiterbeförderung des Mahlguts durch einen in die Zerkleinerungsräume eingeleiteten Gasstrom (der durch die Rotation von Schlägerrad und Siebkorb erzeugte Gas(Luft)strom wird durch den Rotationssog "eingeleitet" und trägt automatisch zur Förderung des Mahlguts bei);

c) Trennung des Mahlguts vom Gasstrom (Zweck des Verfahrens liegt in der Gewinnung des Mahlguts; dieses Merkmal muß somit am Ende des Verfahrens stehen).

7.3. Weder explizit noch implizit offenbart D1 folgende Merkmale des vorliegenden Anspruchs 1:

a) Anfangsfeuchte des Celluloseethers von 20 bis 70. Gew.-%.

Da es möglich ist, die in D1 offenbarten Siebkorbmühlen auch zur Mahltrocknung von Celluloseethern mit Anfangsfeuchten und zu Restfeuchten einzusetzen, die jeweils außerhalb der beanspruchten Bereiche liegen, können diese Feuchtebereiche nicht als obligatorisch mitoffenbart gelten, selbst wenn sie "üblich" sind.

b) Einbringen des Celluloseethers mittels eines Transportgases.

Obwohl die in D1 offenbarte Siebkorbmühlen-Konstruktion ein Ansaugen des Mahlguts (und somit ein Einbringen mittels des Transportgases Luft) durch die normale Rotation der Mahlelemente ermöglicht, ist diese Methode der Einbringung von der Offenbarung nicht umfaßt.

c) Reibzerkleinerung in Gegenlaufrichtung zur Schlagzerkleinerung.

Da D1 die Möglichkeit einer gegensinnigen Rotation von Schlägerrad und Siebkorb nicht in Kombination mit der Mahltrocknung von Celluloseethern beschreibt, kann auch das Merkmal der Reibzerkleinerung in Gegenlaufrichtung zur Schlagzerkleinerung im Kontext des Anspruchs 1 nicht als offenbart gelten.

d) Umfangsgeschwindigkeiten des Schlägerrades 60 bis 80. m/s und des Siebkorbes 25 bis 35 m/s.

Über die Umfangsgeschwindigkeiten ist in D1 nichts ausgesagt.

e) Trocknung auf Restfeuchte von 1 bis 10 Gew.-% (siehe die Argumentation zu vorstehendem Punkt a)).

8. Aufgabe und Lösung

8.1. Die dem Verfahren gemäß Anspruch 1 zugrundeliegende technische Aufgabe ist darin zu sehen, das in D1 für die Mahltrocknung feuchter Celluloseether offenbarte Verfahren derart zu konkretisieren, daß ein unerwünschter Viskositätsabbau vermieden wird.

8.2. Die auf Seite 2, Zeile 55 bis Seite 3, Zeile 2 des Streitpatents (Seite 4, Zeilen 1 bis 10 der ursprünglichen Anmeldung) angeführte Aufgabenstellung geht von einem entfernteren Stand der Technik als dem in D1 offenbarten aus und kann daher in diesem Umfang gegenüber der Offenbarung dieser Entgegenhaltung, die das patentgemäße Verfahren im Prinzip schon beschreibt, nicht als objektive existierende Aufgabe anerkannt werden.

8.3. Gemäß Anspruch 1 erfolgt die Lösung dieser Aufgabe durch die in den vorstehenden Punkten 7.3 a) bis 7.3 e) angeführten, in D1 nicht offenbarten Merkmale.

8.3.1. Die Kammer ist aufgrund der vorliegenden Informationen davon überzeugt, daß der Gegenstand des Anspruchs 1 die gemäß Punkt 8.1 definierte Aufgabe tatsächlich löst.

8.3.2. Dies geht aus Tabelle I (Streitpatent Seite 5, ursprüngliche Anmeldung Seite 12) in Zusammenhang mit der von der Beschwerdegegnerin während der mündlichen Verhandlung vorgenommenen Ergänzung, daß die in dieser Tabelle dargestellten Versuche unter Einhaltung der Bedingungen der Merkmale 7.3 c) (gegensinnige Laufrichtung) und 7.3 d) (beanspruchte Umfangsgeschwindigkeiten von Schlägerrad und Siebkorb) erhalten wurden, hervor.

Diese Tabelle I offenbart, daß die Ausgangs- und Endviskositäten aller in den Beispielen 1 bis 8 mahlgetrockneten Celluloseether praktisch gleich geblieben sind, was zeigt, daß kein nennenswerter Viskositätsabbau erfolgte.

8.3.3. Zwar hat die Beschwerdeführerin mit Recht festgestellt, daß die im Streitpatent offenbarten Informationen ein Nacharbeiten der gemäß Tabelle I durchgeführten Versuche nicht erlauben, weil wichtige Parameter nicht angegeben sind, dieser Umstand beeinträchtigt aber die Interpretation dieser Versuchsergebnisse insofern nicht, als diese, im Zusammenhang mit der während der mündlichen Verhandlung getätigten, vorstehend angeführten Präzisierung (cf. Punkt 8.3.2 supra), dennoch den plausiblen Schluß zulassen, daß die angestrebte schonende Mahltrocknung patentgemäß tatsächlich erzielt wird. Die vorliegenden Beweislage reicht somit im vorliegenden Verfahrensstadium einer Einspruchsbeschwerde, bei der die beschwerdeführende Einsprechende die Beweislast trägt, zu der Feststellung aus, daß der Patentgegenstand die gestellte Aufgabe tatsächlich löst. Entsprechend dieser Beweislastverteilung bestand für die Beschwerdegegnerin keine Notwendigkeit zur Vorlage eines von der Beschwerdeführerin als fehlend gerügten Vergleichsversuchs mit gleichsinniger Rotation von Schlägerrad und Siebkorb.

8.3.4. Im übrigen ist festzustellen, daß die erfolgreiche Lösung der vorliegenden Aufgabe von der Beschwerdeführerin insgesamt auch nicht bestritten wurde, was sich konkludent schon aus ihrer Argumentation eines Naheliegens der beanspruchten Lösung der vorliegenden Aufgabe, die die Vermeidung eines Viskositätsabbaus einschließt, ergibt.

9. Naheliegen

9.1. Die gegensinnige Rotation von Schlägerrad und Siebkorb (Merkmal 7.3 c)) mit den in Anspruch 1 spezifizierten Umfangsgeschwindigkeiten dieser Elemente (Merkmal 7.3 d)) ist durch die Entgegenhaltung D1 (in Verbindung mit D3) nicht nahegelegt.

Zwar offenbart D1 die Möglichkeit, daß Schlägerrad und Siebkorb zueinander gegensinnig rotieren (siehe Abschnitt "Funktionsweise"), aus der sich auf Siebkorbmühlen gemäß D1 beziehenden Aussage in D3, wonach es für eine schonende Zerkleinerung von Celluloseethern notwendig ist, geringe Relativgeschwindigkeiten zwischen Schlägerrad und Siebkorb einzuhalten (cf. Punkt 5.2 supra), folgt aber, daß der Fachmann für die Mahltrocknung von Celluloseethern eine gegensinnige Betriebsweise mit den in Anspruch 1 spezifizierten Umfangsgeschwindigkeiten nicht gewählt hätte. Er müßte nämlich in diesem Fall einen ungewünschten Viskositätsabbau befürchten, weil eine gegensinnige Rotation mit diesen Umfangsgeschwindigkeiten zu hohen Relativgeschwindigkeiten zwischen Schlägerrad und Siebkorb führen. So errechnet sich etwa bei Orientierung an den Mittelwerten der in Anspruch 1 angegebenen Umfangsgeschwindigkeiten von 70 m/s für das Schlägerrad und 30 m/s für den Siebkorb die hohe Relativgeschwindigkeit von 100 m/s, während die Relativgeschwindigkeit bei gleichsinniger Rotation, im Einklang mit der Lehre von D3 nur 40 m/s betragen würde.

9.2. Da es für die Anerkennung einer erfinderischen Tätigkeit ausreicht, wenn mindestens ein Unterscheidungsmerkmal vom Stand der Technik nicht nahegelegt ist, spielt es bei der in 9.1 diskutierten Sachlage für diese Frage keine Rolle, ob weitere Merkmale nahegelegt sind oder nicht.

Der Vollständigkeit halber stellt die Kammer aber fest, daß die weiteren Unterscheidungsmerkmale 7.3 a), b) und e) im Hinblick auf die vorliegenden technische Aufgabe durch den Stand der Technik nahegelegt sind. Denn weder kann in der Wahl der breiten Bereiche der Anfangs- und Restfeuchten (Merkmale 7.3 a) und 7.3 e)) wegen der Trivialität dieser Merkmale, die einerseits durch die Beschaffenheit der eingesetzten Celluloseether und anderseits durch deren Weiterverwendung nach der Mahltrocknung bestimmt sind, ein erfinderischer Beitrag erblickt werden, noch kann ein solcher dem Einbringen des Celluloseethers mittels eines Transportgases (Merkmal 7.3 b)) beigemessen werden. Vielmehr bot sich für den Fachmann ein Ansaugen des Mahlguts - und somit ein Einbringen mittels des Transportgases Luft - durch die infolge der Rotation der Mahlelemente auftretende Sogwirkung an, umso mehr als gemäß Abbildung 1 von D1 offenbar ein pneumatischer Austrag des Mahlguts (d. h. zusammen mit dem Transportgas Luft) durch den oben tangential abragenden Austragstutzen vorgesehen ist.

9.3. Das Nicht-Naheliegen der Gegenstände der von Anspruch 1 abhängigen Ansprüche 2 bis 5 folgt a fortiori aus dem Nicht-Naheliegen des Gegenstandes des unabhängigen Anspruchs 1.

9.4. Der Gegenstand des Streitpatents erfüllt somit insgesamt die Bedingung des Artikels 56 EPÜ.

10. Obwohl das Streitpatent im Umfang der vorliegenden Ansprüche den Bedingungen des EPÜ genügt, kann dem Antrag der Beschwerdegegnerin, das Patent aufgrund dieser Ansprüche aufrechtzuerhalten, nicht stattgegeben werden, da eine tiefgreifende Anpassung der Beschreibung als Folge der eingeschränkten Definition des Verfahrens und der Streichung der Vorrichtung erforderlich ist. Da die Beispiele unter Anspruch 1 fallen (cf. Punkt 8.3.2 supra), sind sie Bestandteil einer angepaßten Beschreibung.

ENTSCHEIDUNGSFORMEL

Aus diesen Gründen wird entschieden:

1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.

2. Die Sache wird an die Vorinstanz zurückverwiesen mit der Auflage, das Patent aufgrund der während der mündlichen Verhandlung eingereichten Ansprüche 1 bis 5 nach Anpassung der Beschreibung aufrechtzuerhalten.

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