T 0561/91 (Hitzehärtbare Zusammensetzung) of 5.12.1991

European Case Law Identifier: ECLI:EP:BA:1991:T056191.19911205
Datum der Entscheidung: 05 Dezember 1991
Aktenzeichen: T 0561/91
Anmeldenummer: 86301051.8
IPC-Klasse: C08J 3/24
Verfahrenssprache: EN
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Fassungen: OJ
Bezeichnung der Anmeldung: -
Name des Anmelders: Raychem
Name des Einsprechenden: -
Kammer: 3.3.03
Leitsatz: Regel 35 (12) EPÜ schreibt dem Anmelder eines europäischen Patents vor, Gewichts- und Maßeinheiten nach dem metrischen System anzugeben. Solange diese Regel nicht geändert wird, sind die Organe des EPA daher nicht befugt, die Patenterteilung davon abhängig zu machen, daß der Anmelder Gewichte und Maße in SI- Einheiten angibt.
Relevante Rechtsnormen:
European Patent Convention 1973 R 35(12)
Schlagwörter: Verwendung metrischer oder SI-Einheiten
Orientierungssatz:

-

Angeführte Entscheidungen:
-
Anführungen in anderen Entscheidungen:
T 0589/89
T 0176/91
T 0743/05

Sachverhalt und Anträge

I. Die europäische Patentanmeldung Nr. 86 301 051.8, Veröffentlichungsnr. 0 191 649, wurde am 14. Februar 1986 unter Inanspruchnahme der Priorität der britischen Anmeldung Nr. 85 03882 vom 15. Februar 1985 eingereicht.

II. Mit Entscheidung vom 27. Mai 1991 lehnte die Prüfungsabteilung die Anmeldung mit der alleinigen Begründung ab, daß die Anmelderin es abgelehnt habe, bestimmte Viskositätsgrenzen, die in Centipoise angegeben waren, in den anerkannten SI-Einheiten für Viskosität auszudrücken.

Anspruch 1 ist ein langer Anspruch, in dem eine hitzehärtbare Zusammensetzung definiert wird, deren Teilchen mit einem Bindemittel beschichtet sind, für das folgende Bedingung gilt:

"mit der Maßgabe, daß, wenn die Viskosität des Bindemittels bei 25°C nicht mehr als 20 000 Centipoise beträgt ..."

Bezugnahmen auf Centipoise fanden sich auch in der Beschreibung und in den Ansprüchen 5, 6, 7 und 8.

III. In ihrer Entscheidung bezog sich die Prüfungsabteilung auf ihr Schreiben vom 9. Februar 1990, in dem sie auf eine Broschüre in deutscher Sprache mit dem Titel "Die neuen Einheiten" von Hans Forst (1. Auflage, Berlin 1977) aufmerksam gemacht hatte, in der Centipoise als eine ungültige Einheit aufgelistet wird. Außerdem verwies sie auf ihr Schreiben vom 25. Oktober 1990, in dem sie auf die einschlägige Bestimmung in den Richtlinien für die Prüfung, C-II, 4.15, verwiesen hatte. Diese lautet wie folgt:

"Gewichts- und Maßeinheiten sind nach dem metrischen System oder, falls ein anderes System verwendet wird, auch nach dem metrischen System anzugeben. In gleicher Weise sind Temperaturen zumindest in Grad Celsius oder bei Supraleitern in Kelvin anzugeben. Für sonstige physikalische Einheiten sind die in der internationalen Praxis anerkannten Einheiten zu verwenden. Diese Erfordernisse von Regel 35 (12) sind entsprechend der EWG-Richtlinie 71/354/EWG über Maßeinheiten in der durch die EWG-Richtlinie 76/770/EWG geänderten Fassung (veröffentlicht im Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften am 27. September 1976) auszulegen; diese Richtlinie gilt zwar unmittelbar nur für die Staaten der Gemeinschaft, entspricht jedoch der allgemein anerkannten internationalen Praxis. Die maßgeblichen Bestimmungen dieser Richtlinie sind der Anlage 1 zu diesem Kapitel zu entnehmen. Dementsprechend sind unter den "metrischen Einheiten" die "SI- Einheiten" zu verstehen."

Anlage 1 der Richtlinien enthält nur Kapitel A der Richtlinie des Rates. Es lautet "Einheiten im Meßwesen, deren Verwendung spätestens zum 21. April 1978 vorgeschrieben werden muß" und besteht aus 5 Abschnitten, in denen SI-Einheiten genannt oder definiert werden.

IV. Am 12. Juli 1991 wurde gegen diese Entscheidung Beschwerde (T 561/91) eingelegt; am gleichen Tag wurde auch die Beschwerdegebühr entrichtet und die Beschwerdebegründung eingereicht. Darin brachte die Beschwerdeführerin vor, daß die Prüfungsabteilung zu Unrecht auf der Verwendung von SI-Einheiten bestehe, weil die Verwendung von Centipoise nach Regel 35 (12) EPÜ möglich sei: Centipoise sei nämlich sowohl eine Maßeinheit des "metrischen Systems" wie auch eine "in der internationalen Praxis anerkannte physikalische Einheit".

V. Gemäß ihren Aufgaben nach Artikel 114 (1) EPÜ stellte die Kammer einige Nachforschungen zum Sachverhalt an, der der vorliegenden Beschwerde zugrunde lag. Dabei stellte sich heraus, daß die Suche nach einem einheitlichen Einheitensystem im wesentlichen bereits mit der Übernahme des metrischen Systems durch Frankreich im Jahr 1793 begonnen hatte. Seitdem ist das Bestreben nach Einheitlichkeit bei der Wahl der Einheiten immer stärker geworden; seit 1875 haben mehrere internationale Konferenzen mit diesem Ziel stattgefunden. Ein kurzer historischer Überblick ist unter anderem in der "Encyclopedia of Chemical Technology" von Kirk-Othmer, dritte Auflage (1980), Band 23, Seite 491 zu finden.

Ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur Erzielung eines einheitlichen Einheitensystems war die 11. Generalkonferenz für Maße und Gewichte im Jahr 1960, mit der das Internationale Einheitensystem eingeführt wurde; dessen Einheiten sind jetzt - in Ableitung der französischen Bezeichnung "le Système International d'Unités" - allgemein als "SI-Einheiten" bekannt. Seit 1960 sind sie weiterentwickelt und verfeinert worden; die Tendenz geht weltweit weiter dahin, daß sie anderen Einheiten vorgezogen werden.

Trotzdem ging aus diesem Nachschlagewerk und auch aus anderen Werken, die die Kammer zu Rate zog, klar hervor, daß das metrische System ein bekanntes Einheitensystem ist, das immer noch gebräuchlich ist, auch wenn es allmählich durch das SI- System ersetzt wird.

VI. Die Beschwerdeführerin hat beantragt, daß die Prüfung der Anmeldung fortgesetzt wird, obwohl sie die Viskosität in Centipoise angeben will, ohne diese in SI-Einheiten umzurechnen.

Entscheidungsgründe

1. Die Beschwerde entspricht den Artikeln 106 bis 108 und Regel 64 EPÜ und ist somit zulässig.

2. Bei dieser Beschwerde geht es im wesentlichen um die Frage, wie die Regel 35 (12) EPÜ auszulegen ist. Der hier relevante Teil der Regel lautet wie folgt:

"Gewichts- und Maßeinheiten sind nach dem metrischen System ... anzugeben." (Es folgt eine Bestimmung über Temperaturangaben.) "Für die übrigen physikalischen Einheiten sind die in der internationalen Praxis anerkannten Einheiten ... zu verwenden."

3. Die Kammer hat die französische und die deutsche Fassung untersucht und ist zu dem Schluß gekommen, daß sie der englischen so genau entsprechen, daß keine weiteren Bemerkungen dazu nötig sind. Zunächst bedarf der Ausdruck "Maße und Gewichte" (aus "Gewichts- und Maßeinheiten") in der ersten Zeile einer Auslegung. Wie bereits unter Nr. V bemerkt, wurde das SI-System auf der Generalkonferenz für Maße und Gewichte eingeführt. Der zusammengesetzte Begriff "Maße und Gewichte" ist allumfassend und wird zur Beschreibung von Einheitensystemen wie dem angelsächsischen, dem metrischen und dem SI-System verwendet. Jede Einheit, die von einem dieser Systeme vorgeschrieben wird, gilt als unter die allgemeine Kategorie der Maße und Gewichte fallend.

4. Es ist zweckdienlich, diese Standardsysteme mit einigen Formen der physikalischen Messung zu vergleichen, die nicht Teil eines anerkannten Systems bilden, in bestimmten Industrien oder Bereichen der Technik aber trotzdem anerkannt werden. Solche Maße sind Gegenstand von Regel 35 Absatz 12 Satz 3 EPÜ und werden dort als "übrige physikalische Einheiten" bezeichnet, für die "die in der internationalen Praxis anerkannten Einheiten" zu verwenden sind.

5. Als nächstes ist das Erfordernis auszulegen, daß die vorstehend erläuterten Maße und Gewichte "nach dem metrischen System anzugeben" sind. Das metrische System ist ein bekanntes Einheitensystem und war dies auch schon bei Abfassung dieser Regel. Es unterscheidet sich vom SI-System, das damals ebenfalls schon bekannt war. Wäre beabsichtigt gewesen, mit der Regel eine Verpflichtung zur Verwendung der SI-Einheiten statt der metrischen Einheiten einzuführen, hätte die Kammer eine eindeutige Erklärung in diesem Sinne erwartet.

6. Bei der vorliegenden Beschwerde geht es um die Messung der Viskosität, die von der Beschwerdeführerin in Centipoise ausgedrückt worden ist. Zwischen ihr und der Prüfungsabteilung bestand Einvernehmen darüber, daß Centipoise eine bekannte metrische Einheit, aber keine SI-Einheit ist. Der Verweis der Prüfungsabteilung auf das Buch von Forst zeigt lediglich, daß bei der Verwendung des SI-Systems eine metrische Einheit wie Centipoise ungültig ist und nicht verwendet werden sollte. Er wirft aber kein Licht auf die hier zu klärende Frage, ob die Prüfungsabteilung nach dem EPÜ und seiner Ausführungsordnung einem Anmelder, der metrische Einheiten verwendet hat, vorschreiben kann, daß er zusätzlich die entsprechenden SI- Einheiten angeben muß.

7. Die Absicht, die mit der in den Richtlinien für die Prüfung erklärten Politik, "metrische Einheiten" als "SI-Einheiten" auszulegen, verfolgt wird, nämlich zum gesellschaftlich wünschenswerten Ziel beizutragen, in Einklang mit der Zielsetzung der EG-Richtlinie die Verwendung der SI-Einheiten zu fördern, mag zwar lobenswert sein; die Kammer ist aber trotzdem der festen Überzeugung, daß alle Organe der EPO einschließlich der Beschwerdekammern eng an die Bestimmungen des EPÜ und seine Ausführungsordnung gebunden sind.

8. Wenn - wie im vorliegenden Fall - die Regel die Verwendung metrischer Einheiten vorschreibt und der Anmelder unstreitig metrische Einheiten verwendet hat, dann ist dies folglich für die Entscheidung der Streitfrage ausschlaggebend. Eine Umstellung von der zwingend vorgeschriebenen Verwendung metrischer Einheiten auf SI-Einheiten ist nur möglich, wenn die Regel vom Verwaltungsrat geändert wird.

9. Aus den vorstehenden Ausführungen geht hervor, daß der vorliegenden Beschwerde stattgegeben werden muß. Angesichts ihrer Entscheidung in dieser Sache fügt die Kammer aber hinzu, daß sie keine Einwände dagegen hat, daß die Prüfungsabteilung Anmelder weiterhin dazu ermuntert, SI-Einheiten zu verwenden, solange anerkannt wird, daß die Verwendung anderer als der vorgeschriebenen metrischen Einheiten vom Anmelder nicht verlangt werden kann.

ENTSCHEIDUNGSFORMEL

Aus diesen Gründen wird entschieden:

1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.

2. Die Sache wird zur weiteren Sachprüfung an die Prüfungsabteilung zurückverwiesen.

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