T 0721/95 () of 16.9.1997

European Case Law Identifier: ECLI:EP:BA:1997:T072195.19970916
Datum der Entscheidung: 16 September 1997
Aktenzeichen: T 0721/95
Anmeldenummer: 84113640.1
IPC-Klasse: C10B 41/00
Verfahrenssprache: DE
Verteilung: C
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Bibliografische Daten verfügbar in: DE
Fassungen: Unpublished
Bezeichnung der Anmeldung: Anordnung zur Feinpositionierung von Kokereimaschinen
Name des Anmelders: SIEMENS AKTIENGESELLSCHAFT
Name des Einsprechenden: Fotoelektrik Pauly GmbH
Kammer: 3.2.02
Leitsatz: -
Relevante Rechtsnormen:
European Patent Convention 1973 Art 54(2)
European Patent Convention 1973 Art 56
European Patent Convention 1973 Art 84
European Patent Convention 1973 Art 123
Schlagwörter: Offenkundige Vorbenutzung - der Öffentlichkeit zugänglich, jedoch unzureichende technische Offenbarung
Zweifelhafte eidesstattliche Versicherungen
Orientierungssatz:

-

Angeführte Entscheidungen:
G 0001/92
T 0482/89
T 0804/92
Anführungen in anderen Entscheidungen:
-

Sachverhalt und Anträge

I. Das europäische Patent Nr. 0 150 289 wurde am 6. Mai 1987 erteilt.

II. Aufgrund zweier Einsprüche gegen die Erteilung des Patents - von denen ein Einspruch bereits vor der angefochtenen Entscheidung zurückgenommen worden ist - widerrief die Einspruchsabteilung dieses mit Entscheidung vom 28. Juni 1995 mit folgender Begründung:

Der Gegenstand des Anspruchs 1 ist wegen mangelnder erfinderischer Tätigkeit gegenüber dem aus einer offenkundig vorbenutzten Positionierungsvorrichtung PP 2071 bestehenden Stand der Technik nicht gewährbar. Die Unterschiede in den Merkmalen zwischen der bekannten Vorrichtung und dem beanspruchten Gegenstand stellen nur äquivalente Mittel oder dem Fachmann ohne weiteres zu Gebote stehende technische Maßnahmen dar.

III. Die Beschwerdeführerin (Patentinhaberin) legte gegen diese Entscheidung am 24. August 1995 Beschwerde ein und entrichtete die Beschwerdegebühr. Die Beschwerdebegründung wurde am 27. Oktober 1995 zusammen mit einem neuen geänderten Anspruch 1 eingereicht.

Die Beschwerdegegnerin (Einsprechende) erwiderte auf die Beschwerdebegründung mit Schreiben vom 15. März 1996.

IV. Der Beschwerde liegen folgende Unterlagen zugrunde:

- Prospekt "Kranpositionierung Typ PP 2038" (2 Seiten) der Firma Fotoelektrik Pauly GmbH und Katalog '82 Fotoelektrik Pauly (4 Seiten) "Code-Lesegeräte PP 2038" (S. 24);

- Nachweis der Vorbenutzung des "Code-Lesegeräts" vom Typ PP 2071;

- eidesstattliche Versicherung des Herrn Dipl.-Ing. Wilhelm Pauly vom 25. September 1990;

- eidesstattliche Versicherung des Herrn Heinrich Scheuermann vom 21. September 1990;

- gemeinsame eidesstattliche Versicherung der Herren Heinrich Scheuermann und Erich Strohmenger vom 29. Oktober 1992;

- eidesstattliche Erklärung des Herrn Heinrich Scheuermann vom 24. März 1994;

- Kopien der Bestellungen Nr. 6/0943 vom 20. Januar 1982 (Komm.-Nr. 5529/3182) und Nr. 7/0227 vom 9. August 1982 (Komm.-Nr. 5532/1982) der Firma Gg. Noell GmbH an Fotoelektrik Pauly nebst Kopien der zugehörigen Zeichnungen (Bauwerk Thyssen, Noell-Auftrag Nr. 5529, ohne Zeichnungs-Nummer, und Bauwerk Audi-NSU-Auto-Union AG, Noell-Auftrags-Nr. 5532/1982 und 5532/1983, Zeichnungen Nr. 703560 und 703561) sowie Kopien weiterer mit diesen Aufträgen zusammenhängender Dokumente (Rechnungen 1082/4 vom 1. Oktober 1982, Auftragsbestätigung 0282/15 vom 16. Februar 1982, Lieferschein 0582/73 vom 19. Mai 1982, Speditionsauftrag vom 1. Oktober 1982).

V. Am 16. September 1997 fand eine mündliche Verhandlung statt.

VI. Die Beschwerdeführerin beantragte die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und die Aufrechterhaltung des Patents mit folgenden Unterlagen:

- Anspruch 1, wie überreicht in der mündlichen Verhandlung und Anspruch 2, eingereicht mit Schreiben vom 23. Oktober 1992 (Hauptantrag) bzw.

- obiger Anspruch 1 mit der Einfügung "und Ansprechempfindlichkeit" hinter dem Wort "Bewegungsrichtung" in Zeile 3 der Seite 2 (Hilfsantrag).

Die Beschwerdegegnerin beantragte die Zurückweisung der Beschwerde der Patentinhaberin.

VII. Der Anspruch 1 nach dem Hauptantrag lautet wie folgt:

(a) "Anordnung zur Feinpositionierung von Kokereimaschinen mit auf einer Gleisfahrstrecke zu beiden Seiten der Ofenkammern eines Koksofens verfahrbaren Koksofenbedienungsmaschinen, wobei

(b) an den Kokereimaschinen Infrarot-Lichtquellen (11, 12, 15) und Infrarot-Lichtsensoren (13, 14, 16) einander auf Abstand gegenüberliegend in den Schenkeln einer U-förmigen Signalgebereinheit (9) angeordnet sind, so daß sie Lichtschranken bilden, die als Teil einer Steuerungseinrichtung für die Antriebsmittel der Bedienungsmaschinen dienen,

(c) in die Signalgebereinheit (9) eine Signalplatte (10) einfahrbar ist, auf der mit den Lichtschranken korrespondierende infrarot-lichtundurchlässige Identifikations- und Positionsmarkierungen (18, 19, 21) angeordnet sind,

(d) zwei der Infrarot-Lichtschranken (11, 12, 13, 14) zur Positionserkennung und die anderen Infrarot-Lichtschranken (15, 16) zur Haltepunkt-Signalcodeerkennung verwendet werden,

(e) die Identifikationsmarkierungen (21) die ihnen zugeordneten Identifikations-Lichtschranken (15, 16) im positionierten Zustand unterbrechen,

(f) die Identifikationsmarkierungen (21) so gewählt sind, daß jedem Haltepunkt ein bestimmter charakteristischer Signalcode entspricht,

(g) sich die Positionsmarkierungen (18, 19) mit ihren Außenkanten im positionierten Zustand innerhalb des Querschnittes je einer der beiden Positionierungs-Lichtschranken (11, 12, 13, 14) befinden, so daß die zugeordneten Positionsmarkierungen (18, 19) mindestens je einen Teil des betreffenden Strahlenbündels strahlenundurchlässig abdecken,

(h) und wobei die Infrarot-Lichtsensoren (13, 14, 16) mit einer Auswerteelektronik (4) verbunden sind,

(i) wobei zur Feinpositionierung der Kokereimaschinen mit den Bedienungsmaschinen auf einem Tragkörper (17) der der jeweiligen Ofenkammer zugeordneten Signalplatte (10) Positionierungsmarkierungen (18, 19) angebracht sind, von denen wenigstens eine zur Einstellung der Positioniergenauigkeit in Bewegungsrichtung justierbar ist, wobei die Positionsmarkierungen (18, 19) die Signalplatte (10) in Bewegungsrichtung überragen,

(j) wobei durch Unterbrechen einer ersten Positionierungs-Lichtschranke (11, 13) ein erster Impuls an die einen Lesespeicher (38) mit einer Leseüberwachungselektronik (41) zur Erkennung und Zuordnung der codierten Identifikationsmarkierungen (21) sowie eine Positions-Auswertungs-Elektronik (40) enthaltende Auswerteelektronik (4) gesendet wird, die aufgrund dieses Impulses die Fahrtrichtung der Bedienungsmaschinen feststellt,

(k) und wobei von der Auswerteelektronik (4) im Falle der falschen Bewegungsrichtung ein Befehl zur Fahrtrichtungsumkehr und im Falle der richtigen Bewegungsrichtung ein Befehl zur Reduzierung der Geschwindigkeit auf Schleichfahrt an die Bedienungsmaschinen gegeben wird,

(l) und wobei durch Unterbrechen einer zweiten Positionierungs-Lichtschranke (12, 14) ein zweiter Impuls an die Auswerteelektronik (4) gesendet wird und gleichzeitig der Code des durchfahrenen Haltepunktes gelesen und an die Auswerteelektronik (4) übermittelt wird,

(m) und wobei von der Auswerteelektronik nach dem gleichzeitigen Auftreten der Impulse beider Positionierungs-Lichtschranken (11, 12, 13, 14) sowie im Falle eines richtigen Codes ein Stop-Befehl an die Bedienungsmaschinen übermittelt wird und im Falle des falschen Codes an die Bedienungsmaschinen der Befehl zur Wiederaufnahme der vollen Fahrt erteilt wird."

Die Buchstaben (a) bis (m) zur Bezeichnung der Merkmale wurden von der Kammer eingefügt, um die spätere Analyse zu erleichtern.

VIII. In ihren Schriftsätzen und in der mündlichen Verhandlung brachten die Beteiligten folgendes vor:

Die Beschwerdeführerin:

- Die von der Beschwerdegegnerin zu den Akten gegebenen Beweismittel seien nicht stichhaltig, weil sie sich im wesentlichen nur auf den Verkauf von "Code-Lesegeräten" vom Typ PP 2071 durch die Firma Fotoelektrik Pauly an die Firma Noell bezögen und diese Geräte keine Steuerelektronik aufwiesen. Diese sei später von der Firma Noell für ihre Kunden entwickelt worden.

- Auch nach Lieferung der "Gesamtanordnung" durch die Firma Noell an deren Kunden sei das mit der Steuerelektronik versehene Gerät PP 2071 nicht der Öffentlichkeit zugänglich gewesen, da es in Anlagen installiert gewesen sei, zu denen Unbefugte keinen Zutritt gehabt hätten. Außerdem hätte ein Dritter keinen Grund gehabt, das Gerät auseinanderzubauen, um es auf seine für die Erfindung wesentlichen Merkmale zu untersuchen; zu diesem Zweck hätte überdies die jeweilige Anlage völlig abgeschaltet werden müssen, was kostspielig gewesen wäre und zur Folge gehabt hätte, daß die Lieferantengarantie erlischt.

- Das von der Beschwerdegegnerin vorgelegte Beweismaterial sei dürftig, da der Weiterverkauf des Geräts durch die Firma Noell an ihre Kunden weder durch eine Rechnung noch durch eine Auftragsbestätigung oder einen Lieferschein belegt sei.

- Selbst wenn das Gerät PP 2071 der Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden wäre, wäre die Offenbarung unzureichend, da das Gerät mittels der Codierung nur den Standort der verfahrbaren Maschine identifiziere, nicht aber deren Feinpositionierung nach Erreichen ihres exakten Haltepunkts. Gemäß der Erfindung werde die Feinpositionierung durch Einstellung der justierbaren Positionsmarkierungen erreicht, die auf der festen Signalplatte angebracht seien. Außerdem trügen die Verwendung der beanspruchten Anordnung zur Feinpositionierung von Koksofen-Bedienungsmaschinen, bei denen es auf den Sicherheitsaspekt ankomme, der Einsatz von Infrarot-Lichtsensoren unter rauhen Umweltbedingungen (Staub, Hitze) und die Funktionen der Steuerungselektronik zur erfinderischen Tätigkeit der erfindungsgemäßen Lösung bei.

Die Beschwerdegegnerin:

- Seit 1976 beliefere die Firma Pauly insbesondere die Firma Industronic mit Infrarot-Lichtschranken zum Einsatz in Industrieanlagen, die unter ähnlich schwierigen Umweltbedingungen arbeiteten wie Kokereien. Es bestünde daher seitens des Fachmanns kein Vorurteil gegen eine Verwendung des Geräts PP 2071 zu dem im angefochtenen Patent beanspruchten Zweck.

- Der Firma Pauly seien die Geschäftsbeziehungen zwischen der Firma Noell und deren Kunden nicht näher bekannt. Der Verkauf und die Lieferung der Code-Lesegeräte PP 2038 und PP 2071 durch die Firma Pauly an die Firma Noell, die nicht an eine Geheimhaltungsverpflichtung geknüpft gewesen seien, dürften jedoch genügen, um die Zugänglichkeit dieser Geräte für die Öffentlichkeit zu beweisen.

- Wie aus der eidesstattlichen Versicherung vom 29. Oktober 1992 hervorgehe, seien dem zuständigen Personal der Käufer beim Verkauf Funktionsbeschreibungen bzw. Funktionspläne der Programme des Geräts PP 2071 überreicht und entsprechende Erläuterungen gegeben worden, wiederum ohne jegliche Geheimhaltungsverpflichtung.

- Die geringfügigen Abweichungen zwischen der Funktionsweise des Geräts PP 2071 und demjenigen der Anordnung nach dem Anspruch 1 des angefochtenen Patents stellten lediglich Anpassungen dar, die der Fachmann ohne weiteres vornehmen könne, wie ja auch die Einspruchsabteilung festgestellt habe. Die Beschwerdegegnerin schließe sich dieser Auffassung an. Außerdem lasse sich eine Feinpositionierung der verfahrbaren Bedienungsmaschinen nur auf zweierlei Weise erzielen, nämlich zum einen durch Einstellen der Entfernung zwischen den Infrarot-Lichtschranken der Bedienungsmaschine - wie bei dem Gerät PP 2071 - und zum anderen durch Einstellen der Entfernung zwischen den justierbaren Markierungen auf der feststehenden Signalplatte wie beim angefochtenen Patent. Beide Lösungen seien gleichwertig.

Entscheidungsgründe

1. Die Beschwerde ist zulässig.

2. Änderungen

Der Anspruch 1 nach dem Hauptantrag wurde durch Umformulierung zu einem einteiligen Anspruch zusammengefaßt, um die Verwendung der Anordnung zur Feinpositionierung der Maschinen zur Bedienung von Kokereiöfen besser herauszuarbeiten, d. h. einer Anordnung, mit der der Standort der verschiedenen Kammern eines Koksofens erkannt und der Haltepunkt der Bedienungsmaschinen vor einer bestimmten Kammer genau positioniert werden kann. Da sich das Gerät PP 2071 als nächstkommender Stand der Technik nicht auf eine solche Verwendung bezieht und der Schutzumfang außerdem durch die Kombination aus allen beanspruchten Merkmalen definiert ist, ist die einteilige Fassung des Anspruchs 1 gerechtfertigt.

Nachdem die Beschwerdeführerin in der mündlichen Verhandlung einige Änderungen zur Klarstellung vorgenommen hat, ist die Kammer der Auffassung, daß der Anspruch 1 den Erfordernissen des EPÜ, insbesondere denen der Artikel 84 und 123, formal entspricht. Die Beschwerdegegnerin hat ihrerseits keine Einwände gegen diese Änderungen erhoben.

Der Einwand der Einspruchsabteilung (vgl. Einspruchsentscheidung, S. 4, Absatz 4), in Anspruch 1 (in der widerrufenen Fassung) sei gegenüber der erteilten Fassung ein Merkmal ausgelassen worden, was einen Verstoß gegen Artikel 123 (3) EPÜ darstelle, ist unbegründet, da das ausgelassene Merkmal ("die Zuordnung der Signalplatten an beiden Seiten der Ofenkammern") auch in der erteilten Fassung des Anspruchs 1 fehlte.

3. Offenkundigkeit der Vorbenutzung des Geräts PP 2071

3.1. Das Gerät PP 2071 ist eine Weiterentwicklung des im Prospekt und im Katalog der Firma Pauly von 1982 beschriebenen Code-Lesegeräts PP 2038, das zur Kranpositionierung eingesetzt wird. Das Gerät PP 2071 unterscheidet sich von dem Gerät PP 2038 nur durch eine Änderung der Identifikationsmarkierungen und durch die Justierung der Positionsmarkierungen (vgl. Schreiben der Beschwerdegegnerin vom 25. September 1990, Seite 1, vorletzter Absatz, in einem ersten Beschwerdeverfahren mit dem Aktenzeichen T 628/90 in dieser Sache). Beim Vorläufergerät PP 2038 stellt sich die Frage nach der Offenkundigkeit nicht, da es für die Veröffentlichung im Jahr 1982 ein genaues Datum gibt.

3.2. Nach den von der Beschwerdegegnerin vorgelegten Beweismitteln, insbesondere den verschiedenen eidesstattlichen Versicherungen, der Rechnung sowie der Auftragsbestätigung und dem Speditionsauftrag steht es fest, daß die von der Firma Pauly hergestellten Code-Lesegeräte vom Typ PP 2071 in den Jahren 1982 und 1983 an die Firma Noell verkauft und geliefert wurden. Ein einziger zweifelsfrei feststehender Verkauf genügt, damit ein Gegenstand einschließlich der ihm wesentlichen, bei äußerer Betrachtung nicht sofort erkennbaren Merkmale als zugänglich gemacht gilt. Entgegen der Behauptung der Beschwerdeführerin bedarf es auch keiner besonderen Gründe zur Untersuchung des inneren Aufbaus und der Funktionsweise des Geräts; es genügt, wenn das Gerät analysiert werden kann und seine Merkmale reproduziert werden können (vgl. G 1/92, ABl. EPA 1993, 277). Bei den an die Firma Noell gelieferten Geräten handelte es sich jedoch lediglich um Lesegeräte, d. h. ihre Funktion beschränkte sich darauf, anhand der von den Infrarot-Lichtschranken erfaßten Signale Code- und Positionssignale auszusenden.

3.3. Die Auswerteelektronik zur Steuerung der beweglichen Teile nach bestimmten Vorgaben wurde dann, wie insbesondere der eidesstattlichen Versicherung vom 29. Oktober 1992 zu entnehmen ist, von der Firma Noell entwickelt. Die aus dieser Auswerteelektronik und dem Codelese-Gerät PP 2071 bestehende "Gesamtanordnung" ist dann von der Firma Noell an Dritte wie die Firmen Thyssen, Mannesmann, Audi usw. ohne Geheimhaltungsverpflichtung weiterverkauft worden und war - im Jahre 1992 - noch in Betrieb.

In der mündlichen Verhandlung hat die Beschwerdeführerin dies nicht bestritten, sondern lediglich festgestellt, daß die Beweismittel, die von der Beschwerdegegnerin vorgelegt wurden, um die Zugänglichkeit der "Gesamtanordnung" für die Öffentlichkeit glaubhaft zu machen, dürftig seien, da keine Rechnungen, Auftragsbestätigungen oder Lieferscheine vorlägen, wie man sie bei Verkäufen dieser Art üblicherweise erwarten könne. Die Beschwerdegegnerin hat ihrerseits angeboten, erforderlichenfalls weitere Beweismittel vorzulegen.

3.4. Es besteht kein Zweifel, daß diese Verkäufe tatsächlich und unter den üblichen Bedingungen stattgefunden haben, die in der Regel keine Geheimhaltungspflicht einschließen (vgl. T 482/89, ABl. EPA 1992, 646). Im übrigen steht fest, daß die "Gesamtanordnung" von der Firma Noell an mehrere Kunden weiterverkauft worden ist, die in verschiedenen technischen Bereichen der Industrie tätig sind, so daß eine stillschweigende Geheimhaltungsverpflichtung zwischen dem Lieferanten und seinen verschiedenen Kunden wenig Sinn hätte. Eine solche stillschweigende Verpflichtung besteht im allgemeinen zwischen zwei Parteien, die ein gemeinsames Interesse an einer Geheimhaltung haben, z. B. um sich einen technischen Vorsprung vor den Wettbewerbern zu sichern. Im vorliegenden Fall, wo dieselbe "Gesamtanordnung" an mehrere Kunden verkauft worden ist, ist jegliche Geheimhaltung illusorisch und der mit der Geheimhaltung verbundene Vorteil ist nicht mehr gegeben. Infolgedessen konnte von dem zuständigen Personal in den einzelnen Unternehmen auch nicht erwartet werden, sich an eine Geheimhaltung zu halten, so daß dieses Personal der Öffentlichkeit zuzurechnen ist.

Nach Abwägen aller oben angeführten Tatsachen hält es die Kammer für gegeben, daß die mit der von der Firma Noell entwickelten Auswerteelektronik ausgestatteten Codelese-Geräte vom Typ PP 2071 der Öffentlichkeit vor dem Prioritätstag des angefochtenen Patents zugänglich gemacht worden sind. Infolgedessen gehört diese "Gesamtanordnung" zum Stand der Technik im Sinne des Artikels 54 (2) EPÜ.

4. Erfinderische Tätigkeit

4.1. In den drei nacheinander eingereichten eidesstattlichen Versicherungen Herrn Scheuermanns werden die technischen Merkmale von Mal zu Mal ausführlicher beschrieben, die mit der "Gesamtanordnung", also einem mit einer Auswerteelektronik versehenen Code-Lesegerät, angeblich offenbart worden sind. Auf den erfindungsgemäßen Gegenstand bezogen, würde die Auswerteelektronik der in der Abb. 3 des Patents mit der Bezugszahl 4 versehenen "Identifizierungs- und Positionierungsbaugruppe" entsprechen.

Gemäß den verschiedenen eidesstattlichen Versicherungen weisen die verkauften "Gesamtanordnungen" folgende Merkmale auf:

Eidesstattliche Versicherung vom 21. September 1990:

1. Lesen der Codes während der Fahrt oder bei Stillstand.

2. Reduzierung der Geschwindigkeit auf Schleichfahrt bei Unterbrechung der ersten Lese-Lichtschranke (Positionier-Lichtschranke).

3. Haltbefehl und Codelesebefehl bei Unterbrechung der zweiten Lese-Lichtschranke (Pos.-LS).

4. Fahrtrichtungsumkehr, wenn nach dem Haltbefehl durch zu großen Nachlauf die erste Lese-Lichtschranke (Pos.-LS) durch den Codeträger wieder freigegeben wurde, wodurch mm-genaues Stoppen erzielt wird.

Eidesstattliche Versicherung vom 29. Oktober 1992:

- Infrarot-Lichtquellen und Infrarot-Lichtsensoren sind einander auf Abstand gegenüberliegend in den Schenkeln einer U-förmigen Signalgebereinheit angeordnet, so daß sie Lichtschranken bilden, die als Teil einer Steuerungseinrichtung dienen.

- In die Signalgebereinheit ist eine Signalplatte einfahrbar, auf der mit den Lichtschranken korrespondierende infrarotlichtundurchlässige Identifikations- und Positionsmarkierungen angeordnet sind.

- Die Identifikationsmarkierungen unterbrechen die ihnen zugeordneten Identifikations-Lichtschranken im positionierten Zustand.

- Die Identifikationsmarkierungen sind so gewählt, daß jedem Haltepunkt ein bestimmter charakteristischer Signalcode entspricht.

- Die Infrarot-Lichtsensoren sind mit einer Auswerteelektronik (SPS) verbunden.

- Zwei der Infrarot-Lichtschranken werden zur Positionserkennung und die anderen Infrarot-Lichtschranken zur Haltepunkt-Signalcodeerkennung verwendet.

- Der Tragkörper der Signalplatte enthält Positionsmarkierungen in codierter Form.

- Bei jedem Überfahren der Signalplatten wird die Position gelesen und ausgewertet, je nach Länge des Bremsweges wird der Bremsvorgang eine oder mehrere Positionen vor dem Ziel eingeleitet, die Feinpositionierung erfolgt an der Signalplatte der Zielposition.

- Durch Unterbrechen einer ersten Positionier-Lichtschranke wird deren Signal an die Auswerteelektronik gesendet, die einen Befehl zur Reduzierung der Geschwindigkeit auf Schleichfahrt an die zugehörige Maschine abgibt.

- Durch Unterbrechen einer zweiten Positionier-Lichtschranke wird deren Signal an die Auswerteelektronik gesendet und gleichzeitig der Code des durchfahrenen Haltepunkts gelesen und an die Auswerteelektronik übermittelt.

- Von der Auswerteelektronik wird im Falle eines falschen Codes an die zugehörige Maschine der Befehl zur Wiederaufnahme der Fahrt erteilt, und im Falle des richtigen Codes wird ein Stop-Befehl an die zugehörige Maschine übermittelt.

Eidesstattliche Versicherung vom 24. März 1994:

- Durch Unterbrechen einer ersten Positionier-Lichtschranke wird dieses Signal an die Auswerteelektronik (SPS) gesendet, die aufgrund dieses Signals die Fahrtrichtung feststellt,

- wobei von der Auswerteelektronik der Positioniervorgang überprüft und im Fehlerfall mit einer Störmeldung abgebrochen wird.

4.2. Im übrigen sollen beim Verkauf ohne Geheimhaltungsverpflichtung, wie aus der eidesstattlichen Versicherung vom 29. Oktober 1992 auch hervorgeht und die Beschwerdegegnerin in ihrer Erwiderung vom 15. März 1996 auf die Beschwerdebegründung der Beschwerdeführerin angibt, den verschiedenen Käufern Funktionspläne der Programme überlassen und dem zuständigen Personal Erläuterungen gegeben worden sein. Für diese Behauptung sind jedoch keine Beweismittel zu den Akten gegeben worden. Außerdem hat die Beschwerdegegnerin in der mündlichen Verhandlung erklärt, daß sie über die Geschäftsbeziehungen zwischen der Firma Noell und deren Kunden nichts wisse. Unter diesen Umständen ist an der Zuverlässigkeit der o. g. eidesstattlichen Versicherungen und insbesondere daran zu zweifeln, daß die elf in der eidesstattlichen Versicherung vom 29. Oktober 1992 und die beiden weiteren, in der Versicherung vom 24. März 1994 ergänzend aufgeführten Merkmale mit dem Gegenstand des geltenden Anspruchs 1 übereinstimmen. Diese Merkmale geben mehr oder weniger den Wortlaut der Fassung des Anspruchs 1 des in der ersten Instanz widerrufenen Patents wieder. Mangels der oben erwähnten Beweismittel ist eine technische Überprüfung der tatsächlichen Funktionsweise der "Gesamtanordnung" entsprechend der Vorbenutzung nicht möglich.

Die Kammer stellt außerdem fest, daß die eidesstattliche Versicherung vom 29. Oktober 1992 auf Anforderung der Einspruchsabteilung von der Beschwerdegegnerin vorgelegt worden ist, wie es aus der angefochtenen Entscheidung (vgl. Nr. 5 und 6 des Sachverhalts und Anträge) hervorgeht. Mit dieser Anforderung zusätzlicher Beweismittel hat die erste Instanz die Beschwerdegegnerin eindeutig beeinflußt und ihr den Inhalt der Zeugenaussage vorgegeben. Dies mindert deren Beweiskraft ganz erheblich (vgl. T 804/92, ABl. EPA 1994, 862, Nr. 5.2). Dasselbe gilt für die eidesstattliche Versicherung vom 24. März 1994, die auf den Bescheid vom 19. Januar 1994 hin eingereicht wurde.

4.3. Abgesehen davon, daß die aus einer Auswerteelektronik und dem Gerät PP 2071 bestehende "Gesamtanordnung" nicht zur Feinpositionierung von Bedienungsmaschinen in Kokereien (Merkmal (a) des strittigen Anspruchs 1) eingesetzt wird, hat die Beschwerdegegnerin im Einspruchsverfahren selbst eingeräumt (vgl. Schreiben vom 27. Oktober 1992), daß sich diese "Gesamtanordnung" in den folgenden vier Punkten vom Gegenstand des Anspruchs 1 unterscheide:

- Sie wurde nicht für Kokereimaschinen verwendet.

- Die Positions-Markierungsplatten sind im Gerät PP 2071 nicht justierbar. Statt dessen sind die Positionierungs-Lichtschranken selbst verstellbar.

- Die Fahrtrichtungs-Erkennung erfolgt nicht nach dem Unterbrechen einer ersten Positionierungs-Lichtschranke, sondern bereits unmittelbar nach Verlassen des Ausgangs-Standorts.

- Die Stop-Befehlsabgabe ist beim Gerät PP 2071 nicht von der Bedingung abhängig, daß von der ersten Positionier-Lichtschranke ein weiteres Signal an die Auswerteelektronik gesendet wird. Statt dessen reiche vielmehr die Bedingung, daß beide Positionier-Lichtschranken unterbrochen sind.

Diese Unterschiede, die in der angefochtenen Entscheidung (vgl. Entscheidungsgründe Nr. 5) aufgegriffen werden, haben die erste Instanz dazu bewogen, dem Gegenstand des Anspruchs 1 Neuheit zuzuerkennen, die im übrigen auch nie angezweifelt worden ist. Die Kammer schließt sich dem an.

4.4. Nach Auffassung der Kammer sind die letzten zwei Unterschiede, die sich auf die Funktionsweise der Steuerelektronik beziehen, am wichtigsten.

- Beim Gegenstand des geltenden Anspruchs 1 wird die Fahrtrichtung aufgrund des ersten Impulses festgestellt, der gesendet wird, wenn die erste Positionier-Lichtschranke 11, 13 durch die Positioniermarkierung 19 unterbrochen wird. Im Falle einer falschen Bewegungsrichtung wird die Fahrtrichtung umgekehrt (Merkmale (j) und (k)).

Bei der vorbenutzten "Gesamtanordnung" wird im Fall einer falschen Bewegungsrichtung zwar ein Stop-Signal ausgelöst, aber die Fahrtrichtung nicht umgekehrt (vgl. Schreiben der Beschwerdegegnerin vom 23. März 1994, S. 1 und eidesstattliche Versicherung vom 24. März 1994). Eine Umkehr der Fahrtrichtung erfolgt erst nach dem Stop, um die Maschine wieder an den richtigen Haltepunkt zurückzuführen, wenn sie über diesen hinausgefahren ist (vgl. eidesstattliche Versicherung vom 21. September 1990, Nr. 4).

- Beim Gegenstand des geltenden Anspruchs 1 erfolgt der Stop-Befehl, wenn die beiden Lichtschranken gleichzeitig unterbrochen werden (Merkmal (m)). Die Unterbrechung der zweiten Lichtschranke 12, 14 (2. Impuls) dient nur zur Haltepunkt-Signalcodeerkennung (Merkmal (l)).

Bei der vorbenutzten "Gesamtanordnung" wird der Stop-Befehl erst erteilt, wenn die zweite Lichtschranke unterbrochen wird, und nicht, wenn beide Lichtschranken gleichzeitig unterbrochen werden (vgl. eidesstattliche Versicherung vom 21. September 1990, Nr. 3).

4.5. Auch wenn man den von der Beschwerdegegnerin eingereichten eidesstattlichen Versicherungen Glauben schenkt, ergibt sich somit, daß die vorbenutzte "Gesamtanordnung" in ihrer Funktionweise wesentlich von der erfindungsgemäßen Positionier-Anordnung abweicht. Es besteht kein Zweifel, daß diese Unterschiede erheblich zur Erhöhung der Funktionssicherheit der Anlage, in der die Anordnung gemäß dem geltenden Anspruch 1 eingesetzt wird, beitragen, wie die Beschwerdeführerin geltend gemacht hat. Der Investitionsaufwand und die Sicherheit des unter extremen Bedingungen arbeitenden Personals rechtfertigen die erhöhten Anforderungen an die Funktionssicherheit.

Unabhängig davon, ob diese Anforderungen gerechtfertigt sind, ist festzuhalten, daß in Ermangelung eines wichtigeren und vor allem zuverlässigeren Stands der Technik als die geltend gemachte Vorbenutzung, deren in den eidestattlichen Versicherungen genannten Merkmale zumindest zweifelhaft sind (vgl. Nr. 4.2), die von der Kammer festgestellten technischen Unterschiede für den Fachmann nicht naheliegend waren, zumal er keine Veranlassung hatte, die bekannte Vorrichtung im Sinne der Erfindung zu verändern.

Von dem Codelese-Gerät PP 2071 sind nur dieselben Anwendungsmöglichkeiten bekannt wie von dem Vorläufergerät PP 2038, nämlich die Positionierung von Laufkränen, Regalförderzeug oder anderen Maschinen, bei denen die Arbeitsbedingungen und Sicherheitsanforderungen nicht vergleichbar sind mit denjenigen, die für Bedienungsmaschinen in Kokereien gelten. Zudem ist der tatsächliche Verwendungszweck der von den verschiedenen Kunden der Firma Noell erworbenen Vorrichtungen nie geklärt worden, so daß die in der Akte befindlichen Beweismittel allein nicht ausreichen, um die beanspruchte Anwendung und die dadurch bedingten spezifischen Funktionen nahezulegen.

4.6. Aus all dem Obigen folgt, daß die unter 4.4 genannten Unterscheidungsmerkmale und damit die beanspruchte Kombination als Ganzes nicht aus der zum Stand der Technik gehörenden Vorbenutzung hergeleitet werden können. Infolgedessen ist der Gegenstand des Anspruchs 1 nach dem Hauptantrag im Sinne des Artikels 56 EPÜ auch ohne nähere Prüfung der übrigen unter Nr. 4.3 genannten Unterschiede erfinderisch.

ENTSCHEIDUNGSFORMEL

Aus diesen Gründen wird entschieden:

1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.

2. Die Angelegenheit wird an die erste Instanz mit der Anordnung zurückverwiesen, das Patent mit folgenden Unterlagen aufrechtzuerhalten:

- Anspruch 1 nach dem Hauptantrag, wie in der mündlichen Verhandlung überreicht,

- Anspruch 2, eingereicht mit Schreiben vom 23. Oktober 1992,

- Abbildungen 1 bis 3 der Zeichnungen in der erteilten Fassung

- und einer noch anzupassenden Beschreibung.

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